Carl-Auer
Für Ruth, meine Schwester
Die Arbeit an diesem Buch wurde durch die Autonome Provinz Bozen, Abteilung deutsche Kultur, finanziell unterstützt.
Es lohnt sich, einen Stift zu haben
Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung
2017
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Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
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Karsten Trebesch (Berlin)
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Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlagfoto: Collage © Uwe Göbel
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2017
ISBN 978-3-8497-0176-5 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8071-5 (ePUB)
ISBN 978-3-8497-8059-3 (PDF)
© 2017 Carl-Auer-Systeme Verlag
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Vorwort
Als begeisterte Leserin, wissenschaftlich Schreibende und jahrzehntelange Tagebuchschreiberin kenne ich die heilsame Wirkung des Lesens und des Schreibens. Das Schreiben hat mich schon oft aus Bedrücktheit oder innerem Chaos gerettet. Aufgrund dieser Erfahrungen setze ich gerne Schreibübungen bei meinen Klienten ein. So habe ich Carmen Unterholzers Buch »Es lohnt sich, einen Stift zu haben« mit großem Interesse und noch größerem Gewinn gelesen. Ich habe viele Anregungen erhalten, von denen meine Klienten in Zukunft profitieren werden, ebenso wie ich selbst. Ihr Überblick über Theorie, Praxis und Forschung zum Heilsamen des Schreibens ist fundiert, umfassend und sehr gut lesbar. Die Autorin beschränkt sich dabei nicht nur auf die systemischen Interventionen, sondern berücksichtigt auch Schreibinterventionen anderer Therapieverfahren. Anhand vieler berührender Beispiele zeigt das Buch, wie man Briefe, Manifeste oder Erzählungen in Einzel- und Gruppenpsychotherapie und Beratung einsetzen kann. Inspirierend fand ich unter anderem die Idee, Klienten in der Therapie anzuregen, selbst einen Abschlussbericht oder Brief zu schreiben, um Erfolge zu verankern. Oder die Idee, Klienten zum Therapieabschluss zu bitten, ein Selbstporträt zu verfassen und darauf zu achten, wie sich ihre Selbstbeschreibungen im Vergleich zum Beginn der Therapie verändert haben. Die Autorin stellt überzeugend dar, wie wichtig es ist, an entstandenen Texten weiterzuarbeiten und dabei inhaltliche Veränderungen wie Fokusverschiebung und Perspektivenwechsel oder formale Veränderungen wie den Wechsel der Erzählform, des Tempus oder des Erzähltempos vorzunehmen.
Carmen Unterholzer illustriert ihre Arbeit mit einer Vielzahl von eindrucksvollen Fallbeispielen, sodass es nicht nur eine intellektuelle Freude ist, ihr Buch zu lesen – ihr Buch berührt auch emotional. Als Systemikerin arbeitet sie selbstverständlich ressourcenorientiert, vergisst darüber aber nicht, dass »Menschen … mit der Schwere ihrer Geschichten gesehen, gehört und verstanden werden« wollen (Seite 115). Es geht darum, »Opfergeschichten umzuwandeln in Entwicklungs- oder Bewältigungsgeschichten« (Seite 135) –, um einen behutsamen Prozess der Weiterentwicklung alter, belastender Muster hin zu konstruktiveren.
Das Buch hat mir aber nicht nur persönlich und als Therapeutin gefallen – es hat mich auch als Wissenschaftlerin angesprochen. Denn Carmen Unterholzer beschreibt den Forschungsstand zum Thema samt eigener Forschungsarbeiten und geht differenziert auf Fragen von Indikation, Kontraindikation und differenzieller Indikation ein, wie etwa den Einsatz von Schreibübungen bei Menschen mit Traumafolge- oder Essstörungen. Insofern gilt also: Schreiben und therapeutische Schreibübungen fördern – nicht immer, aber häufig – Selbstregulation, Selbstwirksamkeit, Kohärenz und soziale Integration, sie helfen dabei, dysfunktionale Muster zu erkennen, funktionalere Muster zu entwickeln und zu verankern und kreatives Potenzial zu mobilisieren.
So kann ich dieses Buch nur allen (angehenden) Psychotherapeuten und Beratern ans Herz legen – den Systemikern wie auch allen anderen, die sich für den therapeutischen Einsatz des Schreibens interessieren.
Kirsten von Sydow
Hamburg, im Januar 2017
Einleitung
Macht es einen Unterschied, ob Klienten1 in der Therapie »nur« reden oder ob sie auch schreiben? Falls ein Unterschied feststellbar ist, worin besteht er? Wenn ich Schreiben in der Therapie einsetze, wie kann ich es effektiv nutzen? Kann therapeutisches Schreiben auch kontraproduktiv sein? Fragen wie diese treiben mich seit Jahren um, ausgelöst durch zweierlei: zum einen durch berufliche Erfahrungen mit Schreiben in therapeutischem Kontext, zum anderen durch persönliche Erfahrungen mit Schreiben – in Krisen, bei Ambivalenzen, als Mittel zur Selbstreflexion. Für mich bedeutet Schreiben Nähe zu mir. Anaïs Nin formuliert es treffend (Nin 1974, S. 214):
»Wir schreiben […] um unser Bewusstsein vom Leben zu vertiefen […] Wir schreiben, um das Leben zweimal zu kosten: im Augenblick und in der Rückschau […] Wir schreiben, um unser Leben zu transzendieren, um darüber hinauszugreifen. […] Wir schreiben, um unsere Welt zu erweitern, wenn wir uns stranguliert fühlen, eingeengt und einsam.«
Schreibend kann ich die Zeit anhalten, ich kann innehalten und nachdenken, nacherzählen, nachempfinden – eben das Leben ein zweites Mal kosten. Schreibe ich nicht, zerrinnt mir das Leben zwischen den Fingern.
Viele Menschen schreiben und damit meine ich, sie schreiben mehr als ihren Einkaufszettel oder Zahlen auf einen Zahlschein. Es verschafft ihnen – so wie mir – Erleichterung, bringt Klarheit, unterstützt sie, wenn sie sich entscheiden müssen. Schreibend ordnen wir Gedanken, die ansonsten auf uns einstürzen würden. Schreibend entdecken wir Auswege aus scheinbaren Sackgassen, schreibend eröffnen sich neue Perspektiven. Gut, könnten wir sagen, das schaffen wir auch, wenn wir nur reden, also mündlich. Aber die Rede ist flüchtig – gesprochene Gedanken verschwinden. Schreiben wir Erkenntnisse hingegen auf, dann sind sie festgehalten: Schwarz auf weiß stehen sie da, jederzeit nachlesbar. Und das ist wichtig, denn oft vergessen wir in Zeiten der Krise unsere Stärken, wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse.
Denke ich ans Schreiben, weckt das sofort Erinnerungen an erste, frühe Schreiberfahrungen. Schnell taucht ein bestimmtes Erlebnis auf: die Erfindung des Kaugummis. Die Geschichte der künstlichen Kaumasse oder besser, meine Fantasien dazu, sind eng mit meiner Schreibgeschichte verbunden. Meine Volksschullehrerin mochte mich nicht besonders, ich spürte ihre Abneigung, vernahm ihren beißenden Spott. War es, weil ich eine Städterin und als neu Zugezogene im Dorf ein Fremdkörper war oder weil ich die Schule nicht so wichtig nahm, das Spielen interessanter fand? Doch dann brachte sie uns ein Aufsatzthema mit, an dem ich entbrannte: »Wie der Kaugummi entstand.« Ich, sonst eine eher zurückhaltende Schreiberin, erfand die Geschichte eines ausgetretenen Turnschuhs auf der Flucht vor Mr. Wrigley. Die Lehrerin hatte mir nicht nur mangelnde Fähigkeit zur Integration unterstellt, sondern auch wenig Fantasie zugetraut. Der Text überraschte sie, sie gab ihn mir zurück mit der Bemerkung: »Hätt’ ich gar nicht von dir erwartet.« Von nun an war sie freundlicher zu mir. Ich erfuhr erstmals, dass man am Schreiben entflammen kann und dass Texte wirken, etwas verändern können.
Das Schreiben ließ mich nicht mehr los, ich wollte dranbleiben. Das Studium der Germanistik sollte mir diese Nähe garantieren. Aber spätestens als ich die ersten Seminararbeiten verfasste, merkte ich: Das hat mit dem, was ich mit Schreiben verbinde, mit Lust, Kreativität, Lebendigkeit nicht mehr viel zu tun. Nach Abschluss des Studiums arbeitete ich als Journalistin. Ich verfasste Porträts über Liesl Karlstadt, Marieluise Fleißer, Elfriede Jelinek, ich interviewte Verlegerinnen, Künstlerinnen. Die Flowgefühle, die die kindliche Schreiberin empfand, stellten sich wieder ein. Doch der hohe Produktionsdruck, die schlechten Arbeitsbedingungen und die ungesunde Lebensweise ließen die Freude am Schreiben mit den Jahren seltener werden, bis ich eines Tages feststellte: Das Schreiben macht so keinen Spaß mehr.
Also absolvierte ich eine mehrjährige, poesietherapeutische Ausbildung und entwickelte anschließend Konzepte für Schreibgruppen. Ich war erstaunt über die große Nachfrage – es schien gerade so, als hätte ich eine Marktnische entdeckt. Schreibend hatten Teilnehmer die Möglichkeit, Themen, die sie beschäftigen oder belasten, zu bearbeiten. Gruppen wie »Mutter – Tochter«, »Arbeiten – das ganze Leben?« oder »Geschichte(n) meines Lebens« laufen auch nach vielen Jahren noch mit großem Erfolg. Bereits zu Beginn meiner schreibtherapeutischen Tätigkeit fiel mir die hohe Wirksamkeit auf, das Feedback der Teilnehmer bestätigte meinen Eindruck. Viele berichten nach einem Wochenendseminar oder auch Monate später, welch starken Effekt das Schreiben über die Mutterbeziehung oder über das Verhältnis zur Arbeit hatte.
Dem poesietherapeutischen Curriculum folgte eine Ausbildung zur Psychotherapeutin2 der Fachrichtung »Systemische Familientherapie«. Nun konnte ich alle meine unterschiedlichen Talente und meine verschiedenen beruflichen Ausbildungen und Erfahrungen – Literaturwissenschaft, Journalismus, Poesie- und Psychotherapie – zusammenführen und nutzen. Seit Jahren verknüpfe ich die systemische Psychotherapie mit Schreibinterventionen. Während ich es in den ersten Berufsjahren noch recht unsystematisch einsetzte, stieg mit zunehmender Erfahrung das Verlangen nach methodischem Vorgehen. Es entstand das Bedürfnis, mich wissenschaftlich mit therapeutischem Schreiben in der systemischen Psychotherapie zu befassen und seinen gezielten Einsatz zu erforschen. Ich begann meine eigene Praxis verstärkt zu reflektieren und zu systematisieren. Wer selbst begeistert schreibt, wer die vielfältigen Wirkungen des Schreibens am eigenen Leib erfährt, unterliegt der Gefahr zu denken: Das, was mir hilft, gilt auch für andere. Kenneth Gergens Warnung (Gergen 2002, S. 31) kam mir in den Sinn: »Je mehr wir jedoch von der Wirklichkeit und Wahrheit unserer eigenen Überzeugungen ausgehen, umso mehr missachten wir alternative Wirklichkeiten.« So entstehen blinde Flecken. Ganz ausschließen können wir sie nie, aber wir können sie minimieren. Deshalb holte ich immer häufiger Feedback von meinen Klienten ein: Wie sinnhaft erleben sie die Schreibinterventionen? Wo liegt der Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Interventionen? Welche Wirkungen stellen sie fest? Wie sich dabei zeigte, geht therapeutisches Schreiben in seinen Wirkungen weit über das Sich-von-der-Seele-Schreiben hinaus.
Dass Erzählungen Gegenstand der Therapie sind, ist, spätestens seit sich der narrative Ansatz etabliert hat, eine Selbstverständlichkeit. Doch dass aus mündlichen Erzählungen Texte werden, ist noch wenig untersucht worden. Fachleute unterschiedlichster Disziplinen klagen gebetsmühlenartig über das hauchdünne empirische Eis, auf dem sie sich bewegen, wenn sie schreibtherapeutisch arbeiten. Obwohl viele Menschen zur Feder greifen, wissen wir wenig darüber, wann Schreiben hilft, wann es schadet, wie Texte gestaltet sein müssen, um heilsame Effekte hervorzubringen. Diese Diskrepanz ist auffallend. Es ist, als läge ein äußerst fruchtbares Feld vor uns, aber nur wenige beackern es. Nur wenige beforschen es. Schreibtherapeutisch arbeiten hingegen viele.
»Es lohnt sich, einen Stift zu haben«3 sucht nach Antworten auf die aufgeworfenen Fragen. Das Buch zeigt die Vielfalt schriftlicher Interventionen und ihre Einsatzmöglichkeiten in der systemischen Psychotherapie. Beispiele aus meiner therapeutischen Arbeit geben Einblick in meine Praxis.
Wie es sich fügte. Zur Struktur des Buches
Kapitel 1 fragt nach Parallelen zwischen den beiden Systemen Literatur und Therapie und ihren relevanten Umwelten. Wie nutzen Therapeuten Literatur? Statt von Frau Meier erzählen sie von Effi Briest, statt von Familie Müller von den Brüdern Karamasow. Dies deshalb, weil Literatur und Therapie um ähnliche Themen kreisen: um Konflikte, schwieriges Lieben und den Tod. Wie profitieren Schriftsteller von der therapeutischen Wirkung von Literatur? Ein Blick zurück in die Antike, in die deutsche Klassik und in die Gegenwart zeigt: Literatur wurde schon immer eine heilende Wirkung zugeschrieben.
Kapitel 2 wirft einen Blick über den systemischen Tellerrand. Es ist nicht die systemische Therapie, die federführend bei der Entwicklung des therapeutischen Schreibens war. Integrative Kollegen waren weiter, haben eine eigene Methode, die Poesie- und Bibliotherapie, entwickelt. Wie arbeiten andere therapeutische Schulen mit Schreiben? Welche Herangehensweisen wählen systemische Therapeuten, wenn sie schreiben oder ihre Klienten zum Schreiben motivieren?
Was ich in Kapitel 2 abgrenzend zu anderen Ansätzen skizziere, vertiefe ich in Kapitel 3. Hier zeige ich Varianten, wie wir systemische Methoden schreibend umsetzen können. Kapitel 4 präsentiert das Spektrum der Textsorten, auf die wir zurückgreifen können. Geläufig im therapeutischen Kontext ist der Brief oder das Tagebuch, seltener kommen der Beipackzettel, die Gebrauchsanweisung oder das Drehbuch zum Zug.
Kapitel 5 und Kapitel 6 gewähren Einblick in meine konkrete therapeutische Praxis: Zunächst führe ich vor, welche Schreibinterventionen ich in der Einzeltherapie einsetze, dann, in Kapitel 6, konzentriere ich mich auf das Schreiben in Gruppen. Anhand zweier Konzepte, »Geschichte(n) meines Lebens« und »Arbeit – das ganze Leben«, zeige ich beispielhaft die Verknüpfung von systemischen Ansätzen mit schreibtherapeutischen Interventionen. Leser bekommen zum Beispiel Antworten auf die Fragen: Wie führe ich Schreibübungen ein? Wann setze ich welche Textgattung ein?
»Die Kraft des Gestaltens«, Kapitel 7, widmet sich Form- und Gattungsfragen, die für das therapeutische Schreiben relevant sind. Ist es sinnvoll, Klienten vorzuschlagen, ihre Texte zu überarbeiten? Wann empfiehlt es sich, sich eines Textes nochmals anzunehmen, und worauf können Klienten und Therapeuten bei einer Überarbeitung achten? Es gibt Situationen, in denen man lieber nicht zum Stift greifen, die Tastatur unberührt lassen sollte, Situationen in Therapien, in denen es besser ist, wenn das Wort flüchtig bleibt, wenn es nicht »festgeschrieben« wird. Kapitel 8 umreißt Nachteile und unerwünschte Nebenwirkungen schriftlicher Interventionen.
Was meint die Wirkungsforschung zu alledem? Kapitel 9 widmet sich abschließend dieser Frage. Was ist bisher bereits bekannt, was kann noch ergänzt werden? Hier kommen meine Klienten verstärkt zu Wort. Sechzehn von ihnen, die eine Hälfte Teilnehmer von Schreibgruppen, die andere Einzelklienten, wurden mittels Tiefeninterviews befragt. Obwohl die Anliegen in den beiden Gruppen unterschiedlich sind – Teilnehmer von Gruppen kommen wegen des speziellen Themas in die Gruppe, Einzelklienten suchen mich mit konkreten Leidenszuständen auf –, eint sie die Erfahrung, Schreiben als Ressource zu entdecken. Die einstündigen Tiefeninterviews wurden transkribiert und auf die unterschiedlichen Wirkungen therapeutischen Schreibens hin analysiert.
Der Buchtitel »Es lohnt sich, einen Stift zu haben« weist eine bildliche Nähe zum händischen Schreiben auf, eine für viele recht antiquierte Form, etwas schriftlich festzuhalten. Ein »digital native« wählt sein Tablet, seinen Laptop oder sein Smartphone, um beispielsweise Beobachtungen zwischen den Therapiesitzungen festzuhalten oder die Quintessenz einer Stunde zu formulieren. Solange wissenschaftliche Studien nicht dem händischen Schreiben einen eindeutigen Vorteil bestätigen, schließt der Titel – schon der Anschlussfähigkeit wegen – beide Varianten ein.
Die Erkenntnisse dieses Buches sind als vorläufig zu betrachten. »Es lohnt sich, einen Stift zu haben« präsentiert in diesem Sinne Perspektiven und Schritte meines Vorgehens, die sich in der Zusammenarbeit mit Klienten als sinnvoll erwiesen haben – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
1 Auf Wunsch des Verlages wird in diesem Buch darauf verzichtet, jeweils die männliche und die weibliche Form (hier: Klientinnen und Klienten) anzuführen. Gemeint sind jeweils beide Geschlechter, unabhängig davon, ob die männliche oder die weibliche Form benutzt wird.
2 Das österreichische Psychotherapiegesetz beschränkt den Zugang zur Ausbildung zum Psychotherapeuten nicht auf Mediziner und Psychologen.
3 »Es lohnt sich einen Stift zu haben« ist ein Zitat von Gertrude Stein. Es stammt aus dem Gedicht »A Little Love of Life«, enthalten in »Stanzas in Meditation and Other Poems«. New Haven, Yale University Press 1956. Die Verszeile wurde von Renate Stendhal übersetzt und ist erschienen in: Stendhal, R. (Hrsg.) (1988): Gertrude Stein. Ein Leben in Bildern und Texten. Arche (Zürich), S. 191.