Obwohl es noch früh am Nachmittag war, hatte Präsident Samuel Adams Castilla dem aufgeregten Gedränge und Gehetze in den Korridoren um das Oval Office den Rücken gekehrt und sich in die stille Behaglichkeit und Ruhe seines Refugiums im ersten Stock des Ostflügels zurückgezogen. Dieser Raum gehörte ganz allein ihm und war von den modischen Launen der Designer und Innenarchitekten verschont geblieben, die das übrige Weiße Haus nach den Anweisungen seiner Gattin neu eingerichtet hatten. Hier gab es Bücherregale, die von oft gelesenen Büchern überquollen, einen großen Navajo-Teppich auf dem gebohnerten Holzfußboden, ein schwarzes Ledersofa, ein paar Lehnsessel und einen Fernsehapparat mit großem Bildschirm. An den Wänden hingen Drucke von Frederic Remington und Georgia O’Keefe und gerahmte Fotografien von den zerklüfteten Bergen rund um Santa Fe.
Castilla sah mit einem Lächeln über die Schulter. Seine Hand schwebte über einer Flasche und zwei Gläsern auf der Anrichte. »Lust auf einen Scotch, Fred?«
Fred Klein, der auf dem langen Sofa saß, grinste zurück. »Sehr gern, Mr President.«
Castilla goss die Drinks ein und brachte die Gläser zum Sofa. »Das ist der Caol Ila, Jinjiros Lieblings-Scotch.«
»Sehr passend, Sam«, bemerkte Klein. Der Leiter des Covert-One nickte zum Fernseher hinüber. »Er müsste jeden Augenblick auf Sendung sein.«
»Ja. Und ich möchte das um nichts in der Welt verpassen«, erwiderte Castilla. Er stellte seinen Scotch auf den Tisch und drückte eine Taste auf der Fernbedienung. Der Bildschirm leuchtete auf, und der riesige Saal erschien, in dem die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York tagte. Jinjiro Nomura stand allein am Rednerpult und blickte mit erhobenem Kopf und perfekter Haltung über das Meer von Delegierten und auf ihn gerichteten Kameras hinweg, obgleich er wusste, dass seine Worte und sein Bild um die ganze Welt in die Wohnzimmer von mehr als einer Milliarde Menschen gesendet wurden, die diese Live-Übertragung sahen. Sein Gesicht war ernst und noch immer von den tiefen Linien gezeichnet, die Verrat, ein Jahr Gefangenschaft und der Tod seines Sohns hinterlassen hatten.
»Ich stehe heute im Namen der Lazarus-Bewegung vor Ihnen«, begann Jinjiro. »Eine Bewegung, deren hehre Ideale und selbstlosen Anhänger von der Niedertracht eines einzelnen Mannes verraten und betrogen wurden. Dieser Mann, mein eigener Sohn Hideo, hat alle meine Freunde und Mitarbeiter ermordet und mich eingesperrt und auf diese Weise all jene beseitigt, die die Bewegung gegründet haben, um ungehindert und unbemerkt die Macht an sich zu reißen. Dann benutzte er unter der Maskerade von Lazarus unsere Organisation, um seine eigenen grausamen und mörderischen Ziele zu tarnen und schließlich zu verwirklichen. Ziele, die im vollkommenen Gegensatz zu allem standen, wofür unsere Bewegung eintritt ...«
Castilla und Klein lauschten in zufriedenem Schweigen, wie Jinjiro Nomura sorgfältig und präzise die Einzelheiten von Hideos Verrat schilderte und dabei auch die geheime Entwicklung und Produktion der Nanophagen und Hideos Pläne nicht verschwieg, mit ihrer Hilfe den Großteil der Menschheit auszulöschen, um sich selbst zum absoluten Herrscher über die verängstigten Überlebenden aufzuschwingen. Amerikas Verbündete, deren Botschafter Jinjiro schon Tage zuvor über den Sachverhalt unterrichtet hatte, schwenkten bereits wieder auf den Kurs Amerikas ein. Alle hatten es eilig, ihre große Erleichterung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass sich ihr Misstrauen als unbegründet erwiesen hatte, und waren bemüht, ihre beschädigten Beziehungen mit den USA wieder zu kitten, bevor die ganze Wahrheit in der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Nomuras Rede vor den Vereinten Nationen war nur der erste Teil einer Kampagne, die Unterwanderung der Lazarus-Bewegung öffentlich zu machen und Amerikas Ruf wiederherzustellen.
Beide Männer wussten, dass dies Zeit brauchen und große Anstrengungen von allen Seiten erfordern würde, doch sie waren überzeugt, dass die Wunden, die Hideo Nomuras Tücke und Verrat hinterlassen hatten, heilen würden. Einige wenige vereinzelte Fanatiker klammerten sich vielleicht noch an ihre Überzeugung, dass Amerika an allem schuld sei, doch die meisten würden die Wahrheit akzeptieren und sich von der ruhigen Eindringlichkeit und dem beeindruckenden Auftreten des letzten überlebenden Gründungsmitglieds der Lazarus-Bewegung überzeugen lassen. Und jenen, die Fakten lieber schwarz auf weiß sahen, würde die Veröffentlichung sämtlicher Daten und Dokumente, die in Nomuras geheimen Labors auf den Azoren gefunden worden waren, die letzten Zweifel nehmen. Die Bewegung selbst, erschüttert von den ersten Enthüllungen über das Lügengebäude und die mörderischen Pläne ihres Anführers, zeigte bereits Auflösungserscheinungen. Anhänger und Reste der alten Struktur der Organisation würden nur überleben können, wenn sie zu einer Rückkehr zu Jinjiros ursprünglicher Vision einer Bewegung fähig waren, die sich für den friedlichen Wandel und eine Erneuerung der Umweltpolitik einsetzte.
Castilla fühlte, dass er sich zum ersten Mal seit Wochen entspannte. Amerika und die ganze Welt waren noch einmal knapp davongekommen. Er seufzte und bemerkte, dass Fred Klein ihn ansah.
»Es ist vorbei, Sam«, sagte sein Freund leise.
Castilla nickte. »Ich weiß.« Er hob sein Glas. »Auf Colonel Smith und die anderen.«
»Auf sie alle«, sagte Klein und hob ebenfalls sein Glas. »Sainte.«
Ein frischer, vom Regen sauber gewaschener Herbstwind raschelte in den Blättern, die noch an den Bäumen entlang der Mall hingen. Sonnenlicht sickerte schräg durch die Zweige und warf tanzende, rot und golden getönte Schattenmuster auf den Rasen.
Jon Smith schlenderte zwischen den Bäumen hindurch auf eine Frau zu, die in Gedanken versunken neben einer Bank stand. Ihr kurzes, goldenes Haar leuchtete in der Nachmittagssonne. Obwohl ihr Arm und ihre Schulter in einem dicken Gipsverband steckten, wirkte sie dennoch schlank und anmutig.
»Wartest du vielleicht auf mich?«, fragte er leise, als er nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war.
Randi Russel drehte sich zu ihm um. Ein kleines Lächeln spielte um ihren Mund.
»Ich vermute es mal — falls du der Typ bist, der mir die Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen hat, dass er mit mir essen gehen will«, entgegnete sie schnippisch. »Wenn nicht, esse ich allein.«
Smith grinste. Manche Dinge änderten sich nie. »Wie geht’s deinem Arm?«, erkundigte er sich.
»Ganz gut«, erwiderte sie. »Die Ärzte sagen, der Gips kann in ein paar Wochen runter. Wenn es soweit ist und das Schlüsselbein geheilt ist, soll ich noch eine Weile in die Reha, bevor ich wieder für den Außendienst fit bin. Ehrlich gesagt, kann ich es kaum mehr erwarten. Ich bin nicht dafür geschaffen, hinter einem Schreibtisch zu sitzen.«
Er nickte. »Wie stehen die Dinge in Langley? Regiert noch immer das Chaos?«
Randi zuckte vorsichtig mit den Schultern. »Allmählich scheint sich die Situation zu beruhigen. Die Computerdateien, die unsere Leute auf den Azoren gefunden haben, waren ziemlich aufschlussreich. Sie haben so ziemlich jeden auffliegen lassen, der mit TOCSIN zu tun hatte. Hast du schon gehört, dass Hanson zurücktritt?«
Smith nickte. Der Direktor der CIA war zwar nicht direkt in die illegalen Operationen von Burke und Pierson verwickelt gewesen, aber niemand zweifelte daran, dass seine falsche Einschätzung und seine Bereitschaft wegzusehen mitverantwortlich für die prekäre Situation der CIA gewesen waren. David Hansons Rücktritt »aus persönlichen Gründen« war für ihn die einzige Alternative zu seiner Entlassung, die es ihm ermöglichte, das Gesicht zu wahren.
»Hast du was von Peter gehört?«, fragte Randi.
»Er hat mich letzte Woche angerufen«, sagte Smith. »Er ist wieder Pensionär und lebt in seinem Haus in den Sierras. Diesmal endgültig, behauptet er.«
Sie wölbte zweifelnd die Augenbrauen. »Glaubst du ihm das?«
Er lachte. »Nicht wirklich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Peter sehr lange untätig in einem Schaukelstuhl auf seiner Veranda sitzen kann.«
Sie musterte Jon aus leicht zusammengekniffenen Augen. »Und wie geht es dir? Spielst du noch immer den Spion für die Vereinigten Nachrichtendienste? Oder war es diesmal der Geheimdienst der Armee?«
»Ich bin wieder zurück in Fort Detrick, in meinem alten Job beim USAMRIID«, erzählte ihr Smith.
»Wieder zurück im alten Trott mit den Infektionskrankheiten?« , fragte Randi.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Wir entwickeln ein Programm, mit dem wir weltweit die potenziellen Gefahren der Nanotechnologie-Forschung und der Entwicklung von Nanomaschinen überwachen können.«
Sie starrte ihn verblüfft an.
»Wir haben Nomura zwar gestoppt«, sagte er. »Aber jetzt ist der Geist aus der Flasche. Jemand anderer irgendwo auf der Welt könnte irgendwann etwas Ähnliches oder genauso Tödliches entwickeln.«
Randi lief bei dem Gedanken ein kalter Schauder über den Rücken. »Ich will mir das gar nicht vorstellen.«
Er nickte ernst. »Wenigstens wissen wir dieses Mal, wonach wir suchen müssen. Für die Herstellung von biologisch aktiven Nanopartikeln braucht man biochemische Substanzen in großen Mengen, und das sind Substanzen, deren Herkunft und Verteilung wir verfolgen können.«
Sie seufzte. »Vielleicht sollten wir das tun, was die Lazarus-Bewegung von Anfang an gefordert hat. Die Nanotechnologie ganz verbieten.«
Smith schüttelte den Kopf. »Und auf den potenziellen Nutzen verzichten, den sie uns bringen kann? Wie zum Beispiel die Heilung von Krebs? Oder das Ende der Umweltverschmutzung?« Er zuckte mit den Schultern. »Mit der Nanotechnologie ist es wie mit allen neuen Technologien, Randi. Wie wir sie benutzen — ob zum Guten oder Schlechten -, liegt ganz bei uns.«
»Das ist eindeutig der Wissenschaftler in dir, der da redet«, kommentierte sie trocken.
»Das bin ich nun mal«, erwiderte Smith. »Zumindest die meiste Zeit.«
»Richtig«, entgegnete Randi mit einem säuerlichen Grinsen und ließ das Thema auf sich beruhen. Sie seufzte. »Was ist jetzt, Dr. Smith? Sie haben mir ein Dinner versprochen. Wollen Sie Ihr Versprechen halten oder nicht?«
Er deutete eine Verbeugung an und bot ihr galant seinen Arm. »Es soll keiner behaupten, dass ich ein Mann bin, der nicht zu seinem Wort steht, Ms Russel. Das Dinner geht auf mich.«
Arm in Arm gingen Jon und Randi zu seinem Wagen. Über ihnen trieben mit dem Wind die letzten Wolkenfetzen davon und ließen einen klaren, blauen Himmel zurück.
Lieutenant Colonel Dr. med. Jonathan (»Jon«) Smith bog von der Old Agua Fria Road auf die Zufahrtsstraße zum Haupttor des Instituts. Er kniff die Augen gegen das grelle Licht des frühen Morgens zu Schlitzen zusammen. Zu seiner Linken im Osten schob sich gerade die Sonne über die leuchtenden, schneebedeckten Gipfel der Sangre de Cristo Mountains und tauchte die steilen, mit gelbblättrigen Espen, riesigen Fichten, Kiefern und Eichen bestandenen Hänge in goldenes Licht. Weiter unten, am Fuß der Berge, lagen die niedrigeren Nusskiefern, Lärchen und Wacholderbäume noch immer im Schatten, ebenso wie das dichte Gestrüpp aus Ginster und Beifuß, das die dicken, sandfarbenen Adobe-Mauern des Instituts umgab.
Einige der Demonstranten, die entlang der Straße die Nacht über campiert hatten, krochen aus ihren Schlafsäcken und folgten dem vorüberfahrenden Wagen mit ihren Blicken. Ein paar hielten selbst gemachte Schilder in die Höhe, auf denen sie STOPPT DIE MÖRDERWISSENSCHAFT, NEIN ZUR NANOTECHNOLOGIE oder LAZARUS AN DIE MACHT forderten. Die meisten blieben jedoch liegen, waren noch nicht bereit, dem kalten Oktobermorgen ins Gesicht zu sehen. Santa Fe lag in einer Höhe von mehr 2300 Metern, und in der Nacht wurde es empfindlich kalt.
Smith empfand einen momentanen Anflug von Sympathie für die Demonstranten. Obwohl die Heizung in seinem Mietwagen lief, konnte er die Kälte durch seine braune Bomber-Lederjacke und die sorgfältig gebügelte Khakihose spüren.
Ein grau uniformierter Wachposten am Tor hob den Arm, und Smith hielt an. Er kurbelte das Fenster herab und reichte dem Wachmann seinen U.S. Army Dienstausweis. Das Foto auf dem Ausweis zeigte einen durchtrainierten Mann Anfang vierzig — einen Mann, dessen hohe Backenknochen und glatte, dunkle Haare ihm das Aussehen eines hochmütigen spanischen Edelmanns verliehen. Tatsächlich jedoch widerlegte das amüsierte Funkeln seiner dunkelblauen Augen den Eindruck von Arroganz.
»Guten Morgen, Colonel«, sagte der Wachposten, ein ehemaliger Staff Sergeant bei den Army Rangers namens Frank Diaz. Nachdem er den Ausweis eingehend begutachtet hatte, beugte er sich vor und spähte durch die Wagenfenster, um sich zu vergewissern, dass Smith allein war. Seine rechte Hand schwebte wachsam in der Nähe der 9mm-Beretta-Pistole, die in einem Halfter an seiner Hüfte steckte. Die Deckklappe des Halfters war offen — wodurch er die Beretta schneller ziehen konnte, falls nötig.
Smith zog unwillig die Augenbrauen hoch. Die Sicherheitsmaßnahmen am Teller Institut waren normalerweise entspannter und sicherlich nicht auf dem Standard der streng geheimen Atomforschungslaboratorien im nahe gelegenen Los Alamos. Doch der Terminplan des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Samuel Adams Castilla, sah vor, dem Institut in drei Tagen einen Besuch abzustatten. Und jetzt war für die Zeit, in der er seine Rede halten würde, eine riesige Antitechnologiekundgebung organisiert worden. Die Demonstranten vor dem Tor heute Morgen waren nur die erste Welle von tausenden mehr, die aus allen Teilen der Welt hier zusammenströmen würden. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Kriegen Sie von den Leuten da draußen schon Zunder, Frank?«
»Nicht sonderlich viel bisher«, räumte Diaz ein. Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben ein wachsames Auge auf sie. Diese Demonstration macht die Leute in der Regierung nervös. Das FBI sagt, es sind ein paar wirklich hartgesottene Krawallbrüder hierher unterwegs — die Sorte, die drauf steht, Molotowcocktails zu werfen und Fensterscheiben einzuschlagen.«
Smith runzelte die Stirn. Massenproteste lockten überall auf der Welt Anarchisten mit einem Faible für Gewalt und Zerstörung von Eigentum an. Genua, Seattle, Cancun und ein halbes Dutzend anderer Städte auf dem Globus hatten bereits erlebt, dass ihre Straßen in Schlachtfelder für maskierte Chaoten und die Polizei verwandelt wurden.
Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, deutete er einen militärischen Gruß an und fuhr weiter in Richtung Parkplatz. Die Aussichten, in einem Aufruhr festzusitzen, waren nicht sonderlich erfreulich. Nicht, wenn man in New Mexico auch ein bisschen Urlaub machen möchte.
Das kannst du dir abschminken, dachte Smith mit einem schiefen Grinsen. Betrachte es als einen Arbeitsurlaub. Als Militärarzt und Experte für Molekularbiologie verbrachte er den Großteil seiner Zeit im Dienst des U.S. Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID), dem Medizinischen Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten der U.S. Armee in Fort Detrick, Maryland. Seine Tätigkeit am Teller Institut war nur temporär.
Das Office of Science and Technology des Pentagon hatte ihn nach Santa Fe geschickt, damit er sich die Arbeit ansah, die in den drei Laboratorien für Nanotechnologie des Instituts gemacht wurde, und einen Bericht darüber verfasste. Überall auf der Welt lagen Wissenschaftler im heftigen Wettstreit, praktikable und profitable Anwendungsmöglichkeiten für die Nanotechnologie zu entwickeln. Einige der Besten ihres Fachs arbeiteten hier in Teams des Teller Instituts, der Harcourt Biosciences und der Nomura PharmaTech. Grundsätzlich betrachtet, dachte Smith zufrieden, hatte ihm das Verteidigungsministerium einen Platz in der ersten Reihe zugewiesen, von dem er die Entwicklung der vielversprechendsten neuen Technologien des Jahrhunderts aus nächster Nähe beobachten konnte.
Die Arbeit hier war genau nach seinem Geschmack. Das Wort Nanotechnologie stand für ein weit gefächertes Spektrum von Inhalten. Im Wesentlichen bedeutete es die Entwicklung hochkomplizierter Maschinen, die so winzig waren, dass es das menschliche Vorstellungsvermögen überstieg. Ein Nanometer war gerade mal ein Milliardstel eines Meters, etwa zehnmal so groß wie ein Atom. Entwickle eine Konstruktion mit einer Größe von zehn Nanometern und du hast etwas, das nur ein Zehntausendstel des Durchmessers eines menschlichen Haares misst. Nanotechnologie war Ingenieurskunst auf molekularer Ebene, eine Technologie, in der Quantenphysik, Chemie, Biologie und der Einsatz von Hochleistungsrechnern zusammenspielten.
Wissenschaftsjournalisten entwarfen leuchtende Zukunftsvisionen von Robotern, die nur die Größe von ein paar Atomen besaßen und durch den menschlichen Körper streiften, um Krankheiten zu heilen und innere Verletzungen zu reparieren. Andere verlangten von ihren Lesern, sich Informations-speichereinheiten vorzustellen, die ein Millionstel der Größe eines Salzkorns haben und das gesamte Wissen der Menschheit erfassen können. Oder Staubkörner, die als hypereffektive Staubsauger durch die verschmutzte Atmosphäre trieben und dabei den Himmel blank putzten.
Smith hatte in den letzten Wochen am Teller Institut genug gesehen, um zu wissen, dass ein paar dieser scheinbar unmöglichen Vorstellungen bereits kurz vor der Realisation standen. Er zwängte seinen Wagen in eine Parklücke zwischen zwei riesige Geländewagen. Ihre Windschutzscheiben waren vereist, ein Zeichen, dass die Wissenschaftler oder Techniker, denen die Wagen gehörten, die ganze Nacht über im Labor geblieben waren. Er nickte anerkennend. Das waren die Jungs, die an den echten Wundern arbeiteten und sich von starkem schwarzem Kaffee, koffeinhaltigem Soda und von Zucker klebrigen Snacks aus dem Automaten ernährten.
Er stieg aus dem Mietwagen und zog gegen die kalte Morgenluft den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Dann roch er den schwachen Duft von Lagerfeuern und Cannabis, der aus dem Lager der Demonstranten herüberwehte. Immer mehr Kleinbusse, Volvo-Kombis, Charterbusse und mit Gas oder Strom betriebene Autos bogen von der Interstate 25 auf die Zufahrtsstraße zum Institut. Er legte die Stirn in düstere Falten. Die angekündigten Massen sammelten sich.
Leider hatte die Nanotechnologie auch eine potenziell dunkle Seite, die den Befürchtungen und Katastrophenvorstellungen der Aktivisten und Eiferer der Lazarus-Bewegung, die sich draußen vor dem Maschendrahtzaun des Instituts sammelten, immer wieder neue Nahrung gab. Die Vorstellung von Maschinen, die so winzig waren, dass sie ohne weiteres in menschliche Zellen eindringen konnten, und die Fähigkeit besaßen, atomare Strukturen zu verändern, versetzte sie in Angst und Schrecken. Radikale Bürgerrechtler warnten vor den Gefahren, die der Menschheit von »Spionagemolekülen« drohten, die unbemerkt an sämtlichen öffentlichen und privaten Orten lauern würden. Ausgeflippte Konspirationsapostel füllten Internet-Chatrooms mit Gerüchten über heimlich entwickelte winzige Tötungsmaschinen. Andere hatten Angst davor, dass sich entkommene Nanomaschinen selbst vervielfältigen und in einer endlosen Parade von Zauberbesen, die den Zauberlehrlingen der modernen Zeiten nicht mehr gehorchten, über die Erde tanzen und schließlich die Erde und alles Leben auf ihr vernichten würden.
Jon Smith zuckte mit den Schultern. Wilden Übertreibungen konnte man am besten dadurch begegnen, indem man ihnen greifbare Resultate gegenüberstellte. Wenn die meisten Leute den unbestreitbaren Nutzen der Nanotechnologie erst einmal erkannt hatten, würden auch ihre irrationalen Ängste allmählich weniger werden. Zumindest hoffte er dies. Er machte abrupt auf dem Absatz kehrt und strebte, neugierig darauf, was für neue Wunder die Männer und Frauen in den Labors über Nacht ausgetüftelt hatten, auf den Haupteingang des Instituts zu.
Zweihundert Meter jenseits des Maschendrahtzauns saß Malachi MacNamara mit überkreuzten Beinen auf einer bunten, im Schatten einer mächtigen Lärche ausgebreiteten indianischen Decke. Seine blassblauen Augen waren offen, doch er saß vollkommen ruhig und reglos da. Die in der Nähe campierenden Anhänger der Lazarus-Bewegung waren überzeugt, dass der hagere, wettergegerbte Kanadier meditierte, um seine geistigen und körperlichen Energien für den bevorstehenden Kampf zu sammeln. Der pensionierte Biologe des Forest Service in British Columbia hatte ihre Bewunderung bereits gewonnen, als er mit eindringlichen Worten »sofortiges Handeln« gefordert hatte, um die Ziele der Bewegung zu erreichen.
»Die Erde stirbt«, erklärte er ihnen. »Sie erstickt unter den ungeheueren Mengen von giftigen Pestiziden und anderen Schadstoffen, die sie verschmutzen. Die Wissenschaft wird sie nicht retten. Die neuen Technologien werden sie nicht retten. Sie sind ihre Feinde und die wahre Ursache der Verschmutzung und Vergiftung unseres Planeten. Wir müssen etwas gegen sie tun. Jetzt. Nicht irgendwann. Jetzt! Solange es noch nicht zu spät dafür ist ...«
MacNamara verbarg ein dünnes Grinsen, als er sich an ihre glühenden, von seiner Rhetorik erhitzten Gesichter erinnerte. Er hatte mehr Talent als Redner oder Prediger, als er geglaubt hatte.
Er beobachtete die Aktivitäten in seiner Umgebung. Diesen Platz hatte er sorgfältig ausgewählt. Von hier aus überblickte er das große, grüne Zelt, das die Leute der Lazarus-Bewegung als Kommandozentrale aufgebaut hatten. Mehr als ein Dutzend der nationalen und internationalen Top-Aktivisten befanden sich im Augenblick in diesem Zelt — saßen an ihren mit den Websites der Bewegung verbundenen Computern, registrierten Neuankömmlinge, fertigten Spruchbänder und Schilder an und koordinierten Pläne für die bevorstehende Massenkundgebung. Andere Gruppierungen in der TechStock-Koalition wie der Sierra Club, Earth First! und ähnliche Vereinigungen hatten ihre eigenen, über das ständig größer werdende Lager der Demonstranten verteilten Hauptquartiere, doch MacNamara wusste, dass er zur genau richtigen Zeit am richtigen Ort war.
Die Lazarus-Bewegung war die treibende Kraft hinter dem Protest. Die anderen Antitechnologie- und Umweltorganisationen waren nur deshalb mit von der Partie, weil sie verzweifelt versuchten, etwas gegen ihre stetig sinkenden Mitgliederzahlen und den damit einhergehenden schwindenden Einfluss zu tun. Immer mehr ihrer engagiertesten Mitglieder verließen die Organisationen, um sich der Lazarus-Bewegung anzuschließen, angezogen von der Klarheit ihrer Visionen und ihrem Mut, sich mit den mächtigsten Konzernen und Regierungen anzulegen. Selbst die Ermordung einiger ihrer Aktivisten vor kurzem in Zimbabwe wirkte wie ein Sammelruf unter die Fahnen von Lazarus. Bilder von dem Massaker in Kusasa wurden als Beweis dafür gezeigt, wie sehr die »Führer der globalen Konzerne« und ihre Marionettenregierungen die Bewegung und ihre Botschaft fürchteten.
Der hagere Kanadier mit dem zerklüfteten Gesicht richtete sich noch ein wenig mehr auf.
Mehrere verwegen aussehende junge Männer näherten sich dem olivegrünen Zelt und bahnten sich zielstrebig einen Weg durch die Menge. Jeder der jungen Männer trug einen langen Seesack über die Schulter geworfen. Sie bewegten sich mit der vorsichtigen Eleganz von Raubkatzen.
Einer nach dem anderen erreichte das Zelt und schlüpfte hinein.
»Sieh an, sieh an«, murmelte Malachi MacNamara leise. Seine blassblauen Augen funkelten. »Wie überaus interessant.«
Die elegante Uhr aus dem 18. Jahrhundert an der Wand des Oval Office schlug leise zwölf Uhr mittags. Draußen regnete es in Strömen, eiskalter Regen prasselte gegen die hohen Fenster, die auf den South Lawn hinausblickten. Was immer der Kalender sagte, die ersten Vorboten des Winters zogen über der Hauptstadt des Landes herauf.
Das Deckenlicht schimmerte auf dem Titangestell von Präsident Samuel Adams Castillas Lesebrille, während er die streng geheime Gefahreneinschätzung der Joint Intelligence, der Vereinigten Nachrichtendienste, durchblätterte, die ihm soeben ausgehändigt worden war. Seine Miene verfinsterte sich. Er sah von dem Papier auf und warf einen ärgerlichen Blick über den großen, rustikalen Tisch aus Pinienholz, der ihm als Schreibtisch diente. Seine Stimme war gefährlich leise. »Lassen Sie mich noch mal klarstellen, dass ich Sie richtig verstehe, Gentlemen. Schlagen Sie wirklich allen Ernstes vor, meine Rede am Teller Institut abzusagen? Drei Tage vor dem geplanten Termin?«
»Das ist richtig, Mr President. Um es unverblümt zu sagen, das Risiko, das ein Besuch in Santa Fe mit sich bringt, ist unakzeptabel hoch«, erwiderte David Hanson, der neu im Amt bestätigte Direktor der Central Intelligence, kühl. Wie ein Echo wiederholte Robert Zeller, der amtierende Direktor des FBI, sogleich Hansons Einschätzung mit fast genau denselben Worten.
Castilla fasste die beiden Männer kurz ins Auge, doch dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf Hanson. Der Chef der CIA war der hartgesottenere und schwierigere der beiden — trotz des Umstands, dass er mit seiner obligatorischen Fliege mehr Ähnlichkeit mit einem schmalbrüstigen und gutmütigen College-Professor aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte, als mit dem glühenden Verfechter und kühlen Initiator verdeckter Aktionen und Sondereinsatzkommandos, der er war.
Obgleich Bob Zeller, sein Pendant vom FBI, ein ehrenwerter Mann war, hatte er in dem unergründlichen Sumpf der politischen Intrigen in Washington längst den Boden unter den Füßen verloren. Groß und breitschultrig wie er war, sah Zeller im Fernsehen zwar gut aus, aber er hätte niemals von seinem Amt als Oberster Staatsanwalt in Atlanta zum Direktor des FBI befördert werden dürfen. Nicht einmal auf temporärer Basis, während sich der Stab des Weißen Hauses nach einem geeigneteren Nachfolger umsah. Wenigstens wusste der ehemalige Verteidiger im Footballteam der Navy und langjährige Bundesstaatsanwalt um seine Schwächen. Bei Besprechungen sagte er in der Regel nicht viel und schlug sich gewöhnlich auf die Seite dessen, den er für den Stärkeren hielt.
Hanson war ein vollkommen anderer Fall. Wenn überhaupt, dann war der CIA-Veteran zu erfahren und geschickt im Spiel um Macht und politischen Einfluss. Während seiner langen Amtszeit als Chef des Operationsdirektoriums der CIA hatte er sich unter den Mitgliedern der diversen Geheimdienstkomitees im Kongress und im Senat einen festen Rückhalt verschafft. Eine Menge Kongressabgeordnete und Senatoren glaubten, dass David Hanson über Wasser gehen konnte. Dies verschaffte ihm eine Menge Bewegungsfreiheit für seine politischen Schachzüge, sogar die Freiheit, dem Präsidenten zu widersprechen, der ihn vor kurzem zum Leiter der gesamten CIA ernannt hatte.
Castilla tippte mit einem fleischigem Zeigefinger auf den Bericht zur Gefahreneinschätzung. »Ich entdecke eine Vielzahl von Spekulationen in dem Bericht. Was ich nicht entdecken kann, sind konkrete Fakten.« Er las einen Satz des Berichts laut. »>Abhörberichte nicht spezifischer aber signifikanter Natur weisen darauf hin, dass radikale Elemente unter den Demonstranten in Santa Fe möglicherweise gewalttätige Aktionen planen — entweder gegen das Teller Institut oder gegen den Präsidenten persönlich.‹«
Er nahm seine Lesebrille ab und blickte auf. »Könnten Sie das in einfachem Englisch sagen, David?«
»Wir stoßen zunehmend auf Andeutungen und Hinweise, die diesen Schluss nahe legen, sowohl im Internet wie auch bei mitgeschnittenen Telefongesprächen. Einige beunruhigende Formulierungen tauchen immer wieder auf, die sich alle auf die geplante Massendemonstration beziehen. Es ist immer wieder die Rede von dem >großen Ereignis< oder >der Aktion am Teller Institut<, erklärte der Chef der CIA. »Meine Leute haben diese Schlagworte auch schon in Übersee gehört. Die NSA ebenfalls. Und das FBI bekommt hier bei uns zu Hause dieselben Andeutungen zu hören. Hab ich Recht, Bob?«
Zeller nickte würdevoll.
»Und das versetzt unsere Analytiker in solche Aufregung?« Castilla schüttelte, offensichtlich unbeeindruckt, den Kopf. »Leute, die einander wegen einer politischen Protestaktion E-Mails schicken?« Er schnaubte verächtlich. »Großer Gott! Jede Demonstration, die dreißig- oder vierzigtausend Leute bis nach Santa Fe lockt, ist ein ziemlich großes Ereignis! New Mexico ist für mich ein Heimspiel, aber ich bezweifle, dass je halb so viele bei einer meiner Reden dort waren.«
»Wenn Mitglieder des Sierra Clubs oder der Wilderness Federation so was sagen, mache ich mir keine Sorgen«, erwiderte Hanson leise. »Aber sogar die einfachsten Worte können eine ganz andere Bedeutung haben, wenn sie von gewissen gefährlichen Gruppen und Individuen gesagt werden. Eine tödliche Bedeutung.«
»Sie reden von diesen so genannten ›radikalen Elementen<?«
»Ja, Sir.«
»Und wer sind diese gefährlichen Leute?«
»Die meisten sind auf die eine oder andere Weise mit der Lazarus-Bewegung verbündet, Mr President«, erwiderte Hanson vorsichtig.
Castilla runzelte skeptisch die Stirn. »Das ist ein altes Lied von Ihnen, David.«
Der andere Mann zuckte mit den Schultern. »Dessen bin ich mir bewusst, Sir. Aber die Wahrheit wird nicht weniger wahr, nur weil sie unangenehm ist. Als Ganzes betrachtet, ist der jüngste Bericht unserer Nachrichtendienste über die Lazarus-Bewegung äußerst alarmierend. Die Bewegung metastasiert, und was einmal ein relativ friedfertiges politisches Bündnis für Umweltschutz war, verändert sich sehr schnell in etwas, das viel unberechenbarer, gefährlicher und tödlicher ist als die frühere Organisation.«
Er sah den Präsidenten über den Tisch hinweg an. »Ich weiß, Sie haben die betreffenden Überwachungs- und Abhörberichte gesehen. Und unsere Analyse dieser Berichte.«
Castilla nickte zögernd.
Das FBI, die CIA und andere Bundesnachrichtendienste beobachteten eine lange Reihe von Gruppierungen und Personen. Angesichts des zunehmenden weltweiten Terrorismus und der Verbreitung chemischer, biologischer und nuklearer Waffentechnologien wollte niemand in Washington das Risiko eingehen, aus heiterem Himmel von einem vorher nicht bekannten Feind attackiert zu werden.
»Lassen Sie es mich unverblümt sagen, Sir«, fuhr Hanson fort. »Nach unserem Dafürhalten ist die Lazarus-Bewegung inzwischen fest entschlossen, ihre Ziele durch Gewalt und Terror zu erreichen. Ihre Wortwahl ist zunehmend feindselig, paranoid und voller Hass gegen die, die sie als Feinde betrachtet.« Der Chef der CIA schob ein weiteres Papier über den Tisch aus Pinienholz. »Das hier ist nur ein Beispiel.«
Castilla setzte seine Brille wieder auf und las schweigend. Er verzog vor Abscheu den Mund. Das Papier, auf das er hinabstarrte, war ein Glanzpapierausdruck einer Seite aus einer der Websites der Bewegung und zeigte eine Reihe grotesker kleiner Fotos von entstellten und verstümmelten Leichen. Die Schlagzeile in großen, fetten Lettern über dem Artikel verkündete: UNSCHULDIGE IN KUSASA ABGESCHLACHTET. Der Text zwischen den Bildern machte für das Massaker an den Einwohnern eines ganzen Dorfs in Zimbabwe entweder die von den internationalen Konzernen finanzierten »Todesschwadronen« verantwortlich oder »von der U.S. Regierung bewaffnete Söldner«. Er behauptete, die Morde seien Teil eines geheimen Plans, die Bemühungen der Lazarus-Bewegung, die organische Landwirtschaft in Afrika neu zu beleben, zu zerschlagen, weil sie das Monopol der Amerikaner für genetisch modifiziertes Getreide und Pestizide gefährdeten. Die Seite endete mit einem Aufruf, all jene zu vernichten, die die »Erde und alle, die sie lieben, zerstören«.
Der Präsident ließ das Papier auf den Tisch fallen. »Was für ein Haufen gequirlte Scheiße.«
»Wie wahr.« Hanson zog den Ausdruck wieder über den Tisch und schob ihn zurück in seine Aktenmappe. »Allerdings ist es hochbrisante gequirlte Scheiße — zumindest für das Publikum, auf das sie gemünzt ist.«
»Haben Sie ein Team nach Zimbabwe geschickt, das herausfindet, was in diesem — Kusasa wirklich passiert ist?«, fragte Castilla.
Der Direktor der CIA schüttelte den Kopf. »Das würde extrem schwierig, Mr President. Ohne die Genehmigung von der Regierung dort, die uns gegenüber feindselig eingestellt ist, müssten wir mit einer verdeckten Operation eindringen. Selbst dann bezweifle ich, dass wir viel finden würden. Zimbabwe ist ein hoffnungsloser Fall. Diese Dorfbewohner können von jedem ermordet worden sein — bei den Regierungstruppen angefangen bis hin zu irgendwelchen marodierenden Banditen.«
»Zum Teufel«, brummte Castilla. »Und wenn unsere Leute erwischt werden, wie sie dort ohne Genehmigung herumschnüffeln, wird jeder annehmen, wir hätten etwas mit diesem Massaker zu tun gehabt und versuchten nur, unsere Spuren zu beseitigen.«
»Das ist das Problem, Sir«, stimmte Hanson ihm leise zu. »Aber was auch immer in Kusasa wirklich geschehen ist, eines ist ziemlich klar: Die Führung der Lazarus-Bewegung benutzt diesen Vorfall dazu, ihre Anhänger zu radikalisieren und sie auf direktere und gewalttätigere Aktionen gegen uns und unsere Verbündeten vorzubereiten.«
»Verdammt, diese Entwicklung gefällt mir ganz und gar nicht«, knurrte Castilla. Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Vergessen Sie nicht, dass ich viele der Männer und Frauen kannte, die Lazarus gegründet haben. Sie waren angesehene Umweltaktivisten, Wissenschaftler und Schriftsteller — sogar ein paar Politiker waren darunter. Sie wollten die Erde retten, sie wieder zum Leben erwecken. Ich stimme zwar mit dem Großteil der Aussagen nicht überein, aber sie waren gute Menschen. Ehrenwerte Leute.«
»Und wo sind diese ehrenwerten Leute jetzt, Sir?«, erkundigte sich der Direktor der CIA leise. »Es gab ursprünglich neun Gründungsmitglieder der Lazarus-Bewegung. Sechs davon sind tot, entweder eines natürlichen Todes gestorben oder bei verdächtig konstruiert wirkenden Unfällen ums Leben gekommen. Die anderen drei sind ohne eine Spur verschwunden.« Er warf Castilla einen vorsichtigen Blick zu. »Einschließlich Jinjiro Nomura.«
»Ja«, erwiderte der Präsident tonlos.
Sein Blick wanderte zu einem der Fotos, die sich in einer Ecke seines Schreibtischs scharten. Es war während seiner ersten Amtszeit als Gouverneur von New Mexico aufgenommen worden und zeigte ihn und einen kleineren und älteren Japaner, Jinjiro Nomura, wie sie sich voreinander verbeugten. Nomura war damals ein prominentes Mitglied des Diet, des japanischen Parlaments, gewesen. Ihre Freundschaft, die sich auf eine gemeinsame Vorliebe für Single Malt Scotch und ein offenes Gespräch gründete, hatte Nomuras Rückzug aus der Politik und sein entschlossenes Engagement für Umweltprobleme überdauert.
Vor zwölf Monaten war Jinjiro Nomura, als er zu einer Protestkundgebung in Thailand reiste, verschwunden. Sein Sohn Hideo, der Präsident und Vorstandsvorsitzender von Nomura PharmaTech war, hatte Amerika um Hilfe bei der Suche nach seinem Vater gebeten. Und Castilla hatte sofort reagiert. Wochenlang hatte ein Sondereinsatzkommando aus Agenten der CIA die Straßen und Seitengässchen von Bangkok durchkämmt. Der Präsident hatte sogar die NSA gezwungen, ihre ultra-geheimen Spionagesatelliten für die Suche nach seinem alten Freund zur Verfügung zu stellen. Aber es hatte zu nichts geführt. Keine Lösegeldforderung. Keine Leiche. Nichts. Das letzte der ursprünglichen Gründungsmitglieder der Lazarus-Bewegung war und blieb spurlos verschwunden.
Die Fotografie stand auf Castillas Schreibtisch als eine Mahnung, dass seine Macht Grenzen hatte.
Castilla seufzte und wandte den Blick wieder den beiden vor ihm sitzenden Männern zu. »Okay, Sie haben Ihre Argumente vorgebracht. Die maßgeblichen Leute bei Lazarus, die ich kannte und denen ich vertraute, sind entweder tot oder wie vom Erdboden verschluckt.«
»Genau, Mr President.«
»Was uns wieder zu der Frage zurückbringt, wer die Lazarus-Bewegung jetzt führt«, sagte Castilla grimmig. »Lassen Sie uns zum Punkt kommen, David. Nach dem Verschwinden Jinjiros habe ich Ihr Sondereinsatzkommando gegen die Lazarus-Bewegung genehmigt — trotz meiner Bedenken. Sind Ihre Leute der Antwort auf die Frage, wer gegenwärtig die Bewegung leitet, schon ein Stück näher gekommen?«
»Nicht viel näher«, gab Hanson widerstrebend zu. »Auch nicht nach Monaten intensiver Arbeit.« Er breitete die Hände aus. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass die letzte Entscheidungsbefugnis in den Händen von einem Mann liegt, der sich Lazarus nennt. Aber wir wissen nicht, wie er wirklich heißt oder wie er aussieht oder von wo er die Operationen dirigiert.«
»Das ist nicht gerade befriedigend«, bemerkte Castilla trocken. »Vielleicht sollten Sie aufhören, mir zu erzählen, was Sie nicht wissen, und sich an das halten, was Sie wissen.« Er blickte dem kleineren Mann direkt in die Augen. »Das würde weniger Zeit in Anspruch nehmen.«
Hanson lächelte höflich. Doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Wir haben einen großen Aufwand betrieben und alle verfügbaren Mittel eingesetzt — was Personal, Satellitentechnik und so weiter angeht. Ebenso der MI6, der französischen DGSE und verschiedene andere Nachrichtendienste des Westens, aber während des letzten Jahres hat sich die Lazarus-Bewegung gezielt neu strukturiert, um unserer Überwachung zu entgehen.«
»Fahren Sie fort«, sagte Castilla.
Fünfzehn Minuten später verließ der Direktor der CIA das Weiße Haus und eilte die Stufen des South Portico zu einer dort wartenden schwarzen Limousine hinab. Er ließ sich auf den Rücksitz sinken, wartete, bis der Mann vom Secret Service hinter ihm die Wagentür zuwarf, und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Bringen Sie mich nach Langley zurück«, befahl er seinem Chauffeur.
Hanson lehnte sich in die Wildlederpolster zurück, als die Limousine die Auffahrt hinab Fahrt aufnahm und dann nach links auf die Seventeenth Street bog. Er betrachtete den untersetzten Mann mit dem kantigen Kinn, der mit dem Rücken zum Fahrer auf dem Klappsitz ihm gegenüber saß. »Sie sind sehr schweigsam heute Nachmittag, Hal.«
»Sie bezahlen mich dafür, dass ich Terroristen fange oder töte«, erwiderte Hal Burke. »Nicht, um mit Ihnen höfliche Konversation zu machen.«
Ein amüsiertes Funkeln glomm kurz in den Augen des CIA-Direktors auf. Burke war ein altgedienter und erfahrener Agent im Antiterrorismus-Stab der Agency. Im Augenblick war er mit der Leitung des Sondereinsatzkommandos gegen die Lazarus-Bewegung betraut. Zwanzig Jahre im verdeckten Außeneinsatz für die Agency hatten bei ihm eine Schussnarbe an der rechten Seite seines Halses und eine notorisch zynische Betrachtungsweise der menschlichen Natur hinterlassen. Es war eine Betrachtungsweise, die auch Hanson teilte.
»Hatten Sie Glück?«, fragte Burke schließlich.
»Nein.«
»Verdammt.« Burke starrte missmutig aus dem vom Regen gestreiften Fenster der Limousine. »Kit Pierson kriegt bestimmt einen hysterischen Anfall, wenn sie das hört.«
Hanson nickte. Katherine Pierson war Burkes Pendant vom FBI. Die beiden hatten bei der Formulierung der Gefahreneinschätzung, die er und Zeller soeben dem Präsidenten unterbreitet hatten, eng zusammengearbeitet. »Castilla will, dass wir unsere Ermittlungen gegen die Bewegung weiter mit allem Nachdruck verfolgen, aber er ist nicht bereit, seine Rede am Teller Institut abzusagen. Nicht ohne klarere Beweise für eine ernsthafte Gefahr.«
Burke wandte den Blick vom Fenster ab. Sein Mund war ein dünner, grimmiger Strich. »Im Klartext heißt das, er will nicht, dass die Washington Post, die New York Times und die Fox News ihn einen Feigling nennen.«
»Würden Sie das wollen?«
»Nein«, gab Burke zu.
»Dann haben Sie vierundzwanzig Stunden, Hal«, sagte der CIA-Chef. »Ich bin darauf angewiesen, dass Sie und Kit Pierson etwas Handfestes zu Tage fördern, womit ich ins Weiße Haus gehen kann. Andernfalls fliegt Sam Castilla morgen nach Santa Fe, um den Demonstranten die Stirn zu bieten. Sie wissen ja, was dieser Präsident für ein Mensch ist.«
»Er ist ein sturer Hundesohn«, knurrte Burke.
»Ja, das ist er.«
»Dann soll es so sein«, sagte Burke mit einem Schulterzucken. »Ich hoffe nur, es kostet ihn diesmal nicht das Leben.«