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Fragen an die Autorin

In Ihren Kolumnen schreiben Sie über Ihre Familie und das Leben im Allgemeinen und Besonderen. Wie finden Sie die Themen?

Das funktioniert meist nicht bewusst und vorsätzlich, sondern beiläufig – so ähnlich wie beim Glattwal, der seine Nahrung in Form von Plankton aus dem Meerwasser filtert, während er mit geöffnetem Maul darin herumschwimmt. Ich schwimme wie alle anderen Menschen durchs Leben, allerdings habe ich mir angewöhnt, dabei Augen, Ohren, Herz und Hirn besonders weit aufzureißen: Was hängen bleibt, wird geschluckt und verdaut.

Ihr Mann ist der heimliche Held vieler Geschichten. Hat er sich noch nie beschwert, dass Sie so viel über ihn erzählen?

Doch, er beschwert sich ungefähr alle 14 Tage. Dann sage ich: »Okay, ich verstehe, du hast natürlich ein Recht auf Privatsphäre, ich höre auf mit der Kolumne. Aber dir ist schon klar, dass dieser Schritt einen erheblichen Verdienstausfall bedeutet, oder?« Mehr muss ich nicht sagen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Gleichberechtigung ist eine schöne Sache, auch finanziell – fordert aber nun einmal auch von beiden Seiten Opfer.

Sie mögen keine halben Sachen und müssen doch sehr oft Kompromisse eingehen. Schon mal vor Wut fast geplatzt?

Als ich jünger war, bin ich öfter nicht nur fast geplatzt. Inzwischen bin ich charakterlich etwas gereift und versuche, Kritik erst dann zu äußern, wenn mein Zorn eine Temperatur deutlich unterhalb des Siedepunktes erreicht hat und ich das Gefühl habe, mich halbwegs sachlich äußern zu können. Die meisten Menschen hören nämlich nur ungern zu, wenn man sie anschreit. Abgesehen davon habe ich zumindest theoretisch erkannt: Dass ich mordsmäßig stinksauer bin, ist leider noch kein tragfähiger Beleg dafür, dass ich recht habe. Darum ist es gut, wenn man sich die Zeit nimmt, über die eigenen Emotionen und ihre Ursachen noch einmal nachzudenken, bevor man den anderen damit konfrontiert. Meine Faustregel im Privatleben: Nur Wut, die länger als einen Arbeitstag anhält, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung wert. Alle anderen Ärgernisse kann man mit sich selbst abmachen oder im Rahmen routinierter kleiner Reibereien abarbeiten, für die fast jedes Langzeitpaar ein erprobtes Instrumentarium an bissigen Sprüchen und kleinen Sticheleien bereit hält – oder in einer Kolumne zu etwas Lustigem verwursten.

Julia Karnick, Jahrgang 1970, absolvierte die Evangelische Journalistenschule Berlin und ist seit 2004 BRIGITTE -Kolumnistin. Sie lebt mit zwei Kindern, einem Mann und einem Hund in Hamburg.

Julia Karnick

Einerseits ist alles
ganz einfach

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BRIGITTE-Buch im Diana Verlag

Originalausgabe 11/2011

Copyright © 2011 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion | Eva Philippon

Umschlaggestaltung | Almut Moritz unter Verwendung eines Fotos
von © Christina Körte

Umschlagillustrationen | © Kat Menschik

Satz | Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-06388-7
V002

www.diana-verlag.de

Vorwort

Ich kenne Julia Karnick seit vielen Jahren. Sie war immer nett zu mir. An Weihnachten sendet sie mir zum Beispiel eine Postkarte, die ich manchmal erst zur Zeit der Kirschblüte beantworte. Und dies, obwohl ich, anders als sie, keine zwei unmündigen Kinder habe und im Gegensatz zu ihr niemals ein Haus bauen würde, weil mir das zu anstrengend wäre.

Das nimmt sie hin, ohne ein Wort der Klage. Sie ist, glaube ich, im wahren Leben großzügiger und geduldiger als in ihren Kolumnen. Auch und gerade im Umgang mit Männern.

Interessant ist, dass man nach der Lektüre von Julia Karnicks Buch mehr über ihren Mann weiß als über seine eigenen besten Freunde. Ich weiß, dass er gern Whisky trinkt, gut Ski fährt, Hockey spielt, schlecht Fisch kocht – vor allem Dorsch –, ungern aufräumt und dass er seine spätere Frau angebaggert hat, indem er sich als leidenschaftlicher Fan von Simone de Beauvoir zu erkennen gab. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, redete er offenbar nur noch selten über Simone de Beauvoir, stattdessen fast ununterbrochen über Captain Kirk und Raumschiff Enterprise. Ich weiß auch, dass er sich, nachdem er die Nachttischlampe ausgeknipst hat, in einen Stein verwandelt. Diesen Mann weckt, wenn er erst einmal schläft, nichts auf, höchstens vielleicht die Stimme von Captain Kirk.

Er hat auch in wachem Zustand manchmal etwas von einem Roboter. Er ignoriert Straßenschilder und fährt, ohne es zu merken, hundert Kilometer in die falsche Richtung. Er ist kein Freund des Saubermachens. Das ist wohl eine seiner wichtigsten Eigenschaften. Von Simone de Beauvoir sagte man übrigens das Gleiche, sie war keine Freundin des Saubermachens. Eine andere Sache ist ebenfalls sehr wichtig: Er hat es auf der Toilette gerne kühl. Dieses Detail zum Beispiel weiß ich von meinen Freunden nicht. Die Toilettenbrille muss sich für diesen Mann offenbar so ähnlich anfühlen wie ein Whisky on the rocks. Er ist locker, so als Typ, insgesamt, nur bei der Raumtemperatur versteht er überhaupt keinen Spaß.

Es gibt auch Positives.

Er mag Hunde. Er kämpft für Gerechtigkeit – wenn er im Haushalt mehr tun soll als seine Frau, regt sich bei ihm sofort dieses starke Gerechtigkeitsgefühl. Seine Frau sagt von ihm, er sei ein »ganzer Kerl«. Offenbar ist alles an ihm dran, was man so braucht. Dann habe ich eine ganze Weile gesucht, um weitere positive Eigenschaften zu finden. Ich habe folgende Eigenschaft gefunden: Er ist, in den Worten seiner Frau, »absolut friedfertig«.

Diese Eigenschaft braucht er, glaube ich, dringend. Ich mag dieses Buch, ich mag es sehr. Aber ich bin froh, dass ich nicht darin vorkomme, fast jeder Mensch pflegt auf der Toilette seinen persönlichen Stil.

Julia Karnicks Kolumnen handeln, meistens, vom Familienleben. Familienleben besteht im Kern daraus, dass zwei Menschen, die sich wegen bestimmter Eigenschaften extrem anziehend finden, nach und nach feststellen, dass sie, neben diesen anziehenden Eigenschaften, auch noch andere Eigenschaften besitzen. In vielen Fällen kompliziert sich die Situation dadurch, dass recht bald ein, zwei oder drei weitere junge Menschen hinzukommen, die von den beiden älteren Personen einige Eigenschaften geerbt oder abgeschaut haben, die besonders schwer auszuhalten sind. Jedes Kind ist aber ein Individuum. Es bringt folglich eigene individuelle Eigenschaften in das Familienleben ein, auch diese sind häufig schwer auszuhalten. Familienleben ist ein großes Wunder, denn es scheitert gar nicht so oft, wie man glauben könnte.

Von sich selbst sagt Julia Karnick: »Ich bin emotional und impulsiv. Ich mag es ordentlich und sauber.« Das klingt nach sauberen Wutausbrüchen, die ordentlich bis zum Ende durchgeführt werden. Ihr schlimmstes Erlebnis, glaube ich, ist in diesem Buch eine Nacht, in der sie in dem T-Shirt schlafen musste, das sie bereits tagsüber getragen hatte. Ich kenne fast nur Männer, die so etwas völlig normal finden.

Ich habe den männlichen Blick. Deshalb sollte ich vermutlich ja auch dieses Vorwort schreiben. Mein Held in diesem Buch ist Julia Karnicks Mann, der lockere, friedfertige Typ, ohne dessen geradezu biblische Duldsamkeit es all diese großartigen Familiengeschichten nicht geben könnte. Jeder Kolumnist braucht Menschen, die nicht nur ihn oder sie aushalten, sondern auch das, was die Kolumnisten schreiben. In einer Kolumne sagt er, eher resignativ als wirklich anklagend: »Ich muss perverse Sachen machen und dabei lustig aussehen.« Im Gegenzug macht Julia Karnick ihm eine der schönsten und weisesten Liebeserklärungen der jüngeren Literaturgeschichte: »Mein Mann findet es nicht gut, wenn ich eklig zu ihm bin.«

Harald Martenstein

Selbstständigkeit

Kinder sollen zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung erzogen werden. Dazu gehört es, sie nicht nur die Freuden eigener Erfolge erleben zu lassen, sondern auch die Konsequenzen eigener Versäumnisse – aus Schaden wird man lebensklug.

Darum biete ich meinen Kindern Hilfe an, mische mich aber nicht ungebeten in ihre Angelegenheiten ein. Ich sage zum Beispiel: »Morgen schreibst du Mathe. Möchtest du, dass ich mit dir lerne?« – »Nö«, sagt mein Sohn, »ich möchte zu Lukas.« – »Okay«, sage ich, »wenn du meinst, deine Entscheidung. Du schreibst die Arbeit. Du bist der, der sich ärgert, wenn er eine schlechte Note bekommt. Es ist deine schulische Zukunft, um die es hier geht. Aber behaupte, wenn dein Leben verpfuscht ist, bitte nicht, dass deine Mutter nicht mit dir das kleine Einmaleins üben wollte.« – »Schon gut«, sagt mein Sohn, »meinetwegen.«

Trotz meiner Zurückhaltung in Sachen Schule kommt es vor, dass ich in den Schulunterlagen herumschnüffele. Ich sage zum Beispiel: »Was hast du auf?« – »Nicht viel«, sagt mein Sohn, »eine Geschichte schreiben.« Er verschwindet und schreibt. Nachdem er blitzschnell geschrieben hat, verschwindet er blitzschnell zu einem Freund.

Weil ich ein eigenverantwortliches Kind habe, ist es mir verwehrt, mich vor die Haustür zu werfen und zu rufen: »Freundchen, bevor mir dein Aufsatz nicht fehlerfrei und in Schönschrift vorliegt, machst du dich nicht vom Acker!« Ich schleiche ins Kinderzimmer. Wenn ich mir schon den Posten einer Hausaufgaben-Kontrolleurin versage, muss ich als Undercover-Erziehungsagentin wenigstens im Auge behalten, ob das mit der Selbstständigkeit halbwegs in die richtige Richtung läuft. Es läuft: Das selbstständige Kind hat aus einer Bildergeschichte zwei Seiten Geschriebenes gemacht.

In der Bildergeschichte geht es um Verantwortung: Bevor sie aus dem Haus geht, trägt eine Mutter ihrem Sohn auf, einkaufen zu gehen und den Tisch zu decken. Kaum ist die Mutter weg, setzt der Sohn sich vor die Glotze. Da sitzt er noch, als die Mutter hungrig zurückkehrt. Im Heft meines Sohnes steht: »Die Mutter würgt zornig.«

Ich weiß, dass ich sehr wütend werden kann, zum Beispiel wenn ich den Verdacht habe, dass mein Sohn ein mütterlich-fürsorgliches Hilfsangebot aus reiner Faulheit ausschlägt. Ich wusste nicht, dass ich dabei würge. Von wem sonst sollte er einen Zustand kennen, den man als »zorniges Würgen« beschreibt? Keinen Menschen machen meine Kinder wütender als mich, ich bin ihr Maßstab für maximale Wut, mehr Wut geht nicht als bei mir, wenn irgendwer ihnen vormacht, wie man wütend würgt, muss ich es sein. Ich sehe mich vor meinem inneren Auge – mein Gesicht eine Fratze, ein Gurgeln steigt aus meiner Kehle, explodiert in meinem wutverzerrten Mund: »Ihr macht mich rasend!«, würge ich, die rasendste, abscheulichste Mutter der Welt.

Mein Sohn kommt abends nach Hause. »Du«, sage ich, »zeigst du mir mal deine Geschichte?« Ich brauche einen Aufhänger, um das Trauma »zornig würgende Mutter« bearbeiten zu können. – »Klar«, sagt mein Sohn. – »Warum würgt sie?«, frage ich. – »Wo würgt sie?«, fragt mein Sohn: »Oh, das sollte heißen: ›Die Mutter wirkt zornig.‹« – »Vielleicht«, sage ich, »sollten wir mal ein bisschen Rechtschreibung üben?« – »Nö«, sagt mein Sohn.

Romantik

Freitagnachmittag, die Kinder verbringen das Wochenende woanders, ich hole meinen Mann von der Arbeit ab. Unser Plan: Wir schlendern Hand in Hand in die Innenstadt, dort bummeln wir gemeinsam durch die Geschäfte. Dann schmiegen wir uns aneinander auf dem Sofa eines kuscheligen Cafés und öffnen uns einander in einem intensiven Gespräch, bevor wir zusammen im Kino entspannen. Anschließend besuchen wir ein gutes Restaurant, wo wir miteinander lachen und schweigen, danach gehen wir nach Hause, um ungestört Mann und Frau sein zu können. Was man als Elternpaar halt so tut, wenn man die Kinder ein oder zwei Tage los ist.

Wir schlendern also Richtung Innenstadt. Ich: »Willst du mir nicht etwas Schönes zum Anziehen schenken?« Ich verdiene Geld, habe ein Konto und eine eigene Kreditkarte, mit der ich meine Einkäufe bezahle, das ist der Alltag. Aber heute ist nicht Alltag, heute ist Romantik, heute stelle ich es mir romantisch vor, einen Mann zu haben, der sagt: »Such dir aus, was dir gefällt!« Der Mann, den ich habe, sagt: »Was brauchst du denn?« – »Gar nichts brauche ich«, sage ich. »Keiner, den ich kenne, braucht irgendetwas.« – »Doch«, sagt mein Mann: »Ich. Ich brauche eine Hose.«

Wir stehen auf der Rolltreppe eines Geschäfts, das Herren- und Damenmoden führt. Im ersten Stock sagt mein Mann: »Hier sind die Hosen!« Ich: »Ich fahre nach oben, du kannst ja gleich nachkommen.« Ich wildere in der Damen-Exquisit-Abteilung und lande mit einem Arm voller Kleider in einer Umkleidekabine. Ich probiere die Kleider an. Ich warte, ich gucke mich an, je länger ich warte und gucke, desto fragwürdiger finde ich es, ob die Exquisit-Kleider auch an mir exquisit aussehen. Ich brauche meinen Mann.

Ich rufe ihn an. Ich sage: »Wo steckst du?« – »In einer zu kleinen Hose«, sagt mein Mann. »Du wollest mir ein Kleid kaufen!« – »Und wo bist du?« – »In einer Kabine in der Exquisit-Ecke.« – »Na gut, ich komme.« Mein Mann kommt nicht. Ich stehe in Socken und Kleid in einem Kabuff herum, durch das ich mittlerweile den halben Warenbestand der Exquisit-Abteilung geschleust habe, Verkäuferinnen werfen mir böse Blicke zu. Das Handy klingelt, mein Mann: »Warum gehst du nicht ran?« Ich: »Wieso, ich bin doch dran.« – »Aber eben bist du nicht rangegangen.« – »Eben habe ich Kleider zum Anprobieren gesucht. Wenn du mal kommen würdest …« – »Hör zu, ich renne seit Stunden herum und suche dich, ich rufe an, aber du gehst nicht ran, wo bist du denn, verdammt noch mal?« – »Hab ich doch gesagt, hinter den Exquisit-Kleidern.« – »Hier sind keine Exquisit-Kleider.« – »Natürlich sind hier Exquisit-Kleider.« – »Wo, in welcher Himmelsrichtung?« – »Wie jetzt?« – »Na, liegen die Umkleidekabinen Richtung Norden oder Süden?« – »Das ist nicht dein Ernst!«, rufe ich: »Ich nehme doch keinen Kompass mit zum Einkaufen!« Mein Mann: »Man weiß doch wohl, zu welcher Straße hin die Umkleidekabinen liegen.« Ich: »Nein, das weiß man nicht, hier sind keine Fenster. Ich weiß, das klingt hart, aber ich schätze, du wirst über deinen Schatten springen und eine Verkäuferin fragen müssen.«

Ich habe kein Kleid bekommen, ins Kino gegangen sind wir auch nicht. Immerhin haben wir uns in einem langen und intensiven Gespräch über Ursachen und Folgen ehelicher Missverständnisse ausgetauscht. Man muss ja auch nicht immer was kaufen.

Immobilienbesitzer

Das Gebaren frischgebackener Eltern ist für viele Kinderlose nur mit Geduld und gutem Willen zu ertragen. Ähnlich ergeht es Mietern mit frischgebackenen Immobilienbesitzern.

Dass Immobilienerwerb und Elternschaft miteinander verwandte Themen sind, erkennt man daran, dass der Immobilienerwerb meist eine Folge der Elternschaft ist. Der Nestbautrieb, mit Beginn der Schwangerschaft erwacht, ebbt mit dem Größerwerden des Kindes nicht etwa ab, sondern entfaltet im Gegenteil erst allmählich seine volle Wirkung: Bald reicht es ihm nicht mehr, den Umbau des Arbeitszimmers in ein pastellfarbenes Kinderparadies veranlasst zu haben. Der Nestbautrieb will mehr und verbündet sich, um es zu bekommen, mit der Vernunft: »Schon ärgerlich, wie viel Miete man im Laufe der Jahre aus dem Fenster wirft!« Dieser Satz, ausgesprochen von einer Mutter, bedeutet das Gleiche wie die Bemerkung »Schon ganz süß, so ein Baby!« aus dem Munde einer liierten vierunddreißigjährigen Kinderlosen: Nicht mehr lange, und sie ist fällig.

Beide Gruppen umgibt eine Aura feierlichen Erschrockenseins über den eigenen Mut. Darum werden die Nachrichten »Wir bekommen ein Baby!« und »Wir haben etwas gefunden!« in einem sich stark ähnelnden Tonfall verkündet. In beiden Fällen bleibt die Stimme am Ende des Satzes in der Luft hängen, wo sich das vorfreudige Ausrufezeichen zu einem angespannten Fragezeichen krümmt: »Und? Was haltet ihr davon?« – »Großartig! Herzlichen Glückwunsch!«, ruft man und ermahnt sich, das unausweichlich Kommende in freundschaftlicher Gelassenheit über sich ergehen zu lassen.

Frischgebackene Eltern reden über Schlafentzug, Hebammen und Stillprobleme; frischgebackene Immobilienbesitzer über Hypothekenzinsen, Armaturen und Handwerker. Die einen beklagen schlecht verheilte Dammschnitte, die anderen falsch verlegte Steckdosen. Den einen muss man während der Schwangerschaft bei der Namenswahl beistehen, den anderen während des An-, Um-, Neubaus bei der Wahl des Parketts. Was den einen der Baby-, ist den anderen der Baumarkt. Die einen sagen: »Ich weiß nicht, ob ich wirklich ins St. Elisabeth gehen soll. Da liegt die Kaiserschnittquote 0,2 Prozent über dem Durchschnitt!« Die anderen grübeln: »Aber wenn wir die grasgrünen Fliesen nehmen, passen die Gästehandtücher farblich nicht mehr. Was denkst du?« Man denkt eigentlich immer das Gleiche: Gähn.

Am Ende führen die einen einen Säugling vor, die anderen eine Einbauküche. Das eine wie das andere muss man nachdrücklich loben, wenn man es sich mit den Frischgebackenen nicht verderben will. Wenn man frischgebackene Immobilienbesitzer besucht und dort auf ebenfalls eingeladene frischgebackene Eltern trifft, muss man sich konzentrieren, damit man nicht durcheinanderkommt beim vielen Loben. Es macht keinen guten Eindruck, wenn man beim Anblick der Einbauküche ruft: »Reizend, das ist ja ganz die Mutter!« und zu den Eltern von Lilli, Martha oder Johanna sagt: »Mensch, die hat Peter aber nicht selbst eingebaut, oder?« So etwas finden weder frischgebackene Eltern noch frischgebackene Immobilienbesitzer lustig.

Ich kann das verstehen: Kleine Kinder, große Kredite und hässliche Badezimmerfliesen hat man mindestens zwei Jahrzehnte an den Hacken. Über so etwas macht man keine Witze.

Zelten I

Die Ferien haben wir mit Umziehen und Urlauben verbracht. Das Urlauben hat mehr Spaß gemacht als das Umziehen. Weil wir nicht wussten, wie schnell wir mit dem Umziehen fertig werden würden, hatten wir uns nicht getraut, eine Reise zu planen. Es stellte sich heraus, dass wir den Umzug so gut organisiert hatten, dass wir, als wir mit dem Umziehen fertig waren, noch eine Woche Zeit zum Verreisen hatten.

Mein Mann: »Lass uns nach Amrum fahren!« Ich: »Da gibt’s doch keine Zimmer mehr.« Mein Mann: »Wir zelten.« Im Allgemeinen habe ich nichts gegen Zelten. Im Speziellen gibt es zwei Dinge, die ich kompromisslos hasse: schwitzend aufwachen mit Sonne im Gesicht, fröstelnd zur Toilette gehen mit Pfützenschlamm unter den Füßen. Das Pfützenrisiko hatte sich im Laufe des Monats Juli auf null reduziert, das Sonnenrisiko allerdings auf hundert Prozent. Ich: »Hrmpf.« Die Kinder: »Au ja, Papa, du bist der Tollste, wann geht’s los?« Mein Mann: »Morgen.«

Ich ging in die Drogerie und kaufte Nescafé und eine Viererpackung Windlichter. Mein Mann fuhr zu Globetrotter und kaufte ein Viererzelt und ein Windlicht. Meine friedhofstauglichen vier Windlichter waren aus rotem Plastik und kosteten insgesamt 99 Cent. Das hochgebirgs- und wüstentaugliche Windlicht meines Mannes war aus blau legiertem, fünffach veredeltem Leichtmetall und frost-, tornado- und erdbebenresistentem Sicherheitsglas und kostete so viel, dass mein Mann behauptete, vergessen zu haben, was es gekostet hatte, als ich ihn ein paar Tage später, auf Amrum vor unserem neuen Zelt sitzend, nach dem Preis fragte.

»Aber weißt du was?«, sagte mein Mann, dabei leuchteten seine Augen heller als hundert Windlichter: »Die Kerze wird, während sie brennt, von einer Metallspirale automatisch nach oben gedrückt, sodass immer der Docht herausguckt und man nie einen doofen Kerzenstummel hat, an den man mit dem Feuerzeug nicht mehr rankommt. Super, oder?« Ich: »Super. Ich nehme an, das klappt nur, wenn man spezielle, von Rüdiger Nehberg persönlich erprobte Kerzen aus dem reinen Wachs der westafrikanischen Buschbiene für zehn Euro das Stück kauft?« Mein Mann: »Mal was anderes: Ist es nicht traumhaft hier?«

Amrum war traumhaft. Wir blieben fünf Nächte – vier mehr, als ich mir zugetraut hatte. Zwar wachte ich Morgen für Morgen um sechs Uhr schweißüberströmt mit Sonne im Gesicht auf. Aber das war nicht so schlimm, weil ich Abend für Abend schon um zehn in den Schlafsack kroch.

Wir besitzen nämlich ein Hightech-Windlicht, aber keine Campingstühle. Nach einem im Hocken zubereiteten Eintopf, drei Nachtisch-Bieren im Schneidersitz, zehn auf der Seite liegend gelesenen Buchseiten und einer Stunde auf Knien geführtem Gespräch verlangte mein Rücken nur, sich flach und gerade ausstrecken zu können. Dabei schlief ich sofort ein. Schließlich war ich schon seit sechs Uhr wach. Selten habe ich mich so schnell so gut erholt wie in diesem Urlaub.

Zelten II

Das Zelt stand auf einer Düne, am Fuße der Düne erstreckte sich eine Ebene, die für Wohnwagen und Wohnmobile reserviert war. Weil mein Mann statt zweier spießiger Campingstühle ein ausgeflipptes Windlicht gekauft hatte, beharrte ich auf der Anmietung eines Strandkorbes, um meinen Rücken wenigstens tagsüber anlehnen zu können.

Am Strand liefen und lagen viele Nackte herum. Ein Nackter lief weder noch lag er, er stand – auf eine Weise, auf die nur nackte, nahtlos gebräunte, gut erhaltene Männer um die fünfzig herumstehen: breitbeinig, die Hände in den Hüften, nach links und nach rechts und aufs Meer schauend.

Zuerst denkt man: »Der sucht jemanden!« Automatisch fängt man an, mit den Augen mitzusuchen, dann wird einem klar: Der sucht gar nichts, der will nur herumstehen, seine nackte Männlichkeit in den Wind halten und sich ab und an kratzen, und wahrscheinlich hofft er, dass man ihn sieht und denkt: »Was für ein gut erhaltener, nahtlos gebräunter, nackter Mann in den besten Jahren!« – »Was denkst du, wenn du so einen Mann siehst?«, fragte ich meinen Mann. »Dass der sich was anziehen soll«, sagte mein Mann.

seufzte erleichtert. Ich auch. »Warum bist du allein hier?«, ter nickte: »Klaus musste mal raus.«

Wenn sie ihn nicht vom Alleinsein abhielt, saß Klaus angezogen vor seinem winzigen Zelt, las dicke Bücher, radelte auf Amrum herum und managte nichts außer seinem Campingkocher.