David Pfeifer
Die Rote Wand
Roman
Das Buch
Im Ersten Weltkrieg gab es eine Front, die sich der Natur unterordnen musste. Über den Rotwand-Bergkamm verlief ab 1915 die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Italien. Während sich Deutsche und Engländer am Skagerrak gegenseitig die Flotte zerschossen und sich an der Westfront hunderttausende Soldaten in Schützengräben gegenüber lagen, kam es in der Roten Wand zu erbitterten Gefechten Mann gegen Mann. Es ging darum, die Höhe zu sichern. Auf zentimeterbreiten Felsvorsprüngen kletterten die verfeindeten gegnerischen Truppen aufeinander zu, manchmal stießen sich Soldaten in die Tiefe, bevor sie ihr Gewehr von der Schulter zerren konnten. In all diesen Scharmützeln hielt sich in der Roten Wand ein Mädchen auf, das seinem Vater als Junge verkleidet in den Gebirgskrieg gefolgt war.
Das Mädchen gab es wirklich, ihr Name war Viktoria Savs. Sie diente im Geheimen unter lauter Männern, nahm an Kampfhandlungen teil und wurde mit Orden ausgezeichnet. Ihre Geschichte wird in Die Rote Wand als Roman nacherzählt.
Der Autor
David Pfeifer, Jahrgang 1970, Österreicher, wuchs in München auf, bevor es ihn 1993 nach Hamburg zog, um für das legendäre Magazin Tempo zu arbeiten. Weitere Stationen waren der Stern und Vanity Fair. Seit 2014 ist er leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Die Rote Wand ist sein dritter Roman. Er lebt heute wieder in München.
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David Pfeifer
Die Rote Wand
Roman
Übersichtskarte der Rotwand
Für Tania
Prolog
Der Tod kommt jedes Mal aus einer anderen Richtung. Es lohnt nicht, nach ihm Ausschau zu halten. Also starrt sie auf ihre Stiefelspitzen, die im Schnee verschwinden, wieder auftauchen, eine Wehe nach vorne werfen und wieder einsinken. Jeder Schritt rutscht weg, muss nachgezogen werden, zieht sie noch schwerer zu Boden. Jeden Atemzug muss sie der eisigen Höhenluft abringen.
Man darf sich die Strecke am Anfang nicht vorstellen, dann werden die Beine gleich müde. Einfach gehen, bis man das Gefühl hat, man kann nicht mehr. Und dann weitergehen.
Sie hat überall Schmerzen von der Kälte. Ihre Schultern zieht sie schon seit Stunden hoch, damit ihr der Wind nicht in den Nacken fahren kann. Von oben drückt ihr der Tornister auf die Schultern, dadurch entsteht ein Ziehen in Rücken und Nacken, das sich anfühlt wie eine Stahlfeder. Doch sie blickt weiter stur auf die Rückennaht vor sich und geht davon aus, dass der Mann, der hinter ihr marschiert, dasselbe tut.
Manchmal sinkt sie auch bis zum Knie ein, obwohl sie leichter ist als die anderen. Dann muss sie ihr Bein besonders hoch heben, aber diese zusätzliche Anstrengung macht es für die kommenden Schritte noch schwerer, Luft zu bekommen und weiterzugehen. Bald wird ihre Kraft nicht mehr reichen. Manchmal gibt ein Bein unvermittelt nach, und sie kann sich nur mit einem schnellen Schritt zur Seite fangen.
»Geht’s noch?«, fragt jemand vor ihr.
»Ja«, antwortet sie.
Nicht der schlimmste Tod, behaupten Kameraden. Man schläft langsam ein, wenn die Kälte einen erst einmal übermannt.
Sie wird sich hinhocken, der Schnee wird um sie wirbeln, sich absetzen auf ihrer Kappe, auf ihren Schultern, in den Nähten ihrer Uniform. Sie wird eingehüllt werden von glitzernden Kristallen, einen weißen Schatten in der Landschaft hinterlassen, ein Negativ. Ein kleiner Mensch mit einem großen Gewehr, der von seinem Tornister bezwungen wurde, so wird sie einfrieren.
Aber sie geht immer noch weiter, stemmt sich gegen die Steigung, starrt auf die Jackennaht ihres Vordermanns und denkt an die Russen, ganz hinten am Ende der Karawane. Die müssen weit schwerere Lasten den Berg hinauftragen.
Sie rutscht talwärts weg, verknackst sich fast das Fußgelenk, streckt das Bein durch und stolpert zwei, drei schnelle Schritte geradeaus.
An der Spitze geht der Bergführer gute zehn Schritte vor dem Leutnant. Der Bergführer sieht selbst schon aus wie ein Stück Fels, so deutlich dringen Knochen und Sehnen durch seine lederne Haut. Seine Wangen sind eingefallen, als wäre jedes Gramm zu viel, um immer wieder diese Wege zu gehen. Kräftige Kerle schmelzen hier in wenigen Wochen zusammen wie Butter in der Sonne. Sie reduzieren sich auf das Notwendigste.
Das Mädchen hört, wie der Leutnant »Stopp« befiehlt. Nicht zum ersten Mal. Also wendet sie den Blick nach vorne, obwohl sie lieber nicht sehen möchte, wie steil es bergan geht. Sie sieht den Bergführer in kleinen, beständigen Schritten weiterlaufen. Ohne Helm oder Uniformjacke, nur mit festem Schuhwerk. Seinen Rang hat er sich auf die Schulter seines groben Strickpullovers nähen lassen. Und er scheint nicht hören zu wollen.
Für den letzten Stopp zwei Stunden zuvor hatte der Leutnant den Bergführer einholen müssen. Wie ein dummer Schulbub war er ihm hinterhergehastet.
Die ausgemergelte, graue Karawane hält langsam, wie Güterwagen, die durch die Koppelglieder zurückgestoßen werden, um dann schwer auf der Stelle stehen zu bleiben.
Das Mädchen blickt nach oben, wo der Bergführer beständig Distanz zwischen sich und die Beladenen bringt. Im feinen Schneegestöber wird er zu einer unscharfen Silhouette.
Die Männer werden den Aufstieg nicht ohne Pause schaffen, und der Leutnant auch nicht. Er dreht seinen Kopf von der Truppe zum Bergführer, unsicher, was er tun soll. Als fürchtete er sich davor, durch ungelenkes Gerenne seine Autorität einzubüßen.
Das Mädchen kennt diese Stelle. Sie sind gerade auf einem nahezu ebenen Stück angekommen, über ihnen wölbt sich ein Felsvorsprung wie ein Dach. Rechts unter ihnen auf einem Plateau stehen die letzten Bäume, ein paar schiefe Lärchen, deren Äste unter der Schneelast herausragen wie die Beine einer alten Spinne. Vor ihnen steigt die Rote Wand steil an, unter ihnen fällt der Berg sanfter in Richtung Tal. Hier könnten sie rasten, auch wenn es heftiger zu schneien beginnen sollte.
Doch der Bergführer geht weiter. Schon bei der ersten Pause hatte er mürrisch angemerkt, dass sie die Baracken vor Sonnenaufgang erreichen müssten, weil sie sonst im Aufstieg vom Elfer aus sichtbar seien.
Der Leutnant zerrt an der Lederkappe seines Pistolenhalfters. Er muss erst seinen rechten Handschuh ausziehen, um den Verschluss öffnen zu können, sein linkes Knie sackt in den Schnee. Schließlich kann er die Pistole herausziehen, streckt sie in die Luft und feuert einen Schuss ab. Der Bergführer fährt herum, blickt zurück und hechtet im selben Moment hinter einen quadratischen Felsbrocken, der aussieht, als hätte ein Riese hier vor einer Million Jahren einen Würfel fallen lassen. Eine derart schnelle Bewegung hat das Mädchen den Bergführer in all den Monaten nicht machen sehen.
Auch der Leutnant ist verdutzt. Er dreht sich um, will seine Männer anweisen, sieht jedoch nur, wie diejenigen, die nicht zu schwach sind, um sich noch zu bewegen, von ihm weg in Richtung Tal rennen, stolpern oder rollen. Nur ein paar der Russen bleiben einfach stehen, allem ergeben, fast schon leblos. Dann hört er das Hecheln einer Luftmine, die neben ihm losgeht, bevor sie den Boden erreicht. Die Explosion trennt seinen rechten Schenkel im Hüftgelenk ab, reißt ihm einen Arm und den halben Brustkorb weg. Er fällt auf den Rücken und bleibt dort liegen, wie zur Reparatur geöffnet. Organe sind zu erkennen, aber richten lässt sich nichts mehr.
Ein letztes Mal öffnet der Leutnant die Augen, kommt kurz zu Bewusstsein, blickt in den dunklen Himmel und das kantige Gesicht des Bergführers. Er will noch etwas sagen, einen letzten Befehl oder vielleicht eine Verwünschung hauchen. Doch dann verlischt er, wie ein Zündholz, das in den Schnee geworfen wurde.