Über dieses Buch:
Der Nordosten des Frankenreiches im späten 8. Jahrhundert. Auf dem Weg nach Paris suchen die Kommissare Karls des Großen nach einem Nachtlager, als sie von dunklen Machenschaften erfahren: Ein gewisser Fabiolus hat es nicht nur auf Gold und Silber, sondern auch auf die Tochter eines reichen Gutsbesitzers abgesehen. Das pikante Detail: Fabiolus ist ein Pater, was den ehrenwerten Ordensbruder Lupus in arge Verlegenheit bringt. Gemeinsam mit Odo beginnt er, Nachforschungen anzustellen – und gerät so nicht nur in ein Komplott aus Mord und Erbschleicherei, sondern auch in tödliche Gefahr …
»Sehr zu empfehlen, nicht zuletzt wegen seiner spannenden Geschichte, die zugleich die gesellschaftlichen Strukturen und Zusammenhänge der mittelalterlichen Gesellschaft und Politik vermittelt.« Der Heimatpfleger
Über den Autor:
Robert Gordian (1938–2017), geboren in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasste er historische Romane und Erzählungen.
Robert Gordian veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane ABGRÜNDE DER MACHT, MEIN JAHR IN GERMANIEN, NOCH EINMAL NACH OLYMPIA, XANTHIPPE – DIE FRAU DES SOKRATES, DIE EHRLOSE HERZOGIN und DIE GERMANIN sowie drei historische Romanserien:
ODO UND LUPUS, KOMMISSARE KARLS DES GROSSEN
Erster Roman: Demetrias Rache; Zweiter Roman: Saxnot stirbt nie; Dritter Roman: Pater Diabolus; Vierter Roman: Die Witwe; Fünfter Roman: Pilger und Mörder; Sechster Roman: Tödliche Brautnacht; Siebter Roman: Giftpilze; Achter Roman: Familienfehde
DIE MEROWINGER
Erster Roman: Letzte Säule des Imperiums; Zweiter Roman: Schwerter der Barbaren; Dritter Roman: Familiengruft; Vierter Roman: Zorn der Götter; Fünfter Roman: Chlodwigs Vermächtnis; Sechster Roman: Tödliches Erbe; Siebter Roman: Dritte Flucht; Achter Roman: Mörderpaar; Neunter Roman: Zwei Todfeindinnen; Zehnter Roman: Die Liebenden von Rouen; Elfter Roman: Der Heimatlose; Zwölfter Roman: Rebellion der Nonnen; Dreizehnter Roman: Die Treulosen; diese Serie gibt es auch als Sammelband mit über 2.100 Seiten unter dem Titel DAS DUNKLE LIED VON MACHT UND BLUT.
ROSAMUNDE, KÖNIGIN DER LANGOBARDEN
Erster Roman: Der Waffensohn; Zweiter Roman: Der Pokal des Alboin; Dritter Roman: Die Verschwörung; Vierter Roman: Die Tragödie von Ravenna; diese Serie gibt es auch als Sammelband unter dem Titel DAS HERZ EINER KÖNIGIN.
Ebenfalls erschien bei dotbooks die beiden Kurzgeschichtenbände EINE MORDNACHT IM TEMPEL und DAS MÄDCHEN MIT DEM SCHLANGENOHRRING sowie die Reihe WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN mit kontrafaktischen Erzählungen über berühmte historische Persönlichkeiten:
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Caesar, Chlodwig, Otto I., Elisabeth I., Lincoln, Hitler
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Napoleon, Paulus, Themistokles, Dschingis Khan, Bolívar, Chruschtschow
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Karl der Große, Arminius, Gregor VII., Mark Aurel, Peter I., Friedrich II.
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eBook-Neuausgabe Mai 2012
Copyright © der Originalausgabe 1996 Bleicher Verlag, Gerlingen
Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-95520-256-9
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Robert Gordian
Pater Diabolus
Odo und Lupus, Kommissare Karls des Großen: Dritter Roman
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Am Ende dieses eBooks finden Sie ein Personenverzeichnis und in einem Glossar zahlreiche Wort- und Sacherklärungen.
Dem lieben und werten Volbertus, Prior im Kloster N., Grüße und Heil von seinem Vetter Lupus!
Wie beschaulich und gefahrlos lebst Du in Deiner stillen Klosterzelle! Ich dagegen bin gerade wieder einmal mit heiler Haut davongekommen und noch jetzt überläuft es mich kalt, wenn ich an das schreckliche Ende denke, das uns wohl ohne Glück und Gottes helfende Hand inzwischen ereilt hätte. Hast Du genügend Vorstellungskraft, an einen heiligen Ort zu denken, der gleichzeitig eine Stätte des Grauens ist? Und doch, es gibt – oder besser: es gab ihn.
Wie Du weißt, lieber Vetter, bin ich nicht berechtigt, die Namen von Orten und Personen, mit denen Odo und ich als missi dominici, als Königsboten, in amtlicher Eigenschaft in Berührung kommen, an Unbeteiligte weiterzugeben. Überhaupt muss ich jeden Hinweis darauf, wer oder was hier gemeint ist, mit peinlicher Sorgfalt vermeiden. Der Fall ist nämlich noch nicht abgeschlossen und könnte vor die höchste Instanz gelangen. Ich habe schon einen Bericht verfasst, den der Herr Karl, unser mächtiger und ruhmreicher König der Franken und Langobarden, prüfen und aus dem er sich vortragen ließ. Durch den Herrn Pfalzgrafen wurde uns mitgeteilt, dass eine Anklage nicht auszuschließen sei, vorerst wolle man aber warten, bis der Beschuldigte bei Hofe erscheint. Der allerdings lässt sich Zeit, obwohl er von mehreren Seiten benachrichtigt wurde. Ich habe auch den Eindruck, dass einige hohe Herren, die zum engeren Kreis des Königs gehören, uns misstrauen und dass sie Zeit gewinnen wollen, um unsere Vorwürfe zu entkräften und Gegenbeweise zu sammeln. Immerhin geht es um einen der Großen, einen der Ihren.
Der Fall ist von so außerordentlicher Bedeutung, dass er sogar zur Änderung bestehender Gesetze führen kann. Zahlreiche hohe Würdenträger wären betroffen, die mit einer empfindlichen Einbuße ihrer Macht rechnen müssten. Vielleicht wird schon das nächste Kapitular des Königs so manchen das Fürchten lehren. Wir, die wir als Kommissare die Ohnmacht des Rechts so schmerzhaft erlebt haben, wünschen nichts sehnlicher.
In einem Bericht, wie ich ihn für den König verfasst habe, kann man natürlich nur das Wichtigste mitteilen und muss auch alle möglichen Rücksichten nehmen. Deshalb will ich die ganze Geschichte noch einmal aufschreiben, so wie sie sich wirklich zutrug, wie Odo und ich sie erlebten. Ich glaube nämlich, das wäre nicht unnütz. Du, lieber Volbertus, sollst wie immer mein Leser sein, und wie immer ermächtige ich Dich, meine Erzählung an einige Brüder Deines Vertrauens weiterzugeben. Sollen sie nur erfahren, dass nicht überall das asketische und monastische Leben einen so hohen Grad der Gottgefälligkeit erreicht hat wie bei Euch. Die Lektüre wird ihnen als Warnung dienen und ihre Wachsamkeit stärken.
Es versteht sich übrigens, dass ich die Schrift erst an Euch absenden kann, wenn das Hofgericht sein Urteil gesprochen hat. Trotz der veränderten Namen und Eurer erprobten Verschwiegenheit könnten irgendwelche Gerüchte aufkommen, die das Verfahren störend beeinflussen würden. So kann ich Euch am Schluss auch noch mitteilen, wie die Sache hier ausgegangen ist.
Nun aber erst einmal die Geschichte.
Es war Anfang September, wir waren diesmal – zu Odos großer Befriedigung – unterwegs nach Paris. Die Mosel hatten wir überquert und nun zogen wir durch die neustrischen Grafschaften. Ohne uns sonderlich zu beeilen, meist schon am Nachmittag eine Herberge aufsuchend, ritten wir durch die liebliche, sanft gewellte, vom Sonnenlicht übergossene Landschaft, in der sich so viele, für unser Frankenreich schicksalhafte Ereignisse abgespielt haben. Da hier an Grafensitzen, Königsgütern und Klöstern kein Mangel ist, genügte meistens schon eine halbe Tagereise, um von einer gastlichen Stätte zur anderen zu gelangen.
Wir reisten im besonderen Auftrage des Herrn Pfalzgrafen, des nach dem König obersten Richters im Reiche. Es war in der Gegend um die alte Hauptstadt der Merowingerkönige zu Streitereien zwischen Benefiziaten gekommen, in die auch ein Bischof verwickelt war. Ein paar Äcker, Wälder und Dörfer hatten zu Recht oder zu Unrecht den Besitzer gewechselt. Wir sollten die alten Urkunden überprüfen und Übergriffe, wenn nötig, rückgängig machen.
Solche Aufträge sind nicht angenehm. Die Habgier ist bekanntlich der zählebigste Teil des Menschen, nicht selten lebt sie noch weiter, nachdem er selbst längst gestorben ist. Zum Beispiel in einem Erbe, das er hinterlässt, obwohl es ihm niemals gehört hat, oder in einem Anspruch, um den er bis zuletzt gestritten hat und an dem seine Söhne hartnäckig festhalten. Wir waren darauf gefasst, nicht mit offenen Armen empfangen zu werden. Auch deshalb hatten wir es nicht eilig.
Dennoch wären wir nie in diese üble Geschichte hineingeraten, hätten wir uns nur immer auf der geraden Straße gehalten. Aber Odo, mein Amtsgefährte, war hier schon fast zu Hause (er stammt ja aus Reims) und so gelang es ihm nicht, seine Nase nur einfach geradeaus auf das Ziel zu richten. Er stieß sie mal hierhin, mal dorthin, wobei er seitlich der Straße manches entdeckte, was ihm bekannt vorkam oder woran sich Erinnerungen knüpften: hier einen Hügel, dort eine Brücke, woanders einen halb verfallenen Turm. Ohne uns lange zu fragen, gab er dann Impetus, seinem Grauschimmel, die Sporen und das edle, feurige Tier ließ sich nur zu gern zu einem kurzen Galopp verführen. Was blieb mir und den anderen Männern unseres Trupps anderes übrig als am Rande der Straße zu rasten? Oft genug musste ich nach einer Stunde oder mehr meinen treuen Eselshengst Grisel in Bewegung setzen, um Odo zu suchen oder zurückzuholen.
An diesem Tag nun, die Mittagszeit war schon vorüber, hatte er uns mehrmals aufgehalten und ich konnte nicht anders, als ihm Vorwürfe zu machen. Der Wortwechsel wurde heftig, denn ich hatte meinen Reiseplan entrollt und festgestellt, dass wir diesmal unser Ziel, den nächsten Herrensitz, vor Einbruch der Dunkelheit nicht erreichen würden. Odo ließ sich aber davon nicht beeindrucken. Er richtete sich im Sattel auf, blickte spöttisch zu mir herab, strich seinen prächtigen Schnurrbart und sagte:
»Fürchtest du wirklich, ängstliche Mönchsseele, du müsstest hier unter freiem Himmel nächtigen? In der Heimat des Odo von Reims? Jedermann wird uns hier Unterkunft bieten, sogar die Füchse in ihrem Bau. Also beruhige dich und folge mir! Ich habe hier in der Gegend einen Vetter, den wollen wir aufsuchen. Er ist ein ausgezeichneter Mann, der zu leben versteht und nach alter fränkischer Sitte die Gastfreundschaft hochhält. Er hat zwei hoffnungsvolle Söhne, auch seine Tochter ist inzwischen kein Kind mehr. Ich würde mich freuen, sie alle wiederzusehen. Dort hinter den Hügeln muss es sein. Also vorwärts!«
Unsere Leute antworteten mit freudigem Zuruf und schon waren die Pferde und Wagen auf einen schmalen Pfad gelenkt, der im spitzen Winkel von der Straße abwich und sich auf eine Kette kleinerer und größerer Erhebungen zuschlängelte. Ich war alles andere als begeistert. Es ist immer unsicher und gefährlich, die Straße zu verlassen und sich Wegen anzuvertrauen, von denen man nicht genau weiß, wo sie enden. Mir war diese Gegend fast unbekannt und auch Odos Ortskenntnis war eher zu misstrauen. Er behauptete zwar, auf der gallischen Seite des Rheins bis zur Loire hinunter jedes Steinchen zu kennen, doch war es allzu lange her, wohl fast zwanzig Jahre, dass er den elterlichen Salhof verlassen hatte, um sich als Königsvasall in der Welt umzutun. Auch von den vielen Verwandten, die er hier angeblich hatte, war uns bisher noch keiner zu Gesicht gekommen.
Natürlich hätte ich den Umweg verweigern können. Odo und ich sind ja ranggleich und keiner von uns darf etwas gegen den Willen des anderen entscheiden. Aber in Anbetracht unserer Verspätung konnte ich ja nichts Besseres vorschlagen. So rollte ich mein Itinerar mürrisch zusammen und folgte dem Trupp, der sich nicht um mich gekümmert hatte und schon ein tüchtiges Stück voraus war.
Meine Ahnung sollte sich leider bestätigen. Am Fuße des ersten Hügels verlor sich der Pfad schon im Sande. Ein schmales Rinnsal von Bach floss den Hang herab, und nach sichtlichem Zögern behauptete Odo, dass wir ihm nur zu folgen brauchten, um auf die richtige Straße zu kommen.
Also machten wir uns an den Aufstieg. Über Steine und Wurzeln ging es hinauf, wir mussten bald absitzen und unsere Reittiere führen. Die alte Stute, die den Wagen zog, blieb jeden Augenblick stehen, weil Hindernisse die Räder blockierten. Dichter Wald bedeckte den Hang und nahm uns den Ausblick. Er lichtete sich erst, als wir die Kuppe des Hügels erreichten.
Hier hatte die starke Hand des allmächtigen Bildners dicke Felsplatten über- und untereinander geschoben. Keuchend und schwitzend, meine Kutte weit über die Knie raffend und den Esel hinter mir her zerrend, erklomm ich Stufe um Stufe. Oben angelangt war ich völlig erschöpft.
Man hatte nun hier eine schöne Aussicht, doch ich sah zunächst nur die Quelle aus dem Felsen hervorsprudeln. Gleich warf ich mich auf die Knie und trank. Da hörte ich es im selben Augenblick hinter mir poltern. Unser Wagen stand schief, ein Rad war in einen Felsspalt gerutscht. Waffen, Proviantsäcke, Schriftrollen, Kodizes, Decken, Felle – alles, womit wir ihn bis unter die Plane vollgestopft hatten, war durcheinandergeschüttelt oder zum Teil heruntergefallen.
Ein gräuliches Fluchen und Schimpfen erhob sich, wie üblich bei solchen Zwischenfällen. Rouhfaz, unser fadendünner Diener und Schreiber, der das Gefährt gelenkt hatte und für die Ladung verantwortlich war, beschuldigte kreischend und fluchend einen der Männer unseres Schutztrupps als Verursacher. Der hatte wohl, um einem Felsbrocken auszuweichen, sein Pferd zu heftig gegen die Seite des Wagens gedrückt. Der Beschuldigte, Fulk, ein alter Kriegsmann mit einer flammenden Narbe quer über der Stirn, schnauzte zurück und nannte Rouhfaz einen Hahn ohne Kamm, womit er auf dessen Glatze anspielte. Darauf schimpfte ihn Rouhfaz einen dummen Raufbold. Fulk zog sein Schwert und Helko, der Anführer unseres Schutztrupps, musste dazwischen gehen. Die beiden anderen Männer unseres Gefolges, bullige junge Kerle, versuchten inzwischen, den Wagen anzuheben und das Rad zu befreien. Auch Helko griff zu und unter Ächzen und Stöhnen drückten, stemmten und zerrten die drei. Aber das Rad saß fest, es war eingeklemmt.
Zunächst kümmerte Odo sich nicht um den Vorfall. Ich sah ihn am Rande der Felsplatten unruhig auf und ab spazieren und Ausschau halten. Er suchte wohl das Haus seines Vetters, von dem aber weit und breit nichts zu sehen war. In der Mitte der Hügelkuppe türmten sich mächtige Quader, die den Blick auf die andere Seite verdeckten, Unter uns breitete sich eine Ebene aus. Der Bach, an dessen Quelle wir standen, teilte sie, und wir sahen an seinem jenseitigen Ufer Wiesen und abgeerntete Äcker, nur ganz in der Ferne ein paar Hütten. Vermutlich hatte sich Odo geirrt und ich war mir schon sicher, dass wir nach der Straße zurückkehren mussten.
Während sich unsere Leute um den Wagen bemühten, untersuchte ich das zu Boden gefallene Gepäck. Zum Glück waren nur wenige Bücher darunter und ein einziges Bündel mit königlichen Verordnungen. Ich hob die kostbaren Stücke auf, damit sie nicht weiteren Schaden nahmen oder gar von einem achtlosen Fuß in den Felsspalt hinabgestoßen wurden.
Als ich an dessen Rande so hin und her ging, sah ich auf einmal aus der Tiefe etwas heraufschimmern. Neugierig beugte ich mich nieder und starrte hinab. Was mochte das sein? Ein Reif? Eine Fibel? Ein Dolchgriff?
Ohne Zögern legte ich mich flach auf den Boden, doch selbst ein längerer Arm als der meinige hätte das Ding nicht zu fassen vermocht. Mein Blick fiel auf unsere Angelschnur, mit der wir gelegentlich Beute machen. Auch sie war vom Wagen auf den Boden gefallen. Ich ließ sie hinunter, doch fand der Haken zunächst keinen Halt und glitt an dem schimmernden Gegenstand ab. Endlich saß er dann aber fest und nach mehrfachem Rucken konnte ich etwas heraufziehen. Es war ein mit einer dünnen Schicht Moder bedeckter, doch gut erhaltener lederner Gürtel mit silberner Schnalle und Schmuckbeschlägen.
Odo brüllte nun unseren Leuten Befehle zu. Zwischendurch lief er immer wieder zum Rande der Hügelkuppe, um missmutig Ausschau zu halten.
Er warf nur einen flüchtigen Blick auf den Fund. »Hebst du jetzt Schätze?«
»Das ist alles. Immerhin nicht ganz wertlos. Wer legt so etwas ab und lässt es zurück?«
Ich setzte mich nieder und betrachtete den Gürtel. Mit dem Ärmel der Kutte rieb ich die Metallteile ab. Auf den Beschlägen zu beiden Seiten der Schnalle waren jeweils die gleichen Tierfiguren abgebildet, in der Mitte ein Hahn, seitlich Fische. Der Hahn stand auf zwei gekreuzten Lanzen. Die große, breite Schnalle war unbeschädigt, man konnte den Gürtel sofort wieder anlegen. Ich versuchte es selbst, aber meine rundliche Mitte ließ sich nicht ganz umspannen. Allerdings war es kein schlanker Mann gewesen, der den Gürtel getragen hatte.
Vermutlich ein Edler, dachte ich, ein kräftiger Kerl, der unterwegs, vielleicht auf der Jagd, an dieser Quelle gerastet hatte. Gewiss hatte er den Gürtel abgelegt und der war dann, durch Zufall vielleicht, in den Felsspalt gerutscht. Doch warum hatte der Mann ihn nicht wieder herausgezogen? Ein Speer hätte doch genügt, um mit der Spitze die Schnalle zu fassen …
Wieder Brüllen und Fluchen. Die Männer hatten den Wagen bewegt, aber das eingeklemmte Rad war gebrochen. Einige Speichen waren gesplittert, der untere Teil steckte weiterhin fest.
»Nichts mehr zu machen«, sagte Helko. »Wir müssen den Wagen stehen lassen.
Wie ärgerlich! Das bedeutete, dass wir unser Gepäck verteilen und auf die Reittiere umladen mussten. Darüber würde weitere kostbare Zeit vergehen. Wann würden wir noch irgendwo ankommen?
Ich beriet mich mit Odo. Meiner Meinung nach war es noch das Vernünftigste, an der Stelle, wo wir uns gerade befanden, ein Nachtlager zu errichten. Nicht das erste Mal geschah es ja auf unseren Reisen, dass wir in eine solche Lage gerieten. Wir hatten ein Zelt im Gepäck und reichlich Wegzehrung. Dazu gab es Wasser von der Quelle. Nachts würden wir gegen Räubergesindel Wachen aufstellen müssen.
Odo schien davon nicht viel zu halten. Immer noch spähte er suchend nach dem Horizont.
»Ich würde natürlich den Fuchsbau vorziehen«, sagte ich spöttisch. »Doch leider ist bisher keiner deiner heimatlichen Füchse erschienen, um uns einzulassen.«
»Wart es nur ab«, knurrte er. »Die kommen noch.«
Ich bemerkte die beiden Männer zuerst. Es waren robuste Gestalten, rotgesichtig, mit lebhaften Äuglein, struppigen Bärten und breiten Mündern, aus deren Winkeln Zähne wie Hauer ragten. Trotz der spätsommerlichen Hitze trugen sie Pelze, was sie noch dicker und plumper machte. Die kleinen Pferde, auf denen sie hockten, schienen unter ihrem Gewicht fast zusammenzubrechen. Irgendwo zwischen den Felsen waren sie plötzlich hervorgekommen.
Ich stieß Odo an. Er wurde aufmerksam und schnalzte vor Überraschung mit der Zunge. »Teufel noch mal! Wer besucht uns da? Nun, Füchse sind das wohl nicht. Eher zwei berittene Wildschweine.«
»Heil!«, rief einer der beiden, der ältere.
Aus der Entfernung, die zwischen uns war, konnten sie Odos Bemerkung nicht gehört haben. Auch der andere hob die Hand und grüßte.
Odo ließ die Faust, die sich schon um den Schwertgriff geballt hatte, sinken und trat den Männern ein paar Schritte entgegen.
»Heil! Ihr beide scheint Leute zu sein, die sich hier auskennen. Habt Ihr vielleicht die Straße gesehen, die wir verloren haben?«
Die Frage verblüffte die Männer, sie blinzelten misstrauisch.
»Was habt Ihr verloren?«, fragte der Ältere.
»Unsere Straße. Sie muss hier irgendwo sein, doch wir finden sie nicht.«
»Wollt Ihr nur scherzen oder sucht Ihr Streit?«
»Weder das eine noch das andere. Ihr habt sie also auch nicht gesehen.«
»Wen? Was?«
»Nun, die Straße, die zu Herrn Ebrachar führt.«
»Zu Ebrachar?«
Die beiden sahen sich an. In ihre starren Mienen kam Leben.
»Was wollt Ihr denn von Herrn Ebrachar?«, fragte wieder der Ältere.
»Das werden wir ihm schon selber sagen«, erwiderte Odo. »Jedenfalls scheint Ihr ihn zu kennen.«
»Und wenn es so ist?«
»Umso besser. Wie weit ist es noch bis zu ihm?«
»Vielleicht nicht sehr weit.«
»Dann werdet Ihr die Güte haben, uns zu sagen, wo wir ihn finden. Wir sind unterwegs in einer sehr wichtigen Angelegenheit.«
»Einer wichtigen Angelegenheit? Und was habt Ihr dort? Teppiche, Felle, Geschirr? Das sind doch nicht etwa Brautgeschenke?«
»Wollt Ihr vielleicht um seine Tochter anhalten?«, ließ sich nun erstmals der Jüngere vernehmen, wobei er den Unterkiefer mit den Hauern vorschob.
»Es scheint, Ihr hättet etwas dagegen«, entgegnete Odo lachend. »Mit Recht! Wer so stattlich wie Ihr ist, soll selber die schönste der Bräute küssen. Führt uns hin! Ich werde bei meinem Vetter Euer Fürsprecher sein.«
»Eurem Vetter?«
Der Ältere sprang hurtig vom Pferd und stapfte mit kurzen Schritten auf Odo zu. Er packte die Hand meines Amtsgefährten und schüttelte sie.
»Natürlich!«, rief er. »Ihr seid sein Vetter. Ich hatte doch gleich so eine Ahnung. Diese Ähnlichkeit! Die hohe Gestalt, der Adlerblick. Erlaubt, ich bin Rocco. Das ist mein Sohn Bobo. Dieser Dummkopf hat doch tatsächlich geglaubt, Ihr kämet, um die Tochter Eures Vetters zu heiraten.«
Er stieß mit dem Finger nach seinem Sohn und lachte kurz auf.
Gleich darauf zog er jedoch eine grimmige Miene und rief: »Was sitzt du da auf deinem Gaul und glotzt? Steig ab! Begrüße Herrn Ebrachars Vetter!«
Bobo gehorchte augenblicklich. Herr Rocco stand breitbeinig da, zerrte den Gürtel über dem mächtigen Bauch zurecht und legte die Hand auf den goldenen Knauf seines Kurzschwertes. Seine Kleidung war kostbar, mit seidenen Borten und Stickereien versehen, an seinem Stirnband glänzten Edelsteine. Obwohl es, wie gesagt, ein sehr warmer Tag war, hatte er über den Pelz noch einen Mantel gezogen.
Der junge Herr Bobo, der nun auf uns zu schritt, war ebenso aufwendig herausgeputzt, nur dass er an Stelle des Sax die Spatha trug, das fränkische Langschwert, das neben ihm auf den Felsboden stieß.
»Euer Scharfsinn hat schon erraten«, sagte Herr Rocco, indem er sich wieder an Odo wandte, »dass wir uns selbst um die Braut bewerben. Ein schönes Mädchen, da habt Ihr Recht. Doch Eure Fürsprache wird nicht nötig sein. Ich bin der Nachbar Eures Vetters, vielleicht nicht ganz so reich und bedeutend, aber nicht unwürdig. Da versteht sich von selbst, dass wir unsere Kinder einander zur Ehe geben. Gott der Herr segne den Bund und schütze uns auf unserem Wege! Wir sind nämlich gerade unterwegs, um die Geschenke zur Verlobung abzuliefern. Der Ehevertrag ist vorbereitet, die Hochzeit wird nicht auf sich warten lassen. Doch morgen feiern wir erst die Verlobung, wie es sich gehört. Beim heiligen Martin von Tours! Da bringen wir dem Herrn Ebrachar gleich seinen Vetter mit. Möge ihm das den Trübsinn vertreiben, dem Armen! Aber was ist Euch da geschehen?«
Herr Rocco ging um unseren Wagen herum und besah den Schaden. Er bedauerte, dass er uns nicht seinen eigenen Karren zur Verfügung stellen konnte, der mit Geschenken schon überladen sei. Man könne jedoch ein paar ledige Pferde und Ochsen mit unserem Gepäck belasten. Morgen werde dann unser Gefährt zum Salhof gebracht und vom Wagner wieder instandgesetzt.
Natürlich waren wir einverstanden. Odo war nicht nur erleichtert, weil er sich nun doch nicht geirrt hatte, er behauptete auch scherzhaft, die Spitze seiner gewaltigen Nase knetend, dass ihm dies zuverlässige Gerät schon an der Straße den Duft des bevorstehenden Festschmauses zugetragen habe. Auch unsere Leute packte freudiger Eifer. Eilig entluden sie den Wagen und versteckten ihn hinter Büschen, damit er über Nacht nicht gestohlen wurde.
Herr Rocco versicherte, dass uns kaum mehr als zwei Meilen vom Salhof des Herrn Ebrachar trennten. Wir würden es vor Sonnenuntergang schaffen. Er schickte Bobo fort, und durch eine Bresche zwischen den Felsen, die wir zunächst nicht bemerkt hatten, führte man gleich die Tiere herbei, die unser Gepäck tragen sollten. Einem der Knechte befahl Herr Rocco, einen Krug Wein zu bringen. Er wolle den kurzen Aufenthalt nutzen, sagte er, um den edlen Herrn Vetter seines Nachbarn und dessen Beichtvater (damit war ich gemeint) mit einem köstlichen, selbst gezogenen Tropfen zu begrüßen.
In der Nähe der Quelle wollten wir uns auf ein paar moosbewachsene Steine setzen. Da hörten wir hinter uns eine Stimme.
»Wehe!«
Ein hagerer, blasser Kerl mit einem winzigen Vogelkopf hatte den Ruf ausgestoßen. Die schwarzen Augen weit aufgerissen, die krallenartigen Hände beschwörend vorgestreckt, kam er rasch näher. Sein dunkler, ziemlich schäbiger Mantel, den er wie eine römische Toga angelegt und gefaltet hatte, hüllte ihn fast vollständig ein.
»Wehe!«, rief er noch einmal. »Meidet den Ort, hinweg von hier! Schlimmes Geschick erfüllte sich! Blut floss dem bärenkühnen Jäger vom Haupt und färbte den Quell!«
Er wies mit ausgestrecktem Arm nach dem Stein, auf dem Odo sich gerade niederlassen wollte. Mein Amtsgefährte blieb unschlüssig stehen, halb betroffen, halb belustigt.
Herr Rocco dagegen war ungehalten. »Was willst du, Drog? Wer hat dir befohlen, hierher zu kommen?«, herrschte er den Hageren an. »Warum störst du uns?«
»Sind nicht heute die Nonen des September?«
»Ach, schweig! Ich hoffe, meine Herren«, wandte sich Rocco wieder an uns, »dass Euch dieses Gespenst nicht erschreckt hat. Es ist Drogdulf, der Bruder meiner Gemahlin. Ein ganz unnützer Mensch und ein bisschen verrückt. Er kann nichts außer lesen, schreiben und schönreden. Er hat einen Ringelschwanz im Maul statt einer Zunge. Ich nehme ihn nur mit, damit er mir den Ehevertrag vorliest. Um sicher zu gehen, dass alles drinsteht.«
»Bittersalzige Tränen werden auf dieser Hochzeit fließen, wenn Ihr verweilt!«, verkündete der seltsame Haruspex.
»Hör auf, dich vor diesen Herren wichtig zu machen!«, donnerte Herr Rocco. »Du verfluchter Schmarotzer hast nur den Wein gerochen. Aber heute bekommst du nichts mehr, du hast schon dein Teil. Morgen gibt es genug zu saufen, da wirst du auf deine Kosten kommen. Jetzt aber fort mit dir, verschwinde!«
Der Gescholtene verzog die Falten seines Gesichts zu einer tragischen Grimasse, wagte jedoch keine Widerrede, sondern krümmte den Buckel und wich zurück.
Da sagte ich: »Wartet! Was meintet Ihr mit dem ›Blut des Jägers‹? Und mit den Nonen des September? Das ist ja tatsächlich der heutige Tag.«
»Heute ist es genau ein Jahr her«, erwiderte Drog, mir seine lebhaften schwarzen Augen zuwendend, »dass das scharf geschliffene Schwert auf den im Schlummer geneigten Schädel hinabfuhr und … ach, ach, was habt Ihr denn da?«
Er starrte auf meine Hand, die den Gürtel hielt.
»Den habe ich gefunden, dort in der Felsspalte.«
»Der Jäger trug ihn!«, stieß Drog mit einer heftigen Geste hervor.
»Was ist das für eine Geschichte, Freund?«, fragte Odo, der nun ebenfalls aufmerkte. »Hier wurde vor einem Jahr ein Jäger ermordet? Wer war das? Etwa ein Grundherr aus der Umgebung?«
»Ihr scheint nichts davon zu wissen«, sagte Herr Rocco mit unbehaglicher Miene. »Habt wohl lange nichts von Euren Verwandten gehört.«
»So ist es. Aber was soll das heißen?«
»Nun, der Ermordete …«
»Sprecht! Wer war es?«
»Es war der junge Herr Gundobad.«
»Ebrachars Sohn?«, rief Odo.
»Ja, der älteste Sohn Eures Vetters. Ein prächtiger Kerl, ein Heldenspross. Seine ganze Leidenschaft war die Jagd. In der Tat, es muss an dieser Stelle geschehen sein … ich erinnerte mich nicht gleich daran. Er ruhte sich aus von der Hatz, erfrischte sich … und dann fand man ihn hier. Wahrhaftig, das war ein hässlicher Tod. Ochsen und Schweine sterben angenehmer. Sie hatten ihn fast in zwei Teile gehauen, die Schurken.«
»So weiß man, wer …«
»Natürlich Raubgesindel. In dieser gottverlassenen Gegend ist kein Christenmensch sicher. In den Wäldern wimmelt es nur so von Räubern und Mördern. Hinter jedem Strauch lauert einer. Seid froh, dass Ihr uns getroffen habt. Es würde sicherlich übel ausgehen, wenn Ihr hier oben übernachten wolltet.«
»Es steht also fest, dass es Räuber waren, die Gundobad …«
»Das steht fest wie diese Feldblöcke hier. Sie nahmen sein Pferd und seine Waffen.«
»Und warum ließen sie den Gürtel zurück?«
Herr Rocco zögerte mit der Antwort. Er warf einen schiefen Blick auf meinen Fund, den ich Drogdulf überlassen hatte.
Der starrte auf die Silberbeschläge und murmelte: »O achtloser Mörder, der edles Metall verschmäht und fortwirft! Doch konnte er sich mit des Bruders prächtigem Leibesschmuck gürten?«
»Gib her!«
Herr Rocco riss Drogdulf so heftig den Gürtel aus der Hand, dass die scharfe Lederkante dem Armen die Haut zerschnitt.
»Und nun troll dich, du Narr!«, rief Rocco. »Du redest heute so viel Unsinn, dass ich mich kaum noch beherrschen kann. Ihr fragt, warum die Räuber den Gürtel nicht wollten? Wer kann das wissen? Vielleicht erschlugen sie Gundobad nicht im Schlaf, vielleicht gab es ein Handgemenge. Dabei fiel der Gürtel dort hinein, wo Ihr ihn heute gefunden habt, Vater, und sie haben ihn in der Eile vergessen. Er war ihnen wohl nicht wertvoll genug. Seht Euch meinen an … Gold und Rubine. Dagegen ist dieser Gürtel ein Dreck. Vielleicht gehörte er auch gar nicht Gundobad. Drog, der Tölpel, kann sich irren. Seht her, diese Hähne und Fische – jeder Zweite schmückt sich mit Hähnen und Fischen. Ein Wanderer, der hier rastete, hat den Gürtel vielleicht verloren. Falls es aber doch der des Gundobad war … nun, meine Herren, habe ich eine Bitte. Versteckt ihn vor den Augen Herrn Ebrachars! Der Tod seines ältesten Sohnes hat ihn furchtbar getroffen. Viel fehlt nicht mehr und er ist nur noch ein Jammergreis. Dass ich auch nicht an diese verfluchten Nonen gedacht habe! Ich hoffe, es fällt ihm nicht selber ein, dass es heute vor einem Jahr geschehen ist. Deshalb bitte ich Euch: Kein Wort von dem Gürtel! Eins kommt zum anderen und alles zusammen könnte uns noch die Verlobung verderben. Hast du verstanden?«, schrie er plötzlich wieder den Drogdulf an. »Verliere auch nur ein Wort darüber und du wirst keine Zeit haben, es zu bereuen!«
Odo und ich tauschten einen Blick.
»Es muss dich schmerzen, dass du einen Verwandten verloren hast«, sagte ich. »Gott erbarme sich seiner Seele.«
»Amen«, erwiderte er, »aber nichts mehr von Schmerz. Die Tochter meines Vetters heiratet und so bekomme ich ja bald neue Verwandte. Diesen Rocco und seine famose Sippe. Ist das nicht tröstlich?«
Wir tranken den Wein, der ausgezeichnet war, wie es sich für diese Gegend gehört, aber er wollte uns nicht so recht munden. Wir ließen uns auch nicht auf den von Moos überwucherten Steinen nieder. Kaum hatten wir ausgetrunken, brachen wir auf. Natürlich war uns allen daran gelegen, noch bei Tageslicht unser Ziel zu erreichen. Doch der tiefere Grund für die Eile war ein anderer.
Dem Leser dieses Berichts mag es leichtsinnig erscheinen, dass wir, die Kommissare König Karls, im Sonderauftrag unterwegs und mit wichtigen Sendschreiben im Gepäck, uns ohne langes Zögern einem fremden Trupp anschlossen. Zumal dieser, wie sich herausstellen sollte, an Kopfzahl weit überlegen war.
Nachdem wir uns durch die Bresche zwischen den Felsen gezwängt hatten, fanden wir nämlich auf der anderen Seite der Hügelkuppe an die fünfzehn, zwanzig Mann vor – außer denen, die wir schon kennengelernt hatten. Es waren die Knechte, die den Muntschatz bewachten, einen Karren mit Geschenken und eine Herde von Pferden, Rindern und Schafen. Sie sahen friedlich aus – aber waren sie es? Wenn nun die Herren Rocco und Bobo keine Edelleute waren, diese Männer nicht ihre Knechte, sondern Spießgesellen, der Wagen und die Herde nicht Brautgeschenke, sondern Diebsbeute? Tagtäglich werden im Frankenreich Reisende zu Hunderten beraubt und getötet, verschwinden Kaufmannszüge und Pilgertrupps ebenso von der Erdoberfläche wie ganze Heerhaufen. Wir wären nicht die erste königliche Abordnung, die ihr Ziel nie erreichte.
Im Bewusstsein dieser Gefahren vertrauten wir dem Rocco nicht blindlings. Während wir die Becher leerten, stellte Odo unserem neuen Bekannten noch ein paar gut gezielte Fragen, seinen Vetter Ebrachar betreffend. Herr Rocco gab darauf in einer Weise Bescheid, die auf gut nachbarlichen, ja sogar vertrauten Umgang schließen ließ. Wir hatten auf unseren Reisen auch so viel Erfahrung mit Menschen unterschiedlichster Art gewonnen, dass wir in diesem polternden, geltungssüchtigen Rohling so etwas wie das Muster des kleinen Landedlen erkannten. Es gab somit auch keinen Grund, seine Geschichte von der Verlobung in Frage zu stellen (abgesehen vielleicht von dem Schrecken erregenden Gebiss seines Sohnes, des Bräutigams, den die Braut, wie wir hörten, noch nicht kannte, und in dieser Gegend müssen die Jungfrauen ihrer Verheiratung zustimmen). Trotz allem blieben wir auf der Hut. Unsere Leute hielten die Waffen bereit, und als der Zug sich formierte und Herr Rocco sich an die Spitze setzte, wusste Odo sie so geschickt einzureihen, dass sie den Dicken notfalls rasch überwältigen und von den Seinen trennen konnten. Solche Maßnahmen trifft mein Amtsgefährte, der sich lange in Grenzkriegen herumgeschlagen und jede Art von Treulosigkeit erfahren hatte, schon fast aus Gewohnheit.
Auf einem nur leicht abschüssigen, steinigen, aber ausreichend breiten Pfad bewegten wir uns talwärts. Odo ritt an Roccos Seite und bald waren die beiden in ein Gespräch vertieft. Ich hielt meinen Grisel hart hinter ihnen und spitzte die Ohren, denn was da geredet wurde, verdiente meine besondere Aufmerksamkeit. Herr Rocco argwöhnte anscheinend selbst, er könne uns nicht Vertrauen erweckend erscheinen. Seine Ausfälle gegen Drogdulf und der Eifer, mit dem er uns beschworen hatte, den Fund in der Felsspalte zu verschweigen, waren ja in der Tat befremdlich. Er legte nun Wert darauf, seine aufrechte Gesinnung und feste Treue gegenüber seinem Nachbarn und dessen Familie zu bekunden. Außerdem hielt er es für nötig, gewisse Besorgnisse zu äußern und auf »bedenkliche Vorgänge«, wie er sie nannte, hinzuweisen, damit sich der Vetter des Herrn Ebrachar bei seiner Ankunft auf dessen Herrenhof nicht zu sehr wunderte.
Da er gewohnheitsmäßig mit lauter Stimme sprach und selbst Vertrauliches noch heraustrompetete, hatte ich trotz des Stimmengewirrs und des Getrappels der Tiere hinter mir wenig Mühe, der Unterredung zu folgen.
»Glaubt mir, Herr Odo, ich bin besorgt«, sagte Herr Rocco. »Vor einem Jahr noch war Euer Vetter ein Turm, jetzt aber verfällt er wie ein altes, morsches Gemäuer. Noch ein Geschoss, noch ein Windstoß – und er ist hin. Dabei hat er ja keine fünf Dezennien, er ist nur wenig älter als ich. Dieselbe Amme hat uns gesäugt, eine gewisse Gislinde, ein wahres Prachtexemplar von Amme. Mein Vater kaufte sie dem Vater des Ebrachar, Euerm Onkel, ab, weil ich als Säugling so schwächlich war. Aber wir haben nicht nur aus denselben Brüsten getrunken, sondern auch aus denselben Fässern. Wie oft war ich bei ihm zu Gast! Und wenn Herr Ebrachar ein Fest gab – wahrhaftig, da krachten die Tische, da platzten die Gürtel. So war es, nun aber ist Schluss damit. Ein Teufel hat plötzlich den Schwanz gehoben und – ffft! Alles aus. Keine Feste, kein Braten, kein Wein. Stattdessen frommer Trübsinn, Gebete und Fasten.«
»Ein eigenartiger Widerspruch, Freund«, bemerkte Odo. »Der Teufel soll meinen Vetter vom fröhlichen Leben in die Kirche geschleppt haben?«
»So ist es. Es kann niemand anders sein als er selbst, in Person. Deshalb nennen wir ihn auch den Pater Diabolus.«
»Ein Ordenspriester?«
»Vom Kloster drüben. In Wirklichkeit heißt er Fabiolus. Diabolus passt aber besser zu ihm.«
»Das muss ein gewitzter Pfaffe sein, der sich einen solchen Namen verdient.«
»Ja, lacht nur! Weinen werdet Ihr, wenn Ihr das Elend seht.«
»Wie denn? Mein Vetter ist im Elend?«
»Noch nicht. Aber weit davon ist er nicht mehr. Dieser Diabolus streicht wie ein Geier um ihn herum. Und hackt ihm das lebendige Fleisch von den Knochen. Knauserig ist Ebrachar nur gegen seine alten Freunde geworden, nicht gegen die Mönche. Keinen Tag lässt Gott werden, an dem sie nicht etwas mitgehen lassen. Alles nehmen sie, können alles brauchen. Ein Leuchter? Ein Becher? Ein Ring? Nur her damit! Teppiche, Pelze, Wandbehänge? Haben wir nötig! Schinken, Würste, Bier und Wein fassweise? Stärkt uns für unsere frommen Übungen! Von Hühnern, Gänsen und Ziegen zu schweigen. Auch Pferde bringen sie fort … wozu brauchen die heiligen Brüder Pferde? Kürzlich haben sie ihm sogar seinen goldenen Nachttopf weggenommen, ein Kunstwerk, stammt aus Byzanz. Angeblich, weil es Sünde ist, auf Gold zu pissen. Und wer tut es jetzt? Der Diabolus! Oder sein Abt, der Herr Agilhelmus.«
»Ihr ereifert Euch so«, sagte Odo spöttisch, »als würde man Euch selbst bestehlen.«
»Und tut man es denn nicht?«, rief Herr Rocco, während er sich, rot im Gesicht, im Sattel umdrehte und einen Blick zurück auf den Zug warf. »Ist das alles nur für die Braut, die Ingunde, was ich dorthin schaffe? Keineswegs! Der Diabolus saß mit am Tisch und feilschte, als über den Muntschatz verhandelt wurde. Angeblich, um den lieben Ebrachar und seine Tochter vor meinem Geiz zu schützen. In Wirklichkeit, um seinen Anteil zu raffen. Sie haben mich fast ruiniert. Gott vergebe es Euerm Vetter und mache, dass er zu seinem Wort steht und seine Tochter wenigstens mit der Mitgift ausstattet, die er versprochen hat.«
»Ah, daran zweifelt Ihr?«