Prosa bei Lektora
Bd. 47
Lektora, Paderborn
Zweite Auflage 2015
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Cover: Artur Fast
Layout Inhalt: Lektora, Paderborn
eISBN: 978-3-95461-066-2
„Ey, ich raff’ das nicht. Da habe ich Geburtstag und weißt du, was der Typ mir schenkt?“
Ich schätze die beiden Mädchen auf ungefähr zwanzig Jahre. Die eine von ihnen feuert wütende Tiraden über einen Typen ab, der offensichtlich ihr Freund ist. Ihre Freundin schüttelt den Kopf und fragt, den Konventionen derartiger Gespräche folgend, erwartungsvoll nach:
„Nee, keinen Plan. Was hat er dir geschenkt?“ Das Geburtstagskind macht eine Kunstpause und schaut betroffen auf den Boden. Dann blickt sie, begleitet von einer theatralischen Geste, auf und sagt:
„’Ne Kippe. Der Arsch kommt heute Morgen an ... und schenkt mir eine selbstgedrehte Kippe. Ey, ich hab’ Geburtstag. Was soll das?“ Ihre Freundin teilt die Enttäuschung.
„Boah, krass. Wie unverschämt.“
Das kleine Schauspiel ereignete sich an einem Freitag im November und ich war gerade am Mainzer Bahnhof angekommen. Auf dem Weg zu einem Auftritt versuchte ich mich draußen zu orientieren und wurde unfreiwillig Zeuge des Gesprächs. Obwohl ich nur diesen Fetzen der Unterhaltung mitbekam, hat sie mich nachhaltig beschäftigt. Erst musste ich schmunzeln, da ich mir die Situation bildlich vorstellte. Das Mädchen muss erwartungsvoll aufgewacht sein, voller Vorfreude auf ihren Geburtstag. Dann kam ihr Freund vorbei. Vielleicht war er auch schon bei ihr, wer weiß. In meiner Vorstellung sagt er dann so etwas wie: „Morgen Schatz. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Hier, das ist für dich.“ Und dann muss er ihr eine Selbstgedrehte gereicht haben. Ach, wie gerne hätte ich ihr Gesicht gesehen. Klar, das ist natürlich im ersten Moment ernüchternd für das Mädchen. Möglicherweise hatte sie eine Eintrittskarte für ein Konzert, vielleicht gar ein Schmuckstück oder wenigstens einen Blumenstrauß erwartet. Und dann das.
Eine Kippe.
Im Laufe des Tages kam mir aber auch noch ein anderes Szenario in den Sinn. Vielleicht hatte der Junge, der das Mädchen möglicherweise tatsächlich sehr gern hat, das kleine Blättchen vor dem Drehen der Zigarette mit einer persönlichen Nachricht versehen. Es muss ihn viel Zeit gekostet haben, den Text in winzigen Buchstaben auf das dünne Blatt zu kritzeln. Unter diesen Umständen wäre das Präsent zumindest um einiges emotionaler und stellte in meinen Augen ein gutes Geschenk dar, abhängig natürlich vom Inhalt des Textes. Ich musste mir im Laufe der folgenden Tage und Wochen vorstellen, was ich selbst wohl meiner Freundin auf das Zigarettenblättchen schreiben würde. Es könnten ernste, nachdenkliche, liebevolle oder vielleicht auch erheiternde Gedanken und Geschichten sein. Ja, vielleicht würde ich eine komplette Schachtel mit selbstgedrehten Zigaretten und individuellen Nachrichten verschenken. Möglicherweise könnte ich versuchen, den schmalen Grad zwischen Enttäuschung und Freude, Glück und Unglück, das ständige Balancieren zwischen den Stühlen, eben den ‚Balanceakt Leben‘ an sich auf diese kleinen Zettel zu bannen.
Was wäre das für ein Geschenk.
In diesem Buch habe ich versucht, die Idee in etwas ausführlicherer Weise umzusetzen, eine Art Jumbo-Pack selbstgedrehter Zigaretten sozusagen. Zugegebenermaßen habe ich es mir beim Schreiben leichter gemacht und dickeres Papier benutzt. Diese Zigarettenblättchen sind einfach zu dünn. Ich hoffe, dass dieses Buch irgendwann dem Mainzer Mädchen in die Hände fällt. Sollte sie es jemals lesen, kann sie sich gerne bei mir melden. Mich würde interessieren, was aus ihr und ihrem Freund geworden ist. Ich würde ihr sagen: Schau immer zweimal hin. Manchmal steckt hinter den Dingen mehr als man auf den ersten Blick meint. Betrachte die Seiten dieses Buches als Zigarettenblättchen. Jedes Einzelne enthält eine Geschichte. Vielleicht wirst du in Lebenssituationen geraten, in denen du über den Balanceakt Leben zu verzweifeln glaubst. Ich hoffe, dass der ein oder andere Text dir nutzen kann, auch wenn er nur zum Nachdenken anregt oder dich zum Schmunzeln bringt.
Denk immer daran:
Es steht alles auf der Kippe.
Quichotte
Der Vogel vogelt durch die Nacht,
im Schnabel einen Tiger.
Ein Kampf ging diesem Flug voraus,
der Vogel war der Sieger.
So zeigt uns dieses Werke:
Man braucht für Poesie
nicht immer Kraft und Stärke.
Es reicht schon Fantasie.
Ich bin in einem idyllischen, kleinen Dorf auf dem Land aufgewachsen. Diese Ansammlung an Häusern und Scheunen war so klein, dass nach der Durchführung eines Klingelstreiches umgehend die Nachbarn bei uns zu Hause anriefen und sagten, dass ich das lassen solle. Jahrelang fragte ich mich, wie sie denn so schnell herausfinden konnten, dass ich der Übeltäter gewesen war. Irgendwann dämmerte mir, woran das gelegen hatte. Dabei mag der Umstand eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, dass ich schlicht und ergreifend lange das einzige Kind in ebendiesem Dorf war.
Wenn man nun auf dem Land aufwächst, im etwas größeren Nachbardorfverein Fußball spielt, sich an Trinkgelagen beteiligt und dann nachts über fremde Hecken springt, um zu gucken, welche Art von Boden auf der anderen Seite des Grundstücks ist, dann kommt man relativ schnell auf den Trichter, dass man sein Faible für Poesie unter Umständen besser geheim hält.
Man geht nämlich nicht hin, nach dem Fußballspiel, in die testosterongeschwängerte Mannschaftsdusche, und sagt so Sachen wie:
„Hört ihr, holde Kameraden,
wie die Tropfen plätschern?
Kühl und gar erquicklich
die verschwitzten Leiber tätscheln?
Fühlt ihr nicht wie ich
schon beim letzten Klang der Pfeife
das Verlangen nach der Seife?“
Das sagt man nicht. Weil es nicht in den Kontext passt. In den Mannschaftsduschen der Fußballvereine werden nämlich eher „Gedichte“ laut wie:
„Scheiß die Wand an,
war ich gestern besoffen.
Man, wie besoffen war ich denn gestern.
Da bin ich beim Ficken eingepennt.
Aber die Olle ist trotzdem gekommen.
Man, war ich besoffen.
Scheiß die Wand noch mal an.
Scheiß der Hund ins Feuerzeug.
Ich brech’ ins Essen.
Alter Vatter.“
Man mag diesen Zeilen entnehmen, dass ich eine ganz eigene Art von Poesie in meiner Jugend kennenlernte. Diese drückte sich nicht immer in Form von Gedichten aus, sondern kam auch durch den poetischen Zauber einiger Situationen zum Ausdruck. Als ich zum Beispiel meinen Kumpel Knolle kennenlernte, stand ich mit einem Gitarrenkoffer an der Ampel, da ich auf dem Weg zur Bandprobe war. Knolle kam von der Seite auf mich zu, musterte erst mich, dann den Gitarrenkoffer und sagte: „Hömma. Is’ da ’ne Gitarre drin?“ Das sind diese Momente, in denen man realisiert, dass da jemand nicht der allerlängste Pfeil im Köcher ist. In dieser Situation wollte ich aber nicht einfach sagen: „Ja.“ Ich war doch der Meinung, dass mich da jemand veräppeln wollte. Deshalb erwiderte ich: „Nein. Der Koffer hier ist randvoll mit Kokain.“
Ich hatte angenommen, dass spätestens jetzt beide Parteien in Gelächter ausbrechen würden, sich die Hand gäben und daraus eine Freundschaft für’s Leben erwachsen würde. Knolle jedoch musterte noch einmal den Gitarrenkoffer und sagte dann, ohne eine Miene zu verziehen: „Na, ja. Ist auch ein bisschen groß für ’ne Gitarre.“
Ich pflege noch heute zu sagen, dass Knolle im Revolver der Intelligenz eher die Platzpatrone ist. Er heißt auch nur Knolle, weil er mal versucht hatte, ein halbes Kilo Gras von Amsterdam nach Gummersbach zu schmuggeln, wobei er erwischt wurde. Dabei hatte er sich einen tollen Plan ausgedacht. Er höhlte einfach 50 Knoblauchknollen komplett aus, um das Gras darin zu verstecken. Er meinte nämlich, dass der Knoblauchgeruch im Falle einer Grenzkontrolle die Polizeihunde sicherlich verwirren würde. An sich war das keine schlechte Idee. Dummerweise hatte er jedoch versäumt, sich eine gute Erklärung dafür zu überlegen, warum er mit 50 Knoblauchknollen auf der Rückbank von Amsterdam nach Gummersbach unterwegs war. Seine spontane Begründung bei der Grenzkon-trolle war also gewesen: „Um sie zu rauchen.“
Seit er aus dem Knast ist, heißt er deswegen bei uns Knolle. Wie er vorher geheißen hat, weiß keiner mehr, aber nach einer derartigen Situation wird man ohnehin neu geboren. Auch ein Kirmeserlebnis mit Knolle bleibt unvergessen. Wir waren mit einem weiteren Freund zusammen dem Bier nicht abgeneigt gewesen und zwar ganz nach Knolles Motto: Alkohol – mäßig genossen – schadet auch in großen Mengen nicht. Schließlich kam die Frage auf, wie wir denn noch nach Hause kommen würden. Da wir mit dem Auto zur Kirmes gefahren waren und nicht laufen wollten, losten wir aus. Es traf, wie das Schicksal wollte, Knolle. An der zweiten Kreuzung wurde er von einem Polizeiauto angeheult und musste rechts heranfahren. Es war allerdings so, dass Knolle, während sich der Polizist noch unser Nummernschild notierte, einfach zu uns beiden auf die Rückbank gerutscht war. Der Polizist kam mit einer Taschenlampe zu unserem Auto, erblickte verdutzt den leeren Fahrersitz und klopfte an die Scheibe zur Rückbank. Wir kurbelten dieselbe hinunter und wenig später steckte der Polizist den Kopf in den Wagen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sprach er: „Sehr witzig, Jungs. Wer ist gefahren?“
Knolle saß einfach nur da, zwischen uns beiden, und zuckte mit den Achseln: „Keine Ahnung wer gefahren ist, Herr Wachtmeister. Wir haben hier die ganze Fahrt über auf der Rückbank geschlafen.“
Der Polizist war außer sich: „Ja, aber das Auto wurde doch bewegt, dann gibt es auch einen Fahrer.“
Knolle blieb ruhig. „Ja, das stimmt. Das ist richtig. Aber der ist ... nun ja, wahrscheinlich geflohen. Weil er total betrunken war.“ Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Das Auto ist nämlich geklaut. Also das ist schon unser Auto. Aber der Typ hat es geklaut. Nur eben mit uns drin. Was im Übrigen auch der Grund dafür ist, dass wir das Auto bisher nicht als gestohlen gemeldet haben. Weil wir ja die ganze Zeit wussten, wo es sich befand. Aber Diebstahl ist das doch allemal.“
Der Polizist war sichtlich erstaunt und meinte: „Das ist ja eine Unverschämtheit, Jungs.“
Dann sagte er weiter, dass die Autodiebstähle in letzter Zeit deutlich zugenommen hätten. Besonders während der Kirmeszeit. Danach hat er uns dann nach Hause gefahren.