Furor
Thriller
Deutscher Taschenbuch Verlag
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eBook ISBN 978-3-423-42183-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-20904-5
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Für Silvi
und Luca
GEIST:
Beklag’ mich nicht, doch leih dein ernst Gehör
Dem, was ich kund will tun.
HAMLET:
Sprich! Mir ist’s Pflicht zu hören.
GEIST:
Zu rächen auch, sobald du hören wirst.
HAMLET:
Was?
GEIST:
Ich bin deines Vaters Geist.
Shakespeare, ›Hamlet‹,
Erster Akt, 5. Szene
»Wir brauchen ein psychochirurgisches Programm, mit dem man unsere Gesellschaft politisch kontrollieren kann.«
Dr. José Delgado,
Professor für Neuropsychiatrie,
Yale University, und Mitarbeiter
im Projekt MKULTRA
(Congressional Record Nr. 26,
Vol. 1118, 24. Februar 1974)
Als Christian Raabe seine Entscheidung traf, hatte er noch fünf Minuten zu leben. Fünf Minuten können eine lange Zeit sein. Dem Wissenschaftler kam es jedoch so vor, als würde ihm die Uhr mit rasender Geschwindigkeit die letzten Sekunden seiner Lebenszeit rauben.
Der Teppich dämpfte seine Schritte, während er durch die Gänge des Instituts lief. Die Wände warfen ein dumpfes Echo zurück in die nächtliche Stille.
Durch das Fenster am Ende des Ganges spiegelte sich das Mondlicht in den gerahmten Porträts lange verstorbener Männer. Raabe war es, als würde sein vorüberhuschender Schatten ihre Gesichter zum Leben erwecken. Fast meinte er ihre missbilligenden Blicke im Nacken zu spüren. Es waren die Riesen, auf deren Schultern er geklettert war, um weiter zu sehen als alle Wissenschaftler vor ihm. Doch jetzt fiel sein Blick auf nichts als den Abgrund, der sich vor ihm aufgetan hatte.
Endlich hatte er die Fahrstühle erreicht. Er drückte hastig den Rufknopf und holte sein Handy aus der Tasche. Seine Hände zitterten, als er wählte. Eine unpersönliche Stimme forderte ihn auf, eine Nachricht zu hinterlassen.
»Junge, es . . . Es tut mir Leid . . .« Er stockte, holte ein Taschentuch aus der Hose und tupfte die Schweißtropfen ab, die sich in seinen Augenbrauen gesammelt hatten.
»Ich weiß nicht, wie . . . Gott, wie ich es hasse, das alles auf eine Mailbox zu sprechen. Aber es . . .«
Während er nach Worten suchte, bildete sich auf seiner Stirn eine steile Falte.
»Ich habe Fehler gemacht, furchtbare Fehler, Sebastian.«
Mit leerem Blick schaute er durch das Panoramafenster hinaus auf die Dächer der Nachbarhäuser. Straßenlaternen warfen dunstige Lichtflecken auf den Weg vor dem Institut.
Christian Raabe hatte noch drei Minuten zu leben.
»Aber jetzt ist es vorbei«, flüsterte er in das Mobiltelefon. »Ich werde für alles bezahlen.«
In der Ferne war der Motor eines einsamen Autos zu hören.
»Ich habe immer versucht, euch aus allem rauszuhalten. Es gibt da etwas in meinem Leben, wovon ihr nichts wisst. Und das hat gute Gründe, glaub mir. Darum tu jetzt einfach das, worum ich dich bitte. Tu es für dich. Bitte.«
Das Auto näherte sich. Der Wagen bog in die Straße zum Institut ein und beschleunigte. Das Scheinwerferlicht schnitt gelbe Kegel in die Dunstschwaden.
»Sebastian, hör zu . . .«
Das Auto, ein deutsches Modell in dunkler Farbe, hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Portal. Christian Raabe sah vier Männer herausspringen und zum Eingang laufen. Wo blieb denn dieser verdammte Fahrstuhl! Endlich war in der Tiefe ein elektrisches Brummen zu hören.
»Schalt meinen Computer an. Auf der Festplatte befindet sich ein Ordner ›Memout‹. Lösch ALLE Dateien darin. Und dann vergisst du, dass es sie je gab, hörst du? Es hat sie nie gegeben, und du weißt nichts von ihnen. Verstehst du?« Er beobachtete, wie die Anzeige des Lifts langsam nach oben wanderte. »Und noch etwas. Ich weiß nicht, warum, aber man scheint so etwas immer erst zu sagen, wenn es zu spät ist. Ich hoffe, es hat für dich noch eine Bedeutung.« Christian Raabe seufzte. »Ich bin stolz auf dich, und war es immer. Es tut mir Leid, dass ich dir kein besonders guter Vater war, aber ich liebe dich. Und ich weiß, du kommst zurecht.«
Der Fahrstuhl hatte das Stockwerk erreicht. Ein helles Klingeln ertönte, als die Türen sich öffneten.
Christian Raabe hatte noch zwei Minuten zu leben.
Es war etwas Schreckliches passiert. Das war ihm klar, als er sich durch die neugierige Menschenmenge drängte, die den Weg zum Portal des Instituts versperrte. Davor standen Polizei- und Krankenwagen.
Es war Sebastian unangenehm, sich durch die Menge hindurchschieben zu müssen. Niemand sollte meinen, er gehöre zu diesem sensationslüsternen Mob. Er hasste Gaffer. Schließlich unterschied sich der Mensch von anderen Primaten auch durch die Fähigkeit, Impulse wie Sensationsgier zu kontrollieren.
Als Sebastian den Eingang erreichte, sah er, dass die großen Glastüren verschlossen waren. Vielleicht waren diese Menschen hier doch keine Gaffer, vielleicht waren es auch nur Studenten, die in ihre Vorlesung wollten und nicht ins Gebäude hineinkamen? Er klopfte gegen die Scheibe. Der Portier erkannte ihn und ließ ihn mit kummervollem Blick eintreten. Noch bevor Sebastian fragen konnte, was los sei, wurde er von einer Menschengruppe abgelenkt, die sich vor dem Fahrstuhl drängte.
Eine Angestellte des Instituts kam herüber, das Gesicht bleich wie der Tod. Eine junge Sanitäterin führte sie am Arm. Vom Fahrstuhl her wehte schwach ein süßlich-metallischer Geruch. Mehrere Polizisten standen gelangweilt neben einer Krankentrage.
Als Sebastian sich an der Menge vor dem Lift vorbeidrückte, sah er zwei Männer in orangefarbenen Overalls auf dem Dach des Fahrstuhls stehen. Ein dritter in weißem Kittel beugte sich über den leblosen Körper in einer großen Blutlache. Der Mann im weißen Kittel trug darunter einen Anzug. Als er sich umdrehte und sein Blick auf die Schaulustigen fiel, fluchte er laut.
»Schafft doch die Leute hier weg«, fuhr er die Polizisten an. Sofort drängten die Uniformierten die Zuschauer zur Seite. Sebastian fand sich in einer Gruppe von Leuten wieder, die aufgeregt miteinander schwatzten. Er versuchte etwas herauszuhören, doch niemand schien etwas zu wissen. Dann wurde ihm klar, dass er gerade zum Gaffer geworden war. Fluchend machte er sich auf den Weg in die Cafeteria.
Er hatte kaum an seinem Kaffee genippt, als der Pförtner mit einem Polizisten eintrat, sich umblickte und dann auf seinen Tisch zeigte. Der Polizist kam direkt auf ihn zu.
»Sebastian Raabe? Kommen Sie bitte mit.« Es klang wie ein Befehl. Überrascht stand Sebastian auf und folgte dem Polizisten, der im Eiltempo wieder in Richtung Fahrstuhl marschierte. Unterwegs stießen sie auf die Sanitäter mit der Krankentrage. Unter der Decke, die darüber lag, zeichnete sich ein Körper ab. Ein älterer Mann lief neben ihnen her. Sebastian erkannte ihn an seinem grauen Anzug wieder. Er hatte nur den weißen Kittel abgelegt. Der Polizist stellte sie knapp vor.
»Kommissar Krug, das ist Sebastian Raabe.«
Der Kommissar zog Sebastian schroff am Arm zu sich heran, während sie den Sanitätern mit der Trage folgten. Stolpernd passte sich Sebastian ihrem Tempo an.
»Wir brauchen Ihre Hilfe.« Krug vermied es, ihn anzusehen.
Sie verließen das Gebäude durch den Haupteingang. Als sie den Krankenwagen erreicht hatten, hinderte der Kriminalbeamte die Sanitäter daran, die Trage in den Wagen zu hieven. Dann wandte er sich wieder an Sebastian.
»Könnte sein, dass wir schlimme Nachrichten für Sie haben. Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Nachmittag. Wieso?«
»Wir vermuten, dass dies hier Ihr Vater ist.« Krug zeigte auf die Trage. »Sieht so aus, als hätte er versucht, sich das Leben zu nehmen.«
Sebastian hörte jedes einzelne der Worte genau. Aber er war nicht in der Lage, ihre Bedeutung zu begreifen.
Er starrte auf einen unförmigen, von Verbänden bedeckten Kopf. Das Gesicht verschwand fast vollständig unter einer Sauerstoffmaske. Etwas an der Schädelform stimmte nicht.
Das war bloß ein Körper auf einer Trage, nichts weiter als irgendein Körper auf einer blöden Trage, dachte er. Was hatte der mit seinem Vater zu tun?
»Wir hoffen, dass Sie ihn identifizieren können«, erklärte der Polizist.
Identifizieren? Langsam dämmerte ihm, worum es hier ging.
Krug hob die Decke etwas an, so dass der rechte Arm des Verletzten zu sehen war. Die Hand war weiß, bleich, blutleer. Da war der Ring, die Narbe am Handgelenk, der halbmondförmige Leberfleck. Sebastian spürte, wie ihm schwindelig wurde. Der Boden unter seinen Füßen wurde weich, er versank bis zu den Knien im Asphalt. Einer der Sanitäter kam gerade noch rechtzeitig, bevor Sebastian fiel.
»Können Sie uns etwas darüber sagen, warum Ihr Vater versucht haben könnte, sich umzubringen? Hatte er Sorgen? Geldprobleme?«
Sebastian schüttelte den Kopf. Hatte er diese Frage nicht gerade zum dritten Mal gestellt bekommen? Und wie hieß dieser Polizist noch mal?
»War er depressiv?«
Diese Frage war neu. Krug, Kommissar Krug, erinnerte sich Sebastian. So hieß der Polizist, der ihm gegenübersaß und ihm Fragen stellte, als ob sein Vater tot wäre. Bisher hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihm irgendetwas zu erklären. Hirntot, hatte einer der Sanitäter gesagt, bevor der Krankenwagen abgefahren war. Er selbst hatte sich zu Krug in einen Polizeiwagen gesetzt, und jetzt waren sie hier, im Polizeipräsidium nahe der Liebfrauenkirche.
»Hat Ihr Vater getrunken?« Der Kriminalbeamte klang fast mürrisch.
»Natürlich, ab und zu«, antwortete Sebastian »Aber er hat nicht gesoffen, wenn Sie das meinen«, fügte er irritiert hinzu.
Krug nickte nur und schwieg. Keine Spur von Anteilnahme oder Mitleid. Eher wirkte er, als würde er auf etwas warten. Als das Telefon klingelte, hatte Krug schon beim ersten Läuten den Hörer am Ohr.
»Ja, er ist hier. Ja, wir schicken ihn sofort rüber.« Der Polizist legte auf und wandte sich wieder Sebastian zu.
»Wir möchten Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen. Das übernimmt ein Kollege, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Als würde das jemanden interessieren. Wieder setzten sie ihn in ein Auto. Der Beamte, der schweigend hinterm Steuer saß, fuhr den Streifenwagen im Schneckentempo durch die Fußgängerzone von der Theatinerstraße bis zum Odeonsplatz. Überrascht stellte Sebastian fest, dass der Polizist ihn direkt vor dem Bayerischen Innenministerium aussteigen ließ. Er schaute dem Wagen hinterher, der sich wieder in den Verkehr auf der Ludwigstraße einordnete.
Ein kleiner, fetter Mann kam aus dem Haupteingang des Innenministeriums direkt auf ihn zu. Die viel zu weiten Hosenbeine flatterten um seine feisten Fußknöchel wie zwei aufgescheuchte Vögel. Er baute sich schnaufend vor Sebastian auf, stemmte die Fäuste in die Seiten und musterte den jungen Mann vor sich aus zusammengekniffenen Schweinsäuglein.
»Herr Raabe? Schön, dass Sie da sind.« Er streckte Sebastian eine weiche, klebrige Hand entgegen und fuhr sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. Dieses Taschentuch war ja wohl ein Klischee, dachte Sebastian. Das wirkte fast wie der Versuch eines dicken Mannes, einen dicken Mann zu spielen. Auch die hohe Stimme passte dazu.
»Herr Raabe, es tut mir furchtbar Leid, was mit Ihrem Vater passiert ist. Es ist wirklich schrecklich«, fuhr der fette Mann fort. »Mein Name ist Dietz, Mark Dietz, Polizeibeamter. Kurz, Kommissar.«
Kurzkommissar, dachte Sebastian.
Der Dicke schien Sebastians Verwirrung zu spüren und versuchte sich in einem beschwichtigenden Ton.
»Reine Routine, das alles«, erklärte er. »Ich bin mit der Untersuchung des Falls betraut. Ihr Vater ist ja ein wichtiger Mann. Kommen Sie bitte mit.«
Nach einigen Treppen und endlosen Korridoren fand Sebastian sich in einem kleinen Büro wieder, dessen Besitzer offensichtlich starker Raucher war. Kalter Rauch hing in der Luft, und überquellende Aschenbecher waren im ganzen Raum verteilt. Dietz ließ sich ächzend in den Bürosessel hinter dem Schreibtisch fallen und bot Sebastian den Platz gegenüber an.
»Ihr Vater . . .«, begann der Kriminalbeamte. Ist hirntot, setzte Sebastian im Geiste fort. Seltsam, dass mir das irgendwie überhaupt nichts sagt, dachte er.
». . . ist ein wichtiger Mann«, beendete Dietz seinen Satz. »Und Sie wissen, er hat auf einem Gebiet geforscht, das von unschätzbarer Bedeutung für die Wissenschaft ist. Deshalb müssen wir alles wissen, was uns helfen könnte, seinen Unfall aufzuklären. Ich weiß, dass das jetzt sehr hart für Sie ist«, erklärte der Dicke. »Aber je schneller wir es hinter uns gebracht haben, umso besser, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Zigarette?«
Dietz reichte ihm eine Schachtel. Sie war noch unberührt. Sebastian öffnete sie und zog umständlich eine Zigarette heraus. Dietz gab ihm Feuer, machte selbst jedoch eine Rauchpause. Oder war Dietz Nichtraucher und dieses Büro gar nicht Dietz’ üblicher Arbeitsplatz?
»Ich erkläre Ihnen jetzt, was wir bislang wissen, beziehungsweise, wovon wir bis jetzt ausgehen. Sind Sie bereit?«
Sebastian zuckte mit den Achseln. »Natürlich will ich wissen, was los ist.«
Dietz nickte. Die Haut an seinem Hals schlug Wellen, die auf den Krawattenknoten brandeten.
»Ich habe vor zehn Minuten mit dem Krankenhaus telefoniert. Vor einer Stunde hat sein Hirnstamm noch Impulse abgegeben und sein Herz noch geschlagen. Aber das Großhirn war zu stark geschädigt, als dass man auf Reste von Bewusstsein hoffen konnte. Inzwischen ist auch der Hirnstamm stumm. Es sind nur noch die Maschinen, die den Stoffwechsel aufrechterhalten. Ihr Vater ist hirntot.«
Sebastian nickte. Ja, hirntot, das hatte der Sanitäter wohl gesagt. Er nahm die Informationen zur Kenntnis, doch sie erreichten nicht die tieferen Schichten seines Bewusstseins. Er speicherte sie irgendwo in seiner Großhirnrinde. Irgendwann wird aus der Kenntnis Erkenntnis werden, dachte er.
»Ihr Vater hat sich offensichtlich gestern Nacht in seinem Büro betrunken. Wir haben eine leere Flasche Bushmills dort gefunden.« Dietz machte eine Pause, klopfte mit den Fingerspitzen lautlos auf seine breiten Oberschenkel. »Dann ist er zum Aufzug gegangen, eingestiegen, hat die Deckenluke geöffnet und ist auf das Fahrstuhldach gestiegen. Beim Hinauffahren muss eine der Seitenstreben der Schachtwand seinen Schädel eingeschlagen haben.«
Bevor Sebastian etwas sagen konnte, fuhr der Polizist fort.
»Als heute Morgen eine Angestellte des Instituts den Fahrstuhl benutzen wollte, stand sie in einer Blutlache, die sich auf dem Boden der Kabine gebildet hatte.«
»Das ist doch alles nicht wahr«, entfuhr es Sebastian. Den Schädel eingeschlagen auf dem Fahrstuhldach, das war doch absurd!
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen.« Dietz sah ihn zum ersten Mal an.
»Ich habe meinen Vater noch nie betrunken gesehen.« Sebastian hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Ein Abstinenzler ist er zwar nicht gewesen, aber er hat immer nur in Maßen getrunken.«
Eine Droge mit Geschmack hatte es sein müssen, er trank nicht, um den Durst zu löschen, Alkohol war für ihn kein Konversations-Katalysator. Whiskey, irischer Whiskey, ein Glas oder zwei am Abend. Aber doch niemals eine ganze Flasche.
»Wir müssen mit dem arbeiten, was wir an Hinweisen haben«, erklärte Dietz. »Können Sie sich vorstellen, was ihn in den Tod getrieben haben könnte?«
Sebastian schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung. Selbst über den Tod seiner geliebten Frau vor einigen Jahren war sein Vater nach einer Weile ganz gut hinweggekommen, hatte bald zurückgefunden in seine Routine. Nichts Außergewöhnliches seither, soweit Sebastian wusste. Aus welchem Grund also hätte sein Vater seinem Leben jetzt ein Ende setzen sollen?
»Könnte es mit seiner Arbeit zu tun gehabt haben?«
Die Frage überraschte Sebastian völlig. Wie kam Dietz denn auf diese Idee? Der Gründer und Direktor des Wilder-Penfield-Instituts für Hirnphysiologie war voll und ganz in seiner Arbeit aufgegangen. Sie hatte für Christian Raabe das Leben bedeutet.
»Nein, ausgeschlossen.«
»Woran hat Ihr Vater eigentlich zuletzt gearbeitet?«
»Keine Ahnung. Ich weiß natürlich, womit er sich grundsätzlich beschäftigt hat. Nach aktuellen Details müssen Sie seine Kollegen fragen.«
»Ja, danke für den Tipp. Ich denke, das war es dann erst mal.« Als Dietz sich aus seinem Stuhl wuchtete, stand auch Sebastian auf.
»Ich bringe Sie noch hinaus«, schnaufte der Dicke. »Ach ja, wir würden uns gern in der Wohnung Ihres Vaters umsehen. Reine Routine.«
»Und wann soll das passieren?«
»So bald wie möglich. Wir melden uns bei Ihnen.«
Ihre Schritte hallten in den Gängen des Innenministeriums. An einer Biegung stieß Sebastian mit einer jungen Frau zusammen. Er entschuldigte sich, Dietz fasste ihn am Ellenbogen und zog ihn rasch weiter. Aus den Augenwinkeln sah Sebastian, dass die Frau ihnen überrascht nachblickte. Die muss ich ja wirklich erschreckt haben, dachte er.
Am Ausgang reichte Dietz ihm die Hand und gab ihm seine Karte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich, ja?«
»Natürlich. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Hirntod. Natürlich hatte sich Sebastian im Verlauf seines Medizinstudiums mit diesem Thema beschäftigt, zumal er an einem der führenden Institute auf dem Gebiet der Hirnforschung studierte. Im allgemeinen Sprachgebrauch unterschied man Tod und Hirntod. Die meisten Naturwissenschaftler aber setzten den Hirntod mit dem Tod gleich: Tot war der Mensch nach ihrer Definition, wenn Hirnfunktion, Atmung und Kreislauf künstlich aufrechterhalten werden mussten.
Doch da der Körper eines hirntoten Menschen auf Berührungen oder Geräusche durchaus reagieren konnte, waren Laien oft verwirrt und verwechselten diese Reflexe mit Lebenszeichen. Aber was war denn Leben überhaupt? Ein funktionierendes System? Auch ein Auto war ein funktionierendes System. Ein funktionierendes organisches System also? Da kam man der Sache wohl schon näher. Aber was bedeutete »funktionieren«? Ein Mensch mit schweren Hirndefekten lebte, wenn die Störungen nicht zum Zusammenbruch von Atmung und Herz-Kreislauf führten. Ein Mensch mit einer Störung der Atemregulation zum Beispiel lebte, auch wenn seine Atmung durch elektrische Geräte kontrolliert ausgelöst werden musste.
Letztlich war es wohl eine philosophische Frage, die Sebastian inzwischen zumindest für sich beantwortet hatte: Wenn es keine Hirnströme mehr gab, dann war der Geist tot. Die Persönlichkeit, die den Menschen ausgemacht hatte, war nicht mehr vorhanden. Das Leben war vorüber, wenn die geistige Existenz ausgelöscht war. Sebastian war sich völlig sicher, dass sein Vater das genauso gesehen hätte.
Und deshalb hatte er sich dagegen entschieden, seinen Vater – oder vielmehr dessen Hülle – im Krankenhaus zu besuchen. Sein Vater hätte nichts davon, und er selbst . . . Sebastian spürte eine schwarze Leere in sich, und er hatte Angst, dass sie sich beim Anblick dieses Körpers mit Verzweiflung füllen würde. Er war noch nicht bereit, den Tod seines Vaters so nahe an sich heranzulassen.
Am Odeonsplatz reihte er sich in die Passantengruppe ein, die sich von der Rolltreppe in das unterirdische Röhrensystem der U-Bahn tragen ließ. Die Verkehrsbetriebe berieselten den Bahnsteig mit Vivaldis ›Vier Jahreszeiten‹. Es war stickig, in der verbrauchten Luft hing der Geruch von heißem Kunststoff.
Wie ferngesteuert beschloss Sebastian, ins Institut zurückzufahren und im Büro seines Vaters nach irgendetwas zu suchen, das helfen würde, zu begreifen, was geschehen war. Außerdem musste er unbedingt jemanden fragen, wie es jetzt weitergehen würde, was zu tun war. Vermutlich gab es eine ganze Reihe von Dingen zu organisieren, Unterlagen zu sichten, mit denen sich irgendjemand würde beschäftigen müssen. Das brachte ihn auf einen Gedanken. Er holte sein Handy aus der Hosentasche, doch bevor er es einschalten konnte, kam seine Bahn, und er verschob den Anruf auf die Ankunft am Sendlinger Tor.
Während er die Lindwurmstraße entlangging, rief Sebastian über sein Mobiltelefon in der Anwaltskanzlei Kanngießer und Lannert an.
Auf Höhe der Matthäuskirche meldete sich die Sekretärin und stellte ihn zum Anwalt seines Vaters durch.
»Ich habe es schon gehört, Sebastian«, begrüßte Horst Lannert ihn. »Es tut mir furchtbar Leid. Ich weiß, dass man in so einem Moment nicht viel sagen kann, aber wenn ich etwas für dich tun kann, lass es mich bitte wissen.«
Sebastian wusste, dass Lannert es ernst meinte. Er war für Christian Raabe mehr gewesen als nur sein Anwalt. Die beiden Männer hatte eine langjährige Freundschaft verbunden.
»Danke. Ich . . . Ich weiß überhaupt nicht, was jetzt zu tun ist. Könnten Sie . . . Könnten wir uns . . .«
»Aber natürlich. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns gleich in der Wohnung deines Vaters und besprechen dort alles Weitere. Wir können dann auch seine Unterlagen durchgehen und so weiter. Ich werde für heute alle Termine absagen.«
Sie verabredeten sich für den Nachmittag. Sebastian fiel ein Stein vom Herzen. Als er das Handy wieder in die Hosentasche stecken wollte, klingelte es. Kurz schwebte sein Daumen über der Stopp-Taste, doch dann sah er, dass es die Mailbox war.
»Sie haben eine neue Nachricht. Heute um ein Uhr vierzehn«, kündigte die bekannte Frauenstimme an.
»Junge, es . . . Es tut mir Leid.«
Sebastian erstarrte. Das war die Stimme seines Vaters. Wie konnte . . . Natürlich, die Nachricht stammte aus der vergangenen Nacht. Er trat rasch in den Vorraum der Matthäuskirche, hier war es still und die Stimme seines Vaters klang wie aus dem Jenseits.
»Ich habe Fehler gemacht, furchtbare Fehler, Sebastian. Aber jetzt ist es vorbei. Ich werde für alles bezahlen.«
Wovon sprach sein Vater da?
»Ich habe immer versucht, euch aus allem rauszuhalten. Es gibt da etwas in meinem Leben, wovon ihr nichts wisst.«
Sebastians Hand krampfte sich um das Handy, und er bemerkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Er ließ sie zischend aus der Lunge strömen, während er angespannt weiter zuhörte.
». . . schalt meinen Computer an. Auf der Festplatte befindet sich ein Ordner ›Memout‹. Lösch ALLE Dateien darin. Und dann vergisst du, dass es sie je gab, hörst du? Es hat sie nie gegeben, und du weißt nichts von ihnen. Verstehst du?«
Noch nie hatte Sebastian seinen Vater so reden gehört. Er spürte die blanke Verzweiflung in jedem Satz. Trotz des kühlen Luftzugs über den Bänken des Gotteshauses brach Sebastian der Schweiß aus.
»Und noch etwas. Ich weiß nicht, warum, aber man scheint so etwas immer erst zu sagen, wenn es zu spät ist. Ich hoffe, es hat für dich noch eine Bedeutung. Ich bin stolz auf dich, und war es immer. Es tut mir Leid, dass ich dir kein besonders guter Vater war, aber ich liebe dich. Und ich weiß, du kommst zurecht.«
Sebastian hörte die Nachricht noch einmal ab, dann noch einmal. Und jedesmal brannten sich die Worte in sein Bewusstsein »ich habe Fehler gemacht, furchtbare Fehler« und »ich bin stolz auf dich«.
Verstört ging er tiefer hinein in die dunkle Kirche und setzte sich auf eine der vorderen Bänke. Von einem Holzkreuz blickte Jesus Christus mitleidsvoll auf ihn herunter.
Mitschnitt der Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses »Spezialkräfte« vom 5. April. Abschrift in Auszügen
Vorsitzender Dr. Reinhard B. (SPD): Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur heutigen Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses »Spezialkräfte«. Für das Protokoll: Gemäß den Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom 16. und 26. März hat der Ausschuss den folgenden Untersuchungsauftrag: Er soll klären, ob deutsche Soldaten im Rahmen der Operation »Freedom Encouragement« im Sudan an einem Massaker an einheimischen Zivilisten beteiligt waren.
Noch einmal kurz die Fakten zum vorliegenden Fall.
Seit dem 6. Dezember vergangenen Jahres beteiligen sich die deutschen Streitkräfte an der Militäroperation »Freedom Encouragement« im Sudan. Es handelt sich dabei um eine Operation im Rahmen der UN-Friedensmission »International Security Assistance Force Sudan«, kurz ISAS. Der Beteiligung vorausgegangen ist die Zustimmung des Deutschen Bundestages am 19. November letzten Jahres. Der Einsatz steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Grundlage für den Beschluss sind Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen und Artikel 5 des Nordatlantikvertrages. Verfassungsrechtliche Grundlage: Artikel 24, Absatz 2 des Grundgesetzes, der das Vorgehen im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit regelt. Zugleich hat das Bundeskabinett die Resolutionen 1746 und 1747 des Sicherheitsrates zugrunde gelegt.
Einem Pressebericht zufolge . . . einen Augenblick bitte. Es handelt sich um einen Artikel von Hans Diehm in der Hamburger Wochenzeitschrift ›Global‹ vom 5. Januar dieses Jahres. Darin wird der Vorwurf erhoben, dass Mitglieder der deutschen Streitkräfte im Rahmen der Militäroperation »Freedom Encouragement« im Sudan am 20. Dezember vergangenen Jahres Zivilisten getötet hätten. Die Anschuldigungen sind schwerwiegend und richten sich auch gegen das Verteidigungsministerium. Der Bundestag hat diesen Untersuchungsausschuss eingesetzt, um den Vorfall aufzuklären. Der heutigen Sitzung ist die Sichtung der Akten aus dem Verteidigungsministerium vorausgegangen, anhand derer die Mitglieder des Untersuchungsausschusses sich ein Bild der militärischen Situation im Sudan aus Sicht des Ministeriums machen konnten. Der Untersuchungsausschuss hat nun eine Reihe von Zeugen geladen, von denen einige heute aussagen werden. Die Öffentlichkeit wird gemäß Grundgesetz Artikel 44 ausgeschlossen.
Jochen H. (Grüne): Ich möchte hier noch einmal feststellen, dass ich mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit nicht einverstanden bin.
Dr. Reinhard B. (SPD): Wir nehmen das zu Kenntnis. Aber Sie wissen, dass der Einsatz im Sudan in der Öffentlichkeit umstritten ist.
Im Rahmen des Untersuchungsausschusses wollen wir eine Reihe von Zeugen vernehmen, von denen der Erste nun bitte aussagen möge. Es handelt sich um (geschwärzt). Würden Sie sich bitte vorstellen.
Zeuge: Ich heiße (geschwärzt). Ich bin Angehöriger des KSK, des Kommandos Spezialkräfte, stationiert in der Graf-Zeppelin-Kaserne in Calw und stehe im Range eines (geschwärzt). Ich bin seit 1998 Mitglied des Kommandos. Dr. Reinhard B. (SPD): Sie sind demnach Offizier beim KSK.
Unseren Informationen zufolge waren Sie während der Zeit, die uns hier interessiert, im Sudan.
Zeuge: Das ist richtig. Während der Operation »Freedom Encouragement« waren etwas mehr als 80 Angehörige des KSK dort im Einsatz. 86, um genau zu sein. Es handelte sich um eine vollständige Kommandokompanie. Wir operierten im Nordosten des Sudan. Das Basislager war bei Port Sudan eingerichtet, am Roten Meer, in der Provinz Ash Sharqiyah.
Dr. Volker N. (PDS): Worin genau bestand Ihre Aufgabe?
Zeuge: Es ging darum, Terroristen-Nester auszuheben. Der Gegner hatte sich in unzugängliches Gebiet zurückgezogen und verschanzt.
Dr. Volker N. (PDS): Und deshalb wurde das KSK gebraucht?
Ist es nicht so, dass Ihre Truppe für reaktionsschnelle und gezielte Aktionen in Ergänzung oder anstelle des Einsatzes herkömmlicher militärischer Kräfte vorgesehen ist?
Zeuge: Ja, aber zu unseren Aufgaben gehören auch der Schutz eigener Kräfte sowie Kampfeinsätze tief im gegnerischen Gebiet.
Dr. Volker N. (PDS): Sind Ihre Einsätze nicht auch häufig militärpolitischer Natur?
Dr. Reinhard B. (SPD): Herr Dr. N., wir verstehen, worauf Sie hinauswollen. Aber bevor Sie versuchen, die Bundesregierung für irgendetwas verantwortlich zu machen, sollten wir zunächst einmal den Vorfall selbst rekonstruieren. Und um weiteren Fragen des Kollegen N. zuvorzukommen: Ich erinnere Sie daran, dass die Situation im Sudan als akute Krise bewertet wurde, bei der die Zeit für eine reguläre parlamentarische Beschlussfassung zum Einsatz des KSK nicht ausgereicht hat. Der Einsatz der Spezialkräfte wurde deshalb in einem Eilverfahren durch die zuständigen Ausschüsse genehmigt.
Herr (geschwärzt), ist es richtig, dass Sie es waren, der mit dem Journalisten Diehm Kontakt aufgenommen und ihn über die Vorfälle informiert hat, über die wir hier zu sprechen haben?
Zeuge: Das ist korrekt. Herr Diehm war zu der Zeit für ›Global‹ im Sudan unterwegs und besuchte am 24. und 25. Dezember das Basislager der Bundeswehr bei Port Sudan. Er plante eine umfangreichere Reportage. Ich hielt mich zur gleichen Zeit dort auf und traf mich mit ihm zu einem Gespräch.
Ich habe ihn heimlich getroffen.
Henning B. (SPD): Ging das auf seine oder Ihre Initiative zurück?
Zeuge: Auf meine.
Dr. Heidrun F. (CDU): Könnten Sie bitte kurz wiederholen, worüber Sie damals mit ihm gesprochen haben?
Zeuge: Ich habe Herrn Diehm den Hinweis gegeben, dass in der Gegend Zivilisten durch Angehörige der deutschen Streitkräfte getötet worden waren. Details habe ich ihm nicht gegeben. Ich hatte gehofft, dass er selbst herausfinden würde, was geschehen war.
Jochen H. (Grüne): Hans Diehm hat die Informationen, die er von Ihnen bekommen hatte, sehr schnell veröffentlicht. Er scheint kaum Zeit auf eine umfassende Recherche verwendet zu haben, richtig?
Zeuge: Es scheint so.
Jochen H. (Grüne): Die Anschuldigungen in seinem Artikel waren recht vage formuliert. Aber Sie können uns mehr dazu sagen?
Zeuge: Das kann ich.
Jochen H. (Grüne): Nun ist Herr Diehm ja kurz nach der Veröffentlichung seines Artikels überraschend verstorben. Vermuten Sie einen Zusammenhang zwischen dem Artikel und seinem Tod?
Zeuge: Ja. Ich kann es aber nicht beweisen.
Dr. Reinhard B. (SPD): Nun, der Tod von Hans Diehm steht hier eigentlich nicht auf der Tagesordnung. Sie haben erklärt, Sie könnten uns mehr über den Vorfall mitteilen, den Sie gegenüber dem Journalisten nur angedeutet hatten.
Zeuge: Ja. Zu der Zeit, als das geschah, hielten wir uns tiefer im Landesinneren auf, westlich von Port Sudan. Wir waren erst wenige Tage zuvor eingetroffen. Unser Einsatzbefehl lautete: Sicherung eines Dorfes, in dem sich nach Informationen der Nachrichtendienste Terroristen aufhalten sollten.
Also sicherten wir das Dorf und identifizierten eine Reihe von verdächtigen Personen.
Jochen H. (Grüne): Was hat diese Personen verdächtig gemacht?
Zeuge: Nun, sie waren männlich und nach unseren Schätzungen zwischen dreizehn und sechzig Jahre alt.
Jochen H. (Grüne): Das . . . Das war alles?
Zeuge: Das sind natürlich nur die ersten Kriterien. Später werden sie durch weitere ergänzt. Waffenbesitz beispielsweise.
Normalerweise werden die Verdächtigen dann auch genauer überprüft. Nicht durch uns, sondern durch andere Teile des Heeres. Aber in diesem Fall . . .
(Pause)
Dr. Reinhard B. (SPD): Ja? Was war in diesem Fall? Fahren Sie bitte fort.
Zeuge: Nun, in diesem Fall gab es später keine Personen mehr, die man hätte überprüfen können.
Henning B. (SPD): Was meinen Sie damit?
Zeuge: Sie wurden alle getötet. Wir . . . haben sie alle getötet: Männer, Frauen und Kinder.
Dr. Reinhard B. (SPD): Meine Damen und Herren. Bitte! Ich bitte um Ruhe. Frau Dr. F., bitte.
Dr. Heidrun F. (CDU): Warum, in Gottes Namen, haben Sie all diese Menschen getötet?
Zeuge: Ich . . . ich weiß es nicht.
Dr. Heidrun F. (CDU): Sie wissen es nicht?
(Pause)
Christian V. (CDU): Wie viele Menschen haben Sie getötet?
Zeuge: Ich weiß es nicht genau. Ich schätze, es waren etwa dreißig.
Dr. Volker N. (PDS): Und Sie können uns nicht sagen, warum Sie dreißig Menschen getötet haben? Das ist doch Wahnsinn!
Zeuge: Ja. Nein. Ich habe diese Menschen nicht allein erschossen. Es waren vier Kommandotrupps mit jeweils vier Mann im Einsatz. Wir hatten Zugstärke, sechzehn Mann unter meiner Führung. Und ich kann Ihnen nicht sagen, warum wir diese Menschen erschossen haben.
Dr. Volker N. (PDS): Hat Ihnen jemand verboten, darüber zu reden?
Zeuge: Nein. Ich kann es nicht sagen, weil ich es nicht weiß.
Dr. Volker N. (PDS): Aber vielleicht beschreiben Sie uns, was passiert ist, an diesem Tag. Der Reihe nach.
Zeuge: Wir sind am frühen Morgen in das Dorf eingedrungen und haben die Hütten durchsucht. Aber wir haben niemanden festgenommen. Einige Menschen wurden sofort erschossen. Andere wurden aus ihren Hütten herausgetrieben und dann auf dem Dorfplatz erschossen.
Dr. Reinhard B. (SPD): Gab es irgendeine Form von Widerstand?
Zeuge: Nein.
Dr. Heidrun F. (CDU): Wurden Sie provoziert?
Zeuge: Nein, niemand, soweit ich weiß. Ich weiß nur, dass es passiert ist. Wir haben es getan, so, wie ich es gerade beschrieben habe.
(Pause)
Ich würde ja selbst gern verstehen, warum wir es getan haben. Das war nicht unser Auftrag. Wir wurden ausgebildet, uns anders zu verhalten. Mehr weiß ich nicht.
(Pause)
Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Auf dem Türschild von Christian Raabes Büro stand lediglich sein Name. Kein Titel, keine Funktion, nichts wies darauf hin, wer dieser Raabe eigentlich war – oder besser, gewesen war. Sebastian öffnete vorsichtig die unverschlossene Tür. Er wusste, dass er sie nicht zu weit aufdrücken durfte, um nicht gegen die Regale an der Wand dahinter zu stoßen. Die vielen Bücher ringsherum reduzierten die freie Fläche des Büros auf wenige Quadratmeter. Aber obwohl das Zimmer so zugestellt war, war es darin sehr hell. Die obere Hälfte der Wand gegenüber der Tür war verglast und ging nach Osten. Ex oriente lux, dachte Sebastian. War das seine eigene Assoziation oder hatte das sein Vater einmal an dieser Stelle gesagt?
Sebastian quetschte sich durch den Türspalt, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ging zum Schreibtisch. Einige Bücher waren aus dem Regal gefallen und lagen auf dem Boden. Auf dem Schreibtisch herrschte ein Chaos aus Fachzeitschriften, Journalen, Aktenordnern und vollgekritzelten Notizzetteln. Die Schubladen standen teilweise offen. Sonst hatte hier immer ein wohl geordnetes Chaos geherrscht. Jetzt sah es aber so aus, als sei vor ihm jemand da gewesen, wahrscheinlich die Polizei.
Der Bildschirm des Computers stand so auf dem Schreibtisch, dass die Sonne nicht blenden konnte. Sebastian räumte eine dicke Lage Zeitschriften und Journale von der Tastatur – ein Querschnitt aller einschlägigen Fachblätter der letzten Monate. Das Wissen wächst und wächst, aber das Verständnis nicht, hatte sein Vater einmal gesagt. Es war ein seltsames Gefühl, in diesem Schreibtischsessel zu sitzen und zu wissen, dass sein Vater niemals hierher zurückkommen würde. Das hier war sein Leben gewesen, und man spürte ganz deutlich seine Präsenz. Unglaublich, dass dieses Leben vorbei sein sollte.
Sebastian schaltete den Computer ein und hörte zu, wie er mit leisen, satten Tönen hochfuhr. In der Mitte des schwarzen Bildschirms erschien ein kleiner roter Funke, aus dem sich zu den Rändern hin pulsierend Kreise ausbreiteten. Es sah aus, als würde sich der Bildschirm rhythmisch aus seinem Rahmen herauswölben. Links oben tauchte ein Wort auf:
Ready
Also gut, dachte Sebastian, versuchen wir es mal mit einem ganz einfachen Start. Er gab die Standardkennung seines Vaters ein.
@CR
Dann drückte er die Eingabetaste. Der Computer reagierte nicht. Die drei Zeichen blieben einige Sekunden dort stehen und verblassten dann. Wieder erschien der rote Funke, diesmal verwandelte er sich jedoch nicht in die konzentrischen Kreise, sondern in Buchstaben, die aus ihm herauswuchsen und dann quer über den Bildschirm den Satz bildeten:
Ne stultus quidem usus sit isto computatore, Mellon
Das war ganz sicher keine der üblichen Formeln, mit denen ein PC seinen Benutzer begrüßte.
Sebastian überlegte. Soweit er es verstand, bedeutete das:
»Nur ein Narr benutzt diesen Computer«.
Seltsam. War das ein selbstironischer Spaß seines Vaters? Hieß das, wer kein Narr ist, versucht nicht, diesen Computer zu benutzen? Ach was. Und was bedeutete eigentlich dieses letzte Wort, »Mellon
«?
Sein Vater musste davon ausgegangen sein, dass Sebastian das richtige Passwort herausfinden konnte. Er traute ihm offensichtlich zu, dieses Rätsel zu lösen. Im Gegensatz zu allen anderen, die es versuchen könnten. Die Lösung musste demnach nahe liegend sein – zumindest für ihn.
Los, denk nach, Sebastian. Dein Vater war nicht der romantische Typ, der ein Passwort benutzte, das mit seinem Leben oder seinen Gefühlen zu tun hatte. Aber wenn Sebastian die Dateien löschen sollte, konnte sein Vater keine willkürliche Tastenkombination zur Sicherung benutzt haben, sondern etwas, das sich Sebastian erschloss. Vielleicht zuerst alle Daten mit einer Bedeutung auflisten und nacheinander eingeben, Geburtstage, Hochzeitstag . . . Nein, das war zu simpel. Musik? Der Anfang des Liedes des Vogelfängers in Mozarts ›Zauberflöte‹ oder . . . nein, das war ein einziges Stochern im Nebel. Die schlichte Aufforderung seines Vaters, den Computer einzuschalten, unterstellte doch, dass er das Passwort kennen müsste.
Nur ein Narr benutzt diesen Computer. Nur ein Narr . . . Er begann, die Anfangsbuchstaben der Worte zu variieren. Nein, das ist alles Blödsinn, dachte Sebastian. Das entspricht nicht seinem Stil, er war kein Typ für Albernheiten. Die Marotte der Amerikaner, Abkürzungen zu Akronymen zusammenzustoppeln, hatte sein Vater immer lächerlich gefunden.
Denk nach, Sebastian, denk nach. Aber der einzige Hinweis, den er bis jetzt hatte, war die simple Aufforderung seines Vaters, den Computer einzuschalten, und dieser Satz mit dem Narren. Wer war damit gemeint? Und was bedeutete das Wort am Ende des Satzes, »Mellon«? Sein Vater musste annehmen, dass er es kannte.
Sebastian stand auf und nahm ein Fremdwörterbuch aus dem Regal. Dann ein lateinisches Wörterbuch. Nichts. Nicht einmal ähnliche Begriffe.
Er schaute aus dem Fenster. Durch den Dunst, der über der Stadt lag, konnte er die Türme der Liebfrauenkirche sehen, ein Stück weiter lag die Isar. In einigen Kilometern Entfernung ragte der Friedensengel in die Höhe, wie eine Galeonsfigur ohne Schiff. In Sebastian war alles wie taub.
Er öffnete das Fenster. Der Dreck des Stadtverkehrs war schon unterwegs in die Höhe, aber noch nicht auf dieser Etage angelangt. Eine frische Brise wehte herein, und trotzdem war da Schweiß auf seiner Stirn.
Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und legte die Füße auf die Tischplatte. Ob seine Freunde schon gehört hatten, was passiert war? Er verspürte plötzlich das Bedürfnis, mit Mato zu reden. Er fand das Telefon unter einigen Zeitschriften und wählte die Nummer von Chen Mato.
Als der sich endlich meldete, war er offensichtlich bemüht, nicht in den Telefonhörer zu gähnen.
». . . lo?«
»Mato? Ich bin’s, Sebastian. Bist du ansprechbar?«
»Sebastian! Wie geht es dir? Mann, das tut mir echt Leid mit deinem Vater. Ich habe versucht, dich anzurufen, aber dein Handy war nicht an. Was ist denn eigentlich passiert?«
»Ehrlich gesagt habe ich das selbst noch nicht kapiert. Aber lass uns später darüber reden.«
»Ja, klar. Kann ich irgendwas für dich tun?«
»Kannst du. Ich habe eine etwas ungewöhnliche Frage. Wundere dich jetzt nicht, sondern denk einfach drüber nach, ja? Was fällt dir zu ›Narren‹ ein?«
Es blieb eine Weile ruhig.
»Seltsame Frage«, stellte Mato fest. »Willst du die lange oder kurze Version vom Lebenslauf eines gemeinsamen Bekannten hören? Entschuldige. Ist vielleicht gerade nicht der Moment für Witze.«
»Schon gut. Also, was fällt dir zum Thema Narren ein? Literatur, Bilder, Musik.«
»Hm, nicht viel. Fasching. Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Narren und Kinder sagen die Wahrheit. Ach ja. Es gibt da ein Buch. Das ›Narrenschiff‹ von Sebastian Brant.«
Sebastian hatte noch nie davon gehört.
»Ein Buch aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ich glaube, dieser Brant war Schweizer. Vielleicht auch Österreicher oder Deutscher, jedenfalls ist das Buch deutschsprachig. Und ganz lustig. Ich habe es zu Hause bei meinen Eltern ab und zu in den Fingern gehabt. Die fressen ja alles, was deutsch ist und sich reimt. Dieser Brant hat alles, was ihm zu seiner Zeit nicht passte, in Gedichten kritisiert. Sachen wie neue Moden, das Schwätzen in der Kirche . . . das waren seine Themen. Ist wirklich lesenswert, einfach zum Spaß. ›Im Narrenschiff voran ich geh, weil ich viel Bücher um mich seh, die ich nicht lese und versteh.‹ Ist doch klasse, oder?«
Mato machte eine kurze Pause. »Mir fällt ehrlich gesagt im Augenblick nicht mehr dazu ein«, musste er schließlich zugeben. »Worum geht’s denn eigentlich?«
Sebastian überlegte, was er ihm sagen konnte. Konnte er Mato einweihen? Wäre das seinem Vater recht? Andererseits: Er war momentan wirklich auf Hilfe angewiesen. Also erzählte er Mato von seinem Computerproblem.
»Du schließt also einen simplen Tastencode aus«, fasste Mato zusammen, »und du hättest gern eine Schnitzeljagd. Na gut. Zu dieser Narrensache fällt mir erst einmal nix ein. Dieses Wort ›Mellon‹ kommt mir ganz vage bekannt vor. Hast du Robert schon gefragt?«
Robert Müller kannte sich besser mit Computern aus als irgendjemand sonst.
»Nee, gute Idee. Ich melde mich wieder. Sonst sehen wir uns morgen. Tschüs. Und: danke.«
Sebastian überlegte. Er rotierte auf dem Drehstuhl und sah sich im Zimmer um.
Oben auf einem der Regale stand ein menschlicher Schädel. Feine Linien bezeichneten die Teile, die sich abheben ließen, um den Blick ins Innere freizugeben. Das ganze Gehirn darin ließ sich auseinander nehmen. Es war ein Schulungsstück, präpariert aus einem echten Gehirn. Wenn er sich recht erinnerte, handelte es sich um das Gehirn eines verstorbenen Bekannten seines Vaters. Irgendwie morbide, dachte Sebastian. Das Gehirn seines Vaters wollte jedenfalls bestimmt niemand mehr präparieren. Bei dem Gedanken wurde ihm wieder bewusst, was mit seinem Vater passiert war. Erneut brach ihm der Schweiß aus.
Neben dem Waschbecken standen eine Kaffeemaschine, eine Büchse mit Kaffee und eine Packung Filter. Sebastian füllte Wasser und Kaffeepulver in die Maschine und schaltete sie ein. Sein Kopf war leer, und irgendwo ganz tief hinten pochte eine Ader im Rhythmus seines Herzens. Er spürte, wie der Kopfschmerz sich langsam ausbreitete. Ob sein Vater hier Tabletten hatte? Er suchte die Regale ab, in denen sich Fachliteratur der letzten Jahrhunderte befand. In einer Abteilung standen vergilbte Ausgaben von Aristoteles’ Werk ›Über das Gedächtnis‹, daneben Werke von Augustinus, Epikur und Hippokrates sowie die beiden Bände ›L’homme machine‹ und ›Les animaux plus que machines‹ von de La Mettrie aus den Jahren 1747 und 1750. Originalausgaben. In anderen Regalen fand Sebastian die Standardwerke der Allgemeinen und Speziellen Neurophysiologie in den neuesten Ausgaben. Und jede Lücke war mit Zeitschriften vollgestopft. Von Tabletten keine Spur. Ein angenehmer Kaffeeduft erfüllte den Raum. Im Schreibtisch, dachte Sebastian. Garantiert hatte er die Tabletten im Schreibtisch.
Er zog die oberste Schublade auf und entdeckte einen Schlüssel mit Anhänger, den er an sich nahm. Dann erstarrte er. Vor ihm in der Schublade lag eine Pistole, eingehüllt in ein Öltuch. Eine von diesen Dingern, bei denen das Magazin in den Griff geschoben wurde. Verwirrt und erschrocken nahm er die schwarze, kompakt wirkende Waffe mitsamt dem Tuch vorsichtig heraus und legte sie auf den Tisch. In der Schublade war außerdem ein Kästchen mit Munition.
Was zum Teufel wollte sein Vater damit?
Sebastian nahm die Pistole vorsichtig in die Hand. Sie war vielleicht zwanzig Zentimeter lang und wog sicher weniger als ein Kilo. Er legte den Zeigefinger um den Abzug. Es kribbelte in seinem Finger und in seinem Bauch. Die Waffe lag angenehm in der Hand, die Griffschalen ließen sich bequem umfassen. Er hob die Pistole mit ausgestrecktem Arm bis auf Augenhöhe und brachte Visier und Korn vor seinem rechten Auge übereinander. Über den Lauf hinweg sah er ins Fenster eines gegenüberliegenden Hochhauses.
»Peng«, sagte er. Dann ließ er den Arm wieder sinken. Mit einem Mal war ihm klar, welche Faszination von so einem Ding ausgehen konnte. Auf der Innenseite seiner Oberschenkel spürte er eine Kälte, die sich bis in den Unterleib zog. Das verwirrte ihn. Er legte die Pistole in das Tuch zurück. Dann starrte er sie an und wurde sich seiner Umgebung langsam wieder bewusst. Ziemlich gefährlich, dachte er, ohne selbst zu wissen, was er damit meinte. Was um Himmels willen hatte sein Vater mit dieser Pistole gewollt?
Sebastian nahm einen Schluck Kaffee, während sein Blick auf eine Schublade unter der Kaffeemaschine fiel. Natürlich! Er öffnete das Fach und holte die Kopfschmerztabletten heraus. Hätte er sich denken können. Koffein und Aspirin – sein Vater hatte darauf geschworen. Sebastian spülte eine der Tabletten mit dem Kaffee hinunter.
Was sollte er mit dieser Pistole machen? Seinen Fund melden? Überhaupt seltsam, dass die Polizisten das Ding nicht mitgenommen hatten. Sie mussten es bei der Durchsuchung doch gesehen haben. Er würde die Pistole behalten. Irgendwie ein gutes Gefühl, eine Waffe zu haben, dachte er. Dann wäre er jederzeit in der Lage, sich zu verteidigen. Spinnst du jetzt, Sebastian Raabe, dachte er. Gegen wen willst du dich bitte schön verteidigen? Irgendwie hatte ihn das alles wohl ganz schön durcheinander gebracht. Andererseits: Man wusste ja nie. Er würde sie bei nächster Gelegenheit mitnehmen, wenn er eine Tasche dabei hatte. In den Hosenbund wollte er sie jedenfalls nicht stecken.
Er sah zu den Türmen der Liebfrauenkirche hinüber. Die Zeiger der Uhren waren von hier aus nicht genau zu erkennen. Entweder zehn nach zwölf . . . aber das konnte nicht sein. Dann also vierzehn Uhr. In einer Stunde war er mit Lannert in der Wohnung seines Vaters verabredet.
Seine Gedanken kehrten zu der Pistole zurück. Hatte sein Vater sich bedroht gefühlt? Sebastian machte sich noch einen Kaffee. Das Pochen im Kopf war verschwunden. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und legte die Pistole mit dem Tuch zurück in die Schublade. Es fiel ihm schwer. Sollte er die Waffe nicht doch mitnehmen? Er versuchte, sich zu entspannen. Dann bemerkte er, dass von draußen ein Schwall dreckiger Luft hereinkam und den Kaffeeduft verdrängte. Er trank in Ruhe die Tasse leer, stand auf und schloss das Fenster. Dann schaltete er den Computer aus und verließ das Büro.
»Kannst du nicht vorstellen. Sterben Kinder an Hunger in meine Heimat.«
Der Besitzer der kleinen koreanischen Imbiss-Stube redete aufgeregt auf Sebastian ein.
»Weißt du noch, was US-Präsident einmal gesagt hat? ›Wir kennen das wahre Gesicht von Nordkorea. Rüstet sich mit Massenvernichtungswaffen aus und lässt gleichzeitig seine Bürger verhungern.‹ Hundert Gramm Getreide bekommen die Kinder dort nur noch am Tag.«
»Ja, das ist schlimm«, bestätigte Sebastian abwesend, während er seinen Seoul-Burger aß. Er hätte den Imbiss gern rasch wieder verlassen, wollte seinen Besitzer aber nicht vor den Kopf stoßen. Der Gedanke an hungernde Kinder verdarb ihm den Appetit. Eigentlich hatte er Doo Dong-won mit seinen Geschichten über die Heimat ja ins Herz geschlossen. Aber heute war ihm das alles zu viel.
Der Koreaner schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann schaute er stirnrunzelnd an Sebastian vorbei zur Tür. Sebastian folgte seinem Blick und sah gerade noch, wie jemand aus dem Eingang verschwand.
Fünf Minuten später stieg Sebastian die Treppe zu seiner Wohnung im Herzen des Münchner Westends hinauf. Sonst war er sehr froh über den Aufzug, der ihn normalerweise in den fünften Stock brachte. Aber heute benutzte er lieber die Treppe.