Über Dieter Noll

Dieter Noll wurde 1927 in Riesa geboren. 1944 bis 1945 war er Luftwaffenhelfer, Arbeitsmann und Panzerschütze und geriet dann in amerikanische Gefangenschaft. Von 1947 bis 1950 studierte er Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Jena und war von 1950 bis 1956 Redakteur und Mitarbeiter der Zeitschrift »Aufbau« in Berlin. Er starb am 6. Februar 2008 in Wernsdorf bei Berlin.

Nachdem Dieter Noll Reportagen und Erzählungen veröffentlicht hatte, wurde der Roman »Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Jugend« (1960) sofort zu einem Erfolg (Verfilmung 1965). Der zweite Teil mit dem Untertitel »Roman einer Heimkehr« (1963) berichtet vom Nachkriegsschicksal des Helden. 1979 erschien der Roman »Kippenberg«.

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Der Roman einer betrogenen Generation

Als »Remarque des Zweiten Weltkriegs« wurde Dieter Noll von der Kritik gefeiert. Er schildert den Weg junger Männer seiner Generation, die, hungrig nach Abenteuern und männlicher Bewährung, begeistert in den Krieg zogen. Nach endlosen Nächten der Erschöpfung, Angst am Flakgeschütz und erniedrigendem Drill erleben sie im Inferno der Rückzugsschlachten ihre völlige Desillusionierung und den moralischen Zusammenbruch. Weltweit wurde dieser Klassiker der Anti-Kriegsliteratur in über 2 Millionen Exemplaren verkauft.

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Dieter Noll

Die Abenteuer des Werner Holt

Roman einer Jugend

Inhaltsübersicht

Über Dieter Noll

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Vorspiel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Erstes Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zweites Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Ausklang

Impressum

Vorspiel

1

Der Wecker rasselte. Werner Holt schreckte aus dem Schlaf, sprang aus dem Bett und stand ein wenig taumelig im Zimmer. Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern matt und benommen. Sein Kopf schmerzte. In einer Stunde begann der Schulunterricht.

Durch die weitgeöffneten Fenster flutete Sonnenlicht. Der Mai des Jahres 1943 endete mit heißen, trockenen Tagen, mit prachtvollem Badewetter. Der Fluß, der bei der kleinen Stadt reißend durch die Berge brach, lockte mit seinen grünen Ufern weit mehr als das ziegelrote Schulhaus und seine muffigen Räume.

Mathematik, Geschichte, Botanik und Zoologie, dachte Holt, und dann zwei Stunden bei Maaß, Studienrat Maaß, Latein und Englisch. Die Übersetzung aus dem Livius muß ich bei Wiese abschreiben, in der großen Pause. Wenn ich bei Zickel drankomm, meck-meck, dann gibt’s ein Fiasko … Allmählich wich der dumpfe Schmerz, der hinter der Stirn saß. Er erinnerte sich jetzt, erregend und beängstigend geträumt zu haben, von der Marie Krüger und ihrem zigeunerhaft bunten Rock, und dann von einer Schlägerei mit Wolzow.

Ich bin krank, dachte er, als ihn bei der dritten Kniebeuge vor dem offenen Fenster ein Schwindelgefühl ergriff, ich geh nicht in die Schule, mir ist elend, ich bleib im Bett. Nein! Das ist unmöglich. Wenn ich heut fehle, dann hab ich verspielt, dann heißt es, ich hab Angst vor Wolzow. Bei diesem Gedanken wurde ihm noch elender. Es hatte gestern mit Wolzow Krach gegeben, es hatte vorgestern, es hatte jeden Tag Krach gegeben; und heute war die Prügelei fällig. Er fürchtete niemanden in der Klasse, aber gegen Wolzow hatte er keine Chance: und damit war er erledigt. Denn ein unbesiegter Held war, von Homer bis heute, so gewaltig wie sein Mundwerk, aber ein besiegtes Großmaul war nur noch lächerlich.

Es ist ein Jammer, dachte Holt, als er sich unlustig und frierend mit kaltem Wasser wusch und dabei in den Spiegel starrte; es ist ein großer Jammer: Wolzow und ich, wir würden die ganze Schule beherrschen, wenn wir Freunde wären, denn die älteren Jahrgänge sind beim Militär, wir sind die oberste Klasse.

Er trocknete sich ab. Er befühlte Wangen und Oberlippe: der Bart ließ sich Zeit, das war Holts Kummer. Er rasierte sich nur aus Prestigegründen. Mit sechzehneinhalb noch fast ohne Bart … eine Schande! Kein Wunder, daß er sich mit so einer glatten Haut nicht an die Marie Krüger herantraute, wenn sie dann und wann wie eine Katze in der Badeanstalt herumstrich. Immerhin: als er ihr kürzlich begegnet war, da – er besann sich genau – hatte sie ihn mit einem verwirrenden Blick angeschaut … Außerdem: kratzte es am Kinn nicht doch schon ganz ordentlich?

Einsfünfundsiebzig groß, siebenundsechzig Kilo schwer, schmal, doch muskulös, aber neben Wolzow, der einsachtundachtzig maß und fast neunzig Kilo wog, eben doch beinahe knabenhaft. Dunkeläugig, dunkelhaarig sah er sich im Spiegel, und das Haar war sehr widerborstig und ringelte sich gern in die Höhe. Er kämmte sich, er kleidete sich an. Der Kopfschmerz war vergangen, nur ein dumpfer Druck wollte nicht von der Stirn weichen. Auch machte das Schlingen Beschwerden, und der Mund war trocken.

Wolzow galt seit eh und je als der größte Flegel der Schule, zweimal Consilium, das drittemal nur durch Intervention seines Generalsonkels dem Hinauswurf entgangen. – Und ich Idiot komm neu in die Klasse und lauf ihm den Rang ab, statt seine Freundschaft zu suchen! Das wär ein Freund, Gilbert Wolzow, ein Freund wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller!

Er war fertig, er stopfte ein paar Bücher in die Aktentasche, dann lief er die Treppen hinab.

Das Haus gehörte den Schwestern Eulalia und Veronika Dengelmann, eigentlich deren Mutter, einer fünfundachtzigjährigen Greisin, die wegen Altersschwachsinn entmündigt worden war. Die beiden Schwestern, zweiundfünfzig und sechsundvierzig Jahre alt, unterhielten eine Pension, »Kost und Logis für alleinstehende Herren«. Holt wurde verwöhnt, da seine Mutter großzügig zahlte; er war zeitlebens verwöhnt worden. Seit zwei Monaten lebte er in der Pension und tyrannisierte die Schwestern.

Er trat in das Wohnzimmer im Erdgeschoß und rief nach dem Kaffee. Veronika Dengelmann, die jüngere der Schwestern, das Gesicht dick mit Fett eingerieben und die Haare voller Lockenwickel, setzte die Tasse und den Teller mit Broten vor ihn hin. »Guten Morgen.«

Holt antwortete nicht. Er dachte: Ich bin krank. Gleich wird sie wieder anfangen: Beeilen Sie sich … Das Schlucken schmerzte, die Kehle war wund. Fräulein Dengelmann sagte: »Beeilen Sie sich! Es fällt wieder auf uns zurück, wenn Sie zu spät kommen …«

Holt schob den Teller mit den Broten von sich. Durch die Tür trat Eulalia, in einen verwaschenen Schlafrock gewickelt. Sie hat ein Gesicht wie ein Schaf, dachte er, und Veronika sieht aus wie der Vollmond.

»Sehen Sie zu, daß Sie fortkommen«, sagte nun auch Eulalia, »es ist gleich sieben …« Er warf ihr einen bösen Blick zu. Wenn Wolzow mich verdroschen hat, dachte er, muß ich etwas so Verrücktes anstellen, daß mein Ansehen wiederhergestellt wird. Bei Maaß, beim Ordinarius! Ich habe alle Lehrer hereingelegt, Zickel, meckmeck, Schöner, Gruber, alle … Mag Zemtzki sticheln: Bei Maaß traust du dich nicht … Bei Maaß traut sich keiner, nicht mal Wolzow. Aber ich bin gerissen, ich fange auch Maaß, und das wird mich zum Helden des Tages machen. Ich werde bei Maaß die Sprache verlieren, und wenn er mich bestrafen will, zieh ich ein ärztliches Attest aus der Tasche, daß ich seit gestern taubstumm bin; aber woher nehm ich das Attest? Oder ich werde bei einer Antwort den Mund nicht mehr schließen und bloß noch lallen können, Maulsperre, Kieferklemme, da wird die Klasse toben vor Freude, und wenn Maaß vor Wut einem Schlaganfall nah ist, gibt mir jemand die vereinbarte Ohrfeige, und dann ist alles wieder in Ordnung; da soll er mir erst mal was beweisen! Das ist eine gute Idee! Oder … ob man ihn mit seinen wahnsinnigen Schachtelsätzen reinlegen kann?

Er saß unbeweglich am Tisch. Ein herrlicher Tag! Ich möchte ein Segelboot haben! Man könnte … Sein Blick fiel durch das Fenster auf die gebeugte Gestalt der alten Dengelmann; die Greisin tappte durch die Beete und riß die jungen Kohlrabipflanzen aus dem Boden, eine nach der anderen … »Fast jeden Tag kommen Sie zu spät zur Schule«, schimpfte Veronika Dengelmann, »gestern traf ich Herrn Benedict …« Benedict? Das war der Turnlehrer, und er war harmlos … Und jetzt reißt die Alte tatsächlich auch noch die Salatpflanzen aus! »Passen Sie auf Ihren Grünkram auf«, sagte Holt, »die Alte ist im Garten!« – »Ogottogott!« Türen schlugen. Im Garten erhob sich Gezeter.

Holt verließ das Haus. Langsam ging er die Bahngeleise entlang; er ließ sich Zeit, er kam sowieso zu spät zum Unterricht, und Ausreden gab es genug. Meistens mußten die geschlossenen Bahnschranken herhalten.

»Holt!« rief es hinter ihm. »Warte!«

Das ist Rutscher, der verdirbt mir den Schulweg. Fritz Rutscher war der Sohn eines vor zwei Jahren verstorbenen Studienrates. »Schon sieben durch«, keuchte er, »… müssen uns beeilen!« Er war vom schnellen Lauf so außer Atem, daß er das Stottern vergaß.

»Hast du Angst?« sagte Holt mürrisch. »Zu zwein«, stammelte Rutscher, ein semmelblonder Junge, »zu zwein findt man bessere Ausreden!« Sie überquerten die Bahngeleise. Nun führte die Bismarckallee, breit und von Linden gesäumt, hinab in die kleine Stadt. Links und rechts standen Villen.

Hier wohnen Barnims, dachte Holt. Er blickte neugierig auf ein großes, geklinkertes Haus. Oberst Barnim hatte zwei Töchter. Gerda, fünfzehnjährig, besuchte die Mädchen-Oberschule; Holt traf sie manchmal auf dem Schulweg, ein mageres, sommersprossiges Mädchen. Sie soll noch eine Schwester haben, Uta Barnim, die ist neunzehn, Abitur mit Auszeichnung, und voriges Jahr war sie Gebietsmeisterin im Tennis; ich hab sie noch nie gesehen, aber alle sagen, sie ist das schönste Mädchen in der Stadt. Und hier wohnt der Peter Wiese, gleich nebenan. Der ist natürlich längst in der Schule, der Wiese-Peter, ein richtiger Miesepeter, der Primus, der alles weiß und lateinische Reden halten kann, aber nie einen Jux mitmacht. Er spielt wunderbar Klavier.

Schon oft war Holt, unter irgendeinem Vorwand, im Hause des Amtsrichters Wiese erschienen und hatte schließlich gesagt: »Spiel doch mal was, du …« Dann setzte sich der kränkliche und schwache Peter an den Flügel. Holt konnte stundenlang zuhören, unbeweglich in einem Sessel.

Vor Holts Augen drehten sich feurige Kreise, es rauschte in seinen Ohren … Er rang nach Atem. »Was hast du?« rief Rutscher. Ein Kälteschauer lief über Holt hin, dann wurde ihm heiß. Sollte er wirklich krank sein? Alles war ganz nahe herangerückt, wie durch ein Vergrößerungsglas anzusehen, und Rutschers Stimme hatte ein Echo …

»Was sagen wir dem Schöner?« fragte Rutscher. – »Am Bahnübergang war’n Verkehrsunfall. Da ist ein Radfahrer mit einem Lieferwagen zusammengestoßen.« – Rutscher staunte: »Hast du das g-g-gesehn?« – »Das sagen wir! Wir mußten der Polizei alles zu Protokoll geben.« – »Großartig!« Rutschers Phantasie entzündete sich. »Ich werd sagen, der Radfahrer hat ganz f-f-furchtbar geblutet!« – »Hör auf«, sagte Holt. »Und laß mich reden, verstanden?«

Holt blieb in der Tür stehen und überschaute den Klassenraum. Schöner, der Mathematiklehrer, stand an der Tafel und malte sie wie üblich voll Zahlen. Er war ein Mann von achtundsechzig Jahren, der, wie fast alle Lehrer der Schule, schon einmal pensioniert gewesen und nun wieder zum Unterricht herangezogen worden war. Er ließ die Schüler in Ruhe und rechnete selbst; seine Unterrichtsstunden verliefen still; niemand, außer Peter Wiese, arbeitete mit. Holt sah, daß der dicke Christian Vetter, Sohn eines Schreibwarenhändlers, hinten in der Ecke am Fenster, mit irgendwem Karten spielte. Gilbert Wolzow, wegen seiner Körpergröße quer in der Bank, saß über einem dicken Buch und las.

Holt brachte seine Entschuldigung in einem frechen und provozierenden Ton vor, der sie von vornherein unglaubhaft machte … Der blutende Radfahrer wurde mit Geschrei begrüßt, aber es klang ein wenig lustlos. Nur Fritz Zemtzki, ein Bürschlein mit brandrotem Haar, quäkte mit heller Kinderstimme: »O Gott, der arme, arme Radfahrer!«, aber auch das fand keine Resonanz. Es war wieder still; in der Ecke warf Vetter seine Trümpfe auf den Tisch.

Schöner trug Holts Verspätung ins Klassenbuch ein. Rutscher war unbemerkt auf seinen Platz geschlichen. Die Eintragung hatte keine Bedeutung, denn Schöner schrieb mit Bleistift, und seine Eintragungen wurden wieder ausradiert, jeder Tadel und auch die Schulaufgaben. Aber als Holt in der Pause mit einem Radiergummi aufs Katheder stieg, rief Wolzow mit rauher, wüster Stimme: »Na, da hast du Schiß, daß der Maaß was erfährt!«

Holt klappte das Klassenbuch zu. Mochte die Eintragung stehenbleiben! »Ich und Schiß?« sagte er. »Vor Maaß haben andere Leute Schiß, auch wenn sie sonst mit der Schnauze vornan sind!« – »Meinst du mich?« fragte Wolzow drohend und legte den Kopf auf die Seite … Aber da schrillte schon, vom Korridor her, der Warnungspfiff, und Knack marschierte ins Zimmer, dreißigjährig, wegen eines Herzfehlers wehrdienstuntauglich, Studienassessor Knack. »Heil Hitler, Kameraden!«

Die Klasse antwortete: »Heil Hitler!« – »… Kamerad Knack«, rief Holt hinterher, denn er wollte es Wolzow zeigen. In der Klasse gab es unterdrücktes, beifälliges Gelächter. Wolzow biß sich auf die Lippe. Zum zweiten Male an diesem Morgen wurde Holt ins Klassenbuch eingetragen, getadelt wegen »unarischer Frechheit«, wie Knack mit seiner schnarrenden Kommandostimme bekanntgab. Dann begann der Geschichtsunterricht. Dies ist Wolzows Stunde, dachte Holt.

Gilbert Wolzow war ein paar Monate über sechzehn Jahre alt. Sein Vater, der Oberst Wolzow, stand als Regimentskommandeur an der Ostfront. Wenn man Wolzows Erzählungen glauben durfte, so waren die Wolzows ein preußisches Offiziersgeschlecht, das seit zweihundert Jahren ausnahmslos Offiziere hervorgebracht hatte; der Bruder des Obersten Wolzow war Generalmajor. Auch Gilbert wollte Offizier werden, und er bereitete sich von Kind an darauf vor.

Er war der ungekrönte König der Klasse, ja der Schule, der die Cliquen und Schülergruppen mit Gewalt zusammenhielt und niemals, bis Holt in die Klasse eingetreten war, Widerspruch geduldet hatte. Er war zugleich der »frechste und faulste Schüler der Anstalt«, wie Maaß, der Klassenlehrer, des öfteren sagte, denn er stand in den meisten Fächern so jammervoll schlecht, daß seine Versetzung in die nächste Klasse diesmal gefährdet schien. Aber in allem, was mit Krieg, Kriegswesen, Kriegsgeschichte, mit Waffentechnik und Kriegsgerät zu tun hatte, war er ein Phänomen. Er hatte frühzeitig begonnen, die kriegswissenschaftliche Bibliothek seines Vaters zu lesen, und sein erstaunlich gutes Gedächtnis hatte eine Fülle von Einzelheiten behalten, über die er nach Belieben verfügte; entfiel ihm doch einmal ein Schlachtendatum, der Name eines Feldherrn, so schlug er in dem dicken Taschenbuch nach, das er immer mit sich herumschleppte … Jetzt saß er zurückgelehnt in seiner Bank, das Gesicht mit den grauen Augen und der Adlernase emporgehoben zu Knack.

Knack und Wolzow führten während des Geschichtsunterrichts endlose Debatten. Knack charakterisierte seine Geschichtsauffassung des öfteren als »rassisch-völkisch«. Wolzow stand neben seiner Bank und erklärte: »Geschichte, das ist Krieg. Von 1469 vor bis 1930 nach Christi Geburt hat es nur zweihundertvierundsechzig Jahre Frieden, aber dreitausendeinhundertfünfunddreißig Jahre Krieg gegeben …« – »Vergessen Sie nicht das rassische Moment«, ergänzte Knack, »die wertmäßigen Unterschiede der Völker, die rassischen Triebkräfte …«

Holt saß stumm auf seinem Platz und hörte Knack mit der ewig gleichen, schnarrenden Stimme sagen: »Das Reich gründet sich bewußt auf uralte mythische Vorstellungen und Kräfte des Volkes …« Er döste vor sich hin, der Kopf schmerzte, und der Hals war wie zugeschnürt … Neben ihm saß Sepp Gomulka, Sohn eines Rechtsanwaltes, ein braunhaariger, kluger Junge, der sich meist zurückhielt und sich nur manchmal, im Übermut, an den Ausschreitungen der Klasse gegen die alten Lehrer beteiligte. Er war ein Einzelgänger, trieb sich mit seinem Kleinkalibergewehr in den Wäldern umher und schoß Eichelhäher, statt sich den Schulaufgaben zu widmen. Während Knack redete und redete, schnitzte Gomulka mit einem Messer an seiner Bank und sammelte die Späne in einer Tüte aus Löschpapier … Auf dem Platz vor Holt saß der zarte, ewig kränkelnde Peter Wiese, der diesen Sommer zu seiner Kräftigung täglich zwei Stunden in der Badeanstalt zu verbringen und Sport zu treiben hatte, eine Maßnahme, unter der er litt. Holt schrieb auf einen Zettel: »Gib mir deine Lateinübersetzung!« Er wollte für den Weigerungsfall eine Drohung hinzusetzen, unterließ es aber und schob den Zettel zu Wiese. Wiese las und nickte.

Aber in der großen Pause fand Holt keine Gelegenheit, die Übersetzung abzuschreiben, obwohl eine fehlende Hausaufgabe bei Studienrat Maaß schlimme Folgen haben konnte. Die Schüler begaben sich ins Biologiezimmer. Der bevorstehende Unterricht bei Doktor Zickel, genannt Meck-meck, riß sie aus ihrer Lethargie. Christian Vetter, blond, mit rundem Kindergesicht und blanken Schweinsäuglein, wegen seiner Körperfülle seit eh und je gehänselt und verspottet, probierte ein paar quiekende und grunzende Geräusche aus. Wolzow und Holt standen mit gleichgültigen Gesichtern beieinander. Gomulka wetzte sein Messer an der Gasleitung des Experimentiertisches, und Kirsch, Tischlersohn, von Knack als Vertreter des »bodenständigen Handwerks« gefeiert, futterte Brot auf Brot in sich hinein, wodurch er zu wachsen hoffte, denn er war nur einssechzig groß. Nadler, ein stämmiger, blonder Junge, wurde von seinen Freunden Schönfeldt, Grubert und anderen umlagert, die in der Nachrichten-HJ seine Untergebenen waren. Hingegen war Wolzows Laufbahn als HJ-Führer nach verheißungsvollem Start schon vor zwei Jahren geendet, nachdem er seinen Stammführer mit den Worten stehengelassen hatte: »Von so einem militärischen Rindvieh nehm ich doch keine Befehle entgegen!«

Zemtzki piepste plötzlich: »Gilbert, das mußt du zugeben: den Knack hat der Werner prima veralbert!« – »Scher dich vor die Tür und paß auf!« befahl Wolzow. Dann sagte er zu Holt: »Glaub bloß nicht, es war was Besonderes.« Er blickte sich suchend um. Dann trat er zur Tafel. Dort stand ein Skelett, das Doktor Zickel im Unterricht brauchte, neben dem großen Aquarium. Wolzow, in Breeches und Stiefeln, den Brustkorb von einem verwaschenen HJ-Hemd umspannt, holte ein Stück Holzkohle aus der Hosentasche und begann, den Totenschädel zu beschmutzen. Peter Wiese erblaßte. Er fürchtete Wolzow, den er »miles gloriosus«, ruhmredigen Kriegsmann, nannte; Holt freilich hatte gloriosus kurzerhand mit »prahlerisch« übersetzt.

Jetzt malte sich Angst in Wieses Gesicht, denn er, der Primus, wurde als erster nach dem Täter befragt, und da er niemals einen Lehrer belog, beim Verrat aber erbarmungslos Prügel bezog, geriet er jedesmal in Gewissensnot, aus der ihn andere mit der Lüge erlösen mußten, Wiese könne nichts wissen, er sei nicht im Zimmer gewesen …

Wolzow sah Holt ins Gesicht und fragte: »Wie findest du das?« Holt ging wortlos zur Tafel, nahm den Schädel vom Skelett und warf ihn in das große Aquarium. Wasser und Schlingpflanzen schwappten auf den Boden.

Die Klasse tobte. Dann wurde es still. Man blickte gespannt auf Wolzow. Wolzow verlor die Beherrschung. »Warte!« schrie er, leicht nach vorn geneigt. »Wenn du wirklich soviel Mut hast, dann komm heute um vier zum Rabenfelsen, damit ich dir endlich …!« – »Du bist wohl am Ende?« höhnte Holt. »Was Beßres als Prügel fällt dir wohl nicht ein?« – »Jetzt dreh ich ein Ding«, schrie Wolzow, »von dem die ganze Stadt sprechen soll!« Zemtzki steckte den Kopf zur Tür herein. »Gilbert … nicht! Nein! Du … fliegst, wenn sie dich erwischen!« – »Seht den großen Wolzow!« spottete Holt. »Er will sich prügeln, aber er hat Schiß vor den Paukern!«

Wolzow starrte auf das Aquarium, wo der verunstaltete Totenschädel durch die Ranken der Wasserpest grinste und die roten Leiber sechs tropischer Zierfische im grünen Wasser hin und her glitten. »Sepp«, befahl Wolzow, »schaff mir das Katzenvieh vom Hausmeister her!«

»Gilbert«, sagte Gomulka, »laß das … Maaß wirft dich raus!« Aber jemand rief schon Zemtzki auf dem Korridor zu: »Du sollst dem Wolzow die Katze bringen!«

Zemtzki brachte die Katze, ein getigertes, wildes Biest, das argwöhnisch äugte, nervös durch die lärmenden Stimmen der Jungen. Wolzow nahm sie mit einem Griff seiner Rechten am Fell; sie legte sich flach gegen seine Brust, die Schwanzspitze krümmte sich leise. Wolzow streichelte sie: »Ruhig, Miezchen! Gleich gibt’s was Schönes …« Er tauchte den nackten linken Arm ins Aquarium. »… was Schönes zu fressen … was Markenfreies … eine Sonderzuteilung!« Dann warf er den ersten Fisch auf den Boden … Die Katze war mit einem Satz abgesprungen und verschwand mit dem zappelnden Salmler unter einer Bank. Stumm und atemlos sah die Klasse zu, wie Wolzow Prachtschmerlen und Barben aus dem Aquarium fischte. Die Katze begann laut zu schnurren. Sie fraß, daß es knirschte, und ihre Augen funkelten. Dann schlich sie davon, leckte sich das Maul, noch immer schnurrend, und von Doktor Zickels Fischen blieben nur ein paar glänzende Schuppen auf dem Fußboden zurück.

»So!« sagte Wolzow. Das Schweigen war wie eine Huldigung, die er gelassen entgegennahm. »So, mein Lieber! Wer hat hier Schiß vor den Paukern?« Er ging zu seinem Platz, setzte sich und nahm sein Buch vor. Er war blaß. Er rief: »Vergiß nicht, heut um vier!« Aber Holt dachte nur dies: Er fliegt, und ich hab ihn dazu getrieben …

Zemtzki pfiff.

Doktor Zickel war ein verkümmertes Männlein mit dem Habitus eines zwölfjährigen Jungen, dem man den Kopf eines Greises aufgesetzt hat. Er trat vor die Klasse, in Knickerbockers, grüner Joppe und weißem Hemdchen mit geöffnetem Bubikragen. Mit einer heiseren Knabenstimme rief er den Hitlergruß. Seine Rede war voller Eigenarten: er pflegte öfters »ni wahr« zu sagen und gab, zwischen die Worte eingestreut, ein seltsames Geräusch von sich, eine Mischung aus Hüsteln und Räuspern, die wie »Khkh« klang. Er sagte: »Wo is … ni wahr … das Klassenbuch … khkh …?« Aus einer Ecke kam ein gedämpftes »Meck-meck«, was ihn nervös machte, ohne daß er darauf eingegangen wäre … Er war viel Kummer gewöhnt. Sein Blick fiel auf das kopflose Skelett, und die magere Brust hob sich in erregten Atemzügen. »Das is … kh-kh … das is enne Lumperei is das, ni wahr …« Er schaute wild in die Klasse, dann sah er aufs Aquarium, und er wankte.

»Wer … wer is es gewesen?«

»Herr Lehrer!« rief der kleine Zemtzki. »Ich bin es nicht gewesen, aber ich bin es nicht allein nicht gewesen, die anderen sind es auch alle nicht gewesen!«

Zickel war außer sich. Er trat ans Aquarium, und er schrie, mit einer Wut, die seinen schmächtigen Körper erzittern ließ: »Wer … kh-kh … hat den Schädel … ihr feigen Gesellen … kh-kh … wer hat den Schädel von dem armen Skelett, ni wahr, das is doch auch emal e Mensch gewesen … wer hat’n ins Aquarium …« Aber jetzt erst erkannte er das ganze Ausmaß dessen, was man ihm angetan hatte, und sekundenlang brachte sein bebender Mund nichts als ein spuckendes »Kh … kh-kh …« hervor.

»Wolzow! Haben Sie … die Fische …?«

»Lassen Sie mich doch mit Ihren kindischen Verdächtigungen in Ruhe«, knurrte Wolzow, ohne aufzustehen … Und nun log die Klasse mit einer Ausdauer, an der Zickels Wut verpuffte. Verzweifelt begann er eine Untersuchung, aber da seinem Zorn jede physische Grundlage fehlte, die langwierige und ermüdende Befragung der Schüler zu überdauern, log man immer dreister und verhöhnte ihn, und Zickel ermattete, dem Weinen nahe.

»Fische?« sagte Holt, als er an der Reihe war, mühsam, mit schwerer Zunge, er hatte kaum noch die Kraft aufzustehen. »Die Fische sind weg? Vielleicht … hat der Totenkopf sie gefressen!« Das Gejohl der Klasse erreichte kaum sein Ohr. »Elender Bube … Ich! Los, Vetter, wo sin die schönen roten Fische?«

»Rote Fische?« sagte Vetter. »Warn das denn Fische? Ich dachte immer, das sind Tomaten!«

»Herr Lehrer«, rief Zemtzki, und er stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum, »ich hab die roten Fische gesehen! Gestern warn sie noch da! Heißa! Aber sechs, nein, so viele warn das nicht!«

»Wie viele … kh-kh … haben Sie gesehn?« fragte Zickel mit neuer Hoffnung.

»Na, so null bis eins«, antwortete Zemtzki, und er sah dem Lehrer mit großen, blauen Augen unschuldsvoll ins Gesicht.

Die Untersuchung verlief ergebnislos. Studienrat Maaß setzte sie fort. Holt nahm nicht teil an dem Durcheinander, das in der Pause herrschte. Er saß zusammengesunken auf seinem Platz im Klassenzimmer, der Schweiß brach auf seiner Stirn hervor, und der Kopf schmerzte … »Du hast ein ganz rotes Gesicht«, sagte Gomulka teilnahmsvoll, »wie gesprenkelt, bist du krank?« Holt schüttelte den Kopf.

Die Katze brachte alles ans Licht; sie hatte in der Wohnung des Hausmeisters die unverdauten Fische wieder ausgebrochen. Ein Lehrer hatte den Ruf gehört: »Du sollst dem Wolzow die Katze bringen …« Wolzow war überführt. Er stand neben seiner Bank und log beharrlich, er wisse von nichts, man möge ihn in Ruhe lassen, er sei es nicht gewesen.

Maaß hockte dick und massig hinter dem Katheder. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, spiegelte sich auf seiner Glatze, die von schlohweißem Haar umrahmt war. Das runde und feiste Gesicht grinste triumphierend, die Augen hinter der hellen Hornbrille waren kalt und mitleidlos auf Wolzow gerichtet. »Sie sind erledigt, Wolzow«, sagte er, mit einem begeisterten Zittern in der Stimme, »auch ohne Geständnis erledigt.« Er schielte über die Ränder der Hornbrille hinweg auf sein Opfer. Es war sein Steckenpferd, verworrene Schachtelsätze zu konstruieren, die er mit strenger Logik zu Ende sprach; er hielt die Klasse mit diesen Sätzen in Spannung, er vollendete auch den schwierigsten Satz und heimste das ehrfürchtige Aufatmen der Schüler als Beifall ein. »Unsere Anstalt«, begann er, »die einmal vom strengen Geist des Lerneifers und Gehorsams regiert, durch Sie jedoch wie durch einen Bazillus vergiftet wurde, mit Anarchie und Disziplinlosigkeit, was kein zweites Mal Ihr Onkel wird sanktionieren können …«, er legte eine Pause ein, um die Spannung zu steigern, und dann vollendete er: »… wird nun endlich und endgültig von Ihnen befreit werden. Ich beglückwünsche mich zu diesem Erfolg.« Alle Augen waren auf Wolzow gerichtet. Wolzow sah bewegungslos vor sich hin; nur Holt, zurückgelehnt und zusammengesunken, blickte auf Maaß. Er dachte: Wolzow wird nicht relegiert werden! Wolzow ist ab heute mein Freund.

»Nehmen Sie Ihre Tasche, Wolzow, und verlassen Sie auf der Stelle das Schulhaus. Sie sind relegiert. Der Brief des Direktors folgt Ihnen auf dem Fuß.«

»Moment«, sagte Holt.

Er erhob sich. Er fühlte Wolzows Blick auf sich gerichtet. Er lehnte sich rücklings gegen die Bank. »Der Brief des Direktors«, sagte er, und seine Stimme krächzte, »folgt Wolzow nicht auf dem Fuß. Wolzow ist es nicht gewesen … Man hat sich … verhört … Wolzow soll mir die Katze bringen, wurde gerufen …« Er mußte seine Worte sehr langsam formen, denn die geschwollene Zunge versagte den Dienst. »Ich bin es gewesen«, sagte er. Peter Wiese, das Gesicht auf Holt gerichtet, erstarrte in Staunen und Bewunderung … »Ich bin es gewesen … Wiese wird es bezeugen …« Wiese erhob sich, wie unter einem Zwang, und zum erstenmal in seinem Leben belog er einen Lehrer, als er mit tief auf die Brust gesunkenem Kopfe sagte: »Ja … Holt war es … ich bezeuge es.«

Holt hörte nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Vier Stunden Karzer? Egal! Blauer Brief an meine Mutter? Sie wird bloß lachen … Und jetzt sieht er ins Klassenbuch … Die Eintragungen? Wenn er wüßte, wie egal mir das alles ist!

»Sieh mal an«, sagte Maaß, wütend vor Enttäuschung. »Zwanzig Minuten zu spät gekommen ist das elende Früchtchen außerdem …« Er wurde ironisch, das war der Ausdruck höchsten und gefährlichsten Zornes. »Hatte Ihre Wirtin, ich glaube mich zu erinnern, daß sie Dengelmann heißt, Eusebia Dengelmann, doch halt, nein, Eulalia war wohl der Name, ein wohlklingender Name, der aus dem Griechischen stammt …« Er schaute bewegungslos durch die Gläser der Hornbrille auf die Schüler, die atemlos an seinem Munde hingen, und vollendete: »… wieder einmal Nasenbluten?«

Holt blinzelte. Er sah auf einmal alle Gestalten und Gegenstände in verschwommenen Umrissen; in seinen Ohren hallte als vielfaches Echo das letzte Wort: Nasenbluten … Nasenbluten … Wohltuende Müdigkeit überkam ihn, Gleichgültigkeit. Man müßte ein Segelboot haben, dachte er, jetzt, wo Gilbert mein Freund ist, und nun ist’s geschafft: Wolzow gerettet, und er wird mir’s danken!

»Reden Sie!«

Ach so. Ich muß ja noch den Maaß veralbern! dachte Holt. Er wird ungeduldig? Ich will dir schon antworten! Deine Schachtelsätze imponieren mir nicht, das kann ich schon lange! »Mitnichten«, sagte er. Sein Gesicht war rot, nur von den Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn war ein blasses Dreieck ausgespart. Eine Bewegung lief durch die Klasse, und Maaß, bei dem altertümlichen Wort »mitnichten«, furchte die Stirn. »Mitnichten hat die Nase meiner Wirtin, deren Namen Eulalia … Eulalia, wie Sie die Güte, sich zu erinnern, hatten, lautet, geblutet, aber …«, das Aber schrie er hinaus, denn Maaß hatte den Mund schon geöffnet, um Holt zu unterbrechen, »aber mich … hatte morgens die Polizei … da ein Fahrrad, das ein Mann, der eine graue Jacke … die vielfach geflickt war, trug … fuhr … mit einem Auto, das auf der Straße … die über die Geleise, die vom Bahnhof, der unmittelbar bei meiner Wohnung … liegt … kommen … führt … entlangkam … zusammenstieß … gebeten …«

Er hielt inne. Auch das war geschafft! Wie durch Nebel sah er die Augen seiner Mitschüler auf sich gerichtet, und Maaß lehnte nach vorn über dem Pult, und sein Unterkiefer war heruntergeklappt …

»… meine Beobachtungen als Zeuge zu Protokoll zu geben«, vollendete Holt. Dann fiel er seitwärts zu Boden.

Peter Wiese lief zum Hausmeister, Rutscher stotterte: »Er war schon morgens auf dem W-w-weg so komisch!« Maaß beugte sich über Holt und sagte: »Das ist … Scharlach …!« Wolzow schob ihn beiseite. Bald fuhr der Krankenwagen vor.

2

Der Juni ging ins Land. Holt lag in der Infektionsabteilung des städtischen Krankenhauses. Wolzow kletterte jeden Tag über die Mauer und schlich durch den Garten unter das Fenster. Sein Pfiff wehte ins Krankenzimmer.

Die ersten Tage lag Holt fast ohne Bewußtsein im Fieber, dann genas er rasch und überwand Mattigkeit und Schwäche. Als er wieder bei Kräften war, empfand er den langen Aufenthalt im Krankenhaus wie eine Freiheitsstrafe. Seine Mutter, von den Schwestern Dengelmann herbeigerufen, hatte unterdessen bei allen Ärzten vorgesprochen, hatte Trinkgelder an Schwestern und Pfleger verteilt und war wieder abgereist, ohne ihren Sohn gesehen zu haben, und er war nicht einmal böse darüber.

Aber Wolzows Besuche machten ihn froh. Wolzow brachte Nachricht von der Außenwelt. Die Schule war nach Holts Erkrankung für zwei Wochen geschlossen worden, was Holt bei den Schülern aller Klassen populär gemacht hatte wie die Revolte gegen Maaß. Er war der Held des Tages. Wolzow neidete es ihm nicht länger und war bereit, seinen Ruhm zu teilen. Als das Fieber gewichen war, sprang Holt, wenn im Garten der Pfiff ertönte, ans Fenster. »Wie geht’s?« fragte Wolzow.

»Eigentlich bin ich gesund … Ich soll mich schälen und muß immerfort ganz heiß baden.« – »Hau ran!« sagte Wolzow … Gestern hatte der Unterricht wieder begonnen, da kein weiterer Krankheitsfall vorgekommen war. »Zum Kotzen langweilig«, meinte Wolzow. »Wenn du rauskommst, dann ist irgendwas fällig …« – »Ich überleg schon … was Abenteuerliches!« – »Abenteuer ist Quatsch«, erklärte Wolzow bestimmt. »Karl May und so was, das ist alles Schwindel. Bloß der Krieg ist richtig.« – »Weißt du was Neues vom Flak-Einsatz?« – »Noch dieses Jahr, vielleicht schon im Herbst.«

Diese Perspektive nahm Holt vollends die Lust am Schulunterricht. Er überlegte: Wenn ich Glück hab, ist die Schule für mich vorbei … »Ich bekomm zwei Wochen Schonung«, sagte er, »dann sind große Ferien … Bloß gut! Wenn ich an Maaß denke …«

»Maaß ist ein Satan«, sagte Wolzow. Er stand breitbeinig in einem Blumenbeet, die Hände in den Taschen vergraben, und unter seinen Stiefeln knickten Rosen und Nelken … »Weißt du, was Maaß gesagt hat? Dein Scharlach wäre ein ganz raffinierter Trick, daß er dich nicht bestrafen kann. Da ist Gomulka aufgestanden und hat gesagt: ›So ein Trick will gekonnt sein, Herr Studienrat!‹ Maaß hat ihn gleich zwei Stunden eingesperrt.«

Ein andermal brachte Wolzow den kleinen Peter Wiese mit und hievte ihn über die Mauer. Wiese riß sich dabei ein Dreieck in die Hose. »Wenn du gesund bist, spiel ich dir vor, was du willst.« Tags darauf gab er Bücher für Holt ab.

Holt hatte schon immer viel gelesen, und in diesen Tagen, da er im Bett lag und ungeduldig seiner Entlassung entgegensah, las er wahllos, was man ihm aus der Anstaltsbibliothek brachte. Da waren viele seiner Lieblingsbücher dabei, die er nun zum zweiten oder dritten Male durchschmökerte: Stevenson und Jack London, Karl May und die Indianerbücher von Fritz Steuben, Gagerns »Grenzerbuch«, eine Feldpostausgabe »Auswahl aus Nietzsches Werken«, Hanns Johsts »Ave Eva« und natürlich Kriegsbücher, immer wieder Kriegsbücher, von den Taten des U-Bootfahrers Weddigen bis »Sieben vor Verdun«, und dann Ernst Jünger, »Das Wäldchen 125«, »Feuer und Blut« und »In Stahlgewittern« … Beumelburg, Zöberlein, Ettighoffer und was es noch alles gab … Nun las er, was Peter Wiese gebracht hatte: Novellen von Storm und einen Band »Märchen der Romantik«.

Er lag unbeweglich in seinem Bett und sann über die Gestalten nach, die er leibhaftig vor sich sah: Elisabeth, das Puppenspieler-Lisei und die dunkle Renate vom Hof … So ein Mädchen müßte man kennenlernen, dachte er beklommen. Wolzow verabscheute Mädchen und fand Liebe unmännlich; Holt aber hatte das Unvereinbare stets zu vereinbaren gewußt: die Heldengestalten aus der Nibelungensage oder aus König Laurins Mantel verwob er mit Indianerhäuptlingen, Westmännern und den feldgrauen Gestalten der Kriegsbücher zu einem idealen Heldentypus, in dessen abenteuerlichem Leben für das Grauen der Märchendrachen ebenso Raum war wie für die Anmut Stormscher Mädchenfiguren oder den Gerechtigkeitsfanatismus Karl Moors … Nun las er bei Novalis von einem Liebespaar, in einer Felsenhöhle, bei Blitz und Donner, welches »der erste Kuß auf ewig zusammenschmelzte« … Der erste Kuß … wie mag das sein?

Er war als Einzelkind aufgewachsen, frühreif, einmal kindisch und ausgelassen, dann wieder ernst, in sich gekehrt. Die frühen Regungen des Geschlechts stürzten ihn in Sehnsüchte und Träume; die Mädchen übten eine immer stärkere Anziehungskraft auf ihn aus, und wo er kein Geheimnis finden konnte, dort schuf er sich eins, indem er das Natürliche mit jenem mythischen Schleier verhüllte, der in zahllosen Büchern die Begriffe von Leben und Liebe verdunkelte, bei Hanns Johst zum Beispiel: die Frau steht im Blutdienst der Schöpfung … Vom ewigen Evangelium der Frauen, vom verrätselten Mythos des Geschlechts las er und grübelte … Die Antwort mußte das Leben geben. Er war ungeduldig, voll Sehnsucht nach Abenteuern und Bewährung.

Seine Eltern waren seit Jahren geschieden; er war bei der Mutter geblieben, der vermögenden Frau aus einer Industriellenfamilie; er war ihr mehr und mehr entglitten, obgleich sie ihn verwöhnt und versucht hatte, ihn für sich zu gewinnen. Er war ihr schließlich mitten im Krieg davongelaufen, in Hamburg aufgegriffen und wieder zurückgebracht worden, und endlich, ein Jahr später, hatte sie seinen Wünschen nachgegeben und ihn aus dem Haus gelassen, hierher, in die kleine Stadt, die ihr von irgendwem als idyllisch und heilsam empfohlen worden war und die weitab von den Industriezentren lag, über denen sich das Unwetter der Bombardements immer dichter zusammenzog.

Hier war Ruhe. Ringsum waren die Berge von Wäldern bedeckt, eine dünnbesiedelte Landschaft breitete sich weit aus. Hier fühlte Holt sich wohl. Er war in Leverkusen und Bamberg aufgewachsen. Seine Bindung an Vater und Mutter, die er durch Jungvolk und Hitlerjugend von Kindheit an gelernt hatte geringzuschätzen, war endgültig zerrissen und hatte sich in Sehnsucht verwandelt, nach einem Freunde und nach dem anderen Geschlecht. Der Freund schien nun endlich gefunden.

Wolzow, so überlegte Holt, durfte von alldem nichts wissen: von den Leidenschaften auf Haderslevhuus, von Elisabeth, Undine und dem ersten Kuß in der Felsenhöhle. Wolzow pfiff unter dem Fenster, Wolzow hatte andere Sorgen: »Du mußt jetzt schnellstens kriegerische Tugenden entwickeln!«

In den ersten Julitagen wurde Holt entlassen. Er rechnete: Zehn Tage Erholungsurlaub, am achtzehnten beginnen die großen Ferien, da ist das Schuljahr für mich so gut wie zu Ende. Überdies häuften sich die Gerüchte vom baldigen Flak-Einsatz. Vielleicht hab ich’s endgültig geschafft, dachte er, bloß Schluß mit der Schule!

Die freien Tage verbrachte er meist im Flußbad, aber er durchstreifte auch die Umgebung der Stadt. Eines Morgens ließ er sich Brote einpacken, schnitt sich einen derben Stock und wanderte in die Berge. Die letzten Dörfer blieben hinter ihm zurück. Er tauchte in die Laubwälder. Am Nachmittag stand er mehrere Wegstunden von der Stadt entfernt auf einer hochaufragenden Bergkuppe und schaute über das Land. In einer Schleife des Flusses zog sich ein Hochplateau nach Nordwesten hin, von Erosionstälern zerklüftet; von Felsschluchten, in denen Bäche talwärts zum Fluß stürzten. Durch das Hochplateau waren vereinzelte jüngere Kuppen vulkanischen Ursprungs gebrochen und stiegen auf mehrere hundert Meter an. Er blickte über den dunkelgrünen Teppich der Laub- und Mischwälder hinweg. Der Fluß glänzte im Sonnenlicht, und fern stieg das Gebirge wellig, in grünen Hügeln, zur Ebene ab. Kein Dorf ringsum, kein Weg, kein Haus! – Hier ist es herrlich, dachte er. Ohne Kompaß find ich nicht heim. Hier müßte man leben wie Karl Moor mit seiner Bande!

Der Berg, den er bestiegen hatte, war wie von einer riesigen Axt abgehackt. Am Fuß der Kuppe fand er, auf dem Abstieg, die Höhle. Ein Steinbruch fiel nach Süden tief in eine Schlucht ab. Im Norden hatte die Erosion das Gestein freigelegt. Holt sah ein Tal mit bewaldetem Hang, unwegsam und felsig. Am Steinbruch im Süden, unter der Gipfelkuppe, entwich ein Tier, ein Fuchs vielleicht, in die Büsche, und als er ihm nachspürte und das Buschwerk teilte, fand er einen Felsspalt hinter dichtem Brombeergestrüpp. Er raffte eine Handvoll Reisig auf und kroch unter niedergebrochenen Gesteinsbrocken hindurch, in den Felsen hinein. Es mußte ein uralter Bergwerksstollen sein. Schon nach wenigen Metern konnte er aufrecht gehen, und dann erweiterte sich der Gang. Von den Wänden rieselte Wasser. Er brannte das Reisigbund an und sah den Rauch in die Felsen hineinziehen. Dann stand er in einer großen, etwa drei Meter hohen und trockenen Höhle. Durch einen breiten, schachtartigen Felsspalt fiel helles Tageslicht.

Entdeckerfreude packte Holt. Nichts deutete darauf hin, daß seit langer Zeit ein Mensch hier eingedrungen war. Der Boden war felsig, und die Wände gefügt aus weichem Gestein. Der Schacht, der nach oben ins Freie führte, mußte in den Steinbruch der Gipfelkuppe münden.

Als er die Höhle endlich verließ, sah er draußen den Tag zur Neige gehen, und er beschloß, hier zu übernachten. Ringsum reiften Walderdbeeren, eine üppige Abendmahlzeit. Die Gegend war wildreich. Auf dem Felsabsatz vor dem Höhleneingang wuchs dichtes und hohes Gras. Er bereitete sich ein Lager aus Moospolstern und Laub. Dann stieg er noch einmal zum Gipfel empor. Es wurde Nacht. Tief zu seinen Füßen glänzte das phosphoreszierende Band des Flusses.

Vor der Höhle entzündete er ein kleines Feuer, ließ einen trockenen Wurzelkloben glühen und streckte sich auf seinem Lager aus. Er starrte in die Glut. Fledermäuse umflatterten ihn. Über ihm stand das Siebengestirn. Er träumte von einem abenteuerlichen Leben, hier in den Bergen, ohne Schule, ohne Maaß. Er träumte vom Sänger und der Prinzessin, von einer verborgenen Felsenhöhle, wo unter Donner und Blitz der erste Kuß das Paar auf ewig zusammenschmelzte. Am Morgen wanderte er noch vor Sonnenaufgang in die Stadt zurück.

Die Schwestern Dengelmann setzten Holt, als er am Vormittag daheim anlangte, ein Frühstück vor, das ihn mißtrauisch stimmte: Eier, Schinkenbrote, Mohnkuchen. Und das, obwohl sie angeblich nicht wissen, wie sie mich ernähren sollen, dachte er. Schieben die etwa heimlich? Die wollen doch was von mir! Er hatte recht. Unter vielen Versprechungen kam es ans Licht: Holt sollte ab September einen zehnjährigen Jungen zu sich ins Zimmer nehmen, da er ja doch ohnehin bald einrücke … Der Vater, ein Herr Wenzel, habe eine Gastwirtschaft, Hühner und Schweine …

»Einen zehnjährigen Rotzbengel?« sagte Holt zu Eulalia, und Veronika schüttelte mißbilligend den Kopf, daß die Lockenwickel rasselten. »Können Sie nicht warten, bis ich bei der Flak bin?« Herr Wenzel schlachte jedes Jahr drei Schweine, erklärte Veronika. Holt warf die Tür hinter sich zu und ging. Im Grunde interessierte ihn das nicht; bis zum 1. September rechnete er fest mit der Einberufung. Er beschloß, baden zu geben. Das heiße Wetter hielt an.

Er schlenderte über den Marktplatz. Vor dem Café blieb er stehen. Er hatte Lust, Billard zu spielen; Billard war große Mode. Aber allein machte es wenig Spaß. Als er weiterging, sah er einen flammend roten Rock, von weitem, auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes.

Die Marie Krüger! Sein Herz begann zu klopfen. Wenn ich ganz langsam durch die Lauben am Rathaus geh, überlegte er, treff ich genau an der Talgasse mit ihr zusammen …

Sie war nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und beide bogen gleichzeitig in die abschüssige Straße ein, die hinab zum Fluß führte.

»Guten Tag«, sagte er. Sie nickte überrascht und ergriff zögernd seine Hand. »Na?« sagte er, und noch einmal: »Na? … Gehn Sie auch baden?« Wie rede ich sie an, Herrgott?

Er merkte nicht, daß seine Befangenheit sie belustigte; er sah nur, daß sie lächelte, und ihr Lächeln tilgte in ihm alle Furcht. Er ging neben ihr her. Sie fragte: »Sie schwänzen wohl Schule?«

»Ich hatte Scharlach und hab Schonung.« Er bedauerte, daß ihn seine Klassenkameraden jetzt nicht sehen konnten, an der Seite dieses Mädchens. Ihre Eltern lebten nicht mehr, so hieß es. Sie bewohnte irgendwo ein Zimmer. Sie war siebzehn Jahre alt, schlank, zigeunerhaft, hübsch und schlampig. Die großen, dunklen Augen standen ein wenig schräg in dem schmalen Gesicht. Von der rechten Augenbraue zog sich eine halbkreisförmige Narbe über die gebräunte Stirn. Das lockige braune Haar, das immer unordentlich war, raffte sie mit leuchtend bunten Bändern zusammen. Überhaupt bevorzugte sie eine bunte, absonderliche Kleidung, flammend rote Röcke, knallgelbe Mieder, grüne Halstücher. Die Mädchen aus der Oberschule verachteten sie, die Jungen schauten ihr heimlich nach. Sie stand außerhalb der Gesellschaft, und die Gesellschaft der Kleinbürger hatte feste Schranken. Es gab keine Industrie am Ort. Die Oberschüler sahen seit je auf die Mittelschüler herab, und diese wieder dünkten sich besser als die Lehrlinge und Hausmädchen: Der gemeinsame strenge Dienst in HJ und BdM hatte daran nichts geändert. Es gehörte viel Selbstbewußtsein und auch Mut dazu, am hellichten Tag mit Marie Krüger durch die Straßen zu gehen. Auch Holt fand sie etwas anrüchig, denn er war in strengem Kastengeist erzogen, aber die Anziehungskraft, die von ihr ausging, wirkte auf ihn so stark, daß sie alle Bedenken tilgte.

»Sie sind noch nicht lange hier?« fragte sie freundlich. »Die anderen Oberschüler sind so affig und eingebildet.«

Die haben bloß Schiß, dich anzusprechen, dachte Holt. Er entgegnete: »Am vornehmsten tun die vom Bann, nicht wahr?« Sie überquerten den Mühlgraben und betraten die Anlagen am Fluß.

Sie sah ihn von der Seite an. »Sind Sie nicht HJ-Führer?«

»Ich? Nein. Ich war Führer beim Jungvolk. Aber ich fall zu sehr auf. Jetzt bin ich Individualist. Die HJ macht mir nicht mehr viel Spaß. Früher, ja. Aber jetzt bin ich viel lieber allein. Nach den Ferien geht’s sowieso zur Flak.«

Sie antwortete nicht.

Ein kurzer, toter Flußarm mit dem irreführenden Namen Mühlgraben bildete mit dem Fluß eine Halbinsel, die man Parkinsel nannte; sie zog sich oberhalb der Stadt einige Kilometer weit am rechten Ufer des Flusses hin. Inmitten von Parkanlagen hatte hier der Ruderklub »Wiking« sein Vereinshaus, nebenan lagen die Tennisplätze, die Eisbahn und die Badeanstalt. Weiter flußaufwärts endete der Park, und die Halbinsel ging in den »Schwarzbrunn« über, eine mehrere Quadratkilometer große, unwegsame und wilde Sumpflandschaft, ein Labyrinth verlandender toter oder mit dem Fluß verbundener Flußarme und schilfgesäumter Tümpel, eine morastige Niederung, die vom festen Ufer her nur im Sommer bei niedrigem Wasserstand zugängig war. Die Badeanstalt war ein großes Gelände mit einer Liegewiese, deren Böschung zum Wasser abfiel, wo das Floß verankert war, das auf leeren Öltanks schwamm, mit Bassins für Nichtschwimmer und Sprungturm. Am Ufer neben der Liegewiese zogen sich mehrere Reihen hölzerner Umkleidekabinen hin, die wegen der jährlichen Hochwasser wie Pfahlbauten auf hohen Balkenfundamenten ruhten.

Holt, der von seiner Mutter ein reichliches Taschengeld bezog, hatte eine der teuren Jahreskabinen gemietet. Ungeduldig kleidete er sich um, fand das Mädchen am Ufer und setzte sich dort ins Gras. Zu dieser Tageszeit war die Badeanstalt menschenleer. Auf dem Floß im Schatten des Sprungturmes saß nur der alte Bademeister und angelte.

Sie lag lang ausgestreckt im Gras. Sie trug einen roten, zweiteiligen Badeanzug. Ihr Körper war gleichmäßig braungebrannt, nur an der Brust, wo sich der Badeanzug ein wenig verschoben hatte, wurde ein Streifen weißer Haut sichtbar. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und hielt die Augen geschlossen. Holt hockte neben ihr. Er betrachtete sie. Der Anblick der schwarzen gekräuselten Haare in den Achselhöhlen, der entspannten schlanken Glieder beunruhigte ihn … Er fand diesen braunen Leib, der sich im Gleichmaß der Atemzüge hob und senkte, seltsam zerbrechlich, er sah lange auf ihr Gesicht, auf ihren Mund, er dachte: Es schaut keiner her … ob sie sich wehrt, wenn ich sie küsse? Mag sie sich wehren … ich bin viel stärker!

»Wie alt sind Sie?« fragte sie.