Mainhardt Graf von Nayhauß

CHRONIST
DER MACHT

Autobiographie

Siedler

Erste Auflage

September 2014

Copyright © 2014 by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Rüdiger Dammann, Berlin

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-10499-3

www.siedler-verlag.de

Gewidmet meinem Vater,
1933 von der Gestapo zu Tode gefoltert

Inhalt

Schatten der Kindheit

Familiengeschichten

Aufwachsen unterm Hakenkreuz

So viel Anfang war nie

Von Berlin nach Bonn

Auf der Achterbahn des Lebens

Privates und berufliches Glück

»Bonn vertraulich«

Heimkehr nach Berlin

Der Kreis schließt sich

Dank

Personenregister

Schatten der Kindheit

Das Unheil kommt in der Nacht

Maini schläft in seinem Kinderbett. Maini, das bin ich. Sechs Jahre alt. Mit allen Vornamen heiße ich Mainhardt Maria Stani Julius-Cäsar Eduard Franciscus Hubertus. Aber mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und alle Freunde auf dem Spielplatz nennen mich nur Maini. Ich träume von der Schule, in die ich bald komme.

Plötzlich werde ich aus dem Schlaf gerissen. Es ist zehn Uhr abends. Aus der Diele unserer Wohnung in der Berliner Stierstraße dringt ohrenbetäubender Lärm. Gegenstände fallen krachend zu Boden. Zwischen lautem Klopfen brüllt jemand: »Aufmachen! Sofort aufmachen!« Ich höre Mamas Stimme: »Hilfe, Hilfe! Lassen Sie das!« Dann ein Riesenknall. Sekunden später wird die Tür zum Kinderzimmer aufgestoßen, Männer in dunklen Uniformen stürmen herein, knipsen das Licht an. Einer schreit: »Wo ist das Schwein!?«, reißt meine Bettdecke weg, wirft sie zu Boden, schaut unters Bett. Auch bei meinem kleinen Bruder Engelbert, »Engelchen« nennen wir ihn. Er fängt laut an zu weinen. Wir beide verstehen nicht, was vor sich geht.

Es ist Dienstag, der 7. März 1933.

Ich sehe durch die offene Tür, wie die fremden Männer ins Wohnzimmer stürmen, Schrank und Kommode aufreißen, in Papieren wühlen, Sachen in einen Sack stopfen. Dies und das fällt zu Boden. Manches heben sie auf, anderes lassen sie liegen, trampeln darauf herum. Meine Mutter ist ebenfalls ins Wohnzimmer geeilt, sie ruft wiederholt mit heller Stimme: »Was wollen Sie?« Einer faucht sie an: »Schnauze halten!« Ein anderer brüllt: »Wir suchen Ihren Mann! Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht. Er ist verreist, schon länger unterwegs.«

»Besser, Sie sagen jetzt, wo er ist«, schreit der Mann. Sein Gesicht ist vor Erregung gerötet. »Keine Sorge, wir kriegen das Schwein. Und dann hat er nichts zu lachen.«

Am linken Arm ihrer Uniformjacken tragen die Eindringlinge eine Armbinde mit Hakenkreuz. Vorn an ihrer Schirmmütze, die durch einen Riemen am Kinn festgehalten wird, prangt ein silberner Totenkopf. Es sind sieben, vielleicht acht SS-Männer, wie mir meine Mutter später erklärt, als der Trupp nach einer halben Stunde wieder verschwunden ist.

»Was sind SS-Männer?«, frage ich.

»Das verstehst du nicht.«

»Wieso?«

»Weil du zu klein bist.«

»Ich bin nicht klein, Engelbert ist klein.«

»Hör auf zu nerven.«

Tränen rinnen über ihr Gesicht. Ich folge ihr in die Diele, traue meinen Augen nicht. Die schwere Wohnungstür hängt schief im Türrahmen, droht umzukippen. An einer Seite ist der Rahmen aus dem Mauerwerk herausgerissen und nur noch über das Schloss mit der Tür verbunden. Die Männer hatten sich zwischen Rahmen und Mauerwerk durchgequetscht. Am Boden überall Schutt und weißer Staub. Engelchen heult noch immer. Meine Mutter drückt ihn an sich, um ihn zu beruhigen. Er schluchzt, verschluckt sich, hustet. Sie bringt uns schließlich ins Bett. Es ist Mitternacht, bis wir einschlafen.

Vorher denke ich: Warum schimpfen sie meinen Papa ein Schwein? Meinen geliebten Vater, auf den ich so stolz bin. Wenn wir in Berlin Schiffsausflüge machten, ergatterte er für uns immer die besten Plätze – hinten auf dem Freiluftdeck, genau in der Mitte. In meinem Kinderbett sehe ich ihn in Gedanken vor mir: Er trägt einen hellen Strohhut mit breiter Krempe und schwarzem Rundumband – eine »Kreissäge« nennen das die Großen. Ich selbst habe einen weißen Matrosenanzug an, mit Seemannsknoten und schwarz-weiß gestreiftem Marinekragen. Gewiss, Papa kann auch streng sein. Vor allem wenn er mittags ein Schläfchen hält und ich im selben Zimmer mit ihm schlafen soll. Ich bin ein zartes Kind, hatte Rachitis, der Kinderarzt warnte vor möglichem »Krüppeltum«. Aber ich kann mittags nicht schlafen, bin unruhig, wälze mich, was wiederum meinen Vater stört. Dann muss ich mich zur Strafe in die Zimmerecke stellen und heule. Meine Tränen hinterlassen feuchte Kleckse an der geblümten Tapete. Einmal verpasste mir Papa dafür eine Ohrfeige.

Familie Nayhauß, vorn die Brüder Engelbert (li.) und Mainhardt, um 1932

Anderntags, man schreibt den 8. März 1933, erstattet Gräfin Nayhauß Anzeige. Der zuständige Polizeibeamte auf dem örtlichen Revier begrüßt sie mit »Heil Hitler«. Mutter bleibt bei »Guten Tag«.

»Ich möchte Anzeige erstatten.«

»Gegen wen?«

»Gegen SS-Männer, die letzte Nacht in unsere Wohnung in der Stierstraße 4 eindrangen.«

Mutter bemerkt ein Zucken im Gesicht des Polizisten. Ist ihm die Anzeige unangenehm? Befürchtet er Scherereien mit seinen Vorgesetzten? Dann sagt er: »Das kommt in letzter Zeit leider öfter vor. Nicht nur SS-Leute sind da zugange, auch SA.« Er schiebt ihr ein Formular über den Tisch. »Füllen Sie das bitte aus.«

An der Wand der mit dunklem Holz eingerichteten Polizeistube hängt ein Porträt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der hat etwa sechs Wochen zuvor, am 30. Januar, Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, den Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 5. März bestimmt.

Inzwischen geschehen aufregende Dinge: Das Reichstagsgebäude im Berliner Tiergarten fängt durch Brandstiftung Feuer. Der Berlin-Korrespondent des britischen Massenblattes »Daily Express«, Sefton Delmer, steht gerade am brennenden Reichstag, als der alarmierte Hitler dort eintrifft. »Er hatte seinen weichen schwarzen Künstlerhut tief ins Gesicht gezogen«, schreibt Delmer später. »Die Schöße seines Trenchcoats flatterten, als er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe des Portals Nummer II hinauf stürmte. Hinter ihm Goebbels und die Männer der Leibwache.«

Delmer, für den Chef der Leibwache, Sepp Dietrich, kein Unbekannter, fragt, ob er mit durch die Polizeiabsperrung dürfe. »Schlängeln Sie sich mit durch«, antwortet dieser. Delmer ist der einzige Journalist vor Ort.

Auch Hitler kennt Delmer. Beim Rundgang durch das teilweise noch brennende Gebäude wendet sich der »Führer« an den Engländer: »Gott gebe, dass dies das Werk der Kommunisten ist. Sie erleben jetzt den Beginn einer neuen großen Epoche in der deutschen Geschichte, Herr Delmer. Dieser Brand ist der Auftakt dazu.«

Delmer gibt später seine Story mit den Hitler-Zitaten an die Londoner Redaktion durch, glaubt an den Scoop seines Lebens. Er bekommt indes von der Zentrale die Antwort: »Wir wollen nicht diesen politischen Kram. Wir brauchen mehr über den Brand.« Die Dämlichkeit in Redaktionen ist bisweilen grenzenlos.

Von all dem ahnt der sechsjährige Maini natürlich nichts. Drei Jahrzehnte später – inzwischen selber Journalist – lernt er den englischen Reporter in Bonn kennen, ist Gast auf dessen »Valley Farm« in Suffolk, England, und arrangiert eine deutsche Ausgabe der Delmer-Memoiren mit dem Titel »Die Deutschen und ich«. Ein erstes Exemplar, das Delmer ihm zum Dank vermacht, trägt die Widmung: »For Mainhardt who is the godfather of this German edition. I hope he has as much fun in the reading of it, as I had in the writing.« Schicksalskreuzungen.

Nach dem Reichstagsbrand, Ende Februar 1933, erlässt Reichspräsident von Hindenburg eine Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat«. Wichtige Grundrechte werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt, über hunderttausend Regimegegner in der Folge verhaftet, mehrheitlich Kommunisten, aber auch andere. Die SA und die SS üben Terror aus, dringen in Wohnungen ein, stecken politische Gegner in ad hoc errichtete Isolierungslager. Das ist die politische Lage in Berlin, als am Abend des 7. März die Wohnung des Grafen Nayhauß überfallen wird.

Sein »Verbrechen«? Mit eigenem Geld hatte er im Jahr zuvor insgesamt 60000 Exemplare einer selbstverfassten Anti-Nazi-Broschüre drucken lassen, die er nun auf Vortragsreisen unters Volk bringt. Sie trägt den Titel »Führer des Dritten Reichs!« Darin sind auf eng bedruckten Seiten die Straftaten wichtiger Nationalsozialisten aufgelistet: Meineide, Betrügereien, Urkundenfälschungen, Unterschlagungen und viele andere Entgleisungen, zum Beispiel: »Georg Berressen, führender Nationalsozialist in Koblenz, vierzehn Tage Gefängnis wegen Friedhofsschändung – hatte zwischen den Gräbern mit Mädchen Geschlechtsverkehr getrieben.«

Von Vater Stanislaus unter Decknamen verfasste Anti-Nazi-Broschüre, 1932

Wegen dieser Broschüre wird nach Graf Nayhauß gefahndet. Der aber setzt seine Vortragsreisen ungerührt fort. Das ist tollkühn. Oder leichtsinnig, wie man will. Andererseits macht er nur von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Mittelfristig plant er, mit Frau und beiden Kindern über die Tschechoslowakei in die USA auszuwandern. Nur ein Visum fehlt noch.

»Wenn Sie mit dem Ausfüllen der Anzeige fertig sind, unterschreiben Sie bitte noch hier«, sagt der Polizeibeamte auf dem Revier. »Haben Sie auch die Gegenstände aufgelistet, die bei dem Überfall entwendet wurden?«, fährt er fort. »Wir werden zur Beobachtung gelegentlich Streifen in die Stierstraße schicken.« Will er nur vertrösten, oder hat der Mann keine Ahnung?

Denn der preußische Innenminister Hermann Göring hat die Polizei bereits angewiesen, Übergriffe von SS und SA nicht zu verfolgen, geschweige denn, dagegen einzuschreiten. Noch zwei Mal dringen Rollkommandos in die Wohnung des Grafen Nayhauß ein – auf der Suche nach dem »Volksfeind«. Erfolglos. Aber nichts geht ohne deutsche Bürokratie. Nach dem ersten Überfall erhält Gräfin Nayhauß von der Polizei eine Bescheinigung über die Beschlagnahme von 1550 Exemplaren der Broschüre »Führer des Dritten Reichs!«. Verräterisches Indiz, dass SS und Polizei zusammenarbeiten.

Am Volkstrauertag, dem 12. März 1933, schreibt Graf Nayhauß von unterwegs: »Mein liebes Erichen« – so nennt er zärtlich seine Frau Erika –, »eine ständige Seelenanspannung nimmt einen mit. Dazu das ständige Gefühl, jetzt kommen sie und holen dich! Du hast ja auch Furchtbares mitgemacht (...). Sag mal, haben die Strolche auch die Pfandscheine mitgenommen, das Grafendiplom, meine Zeitungen mit Berichten über das Buch und meine Vorträge? Was blieb denn in Schrank und Schreibtisch zurück?«

Dann, als begreife er das ganze Ausmaß des Unrechtssystems nicht: »Wir wollen ihnen einen schönen Schadensersatzprozess anhängen. Halte den Kopf hoch und sorge Dich nicht zu sehr um mich. Ich werde mich schon gut verstecken und durchschlagen. Und Geld verdienen, damit ich für Euch sorgen kann.«

Was er nicht ahnt: Er hat nur noch vier Monate zu leben.

Ein grausamer Fund

Der Schwimmer an der Rute des Anglers bewegt sich nicht. Es ist ein heißer Tag im Sommer 1933, der 20. Juli. Der Mann, der sich zum Angeln an den Bammelloch-Teich an der Chausseekreuzung im oberschlesischen Löwen-Falkenberg gesetzt hat, döst vor sich hin. Plötzlich stutzt er: Knapp unter der Wasseroberfläche – der Pegel ist wegen der großen Hitze stark gesunken – sieht er die Konturen eines menschlichen Körpers. Der Angler alarmiert die Polizei.

Kurz darauf vermelden die »Breslauer Neuesten Nachrichten«: »Die Leiche ist unkenntlich, da sie etwa acht bis vierzehn Tage im Wasser gelegen hat. Sie war an Händen und Füßen mit einem zwei Millimeter starken Draht gefesselt und mit einem 96 Pfund schweren Stein beschwert. Der Tote war bekleidet, jedoch fehlten die Schuhe. Es besteht die Möglichkeit, dass der Mann gefesselt lebendig ins Wasser geworfen worden ist, was jedoch bisher nicht einwandfrei festgestellt werden konnte. Zweckdienliche Angaben erbittet die Kriminalpolizei Breslau, fünftes Kommissariat.«

Die »zweckdienlichen Angaben« bleiben aus. Wer etwas weiß oder auch nur ahnt, schweigt vorsorglich. Aber die ermittelnden Polizisten geben nicht auf und lassen sich etwas Besonderes einfallen.

Am 27. August 1933 erscheint in der »Zahnärztlichen Mitteilung«, der Verbandszeitschrift der Zahnärzte in Deutschland, auf den Seiten 962 und 963 ein polizeilicher Aufruf zur Identifizierung einer Leiche. Nach Nennung des Fundortes folgt eine Beschreibung des Toten: »1,71 Meter groß, beleibt, 40–50 Jahre alt, anscheinend blondes oder graumeliertes Haar, glatt rasiert, volles rundes Gesicht, hohe Stirn, gradlinige, dicke Nase, großer Mund, wulstige Lippen, gepflegte Hände, kleine Füße, Zähne lückenhaft, teilweise Goldkronen, im Unterkiefer ein Ersatzstück aus Kautschuk, die beiden oberen linken Schneidezähne und der Eckzahn durch eine Ligatur mit Draht verbunden (…). Nach fachärztlichem Gutachten hat der Tote vor nicht langer Zeit in zahnärztlicher Behandlung gestanden. Zahnschema nachstehend.

Zur Aufklärung dieses schweren Verbrechens ist zunächst die Feststellung der Persönlichkeit des unbekannten Toten unbedingt erforderlich, und eine Veröffentlichung in der Fachpresse dürfte bestimmt zum Erfolg führen. Nachrichten werden erbeten an die Staatsanwaltschaft in Brieg zum Aktenzeichen 3 J 658/33 und an die Landeskriminalpolizeistelle in Gleiwitz, Oberschlesien.«

Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung hat Mutter schon seit Wochen nichts mehr von ihrem Mann gehört. Sie weiß, er ist auf Vortragsreise. Üblicherweise schreibt er fast täglich. Aber die letzte Nachricht kam vor gut zwei Monaten aus Breslau, datiert vom 25. Juni: »(…) und dann wird man mich holen. Sie werden sich aber hüten, sowie man ihnen die Zähne zeigt.«

Mutter wird von Tag zu Tag unruhiger. Sie schläft schlecht, isst kaum. Ich frage: »Mutti, was ist? Warum bist du traurig?« Sie wischt sich mit einem Seidentüchlein die Tränen weg. »Nichts Besonderes, Mainerle. Geh spielen.«

Wenig später bringt der Briefträger eine Postkarte. Absender ist der Breslauer Polizeipräsident. Sie ist vom 14. Juli 1933 und enthält die Mitteilung, dass Vater am 26. Juni in »Schutzhaft« genommen und der Staatspolizeistelle in Oppeln übergeben worden sei. In »Schutzhaft«? Mutter versteht den Begriff nicht. Wer musste vor wem geschützt werden? Ihr Mann vor Menschen, die ihm Böses wollen? Oder mussten andere geschützt werden vor ihrem Mann? Sie ahnt Schlimmes, sucht Rat und Trost bei ihrer Mutter, Schwester Nora und ihrer französischen Freundin Mary Knief, die um die Ecke wohnt.

Ende August nimmt das Unheil seinen Lauf. Der Berliner Zahnarzt Dr. Handschuck liest in der Fachzeitschrift seiner Berufsorganisation den Polizeiaufruf zur Identifizierung einer Leiche und erkennt in der abgedruckten Zeichnung zweifelsfrei das Gebiss eines seiner Patienten: des Königlich-Preußischen Rittmeisters a.D. Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, wohnhaft Berlin-Friedenau, Stierstraße 4. Er benachrichtigt Mutter. Sie trifft die Nachricht wie ein Keulenschlag. Ihre Gedanken überschlagen sich: Mein geliebter Stani tot? Wer hat ihm das angetan? Was soll ich jetzt bloß machen? Wie sag ich es Mainhardt und Engelbert? Wovon sollen wir jetzt leben? Die September-Miete für die Wohnung ist fällig. Sie kann keinen klaren Gedanken fassen.

Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, 1928

Als sie schließlich zur Ruhe kommt, setzt sie sich noch am selben Tag mit dem Berliner Polizeipräsidium in Verbindung und gibt die Feststellung des Zahnarztes weiter: »Die Leiche ist mit an Bestimmtheit grenzender Wahrscheinlichkeit mein Mann.«

Der Beamte erklärt ihr, man werde erst einmal per Funkspruch die Landeskriminalpolizeistelle in Gleiwitz benachrichtigen. »Sie hören von uns.« Parallel geht ein Funkspruch an die Polizei im oberschlesischen Oppeln, wo sich Graf Nayhauß angeblich in »Schutzhaft« befand. Täglich ruft Mutter im Polizeipräsidium an, ohne etwas Neues zu erfahren. Die Ungewissheit über das Schicksal ihres Mannes ist fast unerträglich. Am 1. September lässt man sie schließlich wissen, dass sich die Gestapo, die Geheime Staatspolizei, eingeschaltet und dem Berliner Polizeipräsidium untersagt habe, weiter in der Sache des Grafen Nayhauß zu recherchieren und jedwede Auskunft zu geben. Aber Mutter ist eine mutige Frau und wagt sich in die Höhle des Löwen – ins Gestapo-Hauptquartier, das Geheime Staatspolizeiamt in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Ihr Herz schlägt heftig, als sie das Gebäude betritt. Doch ihre Furcht ist unbegründet. Die Herren des Schreckens sind eher überrumpelt, reagieren wie Beamte, lassen die »dreiste Person« einfach auflaufen, erklären sich für »nicht zuständig«. Mutter lässt sich aber nicht so einfach abweisen. Sie wird wiederholt vorstellig, fragt penetrant nach. Und zeigt den Herren die bewusste Karte mit der polizeilichen Mitteilung.

Im November 1933 beendet die Gestapo das Katz-und-Maus-Spiel und bestätigt die Mordtat an Vater, verbindet das Eingeständnis jedoch mit der strikten Auflage, unter allen Umständen gegenüber jedermann, auch den eigenen Kindern, zu schweigen: »Sonst bist du dran!« Man verweigert die Herausgabe der Leiche und der persönlichen Gegenstände, die Vater bei sich hatte. Es wird auch keine Sterbeurkunde ausgestellt und keine finanzielle Entschädigung gewährt. Aber Mutter gibt nicht auf. Mit Datum vom 28. Mai 1934 schreibt sie an keinen Geringeren als Adolf Hitler, an den »Herrn Reichskanzler«, wie er inzwischen offiziell anzusprechen ist. Und: Sie droht ihm, die Ermordung ihres Mannes durch die NS-Schergen publik zu machen. Welch kühne Tat, die nur mit der verzweifelten Lage eines Menschen zu erklären ist, der plötzlich ohne einen Pfennig dasteht:

»Meine Schreiben vom 6. September, 14. September, 5. Oktober und 24. Oktober, sämtlich unter ›Einschreiben‹ an den Herrn Justizminister gesandt, blieben wider alle Erwartungen bis heute trotz der außerordentlichen Wichtigkeit der Angelegenheit – nicht allein für mich – unbeantwortet. Die Schreiben wurden aber auch von anderer behördlicher Stelle nicht erledigt. Ich wäre daher gezwungen, die Angelegenheit zum Gegenstand einer öffentlichen Klage zu machen. Deshalb wende ich mich zunächst noch an Sie, sehr geehrter Herr Reichskanzler, mit der Bitte um Ihr gütiges Eingreifen und Ihre Entscheidung gemäß meiner am Schlusse dieses Briefes gestellten Anträge.

Wie unsagbar schwer mir das Leben gemacht ist, können Sie sich, sehr geehrter Herr Reichskanzler, gar nicht vorstellen. Welch unglaublich schwere Nervenkrise ich durchzumachen hatte und heute noch schwer gesundheitlich zu leiden habe, seit ich die von der Staatsanwaltschaft nach der Auffindung der Leiche aufgenommenen Bilder gesehen habe. Es ist ein wahrhaft grauenvolles Bild, welches Schrecken und Qualen verrät; und wenn ich dann die ausführlichen Berichte in den verschiedenen Tageszeitungen lesen musste – der Staatsanwalt glaubte ja anfänglich an einen Raubmord –, nach welchen der Tote, lebendig und bei Bewusstsein gefesselt, ins Wasser geworfen sein müsse, dann war ich am Ende meiner Kraft und empfinde die Schwere erst recht durch die wirtschaftliche Notlage, die durch den Tod meines Mannes an die Stelle einer sorglosen Zukunft getreten ist.

Ich fühle mich als deutsche Frau, Tochter des ehem. Königlichen Preußischen Majors von Mosengeil und Ehefrau eines ehem. Königlich Preußischen Rittmeisters im nationalsozialistischen Staate rechtlos, weil man mich [die nächsten drei Worte unterstreicht sie] ohne jede Begründung einfach rechtlos gemacht hat. An Stelle dessen verlangt man von mir ein ungeheuerliches absolutes Schweigen, welches naturgemäß mit der Zeit zermürbt, nachdem durch diesen Mord mir der Mann, meinen Kindern der Vater und der Familie der Ernährer genommen worden ist!

Das sind Zustände, sehr geehrter Herr Reichskanzler, die Ihnen bestimmt unbekannt geblieben sind und von Ihnen niemals gutgeheißen werden würden. Ich bitte deshalb gehorsamst, anzuordnen:

1.) Dass mir ein auf den Namen meines Mannes, dem Rittmeister a.D. Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, ausgestellter Totenschein ausgehändigt wird;

2.) Dass mir das Gepäck, Kleiderstücke und Wertsachen, die mein Mann bei seiner Inhaftierung im Besitz gehabt hat, umgehend ausgeliefert werden;

3.) Dass die sterblichen Überreste meines Mannes von dem Stroschwitzer Friedhof aus dem Grab des ›Unbekannten Toten‹ an einen von mir noch näher zu bestimmenden Ort auf Staatskosten überführt werden und dass ich bei der Überführung mit einem Begleiter zugegen bin und mir wegen meiner Mittellosigkeit freie Hin- und Rückfahrt – das Gleiche für meinen Begleiter – gewährt werden, und

4.) Dass mein Schadensersatzanspruch, den ich auf Verlangen gern näher präzisiere, anerkannt wird.«

Dann schlägt Mutter, als sei sie Herrin des Verfahrens, sogar einen Tauschhandel vor: »Dabei verzichte ich aus Gründen der Staatssicherheit auf eine Aufklärung des Falles bzw. auf weitere Ermittlungen, die die Mordtat selbst, Täter und Mittäter betreffen.«

Als sie den Brief abgeschickt hat, schwindet ihr Mut, Angst beschleicht sie, lässt sie in der Nacht nicht schlafen. Was, wenn auch sie abgeholt und in »Schutzhaft« genommen wird? Wenn man sie foltert, fesselt und in einem schmutzigen Tümpel versenkt? Maini und Engelchen dann gänzlich ohne Eltern?

Hitlers willige Bürokraten

In Deutschland herrschen Willkür und Terror. Menschen verschwinden, Bücher werden öffentlich verbrannt, jüdische Geschäfte geplündert, auf den Straßen Berlins fallen des Nachts Schüsse. Aber in den Amtsstuben geht alles weiter seinen bürokratischen Gang.

So schreibt am 25. Juni 1934 der Reichsminister der Justiz, Dr. Gürtner, an Hitler: »Der Herr Stellvertreter des Reichskanzlers hat mir die Angelegenheit der Gräfin von Nayhauß-Cormons vom 28. Mai 1934, die ihm übergeben worden ist, mit dem Anheimstellen zugeleitet, sie dem Herrn Reichskanzler vorzulegen. Ich entspreche diesem Ersuchen und beehre mich gleichzeitig mitzuteilen, dass der Vorgang im Reichsjustizministerium bisher nicht bekannt war. Ich werde mich über die Sachlage unterrichten.« Parallel wird der Vorgang dem Herrn Reichsminister des Inneren »ergebenst übersandt«.

Der Vorgang im »Reichsjustizministerium nicht bekannt«? Eine eiskalte Lüge. Bereits im vorausgegangenen Herbst hatte Mutter den Reichsjustizminister per Einschreiben um Aufklärung des Mordes an Vater gebeten, »der geeignet ist, das Ansehen der in Frage kommenden Behörden zu schädigen«.

Es wird gelogen und vertuscht, Zuständigkeiten werden hin- und hergeschoben. Derweil steht unserer Familie finanziell das Wasser bis zum Hals. Nach Vaters Verschwinden muss die Wohnung in der Stierstraße aufgegeben werden. Wir ziehen im August 1933 in den am südlichen Rand Berlins gelegenen Ortsteil Britz um, genauer in die Miningstraße 58. Dort wohnen wir in einem Reihenhaus – Teil der Jahrzehnte später zum Weltkulturerbe erklärten Hufeisensiedlung –, zusammen mit der Großmutter mütterlicherseits, von deren Offizierspension wir leben, und Mutters älterer Schwester, »Tante Ilse«. Bruder Engelbert und ich wachsen also in einem Dreifrauenhaushalt auf.

Mutter gibt den Kampf mit den Behörden nicht auf. Sie wartet immer noch auf eine Antwort Hitlers auf ihren Brief. Schließlich erhält sie nach sechs Monaten vom »Reichs- und Preußischen Justizministerium« per 24. November 1934 ein Schreiben. Trocken und mitleidlos wird festgestellt:

»Das Verfahren betreffend das Ableben ihres Ehemannes ist auf Grund des Erlasses des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten vom 22. Juli 1933 (JMBl. S.235) in Verbindung mit der Allgemeinen Verfügung vom 25. Juli 1933 (JMBl. S.236) betreffend Gnadenerweise aus Anlass der Beendigung der nationalsozialistischen Revolution durch Erlass vom 21. September 1933 niedergeschlagen worden. Sie sind auf Ihre Eingaben vom 6. September, 14. September, 5. Oktober und 24. Oktober 1933 am 27. Oktober 1933 von dem Staatsanwaltschaftsrat Dr. Conrady im Geheimen Staatspolizeiamt Berlin SW.11, Prinz Albrechtstraße 8, eingehend mündlich beschieden worden.

Hinsichtlich der von Ihnen beantragten ordnungsgemäßen Sterbeurkunde nehme ich auf mein Schreiben vom 23. Juli 1934 Bezug.

Im Auftrage. Gez. Von Haacke«

Für Mutter ist es wie ein Albtraum: Die Mörder ihres Mannes werden »wegen Beendigung der nationalsozialistischen Revolution« freigesprochen? Wie Tausende anderer NS-Opfer bekommt sie unerbittlich ihre Rechtlosigkeit zu spüren. Aber sie gibt nicht auf, sucht juristischen Beistand, den Berliner Rechtsanwalt und Notar Max Becker. Doch auch dessen Eingaben bleiben ohne Erfolg. Am 9. März 1935 wird Anwalt Becker von Hitlers Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, brieflich abgespeist:

»1. Die Aushändigung einer Sterbeurkunde für den verstorbenen Grafen von Nayhauß-Cormons konnte nach Mitteilung des Herrn Reichs- und Preußischen Justizministers nicht erfolgen, weil die Gräfin Nayhauß dem für die Berichtigung der Eintragung im Sterberegister zuständigen Amtsgericht in Löwen keine Geburtsurkunde des Verstorbenen eingereicht hatte. Gräfin Nayhauß wurde von dem Herrn Justizminister mit Schreiben vom 23. Juli 1934 zur Vorlage einer Geburtsurkunde erneut aufgefordert. Es darf angenommen werden, dass dieser Punkt hierauf seine Erledigung gefunden hat.

2. Die Bekleidungsstücke und Wertsachen des Verstorbenen sind nach Mitteilung des Herrn Reichs- und Preußischen Justizminister der Gräfin Nayhauß am 19. Februar 1934 vom Geheimen Staatspolizeiamt zugesandt worden.

3. Dem Antrage, die sterblichen Überreste des Grafen Nayhauß auf Staatskosten nach einem noch zu bestimmenden Ort zu überführen, vermag der Herrn Reichs- und Preußische Minister des Inneren in Anbetracht der gesamten Umstände des Falls nicht näher zu treten.

4. Ebenso glaubt der Herr Reichs- und Preußische Minister des Inneren, dem Antrag auf Gewährung einer Entschädigung für die Witwe des Grafen Nayhauß nicht entsprechen zu können. Es muss danach der Entscheidung der Gräfin Nayhauß überlassen bleiben, ob sie wegen Ziff. 2 und 4 ihres Antrages den Weg der gerichtlichen Klage beschreiten will.

Heil Hitler!

Dr. Lammers«

Mein Leben als Halbwaise

Wir leben nun schon seit einiger Zeit in Berlin-Britz. Vater war noch auf einem Schloss im schlesischen Nieder-Baumgarten geboren, Großvater dort einst Herr über mehrere Rittergüter, zudem Reichstagsabgeordneter und langjähriges Mitglied des Preußischen Landtags für die Zentrumspartei – und die Nachfahren sind nun Bewohner einer Reihenhaus-Siedlung, die vorwiegend von Angestellten, Beamten und Handwerkern bewohnt ist. Auch die spätere Chefsekretärin Helmut Schmidts, Liselotte Schmarsow, wächst in diesem Viertel auf. Hier, nach Einzug in das Reihenhaus, erfahren mein Bruder und ich vom Tod unseres Vaters. Es ist ein warmer Sommertag. Wir spielen in einer Sandkiste im kleinen Garten hinter dem Haus. Mutter ruft aus dem Fenster: »Maini, Engelchen! Kommt mal rein. Ich hab euch was zu sagen.«

Ihre Stimme klingt gebrochen, uns Kindern fällt das nicht auf. Aber als wir ins Zimmer treten, sehen wir Tränen in ihrem Gesicht.

»Mutti, warum weinst du?«, frage ich zaghaft.

»Der Papa ist tot!«

Nach ein paar Schrecksekunden fangen auch wir an zu weinen. Mutter zieht uns beide auf das geblümte Sofa, auf dem sie sitzt. Jeden auf eine Seite. Unsere Köpfe drückt sie an ihre Brust. »Warum ist Papa tot?«, frage ich. Engelbert schreit: »Ja, warum?«

»Das erzähl ich euch später mal. Nicht jetzt.«

»Warum später?«

»Auch das sage ich euch später. Er ist jetzt im Himmel.« Sie hat Mühe, sich zu beherrschen. »Geht jetzt wieder in den Garten«, sagt sie und schiebt uns sanft, aber bestimmt vom Sofa. In der Buddelkiste haben wir uns eine Autorennbahn gebaut, spielen mit kleinen, hölzernen Rennwagen weiter um die Wette. »Du bist dran«, sage ich zu Engelbert. Er mimt Bernd Rosemeyer auf Auto-Union, ich Rudolf Caracciola, Mercedes, die damals populärsten Rennfahrer. Vaters Tod ist schnell verdrängt.

Ich erlebe, obwohl Halbwaise, in Britz eine glückliche, wilde Kindheit. Rechts neben unserem Haus stehen zwei riesige Pappeln, die ich zum Entsetzen meiner Mutter immer wieder bis zur Spitze hochklettere. Im nahe gelegenen Teltow-Kanal bringe ich mir das Schwimmen bei. Vorbeigleitenden Berufsschiffern, die mich mit drohendem Zeigefinger vor der Strömung warnen, strecke ich die Zunge raus. Ich schließe mich einer Clique an. Respekt verschaffe ich mir auf dreiste Weise. Als mich eines Tages der Älteste – wir nennen ihn nur »Langer« – zum wiederholten Mal auffordert, mich zum Gaudi der Gruppe mit einem stärkeren Jungen zu prügeln, verweigere ich mich. Darauf herrscht er mich an: »Maini, entweder du machst, was ich dir sage, oder du kriegst von mir eine gescheuert!«

Da ziehe ich aus der Tasche meiner kurzen Hose einen mit Platzpatronen geladenen Trommelrevolver (weiß der Teufel, wie ich an den herangekommen bin), ziele aus etwa einem Meter Entfernung auf sein Gesicht und drücke ab. Seine Augen sind weit aufgerissen, Nase und Stirn vom Feuerstrahl der Platzpatrone kohlrabenschwarz. Ich renne fort, so schnell ich kann. Mein Herz schlägt wild. Mich nur nicht vom Langen erwischen lassen. Danach traue mich für Tage nicht auf die Straße – bis mein Freund »Schnelli« kommt: »Kannst ruhig wieder zu uns kommen. Der Lange tut dir nichts. Der hat jetzt Schiss vor dir.«

Eine Lektion fürs Leben: sich nicht alles gefallen lassen. Aber der erste Schlag muss sitzen.

In der Clique treiben wir uns herum – schaufeln Nachbarn Pferdeäpfel durch die Briefschlitze der Wohnungstür, legen Pflastersteine auf die Schienen der Straßenbahn, damit es knirscht und knallt, fahren mit der Straßenbahn, ohne zu bezahlen, nach Neukölln ins Kaufhaus, klauen Spielsachen und Süßigkeiten. Im Winter sind wir friedfertig, laufen im benachbarten Ortsteil Buckow abends auf einem beleuchteten Teich Schlittschuh, singen zu einem Schlager, der aus Lautsprechern dröhnt: »Wenn ich die blonde Inge abends nach Hause bringe«.

Als ein Zirkus mit Löwen, Bären, Kamelen, Dompteur und Kapelle in Britz gastiert – »Volkspreise: Erwachsene ab 40 Pfennige, Kinder ab 25 Pfennige aufwärts« –, sitzt meine Mutter in der ersten Reihe und fällt bei Vorstellungsbeginn fast vom Stuhl: Ihr Maini zieht gleich zu Anfang und dann vor jedem Akt den Vorhang auf und später wieder zu.

Zu Hause ist das Geld knapp, Fleisch gibt es allenfalls sonntags. Das Fahrrad, das ich mir zu Weihnachten wünsche, ist ein gebrauchtes Erwachsenenrad. Viel zu groß für mich. Prompt erradle ich mir einen wunden Hintern.

Die ständigen Geldsorgen veranlassen Mutter, sich mit der Ablehnung einer Entschädigung für den Mord an Vater nicht zufriedenzugeben. Sie zieht vor das Berliner Landgericht und strengt ein Armenrechtsverfahren an. Zwangsläufig muss sie den Mord an ihrem Mann durch die Gestapo offenlegen, obwohl sie zum Stillschweigen verpflichtet ist – »sonst bist du dran«. Da durch die Hartnäckigkeit meiner Mutter aber mittlerweile viele Beamte – im Reichskanzleramt, im Innen- wie Justizministerium, im Berliner Polizeipräsidium, im Büro des Reichspräsidenten – mit dem »Fall Nayhauß« befasst sind, wäre es ein Risiko, nun auch die Gräfin Nayhauß wie ihren Mann sang- und klanglos verschwinden zu lassen. Stattdessen beschließt man, den Fall aus der Welt zu schaffen. So ergeht am 4. Dezember 1936 vom Reichs- und Preußischen Minister des Inneren an den Polizeipräsidenten in Berlin mit den Vermerken »Sofort« und »Geheim« folgende Anweisung:

»Der Gräfin Erika von Nayhauß-Cormons und ihren beiden Kindern wird anlässlich des Ablebens ihres Ehemannes bezw. Vaters aus Billigkeitsgründen vom 1. Dezember 1936 an eine monatliche Rente von 350 RM ›Dreihundertfünfzig RM‹ aus Reichsmitteln bewilligt. Von diesem Betrage stehen der Gräfin selbst 150 RM, ihren Kindern je 100 RM zu. Die Rente für die Gräfin wird lebenslänglich, die Renten für die Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt. […]. Ferner bewillige ich der Gräfin von Nayhauß-Cormons eine einmalige Entschädigung von 2500 RM ›Zweitausendfünfhundert RM‹ aus Reichsmitteln.«

In ihrer schönen, mit lila Tinte geschriebenen Schrift vermeldet sie einer Verwandten in Heidelberg:

»Mir wurde eine große Weihnachtsfreude zu Teil. Denkt Euch – mein schwerer Kampf ist nun zu Ende geführt und siegreich für mich. Was dies für mich bedeutet, wisst Ihr. Wenn der Sieg auch überaus wehmutsvoll ist – so muss ich glücklich sein über diesen Erfolg, nun die Zukunft meiner Kinder gesichert zu wissen, ebenso die meine. Auch hat es mir moralisch eine große Befriedigung gegeben und neues Vertrauen. Man hat sich sehr anständig gezeigt und mir damit den Beweis geben wollen, gut zu machen, was möglich ist. Das Andere ist unwiederbringlich und wird mich auch wie ein düsterer Schatten mein Leben begleiten.

Den Kindern geht es gottlob gut, und ich hoffe, es bricht für mich ein Jahr an, in welchem ich nun, erlöst von schweren Gedanken um das ›Wohl und Wehe‹ meiner Kinder nun mutig mit ihnen vorwärts streben kann. – Wahrscheinlich kommt Mainhardt nach Potsdam (Kadettenhaus). ›Mami‹ ist zu nachgiebig und schwach, und ich fürchte Nachteile für ihn [gemeint, wenn er bei seiner Mutter aufwächst]. Aber es ist zu schwer für mich, den endgültigen Entschluss zu fassen.«

Sie schreibt weiter: »Ich werde wohl nun bald von hier fortziehen – wieder in die Stadt. Britz liegt zu sehr ab und ist nichts für die Jungens auf die Dauer.«

Damit beginnt ein neuer Abschnitt ihres Lebens, das einst wohlbehütet begonnen hatte.