Andreas Schier
in Zusammenarbeit mit Rainer Schäfer
Horst Hrubesch
Die Biografie
Gütersloher Verlagshaus
Inhalt
Ein Gespräch mit Franz Beckenbauer
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Vorwort |
Günter Netzer |
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Prolog |
Der Held von Rom |
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Kapitel 1 |
Zechensiedlung |
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Kapitel 2 |
Dachdecker |
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Kapitel 3 |
Kopfballungeheuer |
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Kapitel 4 |
Manni Banane, ich Kopf – Tor |
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Kapitel 5 |
Die Nacht von Athen |
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Kapitel 6 |
... und dann kam der Papst |
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Kapitel 7 |
Verletzungen |
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Kapitel 8 |
Trainer? |
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Kapitel 9 |
Trainerkarussell |
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Kapitel 10 |
Fliegenfischer |
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Kapitel 11 |
Gescheitert? |
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Kapitel 12 |
Westernreiter |
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Kapitel 13 |
Die EM der Superstars |
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Kapitel 14 |
Jugend-Nationaltrainer |
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Kapitel 15 |
Der erste Trainertitel |
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Kapitel 16 |
Ganz oder gar nicht |
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Kapitel 17 |
Neuer, Khedira, Özil und Co. |
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Kapitel 18 |
Die Rumpftruppe |
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Kapitel 19 |
Olympia-Qualifikation |
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Kapitel 20 |
Typisch Horst |
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Nachwort |
von Horst Hrubesch |
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Danksagung |
von Andreas Schier |
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Lebenslauf |
von Horst Hrubesch |
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Namensregister |
der Wegbegleiter |
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Namensregister |
der im Buch erwähnten Jugendnationalspieler |
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Bildteil |
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
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1. Auflage
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Umschlagmotiv: © picture alliance / Foto Huebner
ISBN 978-3-641-17039-4
www.gtvh.de
Für Anouk
Ein Gespräch mit Franz Beckenbauer
»Ich verstehe nicht, warum der HSV nie darauf gekommen ist, Horst als Trainer zu verpflichten. Er ist eine HSV-Ikone, die Fans und alle anderen hätten nicht nur hinter der Mannschaft, sondern auch hinter ihrem Trainer gestanden!«, sagt der »Kaiser« gleich zu Beginn unseres Gesprächs. »Ich habe Horst ein paar Mal darauf angesprochen: Warum übernimmst du den HSV nicht? Und jedes Mal hat er geantwortet: Du, mich hat keiner gefragt.«
Wir sitzen in tiefen Ledersesseln des bei Salzburg gelegenen Hotels Friesacher. Er habe Horst Hrubesch so richtig kennengelernt, erzählt Franz Beckenbauer, als er mit ihm zwei Saisons beim HSV spielte: »Horst war im Ausdruck stark, man hat auf ihn gehört, weil er ein richtiger Kapitän war. Er hat sich für seine Mitspieler ebenso eingesetzt, wie er auf dem Fußballplatz gespielt hat: mit voller Hingabe.«
Horst Hrubesch nachzusagen, er sei kein guter Fußballer gewesen, sei Unsinn. Bei groß gewachsenen Spielern schaue es halt manchmal etwas ungelenk aus. Der Mittelstürmer Hrubesch sei zwar nicht der Beweglichste gewesen, weil er körperlich so wuchtig war. Aber so sei eben auch seine Spielweise gewesen: wuchtig!
»Der Ernstl«, kommt Franz Beckenbauer auf den legendären Ernst Happel zu sprechen, »war ein großartiger Trainer, aber nicht einfach, denn er redete kaum. Und nicht mit jedem. Mit Horst hat er geredet, den mochte er, weil er gemerkt hat: Das ist ein Geradliniger. Nicht nur als Spieler, sondern auch charakterlich.«
Offenbar hat Franz Beckenbauer Bilder aus den erfolgreichen Jahren beim HSV vor Augen, als er plötzlich mit lauterer Stimme sagt: »Horst hat mich mal für zehn Tage ins Krankenhaus geschickt!« Er rutscht auf die Sesselkante vor, die Gelassenheit ist verschwunden: »Ich weiß noch, es war der 31. März 1982. Wir spielten zu Hause unter Flutlicht gegen den VfB Stuttgart. Manni Kaltz trat eine Ecke von rechts. Ich bin nach vorne zum Strafraum. Hansi Müller stand neben mir, und ich witzelte noch: Pass auf, jetzt mach ich ein Kopfballtor!«
Franz Beckenbauer lief in Richtung erster Pfosten, der Ball kam rein, er sprang hoch wie noch nie in seinem Leben, wollte gerade den Kopfball machen – da bekam er einen Schlag und prallte gegen den Pfosten. Horst Hrubesch war, begleitet von seinem Gegenspieler Karl-Heinz Förster, der ihn hautnah deckte, mit angezogenen Knien gegen den gestreckten Körper des vermeintlichen Torschützen gesprungen. Trotz Schmerzen spielte Franz Beckenbauer weiter, wurde aber nach dem Spiel in die Klinik eingeliefert. Es war fast Mitternacht. Bei der Erinnerung lächelt er: »In der urologischen Abteilung wurde vorher angekündigt: ›Beckenbauer kommt zur Untersuchung‹. Aber das hat keiner ernst genommen, alle dachten: ein Aprilscherz.«
Doch von wegen ... Franz Beckenbauer litt, bis er endlich mit schmerzstillenden Mitteln versorgt war. Am nächsten Tag teilte ihm Professor Herbert Klosterhalfen, eine Kapazität in der Urologie, mit, er habe trotz großen Glücks einen Nierenriss und müsse mindestens zehn Tage im Krankenhaus bleiben.
Nun kamen nach und nach die HSV-Spieler zu Besuch, erzählt Franz Beckenbauer weiter, »auch eine Gruppe mit Hrubesch, Kaltz und Magath. Zu Horst sagte ich vorwurfsvoll: Langer, spinnst du? Wegen dir liege ich jetzt im Krankenhaus!« Er unterbricht kurz, weil er lachen muss: »Und was antwortet Horst? Er sagt ganz entrüstet: Was hätte ich denn machen sollen? Ich musste dich doch aus dem Weg räumen!«
Wieder lacht er und fügt dann mit Bewunderung in der Stimme hinzu: »So war er, der Horst Hrubesch! Noch heute begrüßen wir uns gerne mit einem Flachs. Ich gehe immer gleich in die Offensive und werfe ihm vor: Deinetwegen musste ich damals meine Karriere beenden! Und Horst kontert scheinbar ungerührt: Du hattest da vorne überhaupt nichts zu suchen!«
Die Verletzung ist unvergessen, aber schon lange vergeben, das wird überdeutlich. Noch einmal betont Franz Beckenbauer, dass er Horst Hrubesch immer wieder als Trainer empfohlen habe, weil er einfach von ihm überzeugt sei: »von Horsts klarem Konzept, seinem zuverlässigen Charakter und seiner starken Persönlichkeit«.
Der Fußball-Kaiser beendet das Gespräch mit der Bemerkung: »Horst ist einfach ein sympathischer Kerl. Ich freue mich immer, wenn ich ihn sehe.«
Vorwort
Günter Netzer
Im Februar 1978 wurde ich Manager beim HSV, obwohl ich eigentlich nur die Stadionzeitung übernehmen wollte. Sehr schnell wurde mir klar, dass ich drei ehemalige Nationalstürmer verkaufen musste. Als neuen Trainer verpflichtete ich den taktisch herausragenden Branko Zebec, der entsprechend seinem Naturell als Schachspieler für unbedingte Ordnung und Disziplin sorgte. Die neuen Spieler kamen alle aus der zweiten Liga. Zu ihnen gehörte Horst, der in dieser Saison den weiterhin stehenden Rekord von 42 Toren aufstellte. Aber als ich ihn bei einem Heimspiel gegen Uerdingen zum ersten Mal spielen sah, war ich entsetzt. Mann kann auch mal schlecht spielen, man kann einen miesen Tag haben. Aber da war nichts zu erkennen. Horst kam in diesem Spiel noch nicht einmal zum Kopfball.
Mir war entgangen, dass er für Essen in der Bundesliga 38 Tore in 48 Spielen gemacht hatte. Das hätte mir meine Entscheidung wesentlich erleichtert. So habe ich ihn verpflichtet, weil ich von ihm charakterlich überzeugt war. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so überzeugt war von seinen Fähigkeiten, überzeugt etwas zu tun, anzupacken. Das habe ich gespürt, selbst wenn er fußballerisch nicht so gut war, dass er etwas für die Gemeinschaft tun konnte, was einzigartig war. Horst, dieser Koloss von einem Mann mit dem ebenso kolossalen Herzen.
Dummerweise entschied sich Horst aufgrund des besseren Angebots gegen den HSV und für die Frankfurter Eintracht. Ganz seinem Charakter entsprechend sah er seine Vertragsunterschrift in dem Moment als nichtig an, als die Frankfurter sich nicht an die mündliche Absprache hielten, den Wechsel erst nach den Essener Relegationsspielen gegen Nürnberg bekannt zu geben. Rechtlich stand diese Absprache hinter der Unterschrift zurück, aber Horst sagte mir trotzdem mit größter Überzeugung: »Ich gehe nicht nach Frankfurt.« Daraufhin habe ich um ihn gekämpft wie um einen Weltstar. Vor dem eloquenten Frankfurter Trainer Dettmar Cramer habe ich Horst tagelang im Westerwald versteckt, bis die Eintracht ihn für ein Freundschaftsspiel mit einer Garantiesumme von 250 000 Mark ziehen ließ.
Branko Zebec war schlau und hat gesehen, dass Horst als Kopfballspieler einzigartig war. Er hat gleich damit begonnen, Manni Kaltz Flanken auf Horst schlagen zu lassen. Neun von zehn Kopfbällen landeten im Netz. Die beiden armen Kerle haben das so lange trainiert, bis Manni die Füße abfielen und Horst Beulen am Kopf hatte. Aber beschwert haben die beiden sich nie. Es hat sich auch gelohnt. In der Bundesliga sprach sich schnell herum, wie die beiden das immer nach dem gleichen Schema machten, aber etwas entgegenzusetzen hatte trotzdem niemand.
Horst hat eine Fähigkeit gehabt, alles zusammenzuhalten, Vorreiter zu sein, auf dem Platz ein Anker für alle anderen zu sein. Er hat Gott sei dank gleich ein großes Selbstvertrauen gehabt. Um ihn herum waren ja großartige Fußballspieler, sodass er sich sagen musste, dass die ein Vielfaches von ihm konnten. Aber das hat ihn nicht gestört. Er hat die Mannschaft geführt. Wenn etwas nicht gut lief, dann hat man gesehen, wie Horst mit der Mannschaft gearbeitet, angespornt und geschimpft hat. Das musste der Trainer gar nicht von draußen tun, das hat er übernommen. Das war unbezahlbar für den Geist der Mannschaft. Vielleicht war Horst mein größter Deal überhaupt.
Schon im ersten Jahr wurde Horst so etwas wie die Seele der Mannschaft. Er hat sich einfach gekümmert, um jeden einzelnen Spieler, um die Mannschaft und um die gute Laune. So furchterregend Horst auf dem Platz war, so rührend war er nach dem Abpfiff. Als er Franz ohne Schuld ins Krankenhaus gebracht hatte, war Horst untröstlich. Er wurde erst wieder fröhlich, als Franz genesen war.
Nach der Europameisterschaft 1980 hat der italienische Vizemeister und Pokalsieger Juventus Turin ganz verrückt um Horst geworben. Glücklicherweise hat der sich das Millionenangebot zwar interessiert angehört, aber es stellte sich schnell heraus, dass Horsts Kinder von einem Bodyguard zum Kindergarten gebracht werden müssten. Horst wollte aber, dass seine Kinder normal aufwachsen. Und ohne seine Familie nach Italien zu gehen, kam für ihn nicht infrage.
Ein Freund von Juves Besitzer Gianni Agnelli war dauernd bei uns, der hat zu mir gesagt: »Kommen Sie zu uns nach Turin. Alle werden zufrieden sein.« Das habe ich nicht gemacht, weil ich Horst unter keinen Umständen weggeben wollte. Das haben sie bei Juventus nicht verstanden. Drei Jahre später haben sie es verstanden, als wir sie im Finale des Europapokals der Landesmeister besiegt haben.
1983 wollte ich machen, was noch keinem gelungen ist: eine auslaufende Generation nahtlos ersetzen. Ich habe es der Mannschaft und ihrem Trainer Ernst Happel sehr verübelt, dass sie es nicht geschafft haben, Dieter Schatzschneider und Wolfram Wuttke unter Kontrolle zu bekommen. Der HSV war Deutscher Meister und Europalpokalsieger, und diese beiden kamen und wirbelten das ganze Gebilde durcheinander! Da hat Horst gefehlt. Mit ihm wäre das nie passiert!
Horst hatte in den Jahren im Namen der Mannschaft die Verhandlungen mit mir geführt. Sie verliefen in einer äußerst fairen Art. Wir haben uns erstklassig verstanden, gegenseitig akzeptiert und vertraut. Daran hat sich nie etwas geändert.
Er hat einen schönen, trockenen Humor. Wenn wir uns sprechen, beginnen wir mit einem Flachs. Horst beherrscht die Fußballersprache. Es macht unser Fußballerleben so interessant, dass wir uns sprachlich und rhetorisch keinen abbrechen müssen, sondern gleich auf den Punkt kommen können.
Es spricht für Horst, dass er Menschen als Freunde bezeichnet, die sich um seine Familie kümmern würden, wenn ihm etwas zustößt, und für die er dasselbe tun würde. Horst schätzt mich als seinen Freund ein, und damit liegt er richtig.
Ihn zu charakterisieren ist kein Mysterium. Das ist schon ein Riesenkompliment. Horst ist völlig authentisch, offen, ehrlich und direkt. Das sind alles Eigenschaften, die ich äußerst schätze und liebe. Bei ihm weiß man immer, woran man ist, und man kann sich auf ihn verlassen. Er hat sein Leben gemacht, so wie er es verdient und gewollt hat. Horst hat die richtige Frau gefunden und eine tolle Familie. Er lebt abseits vom Trubel genau da, wo er leben muss, ein erfolgreiches Leben. Er kann stolz auf sich sein. Das Verrückte und Ausgezeichnete dabei ist, dass er nichts anderes angestrebt hat. Das erschreckt mich immer so bei Menschen, die mehr sein wollen, als sie sind und vor allem als sie können. Horst hat gewusst, wo er herkommt, was er kann und vor allem, was er nicht kann. So hat er sein Leben völlig richtig gestaltet.
Sein Auftreten spricht für sich. Man hat keine Mühe, mit ihm in Kontakt und ins Gespräch zu kommen. Ihn als Mensch zu erkennen. Das ist das Schöne daran.
Prolog
Der Held von Rom
Horsts Wille ist unbändig. Wenn er etwas will,
dann schafft er es auch.
Uwe Seeler
Nur elf Tage nach dem letzten Spiel der Bundesligasaison 1979/80 bestritt die deutsche Nationalmannschaft ihr erstes Spiel bei der Europameisterschaft in Italien. Den zum Kader gehörenden Hamburgern Manfred »Manni« Kaltz, Felix Magath, Caspar »Cappi« Memering und Horst Hrubesch blieb damit kaum Zeit, um die knapp verpasste Meisterschaft zu verarbeiten und zu regenerieren. Bundestrainer Jupp Derwall zog den Schalker Mittelstürmer Klaus Fischer Hrubesch vor, weil Fischer technisch besser und wendiger war. Aber Fischer hatte sich das Schienbein gebrochen, sodass der 29-jährige Hrubesch bereits in den Freundschaftsspielen im Frühjahr 1980 zu seinen ersten Länderspielen gekommen war.
Die deutsche Mannschaft traf in ihrem ersten Gruppenspiel in einer Neuauflage des im Elfmeterschießen verlorenen EM-Finales von 1976 auf die Tschechoslowakei. Jupp Derwall entschied sich für eine Doppelspitze mit dem Münchner Karl-Heinz »Kalle« Rummenigge und dem Düsseldorfer Klaus Allofs. Hrubesch saß ohne zu murren auf der Bank, er war sich zwar seiner Qualitäten bewusst, aber vor allem froh, überhaupt dabei zu sein. Bei heißen Temperaturen gingen beide Mannschaften kein Risiko ein und neutralisierten sich lange Zeit. Zu Beginn der zweiten Halbzeit lief Hrubesch sich warm. Der Fernsehreporter kommentierte: »Ich glaube wirklich, das einzige Mittel, diese Festung zu knacken, wäre Horst Hrubesch.« Kaum hatte der Reporter seinen Gedanken ausgesprochen, da erzielte Kalle Rummenigge das spielentscheidende 1:0. Ein wichtiger Arbeitssieg. Ohne Hrubesch.
Drei Tage später kam es zu einem mitreißenden Spiel gegen die Niederlande. Die Holländer hatten ihr erstes Spiel gegen Griechenland mit 1:0 gewonnen. Es konnte schon zu einer Vorentscheidung kommen, wer als Gruppensieger ins Finale einzieht, denn zwei Gruppen mit jeweils vier Mannschaften spielten direkt um die Finalteilnahme. Beide Trainer hatten angekündigt, auf Sieg spielen zu lassen. Jupp Derwall brachte den offensivstarken Bernd Schuster und Horst Hrubesch neu in die Mannschaft.
Das Spiel nahm einen völlig anderen Verlauf als die erste Begegnung. Hrubeschs Kopfballstärke war bekannt, als Mittelstürmer konnte er sowohl den Vorstopper als auch den Libero in der Mitte binden, außen hatten dadurch Rummenigge und Allofs Platz. In der 6. Minute kam Hrubesch nach einer Ecke zum Kopfball, doch der Ball ging über das Tor. Zwei Minuten später nahm er den Ball mit der Brust an und schoss mit links, der Torwart hielt. In der 19. Minute traf der überragende Schuster aus der Drehung den Pfosten, Allofs war zur Stelle und staubte zur 1:0-Führung ab. Danach kamen die Holländer mit Fernschüssen zu ihren ersten Chancen, aber Toni Schuhmacher hielt glänzend. Die deutsche Halbzeitführung in einem bissigen Spiel mit einigen derben Fouls war verdient.
Die Holländer gingen in der zweiten Halbzeit noch härter zur Sache, hätten aber auch statt eines indirekten Freistoßes einen Elfmeter bekommen müssen. In der 60. Minute eroberte Bernd Schuster den Ball in der eigenen Hälfte, trieb ihn nach vorne, spielte auf Hansi Müller, der quer auf den heranstürmenden Klaus Allofs legte. Der Düsseldorfer zog aus knapp 15 Metern mit dem Außenrist zur 2:0-Führung ab. Sechs Minuten später passte Schuster nach einer großartigen Aktion von der Torauslinie auf Allofs zurück, der das 3:0 erzielte.
Die Holländer drückten, aber Deutschland blieb gefährlicher. Dann beging der junge, gerade eingewechselte Lothar Matthäus in der 80. Minute kurz vor dem Strafraum ein Foulspiel, trotzdem pfiff der Schiedsrichter Elfmeter. Johnny Rep verwandelte sicher und vier Minuten vor Spielende erzielte Willy van de Kerkhof mit einem schönen Flachschuss den Anschlusstreffer zum 3:2. In den verbleibenden Spielminuten schlugen die Holländer lange, hohe Bälle in den deutschen Sechzehner, aber von dort flogen die Bälle ebenso lang und noch höher zurück. Es reichte. Spieler und Trainer jubelten über den verdienten Sieg. Das Finale war greifbar nahe.
Ein paar Tage später versuchte Horst Hrubesch zum dritten Mal in den Petersdom zu gelangen. Beim ersten Versuch waren sie abgewiesen worden, weil die Frauen Blusen mit kurzen Ärmeln getragen hatten, beim zweiten Mal die Männer kurze Hosen. Jetzt gelang es ihm zusammen mit Cappi Memering, Felix Magath und dem Journalisten Gerd Krall von der Hamburger Morgenpost. »Papst Johannes Paul II. ging gerade winkend durch den breiten Gang«, erinnert sich Horst Hrubesch, »die Menge jubelte, es war ein Lärm wie auf einem Popkonzert. Der Papst war nur noch zehn Meter von uns entfernt, da kam er auf unsere Seite, sah mich an und machte das Victory-Zeichen. Gerd sagte zu mir: Der Papst hat dir gezeigt, dass du im nächsten Spiel zwei Tore machst.«
Holland spielte zuerst gegen die Tschechoslowakei und schaffte nur ein 1:1, damit war Deutschland im Finale. Es folgte ein müder Kick gegen bemühte, aber harmlose Griechen. Die deutsche Mannschaft spielte ordentlich, allerdings fehlte ihr der letzte Biss. Nach dem 0:0 meinte Horst Hrubesch zu Gerd Krall: »Du, der Alte hat gelogen, mit seinen zwei Toren war nichts.«
Am Tag darauf ging die Mannschaft essen, alle mussten früh zurück ins Hotel, Bundestrainer Derwall hatte Nachtruhe angeordnet. Uli Stielike erinnert sich, dass einige Spieler sich damit nicht abfinden wollten: »Das Restaurant hatte uns ausgesprochen gut gefallen, deshalb wollten wir unerlaubt dorthin zurück. Aber Jupp Derwall hatte wohl was gerochen, denn er setzte sich in die Hotellobby, um aufzupassen.« Ein paar Nachtschwärmer, darunter auch Horst Hrubesch, stiegen dann an der Rückseite des Hotels durch ein Fenster im ersten Stock ins Freie. Dabei vertrat sich Manni Kaltz den Fuß, alle, erzählt Uli Stielike, »hatten furchtbar Schiss, dass er nicht spielen könnte. Es ging dann aber glücklicherweise doch.«
Vor dem Finale suchte Derwall das Gespräch mit Hrubesch, weil er unsicher war, ob er ihn aufstellen sollte. Voller Selbstvertrauen erwiderte der Petersdom-Besucher: »Trainer, dass müssen Sie entscheiden. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich alles geben werde. Und ich weiß, dass ich Tore machen kann.«
Deutschland war seit 18 Spielen, der Finalgegner Belgien seit 15 Spielen unbesiegt. Jupp Derwall ließ dieselbe Mannschaft wie gegen Holland auflaufen. In der 10. Minute spielte Schuster Hrubesch auf halblinks hoch an. Der Mittelstürmer legte den Ball mit der Brust rechts am Gegenspieler vorbei und erzielte mit dem zweiten Kontakt aus 18 Metern das 1:0. Es war sein erstes Tor im fünften Länderspiel. Nun war er in der Nationalmannschaft angekommen und bewegte sich wie im Verein auch auf den Flügeln.
Die Belgier kamen in der ersten Halbzeit zu einer riesigen Konterchance, hatten ansonsten aber Glück, dass sie gegen die spielbestimmende deutsche Mannschaft nicht ein weiteres Tor kassierten. In der zweiten Halbzeit drückten sie aufs deutsche Tor. Stielike konnte in der 72. Minute einen Belgier in höchster Not nur noch von hinten umgrätschen. Das Foul hatte zwar vor dem Strafraum stattgefunden, aber es gab trotzdem wieder Elfmeter, den René Vandereycken sicher zum 1:1 verwandelte. Jetzt war das Spiel offen, doch keine der beiden Mannschaften konnte ihre Torchancen nutzen. Es roch schon nach Verlängerung, als Deutschland in der 89. Minute noch zu einem Eckball kam, den Rummenigge von links hoch hereinschlug. Fast vom Sechzehner startend rauschte Hrubesch heran, sprang viel höher als alle anderen und wuchtete den Ball zum umjubelten 2:1 ins Tor. Deutschland war Europameister.
Horst Hrubesch sagt über 30 Jahre später: »Ich weiß bis heute nicht, was genau ich nach diesem Tor gefühlt habe. Und nach dem Schlusspfiff konnte ich überhaupt nicht begreifen, dass wir auf einmal Europameister waren.«
Auf dem Weg zur Siegerehrung kam der Doppeltorschütze an der Pressetribüne vorbei. Gerd Krall brüllte zu ihm herüber: »Langer, der Alte hat nicht gelogen. Der hat gemeint, dass du die beiden Tore im Finale machst!«
Nach der Siegerehrung wollten die Fotografen Fotos von Horst Hrubesch mit dem Pokal und riefen: »Hochhalten, hochhalten!«. Der Pokal wog mit Marmorsockel gute zehn Kilo. Vor lauter Erschöpfung knickte Horst Hrubesch erst der linke und dann der rechte Arm ein, der Pokal sackte immer wieder nach unten.
In der Kabine konnte er nur rasch das Trikot wechseln, dann ging es mit Jupp Derwall zur Pressekonferenz. Nachdem Derwall alle Fragen beantwortet hatte, verließ er die Runde, Horst Hrubesch beantwortete weiter die Fragen der Journalisten. Als er in die Kabine zurückkehrte, waren seine Klamotten weg und der Bus war mit den anderen Europameistern schon losgefahren. Der Held von Rom musste in Badelatschen und zusammen mit Pressesprecher Wilfried Gerhardt über den Zaun des Olympiastadions klettern. Die Polizei brachte die beiden dann zum Hotel, wo sich Horst Hrubesch endlich für das Festessen umziehen konnte.
Vor dem Bankettsaal warteten viele Journalisten und Horst Hrubesch ärgert sich bis heute, »dass ich mich von meiner Frau überreden lassen habe, noch mal rauszugehen. Geschlagene anderthalb Stunden hatten die eine Frage nach der anderen«. Als er zurück in den Saal ging, war seine Frau schon weg; die Frauen logierten in einem anderen Hotel. Zunächst, erzählt Horst Hrubesch, sei er »stinkesauer gewesen, weil ich von der Feier nichts mitbekommen habe. Doch dann haben Hans-Peter Briegel, Manni Kaltz, Cappi Memering, Bernhard Dietz und ich bis um sechs Uhr morgens richtig geil gefeiert. Anschließend haben wir unsere Sachen gepackt und sind ab zum Flughafen«.
Kapitel 1
Zechensiedlung
Die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben,
denen ich am meisten zu verdanken habe,
sind meine Mutter und meine Frau.
Ich habe mich oft gefragt:
Was wäre ich ohne diese beiden Frauen?
Horst Hrubesch
Hamm war ein Trümmerhaufen, nachdem die westfälische Stadt während des Zweiten Weltkriegs immer wieder von alliierten Bombern angegriffen worden war. Sechzig Prozent der Stadt mit dem größten Güterbahnhof Europas wurden dabei zerstört. Luise Thiemann war 19, als der Krieg ausbrach, und wohnte bei ihren Eltern südöstlich von Hamm in der Gemeinde Wiescherhöfen. Sie überstand die Angriffe in Luftschutzkellern. Viel geredet hat Luise Thiemann nie über die Nächte in den engen und stickigen Kellern, sie gehört zu einer Generation, die sich nach dem Krieg in die Arbeit stürzte. Da blieb kaum Zeit, um das im Krieg Erlebte zu verarbeiten. 1951 brachte die gelernte Herrenschneiderin ihr erstes Kind zur Welt, von da an stand die Familie im Mittelpunkt: Sie bedeutete ihr alles. Luise, ihr Ehemann Helmut und zwei ihrer Brüder lebten damals bei den Eltern. Mit dem kleinen Horst dazu war es extrem beengt, bis die Eheleute zwei Jahre später eine Wohnung mit dreieinhalb Zimmern in einer neugebauten Zechensiedlung in Pelkum beziehen konnten.
Wiescherhöfen und Pelkum, inzwischen Stadtteile von Hamm, liegen an der Bahnlinie und der B61. Horsts Bruder Herbert Hrubesch fährt mit mir zum Pelkumer Bahnhof, um mir die Siedlung zu zeigen, in der er und seine vier Geschwister groß geworden sind. Wir überqueren die B61 und kommen zum Wendeplatz der Sackgasse »Auf Kösters Kamp«. Herbert Hrubesch zeigt auf das erste der zweistöckigen Mehrfamilienhäuser: »Dort haben wir im ersten Stock auf der linken Seite gewohnt. Gespielt haben wir Kinder auf der Schotterstraße, es gab ja kaum Autos, oder auf dem Spielplatz hier links. Wenn uns das nicht reichte, liefen wir zum Bach hinterm Haus oder über die anschließende Wiese zum Sportplatz. Gleich daneben waren die Schule und die Kirche. Es war schön, hier aufzuwachsen.« Damals war Pelkum ein Dorf mit 3500 Einwohnern, heute ist die Wiese verschwunden, die Freiflächen sind verbaut.
Herbert Hrubesch ist vier Jahre jünger als sein Bruder Horst und war als Fußballer mit reichlich Talent ausgestattet. Er hätte Profi bei Preußen Münster in der zweithöchsten Spielklasse werden können, aber für 400 Mark im Monat war Herbert nicht bereit, seinen Beamtenstatus bei der Telekom aufzugeben. Das war auch ganz im Sinne seiner Mutter, die ihm unter großen Opfern den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglicht hatte. So blieb der Fußball sein Hobby, erst als Spieler bis in die dritthöchste Liga, dann auch als Trainer, wobei er alle Trainerscheine noch vor seinem großen Bruder erwarb. Seit 2010 ist er als Stützpunktkoordinator für den DFB tätig.
Auch Horst Hrubeschs Mutter Luise Hrubesch, Jahrgang 1930, erzählt bereitwillig, wie es damals war, als Horst im April 1951 geboren wurde. Luise Hrubesch ist klein und wirkt auf den ersten Blick recht zart, hat aber für ihr Alter einen erstaunlich kräftigen Händedruck.
»Horst war ein unruhiges Baby«, erzählt sie. »Er hat kaum Mittagsschlaf gemacht und ist abends erst spät eingeschlafen. Als er laufen konnte, haben wir ihn zeitweise im Laufstall gehabt, mussten den aber an den Tischbeinen festbinden, weil er sonst an den Ofen, die große Küchenhexe, ging.« Sobald Horst etwas größer war, wollte er am liebsten den ganzen Tag draußen sein. »Und wenn es Backsteine regnete, stand er in der Haustür und guckte sehnsüchtig zu, als wenn er nicht in der Wohnung bleiben könnte. Ich hatte den Eindruck, er fühlte sich drinnen eingesperrt.«
Luises Eltern übernahmen eine Gastwirtschaft in Hamm und führten sie siebzehn Jahre lang unter dem Familiennamen »Thiemann«. Die Wirtschaft war bekannt und beliebt im Hammer Westen. Luise half ihren Eltern in der wuseligen Kneipe, deshalb sollte Horst die Vormittage im Kindergarten verbringen. Aber dieses Vorhaben wurde bald wieder aufgegeben, weil Horst partout nicht mitspielte. Ein paar Mal war er aus dem Kindergarten ausgebüchst, man fand ihn im Hof der Gastwirtschaft, wo er spielte. Horst hatte schon damals seinen eigenen Kopf. Und nicht nur das. »Angst kannte er überhaupt nicht«, fährt Luise Hrubesch fort. Sie erinnert sich noch gut daran, wie er sich mit gerade mal fünf Jahren alleine auf den Weg in die Stadt gemacht hatte, denn er wollte zur Kirmes. Seine Mutter suchte ohne Erfolg in der Nachbarschaft nach ihm. Nur gut, dass der Kohlenhändler den kleinen Blondschopf von seinem Kutschbock aus erkannte und der erleichterten Familie zurückbrachte. Horst war ein Draufgänger, der vor Kraft und Energie strotzte. Häufig kam er vom Herumtoben mit Beulen und blauen Flecken nach Hause, er verzog dabei keine Miene. »Immer hat er alles geschleppt«, erinnert sich seine Mutter und schüttelt dabei den Kopf, »sogar große Pflastersteine«. Noch bevor Horst in die erste Klasse eingeschult wurde, musste er nach einem seiner Abenteuer an der frischen Luft wegen eines Leistenbruchs operiert werden.
Luise Hrubesch hatte viel Arbeit mit dem lebhaften Jungen, mehr als ihr lieb war, denn Horsts Geschwister folgten in den kommenden Jahren. Aber Ermahnungen halfen nicht viel, davon könnte Luise Hrubesch etliche Geschichten erzählen: »Die Nachbarn zwei Häuser weiter hatten einen Hühnerstall. Da haben Horst und deren Tochter Reni immer wieder paketweise Hühnerfutter reingeschüttet. Was ich damals an Hühnerfutter kaufen musste! Aber die Kinder ließen sich das nicht ausreden.« Die Nachbarin, die nicht wollte, dass ihre Hühner so gemästet wurden, erwischte die beiden auf frischer Tat und steckte sie kurzerhand in den Keller. Luise Hrubesch hörte plötzlich ihren Sohn schreien und wollte ihm schon zur Hilfe eilen. Aber unten im Hof stand die Nachbarin und hielt lächelnd den Zeigefinger vor den Mund. Nach einer halben Stunde ließ sie die Kinder aus dem Kellerloch. Horst lief dreckig und verheult zu seiner Mutter. »Die hat uns eingesperrt!«, klagte er weinerlich. »Ja und«, antwortete Luise ungerührt, »warum habt ihr denn auch schon wieder das ganze Futter in den Hühnerstall geworfen?« Es dauerte nicht lange, bis Horst sich wieder beruhigt hatte und draußen herumtollte.
Trotz solcher Streiche war er in der Nachbarschaft beliebt. »Horst konnte gut mit alten Leuten, der konnte gut mit Kindern, der konnte gut mit allen. Das war ganz schlimm«, erzählt Luise Hrubesch. Unten im Haus wohnte ein altes Ehepaar. Vor der Flucht hatte der Mann als Rittmeister auf einem Trakehnergestüt in Ostpreußen gearbeitet. Nun pflegte er die Pferde für den Pelkumer Reitverein. »Da durften eigentlich keine Kinder rein«, weiß Luise Hrubesch, »aber Horst schleppte er ständig mit.«
Direkt hinter der Wiese stand ein großer Bauernhof mit einem Teich. Der Bauer wollte dort keine Kinder haben, nur das älteste der Hrubesch-Kinder duldete er. Horsts Eltern bastelten ihm eine Angel und einen Kescher. Bald lernte Horst einen alten Angler kennen, der meinte: »Wenn du mir Kaulquappen besorgst, kriegst du für jede fünf Pfennig.« Das war richtig viel Geld für einen kleinen Jungen. Als Luise Hrubesch eines Tages nach Hause kam, stand die damals fünfjährige Ulla aufgeregt in der Tür: »Mama, geh mal ins Badezimmer. Die ganze Wanne ist voll Entengrütze!«
Der geschäftstüchtige Sohnemann hatte Kaulquappen aus dem Teich geholt und sie, weil der alte Angler noch nicht zu Hause war, erst einmal in der Badewanne schwimmen lassen. »Zieh den Stöpsel raus!«, befahl seine Mutter. Horst aber, der damals die erste Schulklasse besuchte, dachte gar nicht daran, sich das üppige Taschengeld entgehen zu lassen. Breitbeinig stellte er sich vor die Wanne, seine Miene drückte Entschlossenheit aus: »Nein, Mama, nicht! Der Herr Eckardt ist noch nicht zu Hause. Ich tu sie alle wieder raus. Ich mach auch alles wieder sauber.« Dann verfrachtete er die Kaulquappen wieder zurück in den Eimer und machte die Wanne, so gut er konnte, sauber. Horst wusste schon als Dreikäsehoch, was er wollte und ließ sich nur schwer davon abbringen.
Zu der Zeit hatte Horst das Fußballspielen schon entdeckt, denn sein Vater spielte gelegentlich bei den Alten Herren des FC Pelkum und die Familie guckte zu. Noch entscheidender aber war Herbert Krischer, der mit seiner Familie im gleichen Haus wie die Familie Hrubesch lebte. Krischer verdiente sein Geld als Bergmann, wie die meisten Männer in der Siedlung, doch seine Liebe galt nach seiner Familie der Jugendabteilung des FC Pelkum. Er war die Seele des Vereins und, so Horst Hrubesch, »ausschlaggebend dafür, dass ich den Weg zum Fußballprofi gegangen bin«.
Insgesamt fünf Mal spielten die kleinsten Kicker des FC Pelkum gegen den VfL Berge. Der fünfjährige Horst erzielte jeweils fünf Tore und hatte damit seine Position als Mittelstürmer gefunden. Zu Weihnachten bekam er vom Onkel Fußballschuhe geschenkt, vom Opa Trikot, Hose und Stutzen. Trotz Schnee und Eis musste er natürlich alles gleich ausprobieren. Horst Hrubesch lächelt schelmisch, als er von seinen ersten Taten in der neuen Fußballkluft erzählt: »Ich hab bei der Schreinerei die Scheibe eingeschossen, weil der Onkel meinen Schuss nicht halten konnte.«
Zur Familie Hrubesch gehörten damals neben Horst schon seine zwei Jahre jüngere Schwester Ulla und Herbert, der 1955 geboren wurde. Das zweite Mädchen, Gilla, folgte weitere zwei Jahre später. Anfangs war das Familienleben harmonisch, doch Helmut begann zu trinken, sodass Horst Hrubesch nur wenige und keine schönen Erinnerungen an seinen Vater hat. Darüber redet er nicht gern, denn er gehört zu denen, die viele Dinge mit sich ausmachen. Da kann man zwar nachfragen, Horst Hrubesch reagiert dann aber einsilbig. Früher hat er die schlechten Erfahrungen mit seinem Vater schlicht verdrängt.
Viel lieber schwärmt er von Herbert Krischer: »In den Oster- und Herbstferien organisierte er kleine Zeltlager auf dem alten Reitplatz, im Sommer fuhren wir in ein großes Zeltlager am Lensterstrand an der Ostsee. Das war einmalig, es gab sogar eine Feldküche, in der einige Mütter dafür sorgten, dass wir was zu essen bekamen, wenn wir vom Spielen im Wasser oder Bolzen am Strand zurückkamen.« Krischer sammelte dafür bei jeder Gelegenheit Spenden.
Überhaupt fand beim FC Pelkum ein reges Vereinsleben statt. Wer im Dorf geboren wurde, der wurde gleich im Sportverein angemeldet, so war es üblich. Im Vereinsheim stand ein kleiner Ofen. Herbert Krischer brachte Gemüse aus seinem Schrebergarten mit, der kickende Metzgersohn das Fleisch, nach den Spielen wurde ein Riesentopf mit Rinderbrühe und Fleischeinlage aufgesetzt, eine kräftige Mahlzeit für die hungrige Rasselbande, aus der Horst schon körperlich herausragte.
Die große Umkleidekabine im Vereinsheim war nie abgeschlossenen, denn dort stand eine Tischtennisplatte, auf der jeder spielen durfte; randaliert hat keiner. »Fußballerisch konnte uns Herbert nichts vermitteln«, sagt Horst Hrubesch, »aber er und seine Frau haben alles für den Verein getan. Dieser Zusammenhalt imponierte mir.«
Seine Schwester Ulla, die noch weniger Erinnerungen an den Vater hat als ihr großer Bruder, schildert, wie die Familie versuchte, ohne den häufig abwesenden Vater zurechtzukommen: »Horst hat früh die Rolle des Ältesten angenommen. Er opferte sich nicht auf wie Mama, aber er ging voran und hatte uns alle im Blick. Wenn er sich über etwas aufregte, dann gab es auch mal Streit.« Aber beim nie nachtragend reagierenden Horst sei spätestens am nächsten Tag alles wieder in Ordnung gewesen.
Die Kinder gingen nach der Schule nach Hause – jedes hatte seine eigenen Hausschlüssel – und wärmten das vorgekochte Essen auf. Weil ihre Mutter nachmittags in der Gastwirtschaft arbeitete, mussten sie alleine klarkommen. Ulla sollte aufpassen, dass die beiden Jungs ihre Hausaufgaben machten. Eine undankbare Aufgabe, denn Horst ging meist nur widerwillig daran, viel lieber wäre er draußen dem Ball nachgejagt. Manchmal half nur Mamas Drohung, dass die Fußballschuhe sonst weggeschlossen würden – die allerdings zeigte Wirkung.
In der Familie gab es die traditionelle Rollenverteilung, wie sich Ulla erinnert: »Wir Mädchen mussten im Haushalt helfen, und die Jungs brauchten nichts zu machen. Die gingen in die Badewanne, und wir mussten danach die Wanne putzen. Wir mussten immer hinterherräumen, während die Jungs auf den Bolzplatz abhauten.«
Die Kinder waren also gezwungen, früh selbstständig zu werden; und die Älteren erzogen die Jüngeren nach dem Vorbild der Mutter und der Großeltern. Horst kümmerte sich besonders um Herbert und wurde, obwohl er nur vier Jahre älter war, zu einer Mischung aus großem Bruder und Vater.
Aus Luise Hrubeschs Erzählungen wird deutlich, wie oft sie trotz all ihrer Kraft und Entschiedenheit an ihre Grenzen stieß. Glücklicherweise bekam sie viel Hilfe. Horst Hrubesch beschreibt die Großeltern Hrubesch, deren Familien aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammten, »als Seelen von Menschen«. Außerdem waren da die Onkel, aber vor allem Opa und Oma Thiemann. Sie arbeiteten unermüdlich in ihrer Gaststätte, der Opa hinter dem Tresen, während die Oma und Luise putzten, kochten und bedienten. Vom »Oppa«, der eine Vaterfigur für seine Enkelkinder war, schwärmen alle besonders. Er gab als strenger Patriarch mit gutem Herzen die Richtung vor.
So war der Großvater auch da, als Herbert ohne zu fragen Horsts Angel – einen Stock mit einem Faden und einer krumm gebogenen Nadel – genommen hatte. Als der große Bruder sich darüber beim Großvater beschwerte, ging der mit den beiden Jungen los und kaufte Herbert eine richtige Angel. Horst lernte noch einmal, was er eigentlich schon wusste und beherzigte: »Du musst mit deinen Geschwistern teilen!« An diese Lektion kann sich Horst Hrubesch bis heute lebhaft erinnern: »Es tat richtig weh«, sagt er mit einem wissenden Lächeln.
Seitdem Vater Helmut mit dem Trinken angefangen hatte, war es finanziell eng geworden. Luise Hrubesch nähte viel selbst, besonders die Kleider für die Mädchen, und schaffte es auf diese Weise immer irgendwie, den Kindern etwas Geld zuzustecken, zum Beispiel für den Kirmesbesuch. Dadurch wurde den Kindern die angespannte Situation gar nicht bewusst.
Auch genug zu essen gab es immer, obwohl gerade die Jungs riesige Mengen verdrückten, wie Ulla tagtäglich erleben konnte: »Mama hat die deftige westfälische Hausmannskost richtig lecker gekocht: Kartoffelsalat, Bockwurst, Bratkartoffeln, Frikadelle, Sülze, Eintöpfe; das ist nach wie vor Horsts Lieblingsküche.« Im Herbst wurden Äpfel und Pfirsiche und Bohnen aller Art in Gläsern eingekocht. Der Keller samt Kartoffelschoss war dann gut gefüllt. »Anders wäre es auch nicht gegangen«, weiß Ulla, »denn im Winter konnten wir uns kein frisches Gemüse leisten.«
Horst trug ebenfalls zum vollen Keller bei, indem er Obst pflückte, dem Bauern beim Rübenziehen half und Kartoffeln stoppelte, also nach der Ernte die kleinen, liegengebliebenen Kartoffeln für den Eigenbedarf aufsammelte.
Der Vater verließ die Familie schließlich 1964 – nach vielen Streitigkeiten und Neuanfängen – endgültig; kurz nach der Geburt von Jürgen, seinem Jüngsten. »Da kehrte Ruhe ein«, erinnert sich Ulla. »Und Horst stand Mama zur Seite. Er machte die Männerarbeit, er schüppte Kohle in den Keller, holte mit einer Sackkarre Öl für den Ofen und kellerte die Kartoffeln ein.« Horst Hrubesch war damals 13 und jetzt der Mann im Haus. Das wollte er zumindest gerne sein, um seiner Mutter zu signalisieren: Wir schaffen das schon.
Auch wenn sie kein großes Thema daraus machte, für Luise Hrubesch brach eine Welt zusammen. Sie hatte das Vorbild ihrer Eltern vor Augen, wonach in einer Ehe beide Partner alles für die Familie tun: Der Mann gibt die Richtung vor, und die Frau unterstützt ihn dabei tatkräftig. Das war ihr nicht gelungen, und wenn sie mit ihrer Kraft am Ende war, dann zweifelte sie daran, ob es trotz der vielen gebrochenen Versprechen ihres Mannes für die Kinder besser war, ohne ihn aufzuwachsen. Manchmal fand Horst seine Mutter weinend am Küchentisch, dann war er schnell zur Stelle. Er wurde ihr Ansprechpartner, half ihr bei Entscheidungen und tröstete sie: »Mama, lass ihn. Wir schaffen das! Du musst nicht mehr weinen.« Vielleicht hängt Luise Hrubesch deshalb besonders an ihrem Ältesten. Aber die anderen fühlten sich deswegen nicht zurückgesetzt, wie Ulla und Herbert versichern.
Horst bereitete seiner Mutter allerdings auch Sorgen. Eines Tages, Luise Hrubesch stand schon seit dem frühen Morgen in der Waschküche im Keller, kam Ulla zu ihr und erzählte, Horst sei nicht in der Schule gewesen. Aufgebracht fuhr Luise Hrubesch sofort mit dem Fahrrad zum Lehrer. »Der Junge hat sich sehr glaubwürdig entschuldigt«, erklärte dieser. »Er hat gesagt, er müsste Ihnen bei der großen Wäsche helfen. Da habe ich gedacht, die Frau ist mit den Kindern alleine, lass den großen Kerl mal helfen.«
Luise Hrubesch kannte ihren Ältesten, der gerne schuftete, wenn er ein Ziel vor Augen hatte, der aber auch erfinderisch sein konnte, wenn es darum ging, Unangenehmes zu umgehen. »Ich habe sehr wohl gemerkt, dass der Lehrer einen Narren an Horst gefressen hatte!« Der Vorwurf in Luise Hrubeschs Stimme ist deutlich zu hören, als sie diese Geschichte erzählt. »Ich habe ihm gesagt, dass er sich auf so was gar nicht mehr einlassen soll.«
Zudem sorgte Horsts Fußballleidenschaft für Konflikte im Hause Hrubesch, als es auf Horsts Konfirmation zuging, denn der evangelische Gottesdienst – im überwiegend katholischen Pelkum – und das Vereinsspiel fanden gleichzeitig am Sonntagvormittag statt. Dummerweise lag der Sportplatz auch noch neben der evangelischen Kirche, sodass der Pastor nur nach nebenan zu schauen brauchte, um Horst bei einem Heimspiel zu erspähen, wenn dieser nicht am Gottesdienst teilnahm. Der Pastor durchschaute auch, wenn Horst ihn erst in der Kirche begrüßte, sich dann aber klammheimlich zum Auswärtsspiel wegschlich. Die Mutter redete Horst ins Gewissen, der gelobte Besserung und ging am nächsten Sonntag im Anzug zur Haustür hinaus, während sein Bruder Herbert hinten die gepackte Fußballtasche aus dem Fenster warf. Als Luise Hrubesch zwei Stunden später den Pastor herankommen sah, wusste sie schon: »Der Junge war wieder nicht in der Kirche!« Horst konnte einfach nicht vom Fußball lassen und nahm dafür Ärger in Kauf.
Noch am selben Tag wurde seine Mutter bei Herbert Krischer vorstellig und kam ohne Umschweife zur Sache: »Entweder ändert ihr die Anstoßzeit oder Horst spielt nicht. Und wenn ich ihn selbst zur Kirche bringen und neben ihm sitzen bleiben muss!«
Das alles mag nach lustigen Anekdoten klingen, aber es ging Luise Hrubesch um weit mehr als die Schwänzerei beim Schul- und Konfirmationsunterricht: »Mir haben damals etliche Leute gesagt: Du bist bekloppt, bei fünf Kindern arbeiten zu gehen. Geh doch auf’s Sozialamt.« Aber Luise Hrubesch dachte gar nicht daran, sich aushalten zu lassen. Wie würde das auf die Kinder wirken? Der Vater war ausgezogen und trank, und sie sollte dem Staat auf der Tasche liegen? »Dann haben die Kinder später auch keine Lust arbeiten zu gehen«, sagt sie. Luise wollte ihnen Vorbild sein, auch wenn sie für ihre Haltung von manchen im Dorf ausgelacht wurde. Verschmitzt lächelnd erzählt die alleinerziehende Mutter weiter: »Zu Hause habe ich die Kinder ein bisschen eingeschüchtert: Macht bloß keine Dummheiten, denn sonst kriegen wir die Fürsorge auf den Hals.«