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Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die Autorin
Widmung
FINIS TERRAE
ERSTES BUCH - DER RUF
Kapitel 1
VERMÄCHTNIS 1 - JENSEITS DER STERNE
Kapitel 2
VERMÄCHTNIS 2 - ROSE & SCHWERT
Kapitel 3
VERMÄCHTNIS 3 - ENGELSSTURZ
ZWEITES BUCH - DER WEG
Kapitel 4
VERMÄCHTNIS 4 - TEUFELSWERK
Kapitel 5
VERMÄCHTNIS 5 - DAS NETZ
Kapitel 6
VERMÄCHTNIS 6 - IN DER TIEFE DER NACHT
DRITTES BUCH - DIE HEIMKEHR
Kapitel 7
VERMÄCHTNIS 7 - WETTERLEUCHTEN
Kapitel 8
VERMÄCHTNIS 8 - RENATA
Kapitel 9
FINIS TERRAE
Historisches Nachwort
Literaturempfehlungen
Danksagung
Copyright

Danksagung

Mein Dank geht an Professor Dr. Joachim Nasemann, der als Facharzt für Augenheilkunde in München praktiziert, ebenso wie an Professor Dr. Wolfgang Uwe Eckart, der in Heidelberg Medizingeschichte lehrt. Beide haben mir wertvolle Anregungen zum Thema »Grauer Star« und seine Behandlungsmöglichkeiten im Mittelalter geliefert. Bedanken möchte ich mich auch bei dem jungen Historiker Thomas Forstner, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit seiner gründlichen Bibliotheksrecherche eine wichtige Unterstützung für dieses Projekt war.

Sehr profitiert bei Untersuchungen zur Geschichte des Tarots habe ich von Hajo Banzhaf, der zahlreiche wichtige Bücher zu dieser Thematik verfasst hat. Bei den Interpretationen der einzelnen Karten habe ich mich vor allem auf sein Buch »Der mythologische Schlüssel zu den Großen Arkana«, Heinrich Hugendubel Verlag, München 1997, gestützt. Aber jede andere seiner Untersuchungen ist nicht minder empfehlenswert!

Die Autorin

Brigitte Riebe, geboren 1953, ist promovierte Historikerin und arbeitete lange Zeit als Verlagslektorin. Zu ihren bekanntesten historischen Romanen zählen »Palast der blauen Delphine«, „Schwarze Frau am Nil«, ihr zweiter Jakobsweg-Roman »Die sieben Monde des Jakobus« sowie »Die Hüterin der Quelle«. Brigitte Riebe lebt mit ihrem Mann in München.

FINIS TERRAE

Das Kreischen der Möwen über ihr.

Mit einem Anflug von Neid hob Pilar den Kopf. Sich schwerelos wie sie in die Lüfte schwingen zu können, wie einfach wäre dann der lange Weg zu bewältigen gewesen! Beim Aufwachen hatten sich Nebelstreifen über ihr Gesicht gelegt. Aber jetzt spürte sie die Kraft der Sonne, die ihre Haut wärmte. Der Verband über ihren Augen war unangenehm. Seit Tagen schon musste sie ihn ertragen.

Du wirst nicht erlöst!, flüsterte die hässliche innere Stimme, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen wollte. Mach dir nichts vor. Du wirst niemals sehen. Wie sollte ein alter Maure dir helfen können, wenn nicht einmal der Apostel Jakobus dir geholfen hat?

Hör auf!, befahl sie stumm, sei still! Weshalb kannst du mich nicht in Ruhe lassen?

Aber die Stimme ließ sich nicht beirren.

Es wäre doch so einfach. Wieso sperrst du dich? Du bist gleich an der Todesküste angelangt. Dann kannst du deinem Leiden ein Ende bereiten. Es ist nicht besonders schwer. Nur etwas Mut, dann hast du sie, deine lang ersehnte Ruhe.

Pilar spürte, wie die Kraft in ihren Beinen nachzulassen drohte, und stemmte sich nur um so wütender gegen den Wind. Tief unten hörte sie das Meer donnern. Die Luft roch nach Fisch und Tang. Unter ihr ein Heulen und Gurgeln, als stöhnten tausenderlei Stimmen herauf.

War sie an der Grenze zum Schattenreich angelangt?

»Wir sind gleich da«, hörte sie Tariq sagen. »Bald erreichen wir das Meer.«

Sie erstarrte. Das war der Traum! Der Traum, den sie vor langer Zeit in Regenburg geträumt hatte!

Erneut machte die verhasste Stimme sich bemerkbar.

»Worauf wartest du noch, Pilar? Ein Schritt nur, und alles ist vorüber!«

»Sei still«, sagte Pilar energisch. »Du bist nur ein Traum. Du kannst mir keine Bange machen.«

»Der Teufel will die nicht, die freiwillig zu ihm kommen!« Das klang wie Camino, aber wo steckte er?

»Die Seele eines Menschen zieht die Milchstraße entlang nach Westen, bis sie den Schöpfer erreicht hat. Sobald wir uns dem Ende nähern, kommen wir an den Anfang zurück.

Moira – so redete nur sie!

Das Spiel fiel ihr ein, mit dem sie sich während des Ritts ans Meer die Zeit vertrieben hatte. Wieder und wieder hatte sie die Anfangsbuchstaben ihrer Namen miteinander ausgetauscht.

A – für Armando.

M – für Moira.

O – für Oswald

R – für Renata. Oder den letzten Buchstaben von Pilar.

Anfang und Ende, darin schien das Geheimnis zu liegen. AMOR – Liebe. Das, was die Straße der Sterne sie gelehrt hatte.

Meerluft wehte Pilars Atem fort. Sie krümmte den Rücken und stemmte sich mit den Füßen gegen den steinigen Grund. Windböen peitschten ihr die Haare ins Gesicht.

Sie holte tief Luft und löste den Verband.

Pilar wagte ein vorsichtiges Blinzeln. Kein Schwarz, sondern lichtes, verschwommenes Grau. Sie blinzelte erneut. Tränen schossen in ihre Augen. Das Grau wandelte sich nach und nach in Blau. Vor ihr bewegte sich die glänzende Fläche des Meeres wie in einem langsamen Tanz. Und weiter draußen bewegte sich ein Schiff. Mit hellen Segeln …

Sie sah.

»Pilar!«

Das mussten die Wogen sein, die unter ihr fauchten, nicht er, nicht Amando!

»Pilar, Liebste! Hörst du mich nicht?«

Langsam drehte sie sich um.

Hatte die Schwarze Madonna ihre Gebete erhört? Ließ Santiago seine Wunder doch noch an ihr wahr werden?

Er war groß, hatte braunes Haar und braune Augen. Er war wunderschön.

Mit einem Lächeln kam Armando auf sie zu.

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« Zwei Ringe«, sagte Camino. Einen davon steckte er Moira an den Finger. »Für meine Frau.« Den anderen reichte er Armando. »Und für meine Tochter. Aber den steckst besser du ihr an.«

Der Goldreif war schmal. In einer Zarge ruhten nebeneinander ein Smaragd und ein Labradorit.

»Das Blau der Treue und das Grün der Hoffnung«, fuhr Camino fort. »Der goldene Steg dazwischen schweißt sie für immer aneinander. Habt ihr eine Ahnung, welche Überredungskünste ich aufbieten musste, bis der Goldschmied endlich dazu bereit war!«

Pilar musste ihre Tränen wegblinzeln, als Armando nach ihrer Hand griff. Heute war der letzte Tag am Meer. Morgen würden sie den Heimweg antreten.

»Ich werde nach dem Süden gehen«, sagte Tariq. »Ich möchte endlich all das wieder sehen, wovon meine Mutter immer erzählt hat. Und das kann ich jetzt guten Gewissens. Jetzt, wo meine niña endlich eine neue Familie hat.«

»Aber du wirst immer dazugehören!«, rief Pilar. »Es ist auch deine Familie.«

Die Freude in seinem Gesicht rührte sie.

»Ich wünsche mir, dass wir alle zusammen in meine Heimat zurückkehren«, sagte Camino. »In den letzten Tagen sehne ich mich nach den klaren Herbstmorgen, die ich dort in meiner Jugend erlebt habe. Allmählich scheint es mir an der Zeit, dass ich wieder Oswald von Lichtenfels werde.«

»Für mich wirst du immer Camino bleiben«, sagte Moira.

»Für mich auch«, sagten Pilar und Armando wie aus einem Mund.

Er nahm ihren Arm und ging einige Schritte mit ihr.

»Darf ich meine Braut küssen?«, sagte er leise.

»Bin ich das?« Sie bot ihm ihre Lippen dar.

»Es war ein langer Weg«, sagte Armando und sein Kuss war innig. »Und alles andere als einfach.«

»Die Straße der Sterne hat uns alle verändert. Jetzt weißt du, was du willst?«

Er nickte heftig und zog sie enger an sich.

»Und wenn wir eines Tages Kinder haben werden …«

Seine Lippen waren so weich. Sie genoss es, sie nicht nur zu berühren, sondern auch sehen zu können.

»… heißt das Mädchen Renata und der Junge Heinrich«, fuhr sie fort. »Das musst du mir versprechen!«

Der Ring an ihrer Hand schimmerte in den Farben des Meeres. Zu gleichen Teilen gehörte er Camino, Blanca, Papa und Estrella. Eine kostbare Leihgabe, die sie nicht mehr ablegen würde, solange sie lebte.

Irgendwann würde er denen gehören, die nach ihr kamen. Den Kindern der Sternenstraße.

 

FINIS

Historisches Nachwort

Mythos und Legende

 

Mitte des 9. Jahrhunderts verbreitete sich im westlichen Abendland ein Gerücht: Irgendwo in Spanien, ganz am Ende der kantabrischen Küste, im Königreich Galicien, das nicht unter muselmanischer Herrschaft stand, wüssten heilige Männer von geheimnisvollen Lichterscheinungen zu berichten. Man habe das Grab des Apostels Jakobus des Älteren gefunden. Jakobus der Ältere war ein Sohn des Zebedäus und der Maria Salome, ein Bruder des Evangelisten Johannes. Jesus hatte ihn »Donnersohn« genannt, denn er gehörte mit Johannes zu seinen engsten Vertrauten. Herodes ließ ihn ca. 45 n. Chr. enthaupten  – als ersten Märtyrer des Christentums.

Um diese Fakten entspann sich eine Legende, die sich in frommen Aufzeichnungen aus dem 12. Jahrhundert etwa so liest: Nach dem Tod Christi predigte Jakobus zunächst in Judäa und Samaria. Dann überquerte er das Meer und landete in Spanien, das er missionieren wollte. Nach allerdings geringen Erfolgen kehrte er nach Judäa zurück, wo er schließlich enthauptet wurde. Danach nahmen seine Jünger den Leichnam, brachten ihn auf ein Schiff, ohne Segel oder Steuer, das von einem Engel nach Galicien geleitet wurde. Muschelbedeckt (die Muschel ist das Wahrzeichen der Jakobspilger) gelangte es an Land. Hier erhob sich der Körper des Heiligen in die Lüfte und leuchtete auf wundersame Weise. Die gleiche übernatürliche Kraft trug ihn die Nähe des Ortes, wo er begraben werden sollte. Auf einen Stein gelegt, verformte sich dieser, und damit entstand der passende Sarkophag. Zahlreiche Abenteuer mussten bestanden werden, vom Drachenkampf über das Zähmen wilder Stiere bis hin zur Bekehrung einer heidnischen Königin namens Lupa, bis diese ihren Palast in eine Kirche umwandelte. An dieser Stelle sollten die Gebeine des Apostels bestattet werden. In der Folgezeit geriet das Grab für viele Jahrhunderte in Vergessenheit.

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Im Jahr 812 (laut anderen Berichten 824) bemerkte der Einsiedler Pelagius eines Nachts über einem Hügel ein seltsames Licht und hörte den Gesang eines Engelschors. Tief in der Erde entdeckte man ein Mausoleum und in ihm die Gebeine des heiligen Jakobus. Seitdem hieß der Ort »Sternenfeld«, und auf diesem wurde die Kathedrale von Santiago de Compostela errichtet.

Nach einer anderen Legende waren es Hirten, denen ein Stern den Weg zum Grab des Apostels wies.

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Immer wieder wurde das Apostelgrab auch mit Karl dem Großen in Verbindung gebracht, dem Jakobus im Traum erschienen sein soll. Er habe ihm den Sternenweg gezeigt und ihn aufgefordert, gegen die Mauren zu kämpfen.

Eine andere Legende erzählt, der Leichnam des Apostels sei von sieben Heiligen vor den Muslimen gerettet worden. Sie brachten ihn zunächst nach Granada (das als letzte Muslimenfestung fiel), dann aber nach Galicien zurück, wo er schließlich gefunden wurde.

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1064 wurde Coimbra von den Christen belagert, die zum heiligen Jakobus flehten, ihnen bei der Eroberung beizustehen. Der Apostel erschien dem König Fernando im Traum. Seitdem trägt der Apostel Jakobus den Beinamen »matamoros« (Maurentöter) und wurde in vielen Schlachten gegen die Araber als Helfer angerufen.

Man könnte die Geschichte aber auch so erzählen …

 

Sternenstraße

 

Der Pilgerweg, der von Osten nach Westen führt, ist viel älter als das Christentum. Und hat eine Menge mit Sternen zu tun. Diese Straße – Straße der Sterne – führt durch Gegenden mit Dolmen und Megalithen und verbindet heilige Orte miteinander.

Am Kap Finisterrae, dem westlichsten Punkt des europäischen Kontinents, hatten die Pilger den Atlantischen Ozean vor sich liegen, das »finstere Meer« der Araber, in der keltischen Sage das Meer der Toten. Den Pilger musste das Gefühl überkommen, am Rand der Unendlichkeit zu stehen – am Ende der Welt. Ebenso wie die alten Völker betrachteten die Pilger die Strahlen der untergehenden Sonne und sprachen ihre Gebete zu Gott.

Nachts richteten die Pilger die Augen nach oben auf der Suche nach der Milchstraße. Dieser am Himmel vorgezeichnete, legendenumwobene Weg diente ihnen als Führer in der Dunkelheit. Diese »Straße der Rettung« oder »Straße der Götter« betrachteten die Menschen des Altertums als die Milchtropfen, die Herakles aus der Brust von Hera geraubt hatte, aber auch als Feuerspur, die der unglückliche Phaëton bei seiner Fahrt mit dem Sonnenwagen am Himmel hinterlassen hatte. Die Milchstraße war in vielen Kulturen die Straße der Unsterblichkeit.

Für die Menschen des Mittelalters war das Sternenband, das sich scheinbar von Friesland über die Île de France und Aquitanien bis nach Compostela und Finisterrae erstreckte, ein Symbol der Hoffnung auf ewiges Glück. Im nächtlichen Dunkel leitete es alle, die ihre Heimat verlassen und sich auf die große Reise zum heiligen Jakobus begeben hatten, der an der äußersten Grenze der bekannten Welt begraben lag.

Man könnte die Geschichte aber auch so erzählen …

 

Der politische Heilige

 

Vom 5. – 11. Jahrhundert formte sich progressiv das, was wir heute als Sakralgeographie des okzidentalen Mittelalters kennen. Kirchliche Strukturen festigten sich, Heiligenkulte blühten auf, eine erste Welle häretischer Streitigkeiten wurde beigelegt, Liturgie bleibend im römischen Sinn ausgeformt. Der christliche Westen bekam sein eigenes Gesicht.

Es war vor allem das 9. Jahrhundert, in dem der Apostel Jakobus in eine »persönliche« Beziehung zur Iberischen Halbinsel und damit zu ganz Europa trat. Die Abwehrkämpfe des kleinen christlichen Königreiches Asturien gegen die Mauren, die Bemühungen um Unabhängigkeit vom toledanischen Primat und eine reservierte Haltung gegenüber einer karolingischen Einflussnahme förderten ein spirituelles Klima, dessen Materialisierung den Fund beziehungsweise die Wiederentdeckung des Apostelgrabes zur Folge hatte. Gedeckt von der apostolischen Autorität und unterstützt von der christlichen Reconquista, wurde eine Kultdynamik in Bewegung gesetzt, deren Konsequenzen bis in unsere Zeit reichen.

Mit anderen Worten: Das kleine und so entlegene Gebiet der spanischen Christen konnte nur gehalten werden, wenn die Verbindung nach »drüben« nicht abriss. Es galt, militärische und wirtschaftliche Hilfe ins Land zu locken. Dazu gehörten gut ausgebaute, sichere Straßen, um den Handel in Gang zu halten; dazu gehörten Hospitäler, Kirchen und Klöster, um die Pilger zu beherbergen und zu versorgen.

Noch wichtiger aber war es, den moralischen Widerstand zu stärken und der Ausbreitung des Islam ein entschiedenes Christentum entgegenzustellen. Die frommen Pilger aus allen Kerngebieten Europas waren sowohl moralisch als auch militärisch eine nicht zu unterschätzende Kraft.

Nichts kam daher den staatspolitischen Zielen der Könige von Asturien mehr entgegen, nichts förderte die Absichten der Kirche mehr als die »Entdeckung« des Jakobsgrabes in Galicien. Von diesem kleinen Stück Land ging die Formung eines christlichen Europas aus, mit dessen Ergebnissen wir noch heute leben. Gewiss wäre es noch besser gewesen, Christus selbst, sein Leichentuch oder die Leidenswerkzeuge vorzeigen zu können. Aber mit Jakob hatte man immerhin einen seiner ersten Jünger, einen Vertrauten und Kämpfer der ersten Stunde.

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Pilgerströme

 

Und sie kamen, die Menschen aus nah und fern, zunächst in erster Linie Äbte, Bischöfe, Könige und Adelige, später, ab dem 11., 12. und vor allem 13. Jahrhundert, aber immer mehr Menschen aus allen Schichten: Kranke, Gesunde, Büßer, Ritter, Verbrecher, Huren, Heilige, Männer, Frauen und Kinder. Seitdem Jerusalem im Wirrwarr des blutigen Kreuzzugsgeschehens verloren gegangen war, war es Santiago ganz im Westen, das alle anzog. Der »Heilige Krieg« (Ablassgarantie für jeden, der das Kreuz nahm; Vergebung aller Sünden für jeden, der einen Mauren tötete – die Parallelen zu unserer Zeit sind wahrlich beeindruckend!) – im Osten schien verloren. Ein Grund mehr, den »Heiligen Krieg« im Westen mit kriegerischen und nichtkriegerischen Mitteln zu führen.

Es war die Massenbewegung des Mittelalters: Der Strom der Pilger wuchs auf eine halbe Million Menschen pro Jahr an, und wie ein aufgefächertes riesiges Flussdelta durchzieht das Netz der Jakobswege ganz Europa. Handel und Verkehr belebten sich, Wissen wurde ausgetauscht und erweitert, fremde Sprachen wurden gelernt – es war der Anfang eines europäischen Bewusstseins oder das »making of modern Europe«, wie man salopp formulieren könnte.

»Nach Jerusalem um Jesu willen, nach Rom wegen des Papstes und nach Santiago wegen dir selbst« – es gab keinen anziehenderen Wallfahrtsort als Santiago de Compostela, und von Jahr zu Jahr brachen mehr Menschen dorthin auf. Pilgerschaft als Abenteuer, Ich-Findung, Gelübde, Buße, Beschäftigung für die zahlreichen Ritterorden, die im ausgebluteten Nahen Osten »beschäftigungslos« geworden waren. Die Motive waren vermutlich so vielfältig und unterschiedlich wie die Pilger selbst.

Aber aus welchen Gründen der Einzelne auch aufbrach – den Ruf »Santiago, Ultreja« auf den Lippen – jeder, der diese mühsame Reise ans Ende der Welt überlebte, kehrte verändert zurück. Er hatte gefährliche Abenteuer überstanden, fremde Menschen und Gegenden kennen gelernt, unbekannte Speisen gegessen und vor allem nicht nur Frömmigkeit, sondern enorme Durchhaltekraft bewiesen. Viele allerdings starben unterwegs und kamen niemals an – sie konnten zumindest mit direktem göttlichem Segen rechnen.

Wer es aber geschafft hatte, konnte sich des Respekts und der Hochachtung seiner Mitmenschen sicher sein. Und pilgern lohnte sich: Man war während der Peregrinatio immerhin aller Steuern enthoben, Gläubiger mussten sich gedulden, Strafen wurden ausgesetzt oder ganz erlassen. Mehr und mehr wurde von den Wundern berichtet, die der heilige Jakobus vollbracht hatte – Lahme, die wieder gehen konnten, Blinde, die plötzlich sehen konnten, und Taube, die hörten.

Der uralte Schicksalsweg der europäischen Geschichte bewegte und bewegt die Herzen der Menschen, damals wie heute.

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Papier

 

Dieses uns heute so selbstverständliche Material hat seinen Namen – eigentlich zu Unrecht – von jener berühmten Pflanze Cyperus Papyrus L., die lange Strecken des sumpfigen Nilufers bedeckt. Im Gegensatz zum Papyrus besteht es aus mechanisch und chemisch aufgeschlossenen Pflanzenfasern, die im Laufe des Produktionsprozesses künstlich verfilzt und zum Papierblatt gefügt werden.

Bereits im China des 2. Jahrhunderts bekannt, gelangte das Wissen über die Papierherstellung aus Ostasien über den Vorderen Orient schließlich nach Al-Andalus. Schon im 12. Jahrhundert wurden die berühmten Erzeugnisse der Papiermühle von Valencia bereits exportiert. Mauren und Sarazenen galten im 13. Jahrhundert, in dem mein Roman spielt, als Meister der Papiermacherei.

Anfang des 13. Jahrhunderts beginnt die Papierherstellung auch in Italien, wohl weil in dieser Periode der Herausbildung neuer Produktionsverhältnisse, des Aufschwungs der Produktivkräfte und der Entwicklung des geistigen Lebens das bislang übliche Pergament nicht mehr als Schriftträger ausreichte.

In Deutschland dauerte es ein ganzes Stück länger, bis Papiermühlen errichtet wurden. Um eine der ersten dürfte es sich bei der »Gleissmühl« nahe Nürnberg handeln (1390).

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Tarot

 

Nirgendwo im Roman taucht das Wort »Tarot« auf und doch wird jeder, der sich einmal damit näher beschäftigt hat, wissen, dass Estrellas »bunte Karten« ein Vorläufer des Tarots sind. Seine eigentliche Herkunft ist unklar. Manche vermuten ägyptische Hintergründe, andere wieder glauben an östliche Bezüge. Etwa im 14. Jahrhundert haben wir erste Quellen, die das Tarot in Europa bezeugen.

Nichts in der Geschichte – so lehrt uns die Erfahrung – geschieht schlagartig. So habe ich Estrella bereits Mitte des 13. Jahrhunderts mit »bunten Karten« ausgestattet, die sie zum Wahrsagen verwendet. Im Gegensatz zu den heute gebräuchlichen Tarotdecks mit 78 Karten arbeitet sie aber nur mit den 22 Karten, den Großen Arkana, weil ich die Deutungen nicht zu kompliziert machen wollte.

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Literaturempfehlungen

Die Liste interessanter Bücher zum Thema wäre endlos. Für alle, die tiefer in verschiedene Themenfelder einsteigen wollen, seien hier nur einzelne ausgewählte Beispiele angeführt:

 

Arno Borst: Die Katharer, Freiburg im Breisgau 1991

Hajo Banzhaf: Das Tarothandbuch, München 1986

Petra van Cronenburg: Schwarze Madonnen. Das Mysterium einer Kultfigur, München 1999

Malcom Godwin: Der Heilige Gral. Ursprung, Geheimnis und Deutung einer Legende, München 1994

Erni Kutter: Der Kult der drei Jungfrauen. Eine Kraftquelle weiblicher Spiritualität neu entdeckt, München 1997

Millán Bravo Lozano: Praktischer Pilgerführer: Der Jakobsweg, Madrid 2001 (der Jakobswegführer überhaupt)

Amin Maalouf: Der Heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber, München 1997

Cees Nooteboom, Der Umweg nach Santiago, Frankfurt 1992

Steven Runciman: Geschichte der Kreuzzüge. München 1995

VERMÄCHTNIS 1

JENSEITS DER STERNE

León, Frühling 1227

 

Er kam wie verabredet, mit den Schatten der Dämmerung. Mein Herz begann zu rasen, als ich seine hohe Gestalt mit dem rotblonden Haar erblickte, das ihm in Wellen bis auf die Schultern fiel und dem schmalen Schädel etwas Löwenhaftes verlieh.

Es war wahnsinnig, was wir taten.

Es würde uns beide ins Verderben stürzen.

»Hört es jemals auf, Blanca?«, sagte er, als er meine Hand an seine Lippen presste. »Diese Sehnsucht? Mir kommt es vor, als ob sie sich von Tag zu Tag verdopple.«

Ich genoss die verbotene Berührung. Tief in ihm glomm ein Feuer, das nur selten durch seine Beherrschung drang. Alles in mir sehnte sich danach, es zum Lodern zu bringen, obwohl ich mich gleichzeitig davor fürchtete.

»Ich weiß es nicht, mein Liebster«, sagte ich. »Aber wir müssen ab jetzt noch vorsichtiger sein. Diego hat mich heute so seltsam angesehen, als ich zur Messe wollte.«

»Kann er denn etwas von uns wissen?«

Ein köstliches Wort, das mich wie ein warmer Strom durchflutete! Aber ich vergaß keinen Augenblick, dass es dieses »uns« eigentlich gar nicht geben durfte.

»Nein, und er darf auch nichts erfahren. Niemals, hörst du?« Beschwörend sah ich ihn an. »Du kennst ihn nicht. Diego wäre zu Dingen fähig, die ich mir nicht mal vorstellen möchte.«

Keiner war mir gefolgt. Ich hatte mich bei meinem Weg durch die abendlichen Gassen immer wieder davon überzeugt. Aber es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis Diego endgültig misstrauisch werden würde. Das Leben, zu dem er sich entschlossen hatte, forderte Einschränkungen und Opfer, die er auch von mir erwartete. Für uns beide stand das Consolamentum noch aus, die Feuertaufe, die uns für immer an die Gemeinschaft der Reinen binden würde. Diego träumte seit langem davon, dass wir sie Seite an Seite empfangen würden. Deshalb war die Zeit der Prüfungen, die Endura, die vor mir lag, umso wichtiger. »Dann wird nichts mehr uns trennen können, meine kleine Blanca«, pflegte er zu sagen und sah so glücklich dabei aus, dass ich kaum noch zu atmen wagte. »Dann sind wir auf ewig im Geist vereint.«

Oswald schien meine Antwort zu irritieren. »Aber er ist doch dein Bruder«, sagte er. »Wie kann er etwas gegen dein Glück haben?«

Was wusste er schon von uns?

Diego entstammte der ersten Ehe unseres Vaters, des Kaufmanns Alfonso Alvar, die er in jungen Jahren mit der noch jüngeren Isabella geschlossen hatte. Seine Frau war im Kindbett gestorben, und es dauerte Jahre, bis er erneut freite, dieses Mal Marisa, meine Mutter. Diego, der die eigene Mutter niemals gekannt hatte, liebte und verehrte sie wie eine Heilige. Als sie schließlich mich zur Welt brachte, schien sein Glück vollkommen. Ich war sein Spielzeug, sein Liebstes, alles, was er besaß. Aber meine Mutter starb während einer Grippeepidemie, die León um die Hälfte dezimierte; unser Vater erlag nur wenig später dem Schlagfluss. Zurück blieben wir Waisen, zehn und achtzehn Jahre alt.

Blancadiego. Diegoblanca.

Als wären wir ein einziges Wesen und nicht Bruder und Schwester. Diego hatte niemals Anstalten gemacht zu heiraten und mich ebenso wenig dazu gedrängt. Er schien es im Gegenteil zu genießen, jeden Bewerber abzuweisen, der um meine Hand anhielt, auch als er noch nicht von der Lehre der Reinen angezogen war. So vieles verband uns von Anbeginn – und nun vor allem jenes Geheimnis, das uns das Leben kosten konnte.

Ich betrachtete ihn, Oswald, meinen schönen, stolzen Tempelritter, der Gott Keuschheit, Armut und Gehorsam geschworen hatte, bevor er wie ein Blitzschlag in mein Leben gefahren war. Mein Wissen über die Tempelherren war gering, aber ich wusste doch, dass Oswald als Mitglied dieses mächtigen Ordens keiner irdischen Gerechtigkeit untertan war. Einzig und allein dem Papst schuldete er Rechenschaft. Und jener Gregor IX., der soeben den Heiligen Stuhl in Rom bestiegen hatte, war, wie auch schon seine beiden Vorgänger, der größte Feind der Reinen.

Wie kannst du mir so nah und so fremd zugleich sein?, dachte ich. Aber meine Liebe zu dir ist ein Gebet, das alles andere bedeutungslos macht.

»Seit jeher habe ich auf dich gewartet«, sagte Oswald, als habe er meine Gedanken erraten. »Deshalb habe ich dich sofort erkannt.«

Es war bei meiner Freundin Consuelo gewesen, zu der mich Diego nur noch gehen ließ, um weiteren Gerüchten zuvorzukommen. León war eine Stadt, in der nichts lange unbemerkt blieb. Schon seit einiger Zeit erregte unser abgeschiedener Lebenswandel Aufsehen, wenngleich Diegos wirtschaftliches Geschick allenthalben Anerkennung fand. Es war ihm in jungen Jahren nicht nur gelungen, den väterlichen Tuchhandel erfolgreich auszubauen, sondern das Geschäft durch neue, viel versprechende Waren wie ausgefallene Farbstoffe, Beizen, Zucker und vor allem Papier auszuweiten. Noch schrieb man es dem schweren Schicksal zu, dem frühen Verlust unserer Eltern, der ihn zu schnell erwachsen hatte werden lassen, dass er so in sich gekehrt wirkte und mich zu einem ähnlichen Betragen anhielt. Aber es gab auch schon andere Stimmen, die uns beide für eingebildet und wunderlich erklärten.

Ausgerechnet Consuelo!

Diego verabscheute ihr herausforderndes Lachen, den üppigen Körper, den feinste Materialien raffiniert zur Schau stellten, besonders aber die leicht affektierte Angewohnheit, unversehens loszuträllern. Manuel Esteban, ihr wesentlich älterer Ehemann, handelte mit Silber- und Goldgefäßen und war ein guter Kunde der Tempelherren, die als Einzige außer den Juden in León als Geldverleiher tätig sein durften. Die beiden führten ein prächtiges, offenes Haus, das die unterschiedlichsten Menschen anzog.

Hier waren wir auf einander getroffen.

Oswald lachte gerade über etwas, was Manuel gesagt hatte, und sah sich halb über die Schulter zu mir um. Es gab ein klirrendes Geräusch, als der Ring von seinem Finger rutschte und auf dem Steinboden aufschlug.

Er kullerte bis zu meinen Füßen.

Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, plötzlich froh, dass ich die Winterkleidung bereits abgelegt hatte und ein helles, hochgeschnürtes Kleid trug, zu dem ich ausnahmsweise die Perlen meiner Mutter angelegt hatte. Immer wieder gab es Streit mit Diego, der nicht wollte, dass ich mich herausputzte, um mir dann doch immer wieder die herrlichsten Seiden und Sammete nach Hause zu bringen. Erst schalt er mich wegen meiner Eitelkeit und prangerte sie als Teufelswerk an. Dann jedoch war er es, der Gewandnäherinnen ins Haus bestellte und ihre Arbeit überwachte, bis alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war.

Oswald bückte sich ebenfalls. Beinahe wären unsere Köpfe zusammengestoßen. Unsere Hände berührten sich. Immer würde ich mich an diesen Moment erinnern. Als ich seine Augen sah, war ich verloren. Sie hatten eine Farbe, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, ein so helles, klares Blau, dass sie beinahe durchsichtig wirkten.

»Er wollte zu dir«, sagte er. »Ich möchte, dass du ihn ab jetzt trägst.«

Schweigend steckte ich den goldenen Reif mit dem grünen Stein an den Mittelfinger meiner rechten Hand. Ein großer Smaragd. Ich wurde mir seines enormen Wertes erst bewusst, als ich ihn zu Hause eingehender untersuchte und die Gravur auf der Rückseite entdeckte. Baldur von Lichtenfels, Buchstabe für Buchstabe eingestichelt. Er hatte mir den Ring seines Vaters geschenkt.

Welch eindeutigeres Zeichen hätte ich mir wünschen können? Ich gehörte zu ihm. Für immer.

Dabei hätten wir unterschiedlicher nicht sein können – ich ein Mädchen, das León noch nie verlassen hatte, er ein Mönchskrieger aus dem Frankenreich, der weit herumgekommen war. Was uns aber am tiefsten entzweite, hatte ich ihm bislang verschwiegen: dass ich mich wie mein Bruder der Gemeinschaft der Reinen zugehörig fühlte, die mit dem Bannfluch der Kirche belegt war.

»Du bist so still heute, Blanca.« Seine Stimme hatte ich sofort geliebt. Ein dunkles Timbre, verstärkt durch den fremdartigen Akzent, der unsere harte Sprache weicher und melodischer klingen ließ.

»Ich kann eben nicht gleichzeitig reden und genießen. Und ich will mich doch satt sehen an deinen Augen und satt trinken an deiner Wärme.«

Diego hatte mir wieder und wieder erklärt, wie vergänglich die Freuden des Körpers seien, den der Teufel, wie die gesamte sichtbare Welt, erschaffen habe. Das Fleisch allein sei verantwortlich für alles Leid; nur der Geist, die reine Liebe Gottes, ewiglich. Lange Zeit war mir alles sehr klar und logisch erschienen. Aber da hatte ich auch noch nicht gewusst, wie köstlich es sein würde, die verheißungsvolle Hitze seines Körpers zu spüren.

Er zog mich an sich.

Seine Arme waren stark, und er roch nach Minze. Er fühlte sich wie ein Ritter an, ganz und gar nicht wie ein Mönch. So hatte ich mir immer die strahlenden Helden aus den Aventüren vorgestellt, die Diego mir inzwischen verboten hatte, weil sie das Irdische verherrlichten. Am liebsten hätte ich für immer in seine Halsgrube geatmet und den zärtlichen Worten gelauscht, die er mir ins Ohr raunte, aber etwas in mir blieb trotz allem auf der Hut.

Ich hatte vorgegeben, das Haus wie immer zur Abendandacht zu verlassen. Die Reinen verwarfen alle christlichen Sakramente. Gerade deshalb hielt Diego es für eine kluge Taktik, mich keine Messe versäumen zu lassen, um nach außen hin den Anschein zu wahren. Dass ich mir dabei wie eine Heuchlerin vorkam, schien ihn nicht weiter zu stören.

»Der Tag wird kommen, da die Reinen furchtlos nach außen treten«, pflegte er zu sagen, in jenem Ton, der keine Widerrede duldete. Sobald er ihn anschlug, wusste ich, dass eine Predigt bevorstand. »Bis es allerdings so weit ist, dürfen wir nichts riskieren. Oder sollen wir etwa auch brennen wie unsere Schwestern und Brüder jenseits der Pyrenäen? Wir müssen klüger sein als unsere Häscher. Durch uns muss die reine Lehre weiter verbreitet werden. Deshalb sind wir geradezu verpflichtet, zu überleben.«

Entsetzlich, was seit nunmehr beinahe zwanzig Jahren in Albi und anderen reichen Städten des Languedoc geschah! Wer nur in den Verdacht geriet, zu den Reinen zu gehören, verlor alle Rechte, seinen Besitz, inzwischen sogar das Leben. Die kirchliche Obrigkeit hatte eine Unzahl von Verhören durchgeführt. Das Netz war eng gespannt. Man gab sich keine Mühe mit komplizierten Prozessverfahren. In einer Art Standgericht wurden die Delinquenten von der Inquisition abgeurteilt. Wer nicht sofort gestand, tat es unter der Folter. Man munkelte, es seien neuartige Methoden erdacht und erprobt worden, die jeden zum Sprechen brachten.

Und dennoch war der Funke noch nicht erloschen. Einige waren nach Italien geflohen, wo sich in abgeschiedenen Gegenden neue Gemeinden gebildet hatten; andere nach Norden, wieder andere nach Süden, über die Berge nach Al-Andalus. Wie lange würde es dauern, bis die Milizen des Papstes sie auch hier aufspürten?

Ich fröstelte.

»Du bist so unruhig«, sagte er und musterte mich aufmerksam. »Was ist mir dir?«

»Willst du wissen, weshalb?«

Für einen Moment lag mir das Herz auf der Zunge. Ihm gestehen, wer ich wirklich war und woran ich glaubte, keine Lügen mehr, kein Verstellen – wie ruhig und sicher würde mich das machen!

Dann jedoch verflog meine Begeisterung, und der Verstand begann wieder zu arbeiten. Eine große Verantwortung lag auf mir, nicht nur für mich und Diego, sondern auch für das Schicksal der anderen. Ein Einziger, der am falschen Ort redete, brachte alle in Gefahr. Wir konnten uns keine Mitwisser leisten, erst recht keine, die das Tatzenkreuz auf dem Rücken trugen. Niemals dufte ich vergessen, was uns trennte, auch wenn ich ihn noch so sehr liebte!

»Diego wird León für eine ganze Weile verlassen«, sagte ich. »Er muss nach Pau. Über die Grenze. Geschäfte, du verstehst.«

Er lächelte, überrascht und erfreut zugleich. Ich liebte es, wenn sein Gesicht hell wurde.

»Wann bricht er auf?«, fragte er.

»Nächste Woche. Er schließt sich einer Handelskarawane an.« Natürlich verlor ich kein Wort darüber, dass jene Gemeinschaft in erster Linie als Tarnung diente und der Rückweg wichtiger war als der Hinweg. Diegos eigentliches Ziel war ein anderes – die Rettung eines Vollkommenen, den er sicher über den Somport-Pass bringen sollte, damit er bei uns ein neues Leben beginnen konnte.

»Ich wünsche ihm eine friedliche, ertragreiche Fahrt«, sagte Oswald. »Und wie erfahre ich, wann er abgereist ist?«

»Ein Bote wird dir die Nachricht überbringen.« Ich hielt kurz inne. »Aber kann er dich in der Komturei auch ungestört sprechen?«

Das unbedingte Gebot der Keuschheit galt nicht nur für mich, sondern auch für ihn, das vergaß ich immer wieder. Manchmal hätte ich wissen mögen, ob er ebenso begierig war wie ich, es zu übertreten.

»Auf den Bruder an der Pforte ist Verlass. Schick deinen Boten bald, so bald wie möglich. Ich zähle die Tage und Nächte.« Er nahm mich in die Arme. »Aber eines weiß ich jetzt schon: Der allerschönste Bote trägt deinen Namen – Blanca.«

Er küsste mich, und ich nahm seinen Atem in mir auf wie ein Versprechen. Auch er schien ungewöhnlich bewegt. Oswald hielt mich umschlungen und wollte mich nicht gehen lassen.

»Es ist schon spät. Ich muss jetzt wirklich los, mein Liebster.« So sanft ich konnte, entwand ich mich ihm. »Aber schon sehr bald hat das Warten ein Ende.«

»Weißt du eigentlich, dass meine Liebe mir manchmal Angst macht?« Er war so ernst wie nie zuvor. »Als ob ich deine Seele nicht besitzen könnte, ohne meine zu verlieren.«

Ich wusste genau, was er meinte.

Und liebte ihn noch mehr dafür.

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»Es stimmt mich unbehaglich, dich ausgerechnet während deiner Endura so lange allein zu lassen«, sagte Diego, nachdem wir unsere Mahlzeit beendet hatten, Fischsuppe, Gemüse und geröstetes Brot.

Die Reinen lehnten den Verzehr von Eiern, Käse und Fleisch ab, und wir bemühten uns, es ihnen schon jetzt nachzutun. Diego fiel es schwer, auf Braten, Schmalz und Schinken zu verzichten, und manchmal schien er sogar die Hündin zu beneiden, wenn Rena an seinem saftigen Knochen kaute. Ich dagegen hatte mich an die einfache Küche gewöhnt, ebenso wie an die strengen Fastenregeln.

»Was, wenn du Hilfe brauchst? Ermutigung? Oder jemanden, mit dem du reden kannst? Nein, es ist nicht gut, wenn du jetzt allein bist. Deshalb habe ich eine Entscheidung getroffen.«

Er hatte Katzenaugen. Seine dunklen Brauen wölbten sich zur Mitte hin, wo sie sich berührten. Es heißt, Menschen mit diesem Merkmal neigten besonders zur Eifersucht. Jedenfalls gehörte Diego zu den besitzergreifendsten Menschen, denen ich jemals begegnet war.

Ich senkte den Kopf. Was immer jetzt auch kommen würde  – ich wusste jetzt schon, dass ich es hassen würde.

»Während meiner Abwesenheit wird Sancha bei uns wohnen. Dann hast du eine Vertraute in deiner Nähe, die dich in allem beraten kann.«

Ausgerechnet Sancha! Eine hagere Witwe mit hängenden Lidern, die ihr etwas Eidechsenhaftes gaben, gepaart mit einem hungrigen Mund, der genau das Gegenteil sagte. Als eine der Eifrigsten in der Gemeinde stellte sie ihre Frömmigkeit bei jeder Gelegenheit unter Beweis. Vielleicht misstraute ich ihr gerade deswegen. Denn ein untrügliches Gefühl sagte mir, dass es sich in Wirklichkeit ganz anders verhielt. Sie betete Diego an. Wäre unter den Reinen das Sakrament der Ehe nicht verpönt gewesen, sie hätte alles getan, um so schnell wie möglich Señora de Alvar zu werden.

»Ich komme eigentlich ganz gut zurecht«, erwiderte ich. »Schließlich bin ich kein Kind mehr. Und du verreist ja nicht zum ersten Mal.«

Seine Züge wurden zu Granit.

« Mir scheint, du verkennst die Macht des Teufels. Satan hat diese Welt geschaffen. Und keiner von uns kann sicher sein, seinen Versuchungen zu entgehen.« Sein Ton wurde milder. »Ich meine es doch nur gut mit dir, Blanca! Sancha wird dir helfen, dich vorzubereiten. Ich fühle mich jedenfalls sicherer, wenn ich sie in deiner Nähe weiß.«

»Wann bist du wieder zurück?« Es schien mir klüger, das Thema zu wechseln. Er konnte ja nicht wissen, wie viel für Oswald und mich von seiner Antwort abhing.

»Rechtzeitig. Und, wie du weißt, nicht allein. Ich erwarte von dir, dass alles für die Ankunft unseres Gastes bereit sein wird. Denn dann schlägt endlich unsere große Stunde! Ich kann es kaum noch erwarten.«

»Ich auch nicht«, sagte ich rasch. Ich sehnte mich nach Oswalds Ring, den ich in meinem Kästchen versteckt hatte. Ich trug ihn jede Nacht. Und es tat mir weh, wenn ich ihn abziehen musste, um uns nicht zu verraten.

Er war neben mir, bevor ich mich wehren konnte, und griff nach meinem Kinn, sodass ich seinem Blick nicht länger ausweichen konnte. Mir waren seine Hände vertraut, die zärtlich sein konnten und roh. Ich hatte gesehen, wie er als Halbwüchsiger Ameisen zerquetschte und Fröschen die Beine ausriss, wie er neugeborene Welpen im Fluss versenkte, scheinbar regungslos, während ich ihn unter Tränen beschwor, es nicht zu tun. Eine einzige Hündin war seinem Wüten entgangen. Vielleicht hatte ich sie deshalb Rena genannt – weil sie mehr als ein Leben haben musste, um das zu überstehen.

Heute freilich wollte Diego nichts mehr davon wissen. Den Reinen galten Tierseelen als heilig. Meinem Bruder lag daran, fromm, beherrscht und mitfühlend zu wirken, aber ich ließ mich nicht davon täuschen. Rena übrigens ebenso wenig. Sie verkroch sich, sobald sie ihn zu Gesicht bekam. Wir wussten beide, dass etwas Wildes, Unbezähmbares in ihm schlummerte, das jederzeit wieder aufbrechen konnte.

»Du würdest mich doch niemals enttäuschen?«, sagte Diego unvermittelt. »Nicht wahr, meine kleine Blanca?«

« Natürlich nicht.« Erneut begann ich zu frösteln. Was wollte er hören? Ich suchte nach den richtigen Worten. »Du bist doch mein Bruder. Mein einziger.«

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Wie immer brachen wir erst nach Mitternacht zu unserer Versammlung auf, die wir jedes Mal in einem anderen Haus abhielten, um möglichst keinen Verdacht zu wecken. Die Stadt schlief, während wir Seite an Seite durch die Gassen liefen, Filzlappen um die Schuhe gewickelt, damit wir auf dem holprigen Pflaster keine Geräusche machten.

Sancha öffnete sofort die Tür, als Diego klopfte, und ließ uns herein. Die Aufregung hatte ihr reizloses Gesicht gerötet.

»Ihr seid die Letzten«, sagte sie mit ihrer etwas lispelnden Aussprache. »Jetzt können wir endlich beginnen.« Ich drehte den Kopf schnell zur Seite, als sie Anstalten machte, mich zu küssen. »Blanca! Dich heiße ich besonders herzlich willkommen. Denn schon bald werden wir wie Schwestern miteinander leben.«

Eine Vorstellung, die mir den Hals zuschnürte. Ich murmelte etwas und drängte mich schnell an ihr vorbei.

In dem Raum hatten sich rund zwanzig Männer und Frauen versammelt. Vorn stand der Altar, ein schlichter Holztisch mit einer weißen Spitzendecke und zwei dicken Kerzen. Kein Kruzifix. Die Reinen lehnten es ab, weil der wahre Jesus niemals am Kreuz gestorben war. Die heimliche Gemeinde wuchs langsam, aber beständig, und natürlich konnten nicht alle immer kommen. Kaufleute gehörten dazu, Apotheker, Schuster, Schmiede, Weber sowie andere Handwerker. In der Regel fanden wir einmal im Monat zum Melioramentum zusammen: um Vergebung zu empfangen für unsere Sünden.

Der Vollkommene, der den Ritus leitete, Pierre Renais, war ein kleiner, leicht gebückter Mann, dessen Haar wie Silbererz schimmerte. Er stammte aus Frankreich und war der dortigen Verfolgung nur knapp entgangen. Bei uns hatte er ein neues Leben gefunden. Inzwischen jedoch litt er an der Schüttelkrankheit und sehnte den Tag herbei, wo er endlich die Verantwortung einem Jüngeren übergeben konnte.

Er nickte uns zu, während wir die hinteren Plätze einnahmen, dann begann er zu beten.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des ehrwürdigen Heiligen Geistes, der ehrwürdigen heiligen Evangelien…«

Meine Gedanken glitten ab. Was Oswald wohl sagen würde, wenn er uns hier sähe? Auf Dauer konnte ich ihm nicht verheimlichen, was mich von allen unterschied. Aber war seine Liebe stark genug, um dies zu überstehen?

Ich zuckte zusammen, als der Perfectus die Stimme erhob.

»… und der hier gegenwärtigen Brüder und Schwestern, bitten wir dich, Heiliger Herr, vergib uns unsere Sünden. Benedicte, parcite nobis …«

Es folgte eine schier endlose Aufzählung der Vergehen, bei denen die fleischlichen Gelüste im Vordergrund standen. Mir wurde noch unbehaglicher, als eine ältliche Frau nach vorne trat und mit weinerlicher Stimme öffentlich Bekenntnis ablegte. Ihr Ehemann könne nicht aufhören, sie körperlich zu erkennen, wie sie sich ausdrückte. Mit gefalteten Händen kniete sie vor ihm nieder.

»Ich bitte um deinen Segen«, brachte sie unter Tränen hervor. »Denn ich habe schwer gesündigt.«

Pierre legte ihr seine zittrige Rechte auf den Kopf und hieß sie wieder aufstehen.

»Von Gott empfängst du diesen Segen, um den du gebeten hast«, sagte er. »Gott segne dich und entreiße deine Seele dem schlimmsten Tod. Sollte dein Mann erneut versuchen, dich zu berühren, dann schicke ihn zu mir. Ich werde ihm erklären, dass es ein Ende damit haben muss.«

»Er behauptet, es sei sein gutes Recht. Wozu sei ich sonst seine Frau? Wenn ich nicht bei ihm liege, verdiene ich auch nicht zu essen. Er hält mich für total verdreht. Er weiß doch nicht, dass ich …« Vor lauter Schluchzen konnte sie kaum noch weitersprechen.

»Wie heißt dein Mann?«

»Paco.«

»Dann schick Paco zu mir«, sagte er väterlich. »Ich werde dafür sorgen, dass deine Qual ein Ende hat.«

Andere hatten sich bereits hintereinander aufgestellt, um es ihr nachzutun. Mir fiel es immer schwerer, stillzuhalten. Meine Ohren juckten und ich verspürte das Bedürfnis, laut zu niesen. Von Anfang an hatte mir dieser Akt der Selbstentblößung Unbehagen eingeflößt. Was konnte zwischen Gott und den Gläubigen schon stehen – außer dem Gewissen?

Mein Widerwille wuchs, als sich die Reihe vor mir lichtete. Ich wollte nicht lügen, wenn ich vor Pierre stand, aber die Wahrheit konnte ich ebenso wenig sagen. Mir fiel nur ein Ausweg ein, um mich aus diesem Dilemma zu retten, zumindest für heute.

Ich fasste mir an den Magen, begann leicht zu taumeln.

Diego berührte meinen Arm.

»Was ist mit dir?«, fragte er besorgt.

»Weiß nicht«, flüsterte ich. »Mir ist auf einmal so schrecklich übel … vielleicht die Suppe …«

»Ich bring dich nach draußen«, sagte er. »Stütz dich auf mich.«

In dem vergitterten Innenhof ließ ich mich stöhnend auf eine Bank sinken. Eine Weile saß ich da mit geschlossenen Augen und atmete stoßweise. Alle Fenster des Hauses waren fest verschlossen. Kein Laut drang zu uns heraus. Drinnen würden sie sich weiter öffentlich bezichtigen, was manchen der Reinen eine eigenartige Lust zu verschaffen schien.

»Es tut mir Leid«, sagte ich schließlich und verabscheute mich im gleichen Augenblick für meine Unaufrichtigkeit. Niemals hatte ich meinen Bruder belügen und täuschen wollen. Nun tat ich es beinahe jeden Tag. »Jetzt habe ich das Melioramentum gestört.«

»Du siehst blass aus. Vielleicht ist es doch etwas Ernsteres? Wenn du krank bist, verschiebe ich meine Reise.« Er klang entschlossen.

»Aber das darfst du nicht«, sagte ich erschrocken, »nicht meinetwegen! Die Gemeinde braucht doch einen neuen Perfectus. Siehst du nicht, wie zittrig Pierre geworden ist?«

Sanft strich Diego über meine Stirn.

»Manchmal ist es, als ob sich etwas Fremdes zwischen uns gestellt hätte. Aber ich habe dich doch mit diesen Händen im Leben willkommen geheißen. Und sie halten dich noch immer, kleine Schwester, und werden dich immer beschützen. Geht es wieder?«

Ich zwang mich zu einem Nicken.

Inzwischen musste die Zeremonie vorüber sein. Aber was sollte ich beim nächsten Mal tun? Jetzt begann mir tatsächlich übel zu werden.

»Versprich mir eines!«, verlangte Diego.

»Was?«

»Dass du nicht nachlässt in deinem Bemühen, solange ich fort bin!« Mühsam rang ich mir ein Nicken ab, aber er war offenbar noch nicht zu Ende. »Lass die Versuchung nicht in dein Herz dringen! Denn sollte das geschehen, müsste ich mich für immer von dir abwenden. Was für mich der Tod wäre.« Seine Mundwinkel zuckten. »Aber auch für dich.«