Cover

Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
Einleitung
VORWORT: EIN BRIEF
 
Teil eins – Die zwei toten Mädchen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
 
Teil zwei – Die Maus auf der Meile
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
 
Teil drei – Coffeys Hände
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
 
Teil vier – Der schlimme Tod des Eduard Delacroix
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
 
Teil fünf – Eine nächtliche Reise
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
 
Teil sechs – Coffey auf der Mile
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
 
Nachwort des Autors
Copyright

Das Buch
Paul Edgecomb ist ein alter Mann am Ende seines Lebens. Vor vielen Jahren jedoch war er der Leiter des Todestrakts im Staatsgefängnis Cold Mountain, und das, was dort im Sommer 1932 geschah, lässt Paul bis heute keine Ruhe. Alles begann mit einer Maus, die seltsame Kunststücke beherrschte und ein wenig Hoffnung auf die Green Mile brachte, den letzten Weg der Todeskandidaten zum elektrischen Stuhl. Und es endete mit John Coffey, einem riesigen Schwarzen, der zwei Farmerstöchter brutal vergewaltigt und getötet haben soll. Paul begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit und stellt sich den Schrecken, die ihn in Cold Mountain heimsuchten und seitdem begleitet haben …

Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.

Einleitung
Ich leide immer wieder an Schlaflosigkeit – was Leser meines Romans über die Abenteuer von Ralph Roberts nicht überraschen wird -, und so versuche ich, für die schlaflosen Nächte eine Geschichte parat zu haben. Ich erzähle sie mir selbst, während ich in der Dunkelheit liege, schreibe sie im Geiste, als würde ich sie auf der Schreibmaschine oder am Computer tippen. Immer wieder kehre ich zu ihr zurück, ändere Formulierungen, füge Gedanken hinzu, streiche Sätze und entwickle die Dialoge. Jede Nacht fange ich wieder von vorn an und komme ein wenig weiter, bevor ich einschlafe. Meist kann ich mich schon nach fünf oder sechs Nächten an ganze Brocken von Prosa erinnern. Das klingt vermutlich ein bisschen verrückt, aber es ist beruhigend … und als Zeitvertreib allemal besser als Schafe zählen.
Diese Geschichten nutzen sich schließlich ab wie ein Buch, das man immer wieder liest (»Wirf es weg und kauf ein neues, Stephen«, sagte meine Mutter manchmal mit einem gereizten Blick auf einen geliebten Comic oder ein Taschenbuch. »Das hast du ja ganz zu Fetzen zerlesen.«) Dann wird es Zeit, eine neue Geschichte zu suchen, und während meiner Schlaflosigkeit hoffe ich, dass mir bald eine neue einfällt, denn schlaflose Stunden sind lang.
1992 oder 1993 arbeitete ich an einer Gutenachtgeschichte, die ich »Was die Augen trügt« taufte. Sie handelte von einem Mann in der Todeszelle – von einem riesigen Schwarzen – der ein Interesse an Taschenspielertricks entwickelt, während der Tag seiner Hinrichtung naht. Die Geschichte sollte in der ersten Person erzählt werden, von einem alten Insassen, der einen Karren mit Büchern durch den Zellentrakt rollte und außerdem Zigaretten, billige Modeartikel und Kinkerlitzchen wie Haarwasser und Flugzeuge aus Wachspapier verkaufte. Am Ende der Geschichte, kurz vor seiner Hinrichtung, sollte der riesige Gefangene, Luke Coffey, sich selbst verschwinden lassen.
Es war eine gute Idee, aber die Story gefiel mir einfach nicht. Ich versuchte Hunderte Varianten, doch sie gefiel mir immer noch nicht. Ich gab dem Erzähler eine zahme Maus, die auf seinem Karren mitfuhr, und dachte, das würde helfen, tat’s aber nicht. Der beste Teil war der Anfang: »Dies geschah 1932, als das Staatsgefängnis noch in Evans Notch war … ebenso wie der elektrische Stuhl, den die Insassen Old Sparky nannten«. Der gefiel mir, aber der Rest nicht. Schließlich ließ ich Luke Coffey und seine verschwindenden Münzen zugunsten einer Geschichte über einen Planeten fallen, auf dem die Leute aus irgendwelchen Gründen zu Kannibalen werden, wenn es regnet … das gefällt mir immer noch, also Hände weg, verstanden?
Dann, ungefähr anderthalb Jahre später, kam mir die Idee mit den Todeszellen wieder in den Sinn, aber mit einem anderen Blickwinkel – was wäre, dachte ich, wenn der riesige Bursche eine Art Heiler wäre. Statt eines angehenden Zauberers ein Einfaltspinsel, der für Morde verurteilt wurde, die er nicht begangen, sondern hatte ungeschehen machen wollen?
Die Geschichte war zu gut, um zur Schlafenszeit vergeudet zu werden, befand ich, obwohl sie im Dunkeln begonnen hatte, und so ließ ich den ersten Absatz fast Wort für Wort wieder aufleben und arbeitete im Geiste das erste Kapitel aus, bevor ich mit dem Schreiben begann. Der Erzähler wurde ein Wärter im Todestrakt anstatt eines Insassen, aus Luke Coffey wurde John Coffey (mit einer Verbeugung vor William Faulkner, dessen Christusgestalt Joe Christmas ist), und die Maus wurde … nun, Mr. Jingles.
Es war eine gute Geschichte, das wusste ich von Anfang an, aber sie war ungeheuer schwer zu schreiben. Andere Dinge beschäftigten mich und gingen mir anscheinend leichter von der Hand – das Drehbuch für die Fernsehminiserie The Shining zählte dazu, und ich ließ erst einmal die Finger von The Green Mile. Ich hatte das Gefühl, eine Welt aus dem Nichts zu erschaffen, denn ich wusste fast nichts vom Leben in einem Todestrakt im Grenzgebiet des Südens während der Großen Depression. Recherchen können das natürlich beheben, doch ich dachte, dass die Recherche vielleicht das anfällige Gefühl des Wunderbaren, das ich in der Geschichte gefunden hatte, zerstören könnte. Irgendwie wusste ich von Anfang an, dass ich nichts Reales beschreiben wollte, sondern etwas Mythisches. So machte ich weiter, sammelte Wörter und hoffte auf einen Geistesblitz, auf eine Erleuchtung, auf ein ganz alltägliches Wunder.
Das Wunder kam in Form eines Fax von Ralph Vicinanza, meinem Agenten für Auslandslizenzen, der mit einem britischen Verleger über Fortsetzungsromane gesprochen hatte, wie sie vor einem Jahrhundert von Charles Dickens verfasst worden waren. Ralph fragte mich – in der geringschätzigen Art von jemand, der nicht erwartet, dass aus der Idee etwas wird -, ob ich vielleicht Interesse hätte, mich an dieser Form zu versuchen. Mann, ich sprang sofort darauf an. Mir war gleich klar, dass ich The Green Mile im Zuge solch eines Projekts zu Ende schreiben musste. Ich fühlte mich wie ein römischer Legionär, der die Brücke über den Rubikon in Brand steckt, als ich Ralph anrief und ihn bat, den Vertrag abzuschließen. Das tat er, und den Rest kennen Sie. John Coffey, Paul Edgecombe, Brutal Howell, Percy Wetmore … sie übernahmen die Kontrolle und brachten die Geschichte ins Rollen. Es war wirklich absolut cool.
The Green Mile erfuhr eine Art zauberische Akzeptanz, die ich nie erwartet hätte – eigentlich hatte ich schon mit einer kommerziellen Katastrophe gerechnet. Aber die Reaktionen der Leser waren wundervoll, und diesmal ließen sich sogar die meisten Kritiker mitreißen. Ich glaube, ich verdanke die gute Aufnahme des Buchs den scharfsinnigen Vorschlägen meiner Frau und viel von seinem kommerziellen Erfolg der harten Arbeit der Verlagsmitarbeiter von Dutton Signet.
Die Erfahrung selbst aber, die gehört nur mir. Ich schrieb wie ein Wahnsinniger, versuchte, den verrückten Veröffentlichungsplan einzuhalten und gleichzeitig das Buch so anzulegen, dass jede Fortsetzung einen eigenen kleinen Höhepunkt hat, wobei ich hoffte, dass alles zusammenpassen würde. Mir war völlig klar, dass ich geliefert sein würde, falls dem nicht so war. Manchmal fragte ich mich, ob Charles Dickens sich auch so gefühlt und gehofft hatte, dass die in der Handlung aufgeworfenen Fragen sich von selbst beantworteten. Wahrscheinlich schon. Der gute alte Charles hatte das Glück, vom lieben Gott etwas großzügiger bedacht zu werden, als es ans Verteilen der Talente ging.
Ich erinnere mich, dass ich manchmal dachte, es wimmelte in den Fortsetzungen von den ungeheuerlichsten Anachronismen, aber es stellte sich heraus, dass es bemerkenswert wenige gab. Sogar der kleine »heiße Comic« mit Popeye und Olivia Öl traf genau ins Schwarze: Nach der Veröffentlichung von Band 6 schickte mir jemand einen Sonderdruck von solch einem Comic, der um 1927 herum verlegt worden war. In einem denkwürdigen Bild treibt es Wimpy mit Olivia und isst dabei einen Hamburger. Mannomann, es geht auch nichts über die menschliche Fantasie, oder?
Nach der erfolgreichen Veröffentlichung von The Green Mile gab es viele Diskussionen darüber, wie – oder ob – der Stoff als vollständiger Roman herausgegeben werden sollte. Die Veröffentlichung in Fortsetzungen war eine wunde Stelle für mich und ebenso für einige Leser, denn der Preis war sehr hoch für ein Paperback; ungefähr neunzehn Dollar für alle sechs Fortsetzungen (im Sonderangebot zugegebenermaßen sehr viel weniger). Aus diesem Grund war ein Verkauf aller sechs Bände im Schuber anscheinend nie die beste Lösung. Dieser Band, ein Taschenbuch zu einem vernünftigeren Preis, ist anscheinend die beste Lösung. So liegt hier nun The Green Mile in einem Band vor, und fast so, wie es in Fortsetzungen veröffentlicht wurde (ich habe die Szene geändert, in der Percy Wetmore, in eine Zwangsjacke gesteckt, eine Hand hebt, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen).
Irgendwann möchte ich den Roman ganz überarbeiten, zu einem Band umschreiben, den es in dieser Form nicht geben kann, und neu veröffentlichen. Bis dahin muss dies hier reichen. Es freut mich, dass so viele Leser Freude daran hatten. Und Sie wissen ja, The Green Mile erwies sich schließlich doch noch als ziemlich spannende Gutenachtgeschichte.
 
Stephen King
Bangor, Maine
6. Februar 1997

VORWORT: EIN BRIEF
27. Oktober 1995
Liebe treue Leser,
das Leben ist eine launische Sache. Die Geschichte, die in diesem kleinen Buch beginnt, gibt es in dieser Form wegen der zufälligen Bemerkung eines Immobilienmaklers, den ich nie kennengelernt habe. Es geschah vor einem Jahr auf Long Island. Ralph Vicinanza, ein alter Freund und Geschäftspartner von mir (er verkauft hauptsächlich Lizenzen meiner Bücher und Kurzgeschichten ins Ausland), hatte dort gerade ein Haus gemietet. Der Immobilienmakler merkte an, dass das Haus »wie etwas aus einer Geschichte von Charles Dickens« aussah.
Ralph erinnerte sich an die Bemerkung, als er seinen ersten Gast im Haus begrüßte, den britischen Verleger Malcolm Edwards. Er erzählte Edwards davon, und sie plauderten über Dickens. Edwards erwähnte, dass Dickens viele seiner Romane in Fortsetzungen veröffentlicht hatte, entweder als Beilage in Zeitschriften oder als eigene Ausgaben, sogenannte »Chapbooks« (ich weiß nicht, woher diese Bezeichnung für ein Buch kommt, das kleiner als ein durchschnittliches ist, aber der vertrauliche und freundschaftliche Klang des Wortes hat mir stets gefallen). In einigen der Romane, fügte Edwards hinzu, wurde noch geschrieben und korrigiert, während die ersten Folgen bereits veröffentlicht wurden; Charles Dickens war ein Romanautor, der offenbar keine Angst vor Abgabeterminen hatte.
Dickens’ Fortsetzungsromane waren enorm beliebt; sogar so beliebt, dass einer von ihnen eine Tragödie in Baltimore heraufbeschwor. Eine große Gruppe von Dickens-Fans drängte sich im Hafen auf einem Pier und wartete auf die Ankunft eines englischen Schiffes mit Exemplaren der neuesten Fortsetzung von The Old Curiosity Shop an Bord. Wie es heißt, stürzten in dem Gedränge einige der Möchtegernleser ins Wasser und ertranken.
Ich glaube kaum, dass Malcolm oder Ralph jemanden ertrinken sehen wollen, aber sie fragten sich, was geschehen würde, wenn heutzutage wieder die Veröffentlichung eines Romans in Fortsetzungen versucht werden würde. Keinem von beiden war auf Anhieb bewusst, dass es das schon mindestens zweimal gegeben hatte (es gibt wirklich nichts Neues unter der Sonne). Tom Wolfe veröffentlichte die erste Fassung seines Romans Fegefeuer der Eitelkeiten in Fortsetzungen im Rolling Stone Magazine, und Michael McDowell (The Amulet, Gilded Needles, The Elementais und das Drehbuch Beetlejuice) veröffentlichte einen Roman mit dem Titel Blackwater in Fortsetzungen im Taschenbuch. Dieser Roman – eine Horrorstory über eine Südstaatler-Familie mit der unangenehmen Eigenart, sich in Alligatoren zu verwandeln – war nicht McDowells bester, aber er wurde trotzdem ein ordentlicher Erfolg für Avon Books.
Die beiden Männer spekulierten weiter, was geschehen würde, wenn ein Autor von Populärliteratur heutzutage versuchte, einen Roman in Chapbooks zu veröffentlichen – in kleinen Taschenbüchern, die vielleicht für ein Pfund oder zwei in Großbritannien oder für vielleicht drei Dollar in Amerika verkauft werden würden (wo die meisten Taschenbücher jetzt 6,99 Dollar oder 7,99 Dollar kosten). Jemand wie Stephen King könnte solch einem Experiment vielleicht einen interessanten Start geben, meinte Malcolm, und dann unterhielten sie sich über andere Themen.
Ralph vergaß die Idee mehr oder weniger, aber sie fiel ihm im Herbst 1993 wieder ein, als er von der Frankfurter Buchmesse zurückkehrte, einer Art internationaler Handelsmesse, bei der jeder Tag für ausländische Agenten wie Ralph ein Showdown ist. Er brachte mir das Thema Fortsetzung/Chapbook zusammen mit einer Reihe von anderen Ideen an, von denen die meisten automatisch abgelehnt wurden.
Die Idee mit dem Chapbook wurde jedoch nicht automatisch abgelehnt, im Gegensatz zum angebotenen Interview in der japanischen Ausgabe des Playboy oder der Tournee durch die baltischen Republiken, für die alle Spesen vergütet werden sollten, beflügelte sie meine Fantasie. Ich bezweifle, dass ich ein moderner Dickens bin – wenn es so jemanden gibt, dann ist das vermutlich John Irving oder Salman Rushdie -, aber ich habe stets Geschichten geliebt, die in Episoden erzählt werden. Es ist eine Form, auf die ich zum ersten Mal in der Saturday Evening Post stieß, und sie gefiel mir, weil am Ende jeder Episode Leser und Schriftsteller fast auf dem gleichen Stand waren – man konnte eine ganze Woche lang versuchen, die nächste Wendung vorherzusehen. Außerdem, so kam es mir vor, las und erlebte man diese Geschichten intensiver, weil sie rationiert waren. Man konnte sie nicht verschlingen, selbst wenn man das wollte (und wenn die Story gut war, tat man es trotzdem).
Das Beste von allem: Bei mir zu Hause lasen wir Geschichten oft laut vor – an einem Abend mein Bruder David, am nächsten ich, am übernächsten meine Mutter, dann wieder mein Bruder. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, ein geschriebenes Werk so zu genießen wie die Filme und Fernsehsendungen (Rawhide, Bonanza, Route 66), die wir uns gemeinsam ansahen; sie waren ein Familienereignis. Erst Jahre später wurde mir klar, dass Dickens’ Romane in seiner Zeit auf sehr ähnliche Art und Weise Familien erfreut hatten. Der Unterschied war nur, dass sie über Jahre hinweg am Kamin mit Pip und Oliver und David Copperfield mitleiden oder sich freuen konnten – nicht nur ein paar Monate lang (selbst die längsten Serien in der Post hatten selten mehr als acht Fortsetzungen).
Es gefiel mir noch etwas anderes an der Idee, ein Aspekt, den wohl nur der Verfasser von Spannungsromanen und Gruselgeschichten voll zu schätzen weiß: Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veröffentlicht wird, gewinnt der Schriftsteller eine Überlegenheit über den Leser, in deren Genuss er sonst nicht kommt: Einfach gesagt, treue Leser, Sie können nicht vorausblättern und nachsehen, wie die Sache ausgeht.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal in unser Wohnzimmer spazierte, als ich zwölf war, und meine Mutter in ihrem geliebten Schaukelstuhl saß. Verstohlen blinzelte sie auf das Ende eines Agatha-Christie-Taschenbuchs, während ihr Finger das Buch erst bis Seite fünfzig oder so aufgeschlagen hielt. Ich war entsetzt, und das sagte ich ihr (ich war zwölf Jahre alt, wohlgemerkt, ein Alter, in dem Jungs verschwommen zu merken beginnen, dass sie alles wissen). Ich erklärte ihr, wenn man das Ende eines Krimis lese, bevor man tatsächlich dort anlange, sei das so, als ob man die weiße Creme zwischen den Hälften eines Oreo-Kekses äße und dann den eigentlichen Keks einfach wegwürfe. Sie lachte ihr wundervolles ungeniertes Lachen und sagte, das möge vielleicht so sein, aber manchmal könne sie der Versuchung einfach nicht widerstehen. Der Versuchung erliegen, das war eine Sache, die ich verstehen konnte: Das passierte mir auch oft, sogar mit zwölf. Aber jetzt gibt es endlich ein amüsantes Mittel gegen die Versuchung. Bis die letzte Episode im Buchhandel eintrifft, weiß keiner, wie The Green Mile ausgeht … und das schließt mich vielleicht ein.
Ralph Vicinanza konnte es unmöglich wissen, aber er erwähnte die Idee, einen Roman in Fortsetzungen zu veröffentlichen, bei mir in einem psychologisch perfekten Augenblick. Ich hatte mit einer Romanidee gespielt, mit einem Thema, bei dem mir klar war, dass ich es früher oder später anpacken musste: der elektrische Stuhl. »Old Sparky« hat mich fasziniert, seit ich meinen ersten James-Cagney-Film sah, und die ersten Geschichten über Todeszellen, die ich las (in einem Buch von Warden Lewis E. Lawes mit dem Titel Twenty Thousand Years in Sing Sing), regten die dunklere Seite meiner Fantasie an. Ich fragte mich, wie es sein mag, wenn man diese letzten vierzig Yards zum elektrischen Stuhl geht und dass man dort stirbt. Und, was das anbetrifft, wie mag es sein, wenn man der Mann ist, der den zum Tode Verurteilten festschnallt oder den Hebel betätigt? Was würde solch ein Job einem nehmen? Oder, noch gruseliger, was würde er einem vielleicht geben?
Ich hatte diese Grundideen im Laufe der vergangenen zwanzig oder dreißig Jahre bei einer Reihe verschiedener Rahmenhandlungen versuchsweise ausprobiert. Ich hatte bereits eine erfolgreiche Novelle geschrieben, die im Gefängnis spielt (Pin-Up), und war zu dem Schluss gelangt, dass dieses Thema vermutlich ideal für mich war, als diese Herangehensweise zur Sprache kam. Es gab vieles, was mir daran gefiel, aber vor allem faszinierte mich die Stimme des Erzählers. Leise, ehrlich, vielleicht ein bisschen naiv: Er ist ein Stephen-King-Erzähler, wie er im Buche steht. So machte ich mich an die Arbeit, aber auf vorsichtige Weise und mit Unterbrechungen. Das meiste des zweiten Kapitels wurde während eines durch Regen bedingten unfreiwilligen Aufenthaltes im Fenway Park geschrieben!
Als Ralph anrief, hatte ich eine ganze Kladde voller Seiten von The Green Mile, und ich erkannte, dass ich einen Roman aufbaute, während ich meine Zeit mit dem Überarbeiten eines bereits fertigen Buchs (Desperation – Sie werden es bald sehen, treue Leser) hätte verbringen sollen. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit The Green Mile so weit, dass ich nur die Wahl hatte, es entweder wegzulegen (und vermutlich nie fortzusetzen) oder alles andere wegzulegen und weiterzumachen.
Ralph schlug eine mögliche dritte Alternative vor, eine Geschichte, die auf die gleiche Art und Weise geschrieben werden konnte, wie sie gelesen wurde – in Fortsetzungen. Und mir gefiel auch der riskante Aspekt: Scheitere an dem Job, schaff es nicht, ihn termingerecht durchzuziehen, und auf einmal wollen dir ungefähr eine Million Leser ans Leder. Keiner weiß das besser als ich, abgesehen von meiner Sekretärin Juliann Eugley: Wir bekommen jede Woche Dutzende wütender Briefe, in denen das nächste Buch des Dunkler-Turm-Zyklus eingefordert wird (Geduld, Fans von Roland; noch ein Jahr oder so, und Euer Warten wird ein Ende haben, das verspreche ich). Einer dieser Briefe enthielt ein Polaroidfoto, das einen Teddybär in Ketten zeigt, und dazu eine aus Schlagzeilen und Zeitungsausschnitten zusammengestückelte Botschaft: BRING DAS NÄCHSTE DARK-TOWER-BUCH SOFORT HERAUS, ODER DER BÄR STIRBT. Ich habe das Bild in meinem Büro aufgehängt, um mich an zweierlei zu erinnern: an meine Verantwortung und daran, wie wunderbar es ist, dass Leute sich tatsächlich ein wenig um die Geschöpfe meiner Fantasie sorgen.
Jedenfalls habe ich mich entschieden, The Green Mile in einer Reihe kleiner Taschenbücher herauszubringen, so wie im 19. Jahrhundert, und ich hoffe, Sie werden mir schreiben und mir sagen, ob Ihnen (a) die Story gefällt und ob Sie (b) die selten genutzte, aber ziemlich amüsante Art der Veröffentlichung in Fortsetzungen mögen. Es war zweifellos ein Ansporn beim Schreiben der Geschichte, obwohl sie in diesem Augenblick (an einem regnerischen Abend im Oktober 1995) weit entfernt von der Fertigstellung ist, auch nicht in einem Rohentwurf, und das Ende ungewiss bleibt. Das ist ein Teil der Spannung bei der ganzen Sache, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt mit Vollgas durch dichten Nebel fahre.
Vor allem möchte ich sagen, wenn Sie nur halb so viel Spaß beim Lesen haben, wie ich beim Schreiben hatte, können wir beide zufrieden sein. Genießen Sie es – und warum lesen Sie es nicht vor, abwechselnd mit Freunden? Das wird auf jeden Fall die Zeit verkürzen, bis die nächste Fortsetzung an Ihrem Kiosk oder bei Ihrem Buchhändler zu haben ist.
Unterdessen – passen Sie auf sich auf, und seien Sie gut zueinander.
 
Stephen King

Teil eins
Die zwei toten Mädchen

1
Dies geschah 1932, als das Staatsgefängnis noch in Cold Mountain war. Und auch der elektrische Stuhl war natürlich dort.
Die Insassen machten Witze über den Stuhl, wie Menschen immer über Dinge scherzen, die ihnen zwar Angst einjagen, aber denen sie nicht entkommen können. Sie nannten ihn Old Sparky oder Big Juicy. Sie rissen Witze über die Stromrechnung und über Direktor Moores, der in diesem Herbst zum Thanksgiving Day das Abendessen selbst kochen musste, weil seine Frau Melinda zu krank zum Kochen war.
Aber für diejenigen, die auf diesem Stuhl Platz nehmen mussten, war es mit dem Humor schnell vorbei. Während meiner Zeit in Cold Mountain hatte ich die Aufsicht bei achtundsiebzig Hinrichtungen (eine Zahl, die ich nie verwechselt habe; ich werde mich auf meinem Sterbebett noch daran erinnern), und ich denke, dass den meisten dieser Männer erst richtig klar wurde, was geschehen würde, wenn ihre Knöchel an das robuste Eichenholz von Old Sparkys Beinen geschnallt wurden. Dann kam die Erkenntnis (man sah, wie in ihren Augen ein kaltes Entsetzen aufstieg), dass ihre Beine ihre Laufbahn beendet hatten. Das Blut floss noch in ihnen, die Muskeln waren noch kräftig, aber sie waren trotzdem am Ende. Sie würden nie wieder übers Land ziehen oder mit einem Mädchen auf einem Barn Dance tanzen. Old Sparkys Gäste erkannten ihren Tod von den Knöcheln an aufwärts. Eine große, schwarze Seidenkapuze wurde ihnen über den Kopf gestülpt, nachdem sie ihre letzten, meist zusammenhanglosen Worte gesagt hatten. Die Kapuze sollte angeblich für sie sein, aber ich habe immer gedacht, dass sie für uns war, damit wir nicht das schreckliche Entsetzen in ihren Augen sahen, wenn sie erkannten, dass sie mit gebeugten Knien sterben würden.
Es gab keinen Todestrakt in Cold Mountain, nur Block E, der abseits von den anderen vier Blocks stand, nur ein Viertel so groß und aus Backstein statt aus Holz. Sein schrecklich kahles Eisendach starrte in die Sommersonne wie ein Augapfel im Delirium. Im Innern gab es sechs Zellen, drei auf jeder Seite eines breiten Mittelgangs, und jede war fast doppelt so groß wie die Zellen in den anderen vier Blocks. Einzelzellen noch dazu. Großer Komfort für ein Gefängnis (besonders in den dreißiger Jahren), aber die Insassen hätten ihre Zellen gern gegen die eines der anderen Blocks getauscht. Glauben Sie mir, sie hätten getauscht.
Während meiner Jahre als Oberwärter von Block E waren nie alle sechs Zellen gleichzeitig belegt – man muss dem Herrn auch für kleine Gefälligkeiten dankbar sein. Höchstens vier Zellen waren belegt, mit einer Mischung aus Schwarzen und Weißen (in Cold Mountain gab es keine Rassentrennung unter den wandelnden Toten), und das war ein kleines Stück Hölle. In einer Zelle war eine Frau, Beverly McCall. Sie war schwarz wie ein Pikass und schön wie eine Sünde, für die man nie genug Mumm hat, um sie zu begehen. Sie hatte es sechs Jahre lang hingenommen, von ihrem Mann geschlagen zu werden, aber keinen einzigen Tag ertragen, dass er sich herumtrieb. An dem Abend, an dem sie herausfand, dass er sie betrog, wartete sie auf den unglückseligen Lester McCall, bei seinen Kumpeln (und vermutlich bei seiner erst seit sehr Kurzem vorhandenen Geliebten) als Cutter bekannt, oben auf der Treppe zur Wohnung über seinem Friseurladen. Sie wartete, bis er seinen Mantel halb ausgezogen hatte, und ließ dann seine betrügerischen Eingeweide auf seine zweifarbigen Schuhe spritzen. Dazu benutzte sie eines von Cutters eigenen Rasiermessern. Zwei Nächte, bevor sie auf Old Sparky Platz nehmen musste, rief sie mich zu ihrer Zelle und sagte, sie wäre in einem Traum von ihrem afrikanischen Geistervater besucht worden. Er riet ihr, ihren Sklavennamen aufzugeben und unter ihrem freien Namen zu sterben: Matuomi. Es war ihre Bitte, dass ihr Todesurteil mit dem Namen Beverly Matuomi verlesen werden sollte. Ich vermute, dass ihr Geistervater ihr keinen Vornamen gab, oder zumindest keinen, den sie verstehen konnte. Jedenfalls sagte ich ja, okay, prima. Eines habe ich als Obermotz der Wärter gelernt: Den zum Tode Verurteilten schlägt man nie etwas ab, wenn es nicht unbedingt sein muss. Im Fall von Beverly Matuomi machte es so oder so keinen Unterschied. Der Gouverneur rief am nächsten Nachmittag gegen drei Uhr an und wandelte die Todesstrafe in lebenslänglich in der Grassy Valley Penal Facility für Frauen um – alles Penal und kein Penis sagten wir damals. Es freute mich, als ich Bevs runden Hintern vom Wachpult nach links statt nach rechts gehen sah, das kann ich Ihnen sagen.
Fünfunddreißig Jahre oder so später – es müssen mindestens fünfunddreißig gewesen sein – sah ich diesen Namen in der Zeitung unter dem Foto einer schmalgesichtigen schwarzen Lady mit weißem Haar und einer strassverzierten Brille. Es war Beverly. Sie hatte die letzten zehn Jahre ihres Lebens als freie Frau verbracht, hieß es im Nachruf, und die Bücherei der Kleinstadt Raines Falls fast im Alleingang vor der Schließung gerettet. Beverly hatte auch in der Sonntagsschule gelehrt und war in diesem Nest sehr beliebt gewesen. BIBLIOTHEKARIN STARB AN HERZVERSAGEN, lautete die Überschrift, und darunter in kleinerer Schrift, fast als nachträgliche Ergänzung: Verbüßte über zwei Jahrzehnte Gefängnisstrafe wegen Mordes. Nur die Augen, groß und strahlend hinter der strassverzierten Brille, waren dieselben. Es waren die Augen einer Frau, die noch mit über siebzig Jahren nicht zögern würde, sich eine Rasierklinge aus dem blauen Topf mit Desinfektionslauge zu schnappen, wenn der Drang übermächtig wurde. Man erkennt Mörder, selbst wenn sie als alte Bibliothekarinnen in verschlafenen Kleinstädten enden. Jedenfalls erkennt man welche, wenn man auf so viele Mörder aufgepasst hat wie ich. Nur einmal habe ich das Wesen meines Jobs infrage gestellt. Deshalb, nehme ich an, schreibe ich das hier. Der breite Gang durch die Mitte des E-Blocks war mit Linoleum von der Farbe müder alter Limonen ausgelegt, und so wurde das, was in anderen Gefängnissen Letzte Meile hieß, in Cold Mountain Green Mile genannt. Ich glaube, sie maß von Süden nach Norden, vom Anfang bis zum Ende, sechzig lange Schritte. Am Anfang war der Gefängnistrakt, am Ende war eine T-Kreuzung. Ein Abbiegen nach links bedeutete Leben – wenn man das, was im sonnenverdorrten Hof lief, als Leben bezeichnen konnte, und viele taten das; viele lebten jahrelang so, ohne erkennbare Beeinträchtigungen. Diebe und Brandstifter und Sexualverbrecher, alle sprachen ihre Sprache und gingen ihrer Wege und machten ihre kleinen Händel. Ein Abbiegen nach rechts – das war anders. Zuerst kam man in mein Büro (wo der Teppich ebenfalls grün war; ich wollte es immer ändern, kam aber nie dazu) und trat vor meinen Schreibtisch, der links von der US-Flagge und rechts von der Flagge unseres Bundesstaats flankiert war. Auf der hinteren Seite waren zwei Türen. Eine führte in das kleine Wasserklosett, das ich und die Wärter von Block E (manchmal sogar Direktor Moores) benutzten; die andere Tür führte zu einer Art Lagerschuppen. Dort endete man, wenn man die Green Mile hinunterging.
Es war eine kleine Tür – ich musste den Kopf einziehen, wenn ich hindurchging, und John Coffey musste sich sogar setzen und durchrutschen. Man gelangte auf einen kleinen Treppenabsatz, und drei Betonstufen führten hinab auf einen Dielenboden. Es war ein elender Raum ohne Heizung und mit Eisendach, genau wie das Dach des Blocks, an den der Raum angebaut war. Im Winter war es darin so kalt, dass man seinen Atem sehen konnte, und im Sommer war es stickig und heiß. Bei der Hinrichtung von Elmer Manfred – im Juli oder August 1930 war das, glaube ich – wurden neun Zeugen ohnmächtig.
Auf der linken Seite des Lagerschuppens war wieder Leben. Werkzeuge (alle in Halterungen, mit Ketten gesichert, als wären es Karabiner statt Spaten und Hacken), Kurzwaren, Säcke mit Samen für die Frühjahrsaussaat in den Gefängnisgärten, Kartons mit Toilettenpapier, Paletten mit Rohlingen für die Gefängnisschlosserei und sogar Säcke mit Kalk zum Markieren des Baseball- und Football-Spielfeldes – die Knackis spielten auf der sogenannten Weide, und in Cold Mountain freute man sich sehr auf Nachmittage im Herbst, an denen gespielt wurde.
Rechts war, wieder einmal – der Tod. Old Sparky persönlich stand auf einer Dielenplattform in der Südostecke des Lagerraums, mit stämmigen Eichenbeinen, breiten Eichenarmen, die den Angstschweiß von Hunderten Leuten in den letzten paar Minuten ihres Lebens aufgesogen hatten, und mit der Metallkappe, die für gewöhnlich keck hinten auf dem Stuhl hing wie die Kappe eines Roboter-Kids in einem Buck-Rogers-Comicstrip. Ein Kabel führte von der Kappe fort durch ein Loch mit einer Dichtungsmanschette in der Wand hinter dem Stuhl. Auf einer Seite stand ein verzinkter Eimer. Wenn man hineinschaute, sah man einen runden Schwamm, der genau in die Metallkappe passte. Vor Hinrichtungen wurde er in Salzlake getränkt, damit er die Stromladung besser leiten konnte, durch den Draht, durch den Schwamm und in das Gehirn des zum Tode verurteilten Mannes.

2
1932 war das Jahr von John Coffey. Die Einzelheiten stehen in den Zeitungen, und jeder, der sich genug dafür interessiert, um nach ihnen zu suchen, kann sie lesen – jemand, der mehr Energie hat als ein sehr alter Mann, der in einem Pflegeheim in Georgia dem Ende seines Lebens entgegendöst. Es war ein sehr heißer Herbst, das weiß ich noch; ein wirklich sehr heißer. Ein Oktober wie ein August, und die Frau des Direktors, Melinda, war eine Weile im Krankenhaus in Indianola. Es war der Herbst, in dem ich den schlimmsten Harnwegsinfekt meines Lebens hatte, nicht schlimm genug, um mich ins Krankenhaus zu bringen, aber fast schlimm genug, um mir bei jedem Pinkeln den Tod zu wünschen. Es war der Herbst von Delacroix, dem kleinen, fast kahlköpfigen Franzosen mit der Maus, der Mann, der im Sommer kam und diesen raffinierten Trick mit der Holzrolle machte. Doch hauptsächlich war es der Herbst, in dem John Coffey in den Block E kam, zum Tode verurteilt wegen der Sexualmorde an den Detterick-Zwillingen.
Bei jeder Schicht waren vier oder fünf Wärter im Block, aber viele davon waren Springer. Dean Stanton, Harry Terwilliger und Brutus Howell (die Männer nannten ihn »Brutal«, aber das war ein Scherz, denn er tat trotz seiner enormen Körpergröße keiner Fliege etwas zuleide, wenn es nicht sein musste) sind inzwischen tot, und ebenso Percy Wetmore, der wirklich brutal … und noch dazu blöde war. Percy hatte nichts im Block E zu suchen, wo ein bösartiges Naturell nutzlos und manchmal gefährlich war, aber er war ein angeheirateter Verwandter des Gouverneurs, und so blieb er.
Es war Percy Wetmore, der Coffey in den Block führte, mit dem angeblich traditionellen Ruf: »Eine wandelnde Leiche! Hier ist eine wandelnde Leiche!«
Es war immer noch so heiß wie die Angeln des Höllentors, Oktober oder nicht. Die Tür zum Gefängnishof wurde geöffnet und ließ eine Flut von strahlendem Licht und den größten Mann herein, den ich je gesehen habe, abgesehen von den Basketballtypen im Fernsehen. Er trug Ketten an den Armen und um seine fassartige Brust; Fußeisen an den Knöcheln, verbunden mit einer Kette, die klirrte wie ein Strom von Münzen, als sie über den grünen Gang zwischen den Zellen schleifte. Percy Wetmore war an einer Seite, der dünne, kleine Harry Terwilliger an der anderen, und sie wirkten wie Kinder, die einen gefangenen Bär begleiteten. Sogar Brutus Howell sah im Vergleich zu Coffey wie ein Kind aus, und Brutal war über eins achtzig und stämmig, ein Footballspieler, der sich an der Louisiana State University versucht hatte, bis er durchgefallen und nach Cold Mountain zurückgekehrt war.
John Coffey war schwarz wie die meisten der Männer, die für eine Weile in Block E blieben, bevor sie in Old Sparkys Schoß starben, und er war gut zwei Meter groß. Nicht drahtig wie die Basketballtypen im Fernsehen, sondern breitschultrig und überall mit Muskeln bepackt. Sie verpassten ihm die größte Gefängniskluft aus blauem Denim, die sie im Lager finden konnten. Dennoch reichten die Säume der Hosenbeine gerade mal halb über seine narbigen Waden. Das Hemd war über seiner Brust offen, und die Ärmel gingen ihm nicht über die Unterarme. Er hielt seine Mütze in einer riesigen Hand, was vielleicht gut so war; auf seinem kahlen, mahagonifarbenen Ball von Kopf hätte sie ausgesehen wie die Art Mütze, die der Affe eines Drehorgelspielers trägt, nur blau statt rot. Er sah aus, als könnte er die Ketten so leicht sprengen wie das Band um ein Weihnachtsgeschenk, aber wenn man ihm ins Gesicht sah, wusste man, dass er so etwas nicht tun würde. Er war nicht dumm – obwohl Percy das dachte und ihn bald den Idioten nannte -, sondern wirkte nur verloren. Er schaute sich um, als wollte er ergründen, wo er war. Vielleicht sogar, wer er war. Mein erster Gedanke war, dass er wie ein schwarzer Samson aussah, den Delila mit ihren kleinen, treulosen Händen geschoren und ihm damit alle Lebensfreude genommen hatte.
»Wandelnde Leiche!«, trompetete Percy und zerrte an der Handschelle dieses menschlichen Bären, als glaubte er tatsächlich, er könnte ihn trotzdem bewegen, falls sich Coffey entschied, selbst keinen weiteren Schritt mehr zu machen. Harry sagte nichts, aber er wirkte peinlich berührt. »Wandelnde Leiche …«
»Das reicht«, sagte ich. Ich war in Coffeys zukünftiger Zelle und saß auf seiner Pritsche. Ich hatte gewusst, dass er kam, und war dort, um ihn zu begrüßen und die Verantwortung für ihn zu übernehmen, aber ich hatte nicht geahnt, wie groß er war, bis ich ihn tatsächlich sah. Percy bedachte mich mit einem Blick, der sagte, wir alle wissen, dass du ein Arschloch bist (mit Ausnahme des großen Dummkopfs natürlich, der nur weiß, wie man kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet), aber er sagte nichts.
Die drei blieben vor der offenen Zellentür stehen. Ich nickte Harry zu, der sagte: »Bist du sicher, dass du dort drinnen mit ihm zusammen sein willst, Boss?« Ich hatte Harry Terwilliger noch nicht oft nervös gehört – er hatte während des Gefangenenaufstands vor sechs oder sieben Jahren an meiner Seite gestanden und war nicht zurückgewichen, auch nicht, als Gerüchte die Runde machten, dass einige der Krawallbrüder Waffen hatten -, aber in diesem Augenblick klang er nervös.
»Werde ich irgendwelche Probleme mit dir haben, großer Junge?«, fragte ich, blieb auf der Pritsche sitzen und bemühte mich, nicht so erbärmlich auszusehen oder zu klingen, wie ich mich fühlte – dieser schon erwähnte Harnwegsinfekt war noch nicht so schlimm, wie er schließlich wurde, aber ich fühlte mich auch nicht wie am Strand, das kann ich Ihnen sagen.
Coffey schüttelte langsam den Kopf – einmal nach links, einmal nach rechts, und dann richtete er ihn wieder auf die Mitte aus. Als mich sein Blick erst einmal gefunden hatte, ließ er mich nicht mehr los.
Harry hielt ein Klemmbrett mit Coffeys Formularen darauf. »Gib es ihm«, sagte ich zu Harry. »Gib es ihm in die Hand.«
Harry tat es. Der große Trottel nahm es wie ein Schlafwandler.
»Jetzt bring es zu mir, großer Junge«, sagte ich, und Coffey gehorchte. Seine Ketten klirrten. Er musste sich ducken, um die Zelle betreten zu können.
Ich blickte an ihm hinauf und hinab, um mich seiner Größe als Tatsache zu vergewissern und eine optische Täuschung auszuschließen. Er war echt: gute zwei Meter. Sein Gewicht war mit einhundertdreißig Kilo angegeben, aber das war wohl nur eine Schätzung; er musste über drei Zentner schwer sein. In der Rubrik »Narben und besondere Kennzeichen« war in der krakeligen Schrift von Magnusson, dem alten Insassen in der Registratur, das Wort Zahlreiche eingetragen.
Ich blickte auf. Coffey war ein Stück zur Seite geschlurft, und Harry stand auf dem Gang vor der Zelle von Delacroix – er war der einzige andere Gefangene in Block E, als Coffey eintraf. Del war ein schmächtiger Typ mit fast kahlem Kopf und der besorgten Miene eines Buchhalters, der weiß, dass seine Veruntreuungen bald entdeckt werden. Seine zahme Maus saß auf seiner Schulter.
Percy Wetmore lehnte am Türrahmen der Zelle, die soeben John Coffeys Zelle geworden war. Percy hatte seinen Hickory-Schlagstock aus dem maßgefertigten Holster genommen, in dem er ihn trug, und schlug damit in die linke Handfläche, als wäre der Schlagstock ein Spielzeug, das er gern mal benutzen würde. Und auf einmal konnte ich es nicht ertragen, Percy dort herumstehen zu sehen. Vielleicht lag es an der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze, vielleicht am Harnwegsinfekt, der meinen Unterleib erhitzte und das Jucken meiner Flanellunterwäsche fast unerträglich machte, vielleicht lag es auch an dem Wissen, dass der Staat mir einen Schwarzen zum Hinrichten geschickt hatte, der einem Idioten nahekam und den Percy offenbar zuerst ein bisschen in die Mangel nehmen wollte. Vermutlich kam alles zusammen. Was auch immer es war, ich vergaß für eine Weile seine politischen Verbindungen.
»Percy«, sagte ich. »Drüben im Krankenrevier ziehen sie um.«
»Bill Dodge kümmert sich um die …«
»Das weiß ich«, sagte ich. »Geh und hilf ihm.«
»Das ist nicht mein Job«, sagte Percy. »Dieser große Lutscherich ist mein Job.« Er verabscheute die Großen. Er war nicht schmächtig wie Harry Terwilliger, aber klein. Ein Zwerghahn, der Typ, der Leute provoziert, besonders wenn er alle Trümpfe in der Hand hat. Und eitel mit seinem Haar. Er konnte kaum die Hände davon lassen.
»Dann ist dein Job erledigt«, sagte ich. »Schaff dich rüber ins Krankenrevier.«
Er schob trotzig die Unterlippe vor. Bill Dodge und seine Männer schleppten Kartons, Stapel von Bettwäsche und sogar die Betten; das ganze Krankenrevier zog in ein neues Gebäude an der Westseite des Gefängnisses um. Schweißtreibende Arbeit, schweres Heben. Percy Wetmore wollte damit nichts zu tun haben.
»Die haben mehr als genug Leute«, sagte er.
»Dann geh rüber und schau ihnen bei der Arbeit zu«, sagte ich mit erhobener Stimme. Ich sah, dass Harry zusammenzuckte, und ignorierte es. Wenn der Gouverneur Direktor Moores anwies, mich zu feuern, weil ich am falschen Gefieder gerupft hatte, mit wem würde Hal Moores dann meine Stelle besetzen? Mit Percy? Das war ein Witz. »Es ist mir wirklich egal, was du tust, Percy, solange du für eine Weile von hier verschwindest.«
Einen Augenblick lang dachte ich, er würde stur sein und wirklich Schwierigkeiten machen, während Coffey die ganze Zeit dastand wie die größte stehen gebliebene Uhr der Welt. Dann rammte Percy seinen Schlagstock zurück in den maßgefertigten Holster – dieses verdammte, bescheuerte, eitle Ding – und stolzierte den Gang hinauf. Ich erinnere mich nicht, welcher Wärter an diesem Tag Dienst am Wachpult hatte – einer der Springer, nehme ich an -, aber Percy musste seine Miene missfallen haben, denn er grollte, als er vorbeiging: »Wisch dir dein Grinsen aus deiner Scheißfresse, oder ich erledige das für dich.« Es rasselten Schlüssel, für einen kurzen Moment fiel heißer Sonnenschein vom Hof auf den Gang, und dann war Percy Wetmore weg, wenigstens für den Augenblick. Delacroix’ Maus fitzte von einer Schulter des kleinen Franzosen zur anderen hin und her, und ihre Barthaare zuckten.
»Ruhig, Mr. Jingles«, sagte Delacroix, und die Maus verharrte auf seiner linken Schulter, als hätte sie ihn verstanden. »Sei ganz still und ganz ruhig.« In Delacroix’ trällerndem Cajun-Akzent klang »ruhig« exotisch und fremdartig – ru-isch.
»Du legst dich hin, Del«, sagte ich schroff. »Ruh dich aus. Das geht auch dich nichts an.«
Er gehorchte. Er hatte eine junge Frau vergewaltigt und getötet, und dann ihre Leiche hinter dem Apartmenthaus abgelegt, in dem sie gewohnt hatte, sie mit Kerosin übergossen und in Brand gesteckt, weil er sich in den wirren Kopf gesetzt hatte, damit den Beweis seines Verbrechens zu vernichten. Das Feuer hatte auf das Haus übergegriffen, es in Brand gesetzt, und sechs weitere Menschen waren bei dem Feuer umgekommen, darunter zwei Kinder. Es war das einzige Verbrechen, das in ihm gesteckt hatte, und jetzt war er nur ein sanftmütiger Mann mit besorgtem Gesicht, einer kahlen Birne und ringsum langem Haar, das bis über seinen Hemdkragen fiel. Er würde bald auf Old Sparky Platz nehmen, und Old Sparky würde ihm ein Ende bereiten … Aber was auch immer ihn zu dieser schrecklichen Sache getrieben hatte, war bereits aus ihm heraus, und jetzt lag er auf seiner Pritsche und ließ seinen kleinen Gefährten fiepend über seine Hände laufen. In gewisser Weise war das das Schlimmste: Old Sparky verbrannte nie, was in ihnen war, und das Gift, das man ihnen heutzutage injiziert, bringt es nicht zum Schlafen. Es entkommt, springt zu jemand anderem, sodass wir nur Hüllen töten, die ohnehin nicht mehr wirklich leben.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Riesen zu.
»Wenn ich dir von Harry diese Ketten abnehmen lasse, wirst du dann artig sein?«
Er nickte. Das Nicken war ruckartig wie sein Kopfschütteln: Kopf runter, Kopf rauf und in die Ausgangsstellung. Seine seltsamen Augen blickten mich an. Es lag eine Art Frieden in seinen Augen, aber kein Frieden, bei dem ich mir sicher war, ihm trauen zu können. Ich winkte Harry zu mir, der zu Coffey ging und die Ketten aufschloss. Dabei zeigte er jetzt keine Furcht, selbst als er sich zwischen Coffeys baumstammartige Beine kniete, um die Fußeisen aufzuschließen, und das beruhigte mich etwas. Es war Percy, der Harry nervös gemacht hatte, und ich vertraute Harrys Instinkten. Ich vertraute den Instinkten all meiner Männer von Block E, mit Ausnahme von Percy.
Ich hielt Neuen im Block immer eine kleine Ansprache, aber bei Coffey zögerte ich, denn er wirkte so anormal, und nicht nur wegen seiner Größe.
Als Harry zurücktrat (Coffey war während des Loskettens die ganze Zeit reglos geblieben, so ruhig wie ein Percheronpferd), schaute ich zu meinem neuen Schutzbefohlenen auf, tippte mit dem Daumen auf das Klemmbrett und fragte: »Kannst du reden, großer Junge?«
»Jawohl, Sir, Boss, ich kann reden«, sagte er. Seine Stimme war ein tiefes, ruhiges Grollen. Es erinnerte mich an einen gerade angelassenen Traktormotor. Er hatte keinen richtigen Südstaatlerakzent, aber sein Satzbau war der eines Südstaatlers, was ich später bemerkte. Als wäre er aus dem Süden, nicht vom Süden. Er klang nicht wie ein Analphabet, aber auch nicht gebildet. In seiner Sprache wie in so vielen anderen Dingen war er ein Rätsel. Vor allem seine Augen beunruhigten mich – es war eine Art friedliche Abwesenheit darin, als wäre er weit, weit fort.
»Dein Name ist John Coffey?«
»Jawohl, Sir, Boss, wie Kaffee, nur anders geschrieben.«
»Du kannst also buchstabieren? Lesen und schreiben?«
»Nur meinen Namen, Boss«, sagte er gelassen.
Ich seufzte und gab ihm dann eine Kurzversion meiner einstudierten Ansprache. Ich war bereits zu dem Schluss gelangt, dass er keine Probleme machen würde. In diesem Punkt hatte ich recht und unrecht zugleich.