Inhalt

Vorwort

Einleitung

1

Lungenversagen: Der letzte Atemzug ist kein Grund zu sterben

2

Chemotherapie ohne Wenn und Aber

3

Chirurgische Eingriffe: Deutschland als OP-Weltmeister

4

Herzversagen: Paradedisziplin für teure Hightechmedizin

5

Wehrlos im Wachkoma

6

Dialyse: Lohnende Blutwäsche

7

Demenz: Vergessen und abkassiert

8

Strahlentherapie: Quelle strahlender Gewinne

9

Künstliche Ernährung: Lukrativ, aber oft sinnlos

10

Schmerzen: Weniger ärztliches Eingreifen ist mehr

11

Notarztdienst: Vom Nicht-sterben-Lassen

12

Palliativversorgung: Mehr Lebensqualität, weniger Umsatz

13

Reden wir über Geld

14

Das Sterbeverlängerungskartell

15  

Ausblick oder Lichtblick

Anhang I: Patientenverfügung

Anhang II: Schriftliche Stellungnahme vor dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages

Danke

Anmerkungen

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Vorwort

Ehrlich gesagt – mit so viel strengem Gegenwind hatte ich nicht gerechnet, als »Patient ohne Verfügung« im September 2016 erschienen ist. Viele Kollegen waren aufgebracht, vor allem in meiner Heimatstadt Witten. Ich wurde zu einem Krisengespräch in die örtliche Zeitungsredaktion zitiert – es waren mit die unangenehmsten 60 Minuten in meinem Leben. Das Buch diffamiere Ärzte, die Kritik sei zu pauschal, übertrieben, polemisch oder populistisch, hieß es. Der Ärzteschaft sei das Buch sauer aufgestoßen. Es entspreche nicht den Tatsachen, die Zahlen würden nicht stimmen. Unverhohlen wurde mir gar angedroht, die Zusammenarbeit mit dem Palliativnetz aufzukündigen, was sich leider in den folgenden Monaten bewahrheiten sollte: Die Zuweisungszahlen sterbenskranker, hilfsbedürftiger Menschen sanken um etwa 30 Prozent – lieber ließ man die Patienten ohne Palliativversorgung, als die Zusammenarbeit mit einem »Nestbeschmutzer« fortzuführen, war mein Eindruck. Berechtigt wurde kritisiert, dass das Buch das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient empfindlich störe – eine Sorge, die ich teile und die mich so manche schlaflose Nacht gekostet hat.

Ich betone immer wieder, dass ich die dunkle Seite der Medizin beschreibe und mir bewusst ist, dass es genauso eine wunderbare Seite gibt. Die Erfolge und den Nutzen der modernen Krebs- und Intensivmedizin schätze ich sehr und kenne viele einwandfrei handelnde Pflegekräfte und Ärzte. Zudem ist mir bewusst, dass es jenseits finanzieller Anreize andere Gründe für Übertherapie gibt, aber die sind eben nicht so verwerflich und Experten zufolge nicht so häufig.

Auch privat ging es hoch her in den Wochen nach Erscheinen des Buches: Meine Freundin war hochschwanger. Kurzum, ich hatte viel Stress. Und wenn ich Stress habe, bekomme ich wie viele Menschen »Rücken«. Da hilft es mir akut auch nichts, dass ich mir immer sage: Thöns, das ist »nur psychosomatisch«. Deshalb war ich besonders froh über mein fantastisches Team, das hinter mir stand – und überglücklich über die Geburt meines Sohnes Noah im Januar 2017.

Wenn ich bei Lesungen von den Widrigkeiten erzähle, die mir nach Veröffentlichung des Buches entgegenschlugen, ernte ich viele Lacher, wenn ich aus der Geschichte zitierte: Schon bei den alten Griechen wurde der Überbringer schlechter Nachrichten bestraft, im Mittelalter wurde er geköpft, und bei Konfuzius heißt es: »Ein Mann, der die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd.«

Fast durchweg positiv war jedoch das Feedback, das ich von Kollegen, Freunden und insbesondere von Angehörigen sowie Patienten erhielt. Ich habe mittlerweile über 1000 Zuschriften bekommen, nur eine Handvoll waren kritischer Art und vertraten Standpunkte wie »mein Arzt ist toll« oder »Ärzte stehen unter so starkem Druck«. Das bestreite ich natürlich nicht. Trotz der vielen gruseligen Berichte, die in meinem Postfach landen, bin ich fest davon überzeugt, dass die Mehrheit meiner Kollegen menschlich und richtig handelt. Auch die Presse hat fast durchgehend positiv reagiert.

Schon lange vor der Veröffentlichung von »Patient ohne Verfügung« hatte ich mich bemüht, auf die im ersten Buchkapitel thematisierte Übertherapie an Intensivpatienten aufmerksam zu machen. Das Glück brachte mich zur ARD-Monitor-Redaktion. Reporter Jochen Tassler ging mit einer Kollegin, getarnt als angebliches Geschwisterpaar, zu verschiedenen Intensivdiensten. Dort erzählten sie vor versteckter Kamera die erfundene Geschichte ihres Vaters, nach Vorlage eines von mir präparierten Arztbriefes: Der Vater liege nach einer Hirnblutung seit Jahren im Wachkoma und solle nun verlegt werden, da es mit dem aktuellen Intensivdienst Probleme bezüglich seiner Patientenverfügung gebe. In dieser werde künstliche Beatmung abgelehnt. Das Reporterpaar scheute sich nicht, zu erwähnen, dass der Vater vor allem wegen seiner satten Rente weiter beatmet werden solle. Fünf von sechs Gesprächen verliefen erschreckend: Es wurde vorgeschlagen, die Patientenverfügung verschwinden zu lassen oder zu ändern. Auf den Einwand des angeblichen Sohnes, wie das gehen solle, wurde ihm entgegnet: »Kreuzen Sie es halt anders an.« Eine Einrichtung prahlte sogar förmlich damit, Patientenverfügungen generell zu missachten. Anwalt Wolfgang Putz äußerte im Interview, das seien alles Straftaten: »Urkundenunterdrückung, Urkundenfälschung, Körperverletzung …« Obgleich der Beitrag bereits im September 2016 ausgestrahlt wurde, interessiert sich bis heute kein deutscher Staatsanwalt für das Leiden dieser immer größer werdenden Patientengruppe – Sterbende haben keine Lobby.

Die Tragweite dieser Tatsache wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass nur jeder fünfte Arzt auf einer Intensivstation den Willen seines Patienten bezüglich der Therapie am Lebensende kennt.[1] Bedenkt man, dass mittlerweile jeder vierte Deutsche auf einer Intensivstation stirbt und dass 70 Prozent dieser Patienten erst nach einer Entscheidung zur Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen sterben dürfen und können, wird einem bewusst, dass es sich hier um kein Randproblem handelt.[2]

Doch auch der Mehrheit der Überlebenden geht es alles andere als prächtig. »Chronisch kritisch krank« heißt das sich seuchenartig ausbreitende Krankheitsbild, welches unsere Großeltern und ihre Vorfahren niemals erleben mussten. Nach nur zehn Tagen künstlicher Beatmung erleiden mindestens 70 Prozent der Patienten eine Muskel-Nerven-Krankheit, die zu extremer Schwäche, Atemversagen und Schluckstörungen führt.[3] Noch ein Jahr nach der Beatmung leidet ein großer Teil der wenigen Überlebenden an geistigen Störungen, vergleichbar mit einer mittelschweren Demenz.[4]

Es gibt jedoch auch Nachrichten, die Hoffnung machen: Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte hat kürzlich ein Oberlandesgericht einen Arzt wegen Übertherapie zu einem hohen Schmerzensgeld verurteilt.[5] Anwalt Wolfgang Putz, der bereits mehrere Urteile für die Palliativversorgung vor dem Bundesgerichtshof erstritten hat, vertrat den klagenden Sohn. Ich durfte das Parteigutachten schreiben und habe die Akte gründlich studiert, musste schlimme Bilder sehen. Was war passiert?

Der 82-jährige Vater des Klägers stand wegen einer fortgeschrittenen Hirnabbauerkrankung bereits seit 1997 unter rechtlicher Betreuung. Kurze Zeit nach seinem Einzug in ein Pflegeheim 2006 wurde er in die Klinik eingewiesen. Ohne Rücksprache mit dem in den USA lebenden Sohn wurde wegen Zeichen einer Mangelernährung eine PEG-Magensonde angelegt. Der Mann konnte Stuhl und Harn nicht mehr kontrollieren, Sprechen war seit Monaten unmöglich. Sein diesbezüglicher Wille konnte angeblich nicht ermittelt werden, ein Berufsbetreuer traf fortan die Entscheidungen. Wegen fortschreitender Gelenkverbiegungen konnte er sich kaum mehr bewegen. 2008 wurden eine zunehmende Muskeleinsteifung und eine schmerzhafte Spastik an Armen und Beinen festgestellt, doch intensivmedizinische Maßnahmen verhinderten weiterhin zuverlässig den Tod. Wenn sein Zustand wieder richtig schlimm war, ging es in die Klinik. Als er 2011 aufgrund von Überernährung durch die Sonde zum wiederholten Male eine Lungenentzündung entwickelte, landete er in der Klinik. Dort starb er schließlich trotz umfangreicher Therapie. Der betreuende Arzt verordnete ihm zuvor nicht nur die künstliche Ernährung, er führte auch eine Krebsvorsorge durch, beauftragte vielfache Laborbestimmungen, gab bis in die letzten Lebenswochen Antibiotika und eine Grippeschutzimpfung und ließ die Atemwege des Patienten absaugen. Wirksame Schmerzmittel hingegen hat er nicht verordnet. Dieser traurige Verlauf ist leider kein Einzelfall. Wenn man Hirnerkrankte nur lange genug mit intensivmedizinischen Verfahren am Sterben hindert, ist regelhaft mit derartigen Leidenszuständen zu rechnen.

Schon zu Lebzeiten seines Vaters versuchte der Sohn, gegen die unwürdige Behandlung vorzugehen. Er beauftragte zahlreiche Anwälte, kam aber an dem Berufsbetreuer, der die Entscheidungen traf, nicht vorbei. Wegen nicht indizierter künstlicher Ernährung verklagte er schließlich den betreuenden Arzt. Die klugen Richter der zuständigen Medizinrechtskammer führten aus: »Die aus der schuldhaften Pflichtverletzung durch den Beklagten resultierende Leidensverlängerung des Patienten stellt einen ersatzfähigen Schaden dar … Denn die Zuführung von Nährstoffen über eine PEG-Sonde bei einem Patienten, der infolge schwerer irreversibler Hirnschäden auf natürlichem Wege trotz Hilfestellung keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann, ist gerade ein widernatürlicher Eingriff in den normalen Verlauf des Lebens, zu dem auch das Sterben gehört.« Der Schmerzensgeldanspruch ging auf die Erben über. Anwalt Putz erläuterte in einem Interview die Tragweite der weisen Entscheidung: Ärzte, die zukünftig Leiden ohne medizinische Indikation oder gegen den Patientenwillen verlängern, haften gegenüber den Erben mit Schmerzensgeld und müssen Regresse der Krankenkassen fürchten. Dort, wo es Fehlentwicklungen gibt, hilft oft nur noch das Recht mit Sanktionen. Und genau das belegt eine noch druckfrische Studie: Gibt es bei Übertherapie Regresse, handeln Ärzte besser.[6]

Auch in der Krebsmedizin hat sich seit der Veröffentlichung von »Patient ohne Verfügung« Erschreckendes getan. Für meine Kritik an manchen Krebstherapien wurde ich von Experten angegangen, ich sei »fachfremd« und hätte keine Ahnung von den bahnbrechenden Erfolgen der neuen Krebstherapeutika. Nur jede vierte Substanz wird nach Studien zugelassen, die einen klaren Patientennutzen belegen, etwa eine höhere Lebenserwartung. Ansonsten erfolgen Zulassungen aufgrund von Nebenparametern wie Röntgenbildverbesserungen oder Laborwertänderungen, bei denen der Nutzen für den Patienten unklar ist. Ende letzten Jahres prüften Wissenschaftler des angesehenen King’s College London die hochgelobten neuen Substanzen.[7] Die Ergebnisse lassen einen schaudern: Im Einzelnen wurden alle 68 neu zugelassenen Therapien geprüft, in 90 Prozent der Fälle war der Einsatz nur bei unheilbar Krebsbetroffenen mit dem Ziel minimaler Lebensverlängerung angedacht. Das sind die Menschen, die auch ich täglich betreue, und hier weiß man: Die große Mehrheit setzt vor allem auf Lebensqualität. Die Begründerin der modernen Palliativmedizin, die Ärztin Cicely Saunders, fasst es trefflich zusammen: »Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zuführen« ist das Ziel. Doch die Lebensqualität wurde bei keiner (!) der neuen Krebsarzneien primär untersucht. Nur zwei der 68 geprüften Krebstherapien verbesserten Lebensqualität und Lebenszeit. Bei neun Behandlungen (13 Prozent) wurde von den Patienten eine Teilverbesserung der Lebensqualität angegeben, ohne dass dabei die Lebenszeit beeinflusst wurde. So ist etwa die Besserung von Atemnot, nicht aber von Schmerz Zulassungskriterium für ein Medikament. Solche Nebenkriterien sind statistischer Nonsens: Das ist vergleichbar mit einer ganzen Schulklasse, die versucht, eine Sechs zu würfeln. Irgendeinem Schüler wird das sicherlich gelingen – aber das heißt noch lange nicht, dass er besser würfelt als die anderen.

Auf Basis solcher Statistiken werden nebenwirkungsreiche Krebstherapeutika offensichtlich zugelassen. Selbst nach langer Beobachtungszeit von fast sechs Jahren ließ sich der Nutzen bei der Hälfte der durchgeführten Behandlungen überhaupt nicht belegen. Und die »wirksame Hälfte« verlängerte die Lebenszeit der Patienten im Schnitt um weniger als drei Monate. Das heißt in den meisten Fällen: drei Monate länger leben bei Dauereinnahme grundsätzlich giftiger Arznei. Denn über Nebenwirkungen und Belastungen der Substanzen steht in der Studie nichts. Die Londoner Wissenschaftler stuften selber den Großteil dieser »Erfolge« als für den Patienten irrelevant ein und schlussfolgerten: »Wenn teure Medikamente ohne klinisch sinnvolle Leistungen zugelassen und in Gesundheitssystemen bezahlt werden, können einzelne Patienten geschädigt, wichtige Ressourcen verschwendet und die Bereitstellung von gerechter und erschwinglicher Gesundheitsversorge untergraben werden.«

Eine meiner Patientinnen, eine junge Frau mit Brustkrebs, hat Avastin erhalten, eine der hier kritisierten hochpreisigen Behandlungsformen. Sie sagte in einem Interview mit dem ARD-Magazin »Monitor«: »Also wenn mir jetzt jemand sagen würde: ›Mit Chemo leben Sie noch zwei Jahre und ohne nur eins‹, dann würde ich mir noch ein schönes Jahr machen.« In dem Fernsehbericht werden die Ergebnisse von angesehenen Experten wie auch von der europäischen Zulassungsbehörde bestätigt.[8] Diese bahnbrechende Studie aus England wird im Deutschen Ärzteblatt bis heute nicht erwähnt. Dagegen berichtete es umfangreich von einem durch die Pharmaindustrie finanzierten Kongress für eine vereinfachte Zulassung von Krebsmedikamenten mit einem umstrittenen Zulassungskriterium. Zur Nichtberücksichtigung der kritischen Studie, die sogar die Tagesschau und Monitor aufgriffen, wurde vonseiten des Ärzteblatts erläutert, dass es bei weltweit über 6000 Studien jährlich nicht möglich sei, über jede einzelne zu berichten.

Was mich aber wirklich zur Weißglut bringt, ist, dass diese Medikamente bis heute weiter verordnet und auch erstattet werden. Drei der Krebstherapeutika gehören zu den umsatzstärksten Arzneimitteln in Deutschland. Die Techniker Krankenkasse hat die Kosten hochgerechnet: Wir geben etwa jeden fünften Euro in der Krebsbehandlung für diese Medikamente aus. Ein Milliardengeschäft mit unbelegter Hoffnung.

Dagegen wird bei Krebspatienten die lebensverlängernde und lebensverbessernde Palliativversorgung kaum eingesetzt. Jeder Betroffene müsste sie bei der Diagnose »unheilbar« automatisch erhalten, so wird es schon seit Jahren international gefordert. Jetzt hat die Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die Deutschlands bekannteste und aktivste Palliativabteilung betreibt, die Daten der dort behandelten Krebsbetroffenen veröffentlicht, die innerhalb eines Jahres verstarben. Fast alle von ihnen hätten eine Palliativversorgung erhalten müssen. Tatsächlich war das aber nur bei 1,9 Prozent über zumindest drei Wochen der Fall.[9] Die Studie wurde in einer relativ unbekannten amerikanischen Krebszeitschrift veröffentlicht, in Deutschland wurde sie nicht wirklich diskutiert – und, Sie ahnen es schon: Auch das Deutsche Ärzteblatt berichtete nicht. Ob es daran liegt, dass das Magazin wesentlich von Anzeigen der Pharmaindustrie finanziert wird?

Gefreut habe ich mich über viele positive Reaktionen und kleine Schritte in die richtige Richtung. »Patient ohne Verfügung« hat es nicht nur in die Top 5 der Spiegel-Bestsellerliste geschafft, auch Platz 1 bei den Social-Media-Trendcharts[10] und Leserliebling bei Bild der Wissenschaft sind eine wunderbare Anerkennung für dieses wichtige Thema.[11] Selbst die Comedy-Szene griff das Thema auf, das ZDF-Late-Night-Format Mann, Sieber! brachte nach Lektüre den Sketch »Wer kriegt die Oma?«. Besser kann man die Aussagen des Buches nicht zusammenfassen, vier lohnenswerte Fernsehminuten. Die international wichtigste Medizinzeitschrift The Lancet widmete der Problematik ein ganzes Heft und fasst zusammen: »Der wichtigste Faktor gegen Übertherapie ist, die Gier der Medizinindustrie durch strukturierte Gebührenordnungen zu begrenzen.« Der Vorsitzende des Sachverständigenrats von Bundestag und Bundesrat, Hausarzt Prof. Gerlach, mahnt entsprechend an, es gebe falsche Anreizmodelle für Ärzte, zu viele Krankenhäuser und viel zu viele unnötige Leistungen. Auch der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, fasst die Situation treffend zusammen: »Die Verwandlung der Krankenhäuser in betriebswirtschaftliche Unternehmen ist eine Fehlentwicklung historischen Ausmaßes … Nicht mehr der kranke Mensch steht heute im Mittelpunkt ärztlichen und pflegerischen Handelns, sondern die Anzahl und der Fallwert seiner Diagnosen und ärztlichen Eingriffe.«

Anfang 2017 wurde ich sogar zum damaligen Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nach Bonn geladen. Bei Kaffee und Gebäck durfte ich über die Probleme berichten, es wurde zwar Interesse bekundet und die Prüfung insbesondere der bereits heute verbotenen Bonusregelungen in Chefarztverträgen[12] zugesagt – Taten folgten allerdings nicht. Wozu diese fragwürdigen Zielvereinbarungen führen, brachten die beiden Bremer Versorgungsforscher Prof. Wehkamp und Prof. Nägler nach einer Umfrage ans Tageslicht: Da gaben anonym befragte leitende Ärzte mehrheitlich zu, aufgrund von Geldanreizen würden Herzkatheter eingesetzt und weitere kostenintensive Operationen durchgeführt, die nicht medizinisch notwendig seien. Die Beatmungsdauer werde häufig durch die Vergütung bestimmt. Diese Eingriffe sind alles andere als Kavaliersdelikte, Juristen nennen sie Betrug, Körperverletzung oder gar fahrlässige Tötung. Die befragten Ärzte betonten mehrfach, dass es »so etwas« ja gar nicht geben dürfe, dass es ein »heißes Eisen« sei, über das nicht offen gesprochen werde, dass sich das unbedingt ändern müsse. 85 Prozent der befragten Geschäftsführer gaben zu, dass es in ihren Kliniken weiterhin die verbotenen Bonusverträge gebe. Wirklich traurig macht mich eine Aussage, die die ganze Perversion des Systems zusammenfasst: Ein Arzt gab an, in seiner Klinik würden Kaiserschnittentbindungen vorgezogen, wenn Betten auf der Frühchenstation leer stünden. Das bedeutet: Man riskiert durch eine per Kaiserschnitt erzeugte Frühgeburt die Gesundheit des Kindes – weil mit der Versorgung Frühgeborener extrem viel Geld zu verdienen ist. Das verschlägt selbst mir die Sprache.

Fälle wie dieser zeigen, warum es so wichtig ist, nicht tatenlos zuzusehen und sich weiter mit dem Thema Übertherapie zu befassen und dazu aufzuklären. Trotz erdrückender Belege erscheint es für viele Entscheidungsträger – etwa die Krankenkasse Knappschaft[13] – nach wie vor »fraglich, ob die geschilderten Fehlanreize im stationären Sektor tatsächlich flächendeckend bestehen«. Offensichtlich hat man dort das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen nicht gelesen. Dort heißt es »Übertherapie ist das zentrale medizinische und ökonomische Problem«.

Erst wenn eine entsprechende Öffentlichkeit für das Thema vorhanden ist, werden Ärzteschaft, Krankenkassen und Politik wirklich regulierend eingreifen. Und deshalb möchte ich Sie, also (mögliche) Patienten und Angehörige, ermutigen, Diagnosen auch kritisch zu hinterfragen, im Zweifelsfall eine unabhängige Zweitmeinung einzuholen und vor allem an Ihre Vorsorgeplanung zu denken. Ein wichtiger Schritt hierzu kann die Patientenverfügung im Anhang dieses Buches bieten.

Witten, im August 2018

Einleitung

Als junger Medizinstudent war ich begeistert von der Idee, Menschen das Leben zu retten, also war Notarzt mein Traumberuf. Für diesen Weg ist eine Ausbildung zum Anästhesisten von Vorteil, denn in kaum einem anderen Fachgebiet erlernt man das Handwerkszeug zur Lebensrettung so umfangreich. Während meiner ersten Stelle in der Anästhesie war ich einem sehr menschlichen Chefarzt unterstellt, er verstand sich als Anwalt des Patienten. So weigerte er sich beispielsweise, an riskanten Operationen mitzuwirken, wenn er keine Aussicht auf Besserung mehr sah. Er stärkte damit uns Berufsanfängern das Selbstbewusstsein so manchem Chirurgen gegenüber, der die Grenzen seines Könnens und die Gesetze der menschlichen Natur nicht so richtig einzuschätzen vermochte.

Die nächste Stelle im Rahmen meiner Ausbildung führte mich an eine »Klinik der Maximalversorgung«. Mein Chef dort hatte das junge Fachgebiet der Schmerztherapie in Deutschland etabliert und die Tumorschmerztherapie entscheidend geprägt. Liebevoll nannten wir ihn »godfather of pain therapy«. Allerdings wurde ich in dieser Klinik auch Zeuge unendlich aufwendiger Operationen an teils schwerstkranken alten Menschen. Die auf den Eingriff folgenden langwierigen Intensivbehandlungen erschienen mir nicht selten unangemessen. So oft bestand im Grunde keine Hoffnung mehr auf Heilung, und die endlos anmutende Intensivtherapie war von viel Leid geprägt: Nicht heilende, übel riechende Wunden, Platzbäuche, Verwirrtheitsdelirien, Fixierungen, leidverzerrte Gesichter, dazu die Verzweiflung der Angehörigen und letztlich doch der Tod.

Ein solches Verständnis von Medizin belastete mich zunehmend. Konnte ich als Arzt verantworten, dass Menschen einer riskanten Operation ausgesetzt wurden, um dann während der verbleibenden kurzen Lebenszeit an den Folgen zu leiden? Es schien mir also nur konsequent, dem fremdbestimmten Klinikbetrieb den Rücken zu kehren und selbst eine Praxis zu übernehmen, wozu ich mich vor 18 Jahren entschied. Endlich konnte ich meinen Beruf nach meiner Überzeugung ausüben. Kurz nach der Niederlassung wurde ich zu einem Notfall in das Hospiz in Bochum gerufen. Dem Patienten, der sich vor Schmerzen krümmte, konnte ich mit einer Infusion rasch helfen, doch der Besuch in dieser Einrichtung beschäftigte mich noch lange. Die Atmosphäre dort, die Herzlichkeit der Schwestern und der Blick auf den ganzen Menschen mit seinen Beschwerden und Wünschen beeindruckten mich nachhaltig. Bald schon war ich einer von vier Hospizärzten dort und lernte viel, vor allem von den Schwestern. So begann ich verstärkt, sterbende Menschen auch zu Hause zu begleiten, und wurde dabei zunehmend von Kollegen, Ehrenamtlichen und engagiertem Pflegepersonal unterstützt. Gemeinsam gründeten wir Palliativnetze in Bochum und Witten.[1] In meiner täglichen Arbeit wurde mir klar, wie individuell die letzte Lebensphase ist, wie unterschiedlich die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sind. Der eine starb ruhig im Gebet unter zärtlichen Berührungen seiner Frau, der andere kämpfte mit aller Kraft gegen den Tod und wurde dabei vom lauten Schluchzen seiner Liebsten begleitet. Es galt zu akzeptieren, dass nicht ich als Arzt, sondern der Patient und sein Umfeld über diesen letzten Weg bestimmen.

Viele Kollegen sehen das leider anders, wie der Fall von Gerhard[a] zeigt, zu dem ich im Frühjahr 2008 gerufen wurde. Der einstige Klempner, fast 80 Jahre alt, liebte Angelteiche und endlose Wanderungen in der Natur. Irgendwann bemerkte eine seiner Töchter, dass er die Angel nicht mehr richtig halten konnte. Ein erfahrener Nervenarzt stellte die niederschmetternde Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz: ALS[b], sowie eine mittelgradig ausgeprägte Demenz[c]. Die Beweglichkeit des Patienten nahm ab, immer wieder kam es zu Atemwegsinfektionen mit akuten Erstickungsanfällen.

Meist lehnte Gerhard jede Zuwendung ab, spuckte die ihm verabreichten Medikamente so gut er konnte wieder aus und schlug um sich. Manchmal lag er auch nur hilflos-apathisch in seinem Bett. Er wurde inkontinent.[d] Bald konnte man ihn nicht mehr allein lassen. Er fing an zu schreien, wollte nicht mehr essen und trinken und wurde schwächer und schwächer. Gerhard hatte genug von seinem Dasein auf Erden. Der Neurologe empfahl dringend die Anlage einer PEG-Sonde[e], anderenfalls würde er verhungern. Die Ehefrau stimmte dem ärztlichen Rat zu, denn der Neurologe sagte ja, die Magensonde sei alternativlos.

Als die Sonde[f] angelegt war, versuchte Gerhard immer wieder, sich den Schlauch aus dem Bauch zu ziehen. Daraufhin wurden seine Arme am Bettgitter fixiert, wenig später waren sie wegen der unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung ohnehin kaum mehr beweglich. Mit abnehmender Muskelkraft wurde auch die Atmung schwächer. Eines Tages fand ihn die Ehefrau, nennen wir sie Gisela, blitzeblau[g] und nur noch ruckartig atmend in seinem Bett. Der Notarzt wurde alarmiert. Als das Rettungsteam wenig später eintraf, hatte Gerhards Herz bereits seit einigen Minuten aufgehört zu schlagen. Man kann sagen: Der Mann war klinisch tot. Das kam letztlich einer Gnade gleich.

Doch die Rettungsmannschaft begann mit der Wiederbelebung, der Notarzt legte einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre, Elektroschocks brachten das Herz wieder zum Schlagen. Rasch war eine Infusion gelegt, kreislaufstützende Medikamente wurden verabreicht.[h]

Also musste er weiterleben. Doch trotz umfangreicher Intensivtherapie in der Klinik gelang es nicht, Gerhard von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Er wachte einfach nicht mehr auf. Zu lange hatte sein Hirn nach dem Herzstillstand keinen Sauerstoff mehr bekommen. Nach gut zwei Monaten Intensivabteilung ging es mit apparativer Beatmung und Notarztwagen wieder zurück nach Hause.[i]

Fortan saß ein Pflegeteam rund um die Uhr an Gerhards Bett. Das Wohnzimmer glich einer Intensiveinheit: Überall Infusionsständer, Beatmungsgeräte, Sauerstoffflaschen, piepsende Monitore, schlürfende Absauggeräte und die vibrierende Spezialmatratze.

So lag Gerhard über ein Jahr lang zu Hause, viele Male unterbrochen von Noteinweisungen ins Krankenhaus.[j] Diese waren immer wieder nötig, wenn es zu Erstickungsanfällen kam, weil der Beatmungsschlauch durch Schleim verstopft war. Solche äußerst leidvollen Zustände treten bei dauerbeatmeten Patienten nicht nur regelmäßig auf, sie gelten auch als deren häufigste Todesursache: Tod durch qualvolles Ersticken. Auch wurden in der Klinik immer wieder Lungen- oder Nierenbeckenentzündungen bekämpft.

Ab und an nahm Gerhards Gesicht Züge einer schmerzverzerrten Grimasse an, ansonsten konnte er praktisch keinen Muskel mehr bewegen.

Durch einen Bericht in der Zeitung wurde Gisela auf die Möglichkeiten einer palliativmedizinischen Versorgung zu Hause[k] aufmerksam. Also trafen wir uns und führten lange Gespräche. Über die noch verbleibenden Therapieziele waren wir uns rasch einig, und vor allem darüber, dass eine Fortführung der künstlichen Beatmung Gerhards Vorstellungen von einer menschenwürdigen Existenz grundlegend widerspräche. Und dennoch, letztendlich über die Einstellung der Beatmung, das Ziehen des Schlauches entscheiden, das wollte Gisela nicht. Ihre Angst war zu groß. Wie oft hatte man ihr im Krankenhaus gesagt: »So etwas darf kein Arzt, das ist Mord!« Immerhin konnten wir uns auf eine Therapiebegrenzung einigen. Künftig kein Krankenhaus mehr und keine Antibiotika bei einer lebensbedrohlichen, Erlösung verheißenden Infektion. Nicht ohne Grund wird die Lungenentzündung als »Freund des alten Mannes« bezeichnet – der Tod findet zumeist leidlos im Koma statt.

Wenige Tage nach der Übereinkunft, es war ein Samstagvormittag, wurde ich zu Gerhard gerufen. Das Beatmungsgerät gebe Druckalarm, auch mit dem Pulsmonitor stimme etwas nicht. Das Bild, das sich bei meinem Eintreffen bot, werde ich niemals vergessen. Gerhard war bereits am Vortag gestorben, die Leichenstarre war vollständig ausgeprägt. Totenflecken am Körper bis zur mittleren Flanke. Niemand hatte seinen Tod bemerkt. Irgendetwas bewegte sich doch noch. Das Beatmungsgerät kämpfte gegen die Leichenstarre an und signalisierte Alarm, weil der Druck in der Lunge zu hoch war. Niemand hatte den bis ultimo verzögerten Tod bemerkt.

Der Intensivpflegedienst konnte der Krankenkasse dann auch noch diesen Tag mit rund 800 Euro in Rechnung stellen. Sinnlose, aber gut bezahlte Übertherapie; Rückfragen der Krankenkasse: keine.

Ein Extremfall, gewiss. Aber vergleichbare Fälle ereignen sich Tag für Tag in Deutschland. Die Übertherapie, das Geschäft mit der systematischen Missachtung des Patientenwillens, mit dem bis ultimo hinausgezögerten Sterben floriert. Der prominente Palliativmediziner Prof. Gian Domenico Borasio schreibt: »Bis zur Hälfte aller Sterbenskranken erhalten Behandlungen wie zum Beispiel Chemotherapie, Bestrahlung, künstliche Ernährung oder Antibiotika, die ihnen nichts bringen.«[2] Es wird also, denke ich, Zeit, die systematischen Missstände detailliert, freimütig und ohne Angst vor der erwartbaren Kollegenschelte zu benennen und in all ihren oft grausigen Konsequenzen aufzuzeigen. Darum habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, dieses Buch vorzulegen.

Aufgabe der Medizin ist es, menschliches Leiden zu heilen oder zumindest zu lindern. Dieses Ziel wird ausgerechnet in der schwierigsten Phase des Lebens durch den Einsatz teurer Hightechtherapien oft komplett ins Gegenteil verkehrt. Statt Menschen am Lebensende so viel Lebensqualität wie möglich zu schenken, quält die moderne Medizin sie teilweise sogar gegen ihren Willen mit sündhaft teuren, oft überflüssigen und äußerst belastenden Therapien.

Der Fehler steckt dabei in unserem Gesundheitssystem, das Fehlanreize schafft, um Apparatemedizin anzuwenden, immer neue Chemotherapien einzusetzen und große Eingriffe durchzuführen. Es liegt in der Logik des Systems, wenn Ärzte und die unter hohem Kostendruck arbeitenden Kliniken und Pflegedienste diese Rahmenbedingungen gezielt ausschöpfen. Übertherapie wird hierzulande honoriert und Leidensminderung bestraft – zumindest finanziell. Unser Gesundheitssystem ist krank.

Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag dazu leisten, unseren Blick wieder stärker auf den kranken Menschen zu richten: auf seine wahren Bedürfnisse und auf das medizinisch Sinnvolle. Es soll aufrütteln und den Blick schärfen für die Paradoxien eines Gesundheitssystems, das darauf ausgerichtet ist, menschliches Leben »um jeden Preis« zu verlängern, und dabei viel Leid in Kauf nimmt. Anhand vieler Beispiele aus meiner Praxis als Palliativarzt will ich aufzeigen, wie wir es besser machen können. Dieses Buch richtet sich an Patienten, Angehörige und Mediziner, aber ebenso an wache Bürger, Politiker und insbesondere Juristen. Den Patienten will ich Mut machen, ihren Willen klar zum Ausdruck zu bringen und durchzusetzen. Denn es ist ihr Recht, selbst zu bestimmen, ob, wie und mit welchem Ziel sie medizinisch behandelt werden. Und meinen Arztkollegen[l] soll es als Anstoß dienen, ihr Handeln kritisch zu überdenken, ihren Patienten zuzuhören und dabei nicht auf die Gebührenordnung zu schielen. Anhand von mir begleiteter Schicksale schildere ich die Probleme am Lebensende bei Patienten mit schwersten Hirnschäden nach Krankheit oder Unfall, bei Krebs, aber auch bei Lungen-, Herz- oder Nierenversagen.

Als Palliativmediziner begleite ich zusammen mit meinem Team jährlich 400 Menschen bis zu ihrem Tod. Meine Aufgabe ist es, ihre Schmerzen und Beschwerden in hoffnungslosen Situationen so weit wie möglich zu lindern und ein Sterben in vertrauter Umgebung zu Hause zu ermöglichen. In ihrer Gesellschaft erlebe ich nicht nur viel Tragisches, sondern auch viele berührende und tröstende Momente, in denen es Menschen vergönnt ist, eine friedliche und schöne letzte Lebensphase zu verbringen. Meine Patienten sind meine Lehrmeister. Sie lehren mich, mit den Mitteln der modernen Medizin verantwortungsvoll umzugehen und Demut zu üben gegenüber dem, was unser Menschsein ausmacht: ein selbstbestimmtes und gutes Leben – bis in den Tod.

Leider ist dieser selbstbestimmte Tod in vertrauter Umgebung zu Hause viel zu wenigen Sterbenden vergönnt, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 belegt. Darin wurden die Daten von über 900 000 Verstorbenen ausgewertet. Die Ergebnisse sprechen für sich: Jeder zweite Deutsche stirbt im Krankenhaus. Befragt nach dem gewünschten Sterbeort haben aber nur drei Prozent aller Befragten angegeben, dass sie ihre letzte Lebensphase tatsächlich in die Klinik verlegen wollen.

Schuld an dieser Diskrepanz sind die Zustände in allzu vielen deutschen Kliniken, wo operiert, katheterisiert, infundiert, bestrahlt, geröntgt und beatmet wird, was die Gebührenordnung für Ärzte an Heilbehandlungspositionen hergibt.

Deutschland ist Weltmeister, was die Anzahl an Intensivbetten angeht. Während hierzulande 34 Betten pro 100 000 Einwohner belegt werden wollen, sind es in Portugal gerade einmal vier. Für Unfallopfer nach Katastrophen mit vielen Schwerstbetroffenen, so suggeriert diese Zahl, ist Deutschland gut gerüstet. Doch obwohl Katastrophen selten sind, reicht die Bettenzahl für die deutsche Bevölkerung lange nicht aus. Denn immer kränkere und ältere Menschen werden mit immer ausgefeilterer technischer Spitzenmedizin ohne Mitspracherecht und leidend am Sterben gehindert. Und wird das Intensivbett für einen neuen Patienten gebraucht – kein Problem: Man verlegt die Intensiveinheit einfach ins heimische Wohnzimmer oder neuerdings in sogenannte »Beatmungs-WGs«. Acht und mehr Sterbenskranke werden dort rund um die Uhr maximaltherapiert, damit auch im nächsten Monat die 22 000 Euro für die weitere Behandlung fließen. Die Rate heimbeatmeter Patienten hat sich in den letzten zehn Jahren verdreißigfacht.[3] Die Erklärung der zuständigen Fachgesellschaft: »der demografische Wandel« – wir sollen also 30-mal älter und kränker geworden sein. Ich frage mich ja eher, ob heute nicht 30-mal ältere und kränkere Menschen, die früher friedlich gestorben wären, in diesen Betten liegen.

Während Übertherapie friedvolles Sterben hinauszuzögern vermag, führt sie jedoch in vielen anderen Fällen sogar zu einem vorzeitigen Ableben. Denn das Zuviel an Medizin ist keinesfalls gesund. Sowohl in der Notfallmedizin wie auch in der Intensivmedizin ist bekannt: Je mehr Prozeduren bei einem Schwerstkranken durchgeführt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen letalen Ausgang der Krankheit.[4] Und eine weithin beachtete Untersuchung ergab: In Gegenden mit höherer Behandlungskapazität wurden mehr Untersuchungen veranlasst, es erfolgten häufiger kleinere Eingriffe, und die Patienten wurden öfter im Krankenhaus behandelt – vor allem mit Intensivtherapie. Und dies alles führte dazu, dass die Patienten früher starben. Nicht selten quält und tötet Übertherapie.[5]

Fatale ökonomische Anreize führen zu einer qualvollen Fehlversorgung. Dagegen sollten verantwortungsvolle Mitglieder unseres Standes protestieren. Deshalb plädiere ich nicht nur für eine Kurskorrektur bei Kollegen, Kostenträgern und Politikern, sondern erbitte auch die Unterstützung der Leser. Reden Sie mit Ihrer Familie, mit Freunden und Bekannten. Holen Sie sich bei großen bzw. kritischen Eingriffen oder kostspieligen Therapieverfahren stets eine Zweitmeinung! Üben Sie sich in Renitenz gegenüber dem bestehenden System! Denn auch Sie könnten eines Tages Opfer einer dramatischen Fehlentwicklung sein und in dem Intensivbett liegen, an dem sich die folgende Geschichte ereignete, die mir kürzlich zugetragen wurde.

Der Oberarzt steht mit einem Assistenzarzt am Bett eines greisen Mannes. Seine Atmung rasselt, der Puls ist schwach, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Ganz offensichtlich liegt er im Sterben. Ohne den Sterbenden anzusprechen, wendet sich der Oberarzt an seinen Assistenten und sagt: »Hätten wir den doch gestern an die Beatmungsmaschine gehängt, wir hätten den Fall viel besser abrechnen können.« Lachend verlassen sie das Krankenzimmer.[m]

 

[a]  Aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht wurden alle im Buch vorkommenden Fallberichte streng anonymisiert, Namen und Umstände verändert.

[b]  ALS, auch Immendorfer-Krankheit, geht mit Muskelabbau bis zur völligen Bewegungslosigkeit einher. Die Atemstörung führt letztlich zum Tod.

[c]  Hirnabbauerkrankung, 40 Prozent der Pflegeheimbewohner sind dement, Tendenz steigend.

[d]  Inkontinenz bezeichnet die Unfähigkeit, Harn oder Stuhl zu halten.

[e]  PEG = perkutane endoskopische Gastrostomie = Magensonde durch die Bauchwand

[f]  Kostenpunkt für das stationäre Einsetzen einer PEG-Magensonde mit zwei Tagen Klinikaufenthalt: 2297,49 Euro. Bei ambulantem Eingriff in einer Arztpraxis: 105 Euro + Kosten für die Sonde (ca. 90 Euro). Der Eingriff dauert etwa fünf Minuten.

[g]  Unter Medizinern geläufige Bezeichnung für eine tiefblaue Hautverfärbung, die schlimmsten Sauerstoffmangel anzeigt

[h]  Ein solcher Notarzteinsatz incl. Rettungswagen kostet z. B. im Ennepe-Ruhr-Kreis pauschal 1028 Euro.

[i]  Kosten für die dreiwöchige Intensivtherapie incl. Beatmung und Dialyse: 45 561,33 Euro, also 2 169,59 Euro pro Nacht

[j]  z. B. zwölftägige Intensivtherapie, Kosten: 22 055,66 Euro

[k]  Palliativmedizin = leidenslindernde Medizin. Ein Netzwerk aus Medizinern, Pflegekräften und ehrenamtlichen Helfer versucht, die Situation von Sterbenskranken zu verbessern (»Palliativnetz«).

[l]  Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

[m]  Das Krankenhaushonorar richtet sich im Wesentlichen nach den durchgeführten Prozeduren – hier ist die Beatmung eine Gelddruckmaschine. Der schlimme Aspekt dieses Ereignisses ist aber: Sterbende sind Lebende, sie hören bis zum letzten Augenblick. Unfassbar, wie sich der greise Mann gefühlt haben muss. Mich macht das traurig, aber auch wütend – deshalb gibt es dieses Buch.