Muffins
&
Marzipan
VOM GROSSEN GLÜCK AUF
DEN ZWEITEN BLICK
Stefanie Gerstenberger und Marta Martin
sind Mutter und Tochter und legen mit Muffins und Marzipan.
Vom großen Glück auf den zweiten Blick ihren zweiten
gemeinsamen Roman vor.
Stefanie Gerstenberger wurde 1965 in Osnabrück geboren
und studierte Deutsch und Sport. Nach Stationen in der
Hotelbranche und beim Film und Fernsehen begann sie selbst
zu schreiben. Ihre Italienromane sind hoch erfolgreich.
Marta Martin, geboren 1999 in Köln, ist eine junge
Nachwuchsschauspielerin und wurde durch ihre Hauptrolle
in Die Vampirschwestern bekannt.
Die beiden leben in Köln.
Außerdem von Stefanie Gerstenberger und Marta Martin im
Arena Verlag erschienen:
Zwei wie Zucker und Zimt. Zurück in die süße Zukunft
Für alle Filmteams dieser Welt!
Besonders für das eine …
Ihr wisst schon, wer gemeint ist.
1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Umschlaggestaltung: Petra Hämmerleinova
ISBN 978-3-401-80587-0
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1. Kapitel
Aufstehen. Sobald der Wecker klingelte, war aufstehen angesagt. Ich riss mit einem Ruck die warme Decke weg. Das Mitleid mit meinem schläfrigen Körper sparte ich mir. Wozu sollte das gut sein? Schließlich bereute man jedes Hinauszögern hinterher doch wieder. Spätestens, wenn man nicht pünktlich kam.
Warum wache ich hier auf und nicht da, wo ich hingehöre, fragte ich mich zum hunderttausendsten Mal und haute dem Wecker auf den Kopf. Warum hat Mama das getan?
Es waren drei Schritte vom Bett bis zur Tür meines Zimmers und zwölf Stufen die Treppe runter zu unserem Bad. Mein Zimmer lag direkt unter dem Dach. Perfekt zum Verkriechen.
Warum waren wir hier? Hatte Mama Angst vor den schönen Erinnerungen, die es in Köln an jeder Ecke für uns gab, fragte ich mich, während ich die Stufen zur Sicherheit noch mal zählte. Weil man dort das Gefühl hatte, dass Dad einem mit seinem Saxofonkoffer im nächsten Moment über den Weg laufen würde? Hier in München schlenderte er zumindest nur durch unsere Gedanken.
Der Teppichboden auf den Stufen war angenehm warm unter meinen Füßen. Ich hatte mir zum Geburtstag einen kleinen Handstaubsauger gewünscht, mit dem ich den Teppich regelmäßig absaugen konnte, auch in den Ecken. Ich hasste das Gefühl von Krümeln unter meinen Füßen.
Beim Zähneputzen zählte ich die Kachelreihe über dem Waschbecken. Unter dem Spiegelschrank hindurch, von Wand zu Wand. Vielleicht hatte sich ihre Zahl ja seit gestern verändert. Nein, Spaß! Ich zählte einfach gerne. Zwölf in der Breite, sieben nach unten; ergab 84 Kacheln. Wenn man den Platz, den das Waschbecken brauchte, mal ausnahmsweise außer Acht ließ.
Mama war schon wach, ich hörte, wie sie nebenan in der Küche die Teller fürs Frühstück auf den Tisch stellte. Mama sagte, ich sei besessen von Zahlen, von Routine, von Wiederholungen, dann seufzte sie manchmal vor sich hin, sodass ich es hörte: »Ist das für ein junges Mädchen normal?«
Dabei war sie selbst auch nicht besser. Klack, klack, plock. Teller, Teller, Zuckerdose. Ich kannte die Geräusche. Jetzt die Brotpackung. Leises Knistern. Dann die Teekanne. Ein sattes Plung. Auch alles gleich. Jeden Morgen.
Ich legte die Handflächen wie ein betender Buddhist vor meiner Brust aneinander und presste, so fest ich konnte. Halten! Ich traf im Spiegel auf meine weit aufgerissenen Augen. Länger halten! Die Übung war gut für die Brustmuskulatur. Mein Busen würde dadurch schneller wachsen. Musste dadurch schneller wachsen. Mit fünfzehn keinen BH zu brauchen, war einfach unerträglich. Nach sechzig gezählten Sekunden griff ich nach der Haarbürste und fuhr damit zehn Mal durch meine braunen Strähnen. Heute Abend musste ich die Übung wiederholen.
»Guten Morgen.«
»Morgen«, antwortete ich knapp und schaute kurz in ihr Gesicht. »Na, besser geschlafen?« Den Ringen unter ihren Augen nach zu urteilen wohl eher nicht. Meine Mutter konnte schon seit Monaten nachts nicht mehr schlafen. Sie putzte um zwei Uhr morgens die Badewanne oder saß auf dem Sofa und löste Sudoku-Rätsel. Neuerdings backte sie sogar manchmal Brot. Das war super. Die ganze Küche duftete dann morgens danach und es gab nicht dieses abgepackte Zeug zum Frühstück.
»Geschlafen?« Sie schnalzte verneinend mit der Zunge, also ob die Frage allein schon unmöglich war. »Tee?«
»Gerne!«, antwortete ich.
Wir aßen schweigend. Immer dieselben Sätze. Oder einzelne Worte. Morgens waren es bei uns meistens nur einzelne Worte. Warum erzählte mir ausgerechnet meine Mutter etwas von Gewohnheiten, aus denen ich ausbrechen sollte? Original ihr Wortlaut. Und selber? Sie hatte als Mädchen Ballett getanzt und war nach dem abgebrochenen Psychologiestudium nach England gegangen, wo sie meinen verrückten Dad mit seinem Saxofon im Hyde Park kennenlernte. Ich hatte Fotos von damals gesehen: Meine Mutter Carolin mit ihren Tänzerinnen-Beinen im schwarzen Tütü, er mit Frack und Zylinder. Sie verdienten ihr Geld auf der Straße! Sie sahen cool aus. Ziemlich durchgeknallt und ziemlich abgefahren. Dann war Mama vernünftig und »Übersetzerin für englische Literatur« geworden. So stand es zumindest auf ihrer Visitenkarte. Ehrlicherweise hätte da statt Literatur »Kitschromane« stehen müssen, aber okay. Und offenbar trauerte sie dem Studium immer noch nach. Richtig so, dachte ich. Ein bisschen mehr psychologischer Sachverstand hätte sicher nicht geschadet. Oder mutete man etwa seiner dreizehnjährigen Tochter nach dem Tod des Vaters auch noch einen Ortswechsel zu? So geschehen in meinem Fall. Dad tot. Altes Kinderzimmer weg. Liebste, tollste Freundinnen weg und direkt nach der Beerdigung von Köln nach München.
Es wird dir da gefallen, hatten die Leute gesagt. Was soll man einer Dreizehnjährigen auch sonst sagen, die gerade ihren Vater verloren hat? Der Dialekt dort ist gewöhnungsbedürftig und das Oktoberfest besteht aus überquellenden BHs und sinnlosem Saufen?
»Ich hab heute Nachmittag Theater.«
»Ja?« Nur ein kleines Ja, doch ihr Kopfschütteln sagte alles … Sagte: Dass du da immer noch hingehst …
»Ja!« Ich knallte meine Teetasse auf den Tisch und stand auf. Vielen Dank, Mama! Ja, ich hatte die letzte Aufführung vermasselt. Ja, ich hatte das selbst geschriebene Stück unserer Theatergruppenleiterin fast ruiniert. Mit meinem völligen Blackout in der ersten Minute. Inklusive bühnenreifes Zusammenklappen und Atemnot. Musste Mama mich daran erinnern? Ich hätte die Rolle wohl nicht richtig gelernt, hatte sie danach nur gesagt, als ich weinend in der U-Bahn saß. Nur weg, weg von dieser Scheißpremierenfeier. Gelernt, gelernt, als ob es beim Spielen nur auf »gelernt« ankam! Mama hatte doch keine Ahnung. Dabei lag alles nur an München! In Köln war mir das nie passiert.
So laut es ging, feuerte ich Teller, Tasse und Besteck in die Spülmaschine und knallte sie krachend zu. In Köln war Dad auch noch da gewesen.
»Tja, die Schauspielerei, die Schauspielerei … Dein Onkel ist davon ja auch so besessen.« Meine Mutter rührte Zucker in ihren Tee. Selbst das sah bei ihr superangestrengt aus.
Mein Onkel Manfred war Mamas Bruder und das einzig Gute, was es über München zu sagen gab. Er lebte in seiner eigenen Wohnung, ein Stockwerk unter uns, und führte den mit alten Büchern vollgestopften Laden im Erdgeschoss des Hauses. Antiquariat Ankauf – Verkauf stand auf dem Schild. Onkel Manfred hatte einen grau flatternden Haarkranz um die Glatze, wie ein alternder Clown, und durchschaute meine Stimmung, kaum dass ich den Laden betrat. Er war schweigsam, wenn ich es war, oder er riss mich mit seinen trockenen Sprüchen aus meiner schlechten Laune. Das Schönste aber: Wir liebten das Theater, wir liebten es, albern zu sein, wir liebten das Improvisieren! Wir hatten schon kichernd nebeneinander auf dem Boden vor den Bücherregalen gelegen, zwei Spiegeleier in einer Pfanne, die sich ihr Leid klagten, wir hatten unsichtbare Frösche und anderes Getier von seiner Hand in meine klettern lassen, ich hatte ihn überzeugt, mich mit meinem verendenden Kamel in der Wüste zurückzulassen, nur um ihm ein paar Minuten später eine teure Versicherung gegen Liebeskummer zu verkaufen. Zu der Aufführung hatte er nicht kommen können, hatte mich also nicht vor Angst zusammenklappen sehen. Er tat, als wäre es gar nicht passiert.
»Drama oder Komödie, Ella Ellerbrake«, sagte er manchmal, während er seine Hände hinter dem Rücken versteckte, »du kannst entscheiden!« Ich fand es immer etwas peinlich, wenn er meinen Namen so theatralisch hervorschmetterte, doch dann wählte ich rechts oder links und bekam eins der Theaterstücke, die er für mich ausgewählt hatte.
»Die Klassiker, die Klassiker, Ella. Die musst du einfach kennen!«, rief er gerne. Meistens waren es uralte Bücher, mit von den Jahren braun gefärbten Seiten. Emilia Galotti, Der Besuch der alten Dame und natürlich alles von Shakespeare. Die uralten Wörter darin waren echt heftig … Gut, dass Dad immer Englisch mit mir gesprochen hatte, so konnte ich mir das meiste zusammenreimen.
Obwohl es ihr nicht besonders anzumerken war, liebte Carolin Ellerbrake ihren Bruder. Kein Wunder, er erlaubte ihr, sich tagelang zwischen den staubigen Büchern im Laden zu vergraben, und ließ zu, dass sie sein dunkles Hinterzimmer zum Hof hinaus als Übersetzungsbüro benutzte. Manchmal beneidete ich sie. Besser konnte man sich vor der Welt nicht verstecken.
Heute wurden die Rollen für den Sommernachtstraum vergeben, fiel mir auf dem Weg nach unten ein. Dorothea hatte mich nach dem Desaster nicht aus der Gruppe rausgeschmissen, aber mehr als eine Elfe würde es diesmal nicht werden. Oder ein sprechender Baum. Das hatte sie mir schon angekündigt. Elfen vermasselten mit ein paar ungesagten Sätzen keine Premiere, sodass der Vorhang fällt und eine halbe Stunde später mit der Zweitbesetzung gespielt wird.
Oh fuck, murmelte ich bei der Erinnerung. Der Sommernachtstraum ohne mich. Und dabei liebte ich dieses Stück mit seinen ganzen Verwechselungen!
Meine Zweitbesetzung Justina war nach ihrem Triumph noch selbstbewusster geworden, wenn das überhaupt machbar war. Sie würde natürlich Titania, die Elfenkönigin, spielen. Oder Helena. Justina mit ihrem breiten Mund und den rotblonden Engelshaaren bekam seitdem die besten Rollen. Sie war keine Miss-Germany-Schönheit oder so, doch alles in ihrem Gesicht und an ihrem Körper schrie: Sieh! Mich! An! Und das tat dann auch jeder. Außerdem: Welches Mädchen sah mit einem Diadem auf dem Kopf nicht irgendwie toll aus?
Eine Elfe. Wie peinlich. Oder sogar ein sprechender Baum! Ich sah mein Spiegelbild im Fenster des Treppenhauses. Vielleicht ganz passend. Elfen hatten keine nennenswerte Oberweite. Bäume auch nicht.
Ich kam an Ewan vorbei. »Morgen, Ewan!«
Na?! Würde er heute gnädigerweise mal mit dem Schwanz wackeln? So, wie normale Hunde das zur Begrüßung taten? Aber dieser Hund war nicht normal. So viel war klar. Denn dieser Hund war kein Hund, dieser Hund war eine Katze. Er benahm sich zumindest so. Wie eine von denen, die dich mit undurchdringlichem Blick anstarren, wenn du ihnen Guten Morgen wünschst; die so lange verächtlich gucken, ohne ein einziges Mal dabei zu plinkern, bis du dich peinlich berührt abwendest.
Ewan lebte in einem flachen Hundekorb auf dem Treppenabsatz zwischen erstem und zweitem Stockwerk. Und war ganz klar gestört. Er wollte nicht mehr zu uns gehören, seit Dad gestorben war. Wie eine Katze ging er alleine durch die Katzenklappe in der Hoftür ein und aus und stromerte durch die Nachbarschaft. Das war auch gut so, denn niemand von uns hatte mehr die Energie, mit ihm Gassi zu gehen. Zwang man ihn, eine Leine zu tragen, kippte er zur Seite und stellte sich tot. Manchmal saß er bei Manfred im Antiquariat auf dem Tresen neben der Kasse. »Er ist ein Freigeist«, sagte mein Onkel über ihn. »Er vermisst seinen Retter. Er vermisst die Musik.«
Sein Retter war mein Vater. Er hatte den Jack-Russell-Terrier eines Tages von einer Orchestertournee aus Schottland mitgebracht und Ewan genannt. Ewan war Schotte, so wie Dad. Er hatte damals Flöhe gehabt, war abgemagert gewesen und seitdem völlig auf ihn fixiert. Drei Jahre begleitete er ihn dann auf allen Orchesterreisen, er hatte sogar einen eigenen Pass. In den Hotels in Montreux, London und Berlin kannte man ihn schon. Nach Dads Tod hatte ich ihn in mein Bett geholt und mich an ihn geklammert. Ich spielte ihm Dads Musik vor. Zwei Trauernde, die sich gegenseitig trösten. Dachte ich zumindest. Aber Ewan wehrte sich, wenn ich ihn auf den Arm nehmen wollte. Er strampelte mit seinen kurzen Beinchen und hielt seinen Kopf starr, als wäre mein Streicheln eine Belästigung, die es zu überstehen galt. Er sprang aus meinem Bett und winselte, bis ich ihn aus dem Zimmer ließ. Er ignorierte meine Zuneigung. Wollte sie nicht. Wollte sie von niemandem von uns.
»Du mich auch, Ewan«, sagte ich und setzte meinen Weg nach unten fort, darum bemüht, jede zweite Stufe auszulassen.
Auf dem Weg zur Straßenbahn zählte ich. Nein, nicht die Steinplatten auf dem Gehweg, so besessen war ich nicht. Ich verband die platt getretenen Kaugummiflecken mit Linien, ich verband gerne alles mit Linien. Und nebenher zählte ich die toten Lebewesen, die ich entdeckte. Jetzt, Mitte Juni, waren es schon sehr viele. Hier und da eine den Erschöpfungstod gestorbene Biene. Verendete Mäuse im Rinnstein. Ja, in Neuhausen, dem Viertel, in dem wir wohnten, gab es Mäuse. Die auch noch öffentlich starben. Am schlimmsten waren die jungen Vögel auf den Bürgersteigen. Es war die Zeit, in der sie mit gelb umrandeten Schnäbeln und geschlossenen Glupschaugen nackt und hilflos aus dem Nest fielen. Es war zum Weinen, aber ich weinte auch im zweiten Sommer nach Dads Tod nicht. Mama hasste weinende Menschen.
Was wäre gewesen, wenn? Was wäre gewesen, wenn ich damals im Krankenhaus geblieben wäre, statt mit meiner Mutter nach Hause zu gehen? Hätte er dann überlebt? Als ich am Rotkreuzplatz die Straße überquerte, geisterte der Gedanke mal wieder durch meinen Kopf.
Der Tag im Krankenhaus stand auf Platz eins der Liste meiner traurigsten Erinnerungen. Und auch meiner am häufigsten wiederkehrenden Gedanken. Ungeschlagen. Gefolgt vom Tag der Urnenbeisetzung. Ich erinnerte mich noch an Onkel Manfred, der meine Hand ganz doll festhielt, und an die Rose in meiner anderen Hand, die mir eine große, dicke Frau gegeben hatte. Ich hatte sie an die Stelle gelegt, an der die Urne in dem runden Loch verschwunden war. Und an Mamas versteinertes Gesicht erinnerte ich mich auch. Sie hatte keine Rose für mich gehabt, für sich selber auch nicht. Nicht traurig, sondern wütend und verzweifelt hatte sie ausgesehen, sah sie auch heute noch aus. Ich konnte das irgendwie verstehen, denn ab und zu war ich auch wütend auf ihn, weil er nicht mehr da war. Aber doch nicht pausenlos.
Er hatte einen Herzinfarkt gehabt, war aber schon wieder ganz mein cooler Dad, als er da in diesem hohen Krankenhausbett lag und mich Pippa Kakadu nannte. Das war sein Name für mich. Seit achtundneunzig Wochen und drei Tagen nannte mich niemand mehr so. Mein Vater machte Witze über den Tropf, an dem er hing, und ich lachte darüber. Ein paar Stunden später hatte er einen weiteren Infarkt, dieses Mal so stark, dass er daran starb. Hätte ich ihn retten können, wenn ich bei ihm geblieben wäre? Wären wir dann noch eine normale Familie mit einem normalen Hund?
In der Tram sah ich Leander und Nikolai aus meiner Klasse. Die waren ganz nett und sahen irgendwie auch gut aus, aber nicht so toll, dass sie sich darauf was einbildeten. Trotzdem hatte ich noch nie mit ihnen geredet. Und da vorne stand Josina. Auch okay. Alle waren irgendwie ganz nett. Die Mädchen, die Jungs, »Bubn« und »Madln« nannte man die hier manchmal. Manche von ihnen trafen sich neuerdings frühabends im Luitpoldpark. Angeblich stand man einfach so rum. Was da genau passierte, wusste ich nicht. Wollte ich mit Bubn und Madln im Park herumstehen? Wohl kaum. Voll idiotisch. Bayerisch war bescheuert.
Die Schule war okay. Sie war besser ausgestattet als meine in Köln. Die Klos waren sauberer, der Pausenhof nicht so zubetoniert. Und in der Klasse war ich nicht gemobbt, ausgeschlossen oder geärgert worden, nur weil ich neu war. Ich hatte einfach keine Lust auf die alle, keine Lust auf München. Zwei Jahre zog ich das jetzt schon durch.
Komödie oder Drama? Was für eine Frage. Mein Leben war beides: ein Drama, in dem nichts passierte, und gleichzeitig eine Komödie, in der nie gelacht wurde. Mein Leben war scheiße und ich wusste nicht, wem ich die Schuld dafür geben sollte oder wie ich daraus entkommen konnte.
Ich ging über den Schulhof zwischen den Schülern hindurch, die meisten trotteten, wie ich, langsam vor sich hin. Manche umarmten sich zur Begrüßung, küssten sich rechts und links. Busserl geben hieß das auf Bayerisch. Hatten wir in Köln auch gemacht. Da hieß es nur nicht so bescheuert. Und hier wollte ich das auch nicht. Egal, wie die es nannten. Mit denen nicht. Ein paar Meter weiter stand Justina. Ihr rotblondes Haar fiel in glänzenden Wellen über ihren Rücken und reichte fast bis zu ihrem Hintern. Ihre Freundinnen scharten sich emsig um sie, wie Arbeitsbienen um ihre Königin. Ich drehte mich um, tat so, als ob ich etwas vergessen hätte, nur um nicht so dicht an ihr vorbeigehen zu müssen.
Am Zaun, gleich neben dem Tor, saß ein Hund. Was machte der hier auf dem Schulgelände? Es war ein Jack-Russell-Terrier. Hatte den jemand mitgebracht oder ausgesetzt? Er sah so verlassen, so zurückgelassen aus, fast wie Ewan, der verrückte Hund meines Vaters. Ich stutzte. Es war Ewan, der verrückte Hund meines Vaters, denn er starrte auf seine unnachahmliche Weise zu mir hinüber, abschätzend, als ob er die Augenbrauen hochzog.
»Ewan«, sagte ich leise, »was machst du denn hier?« Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu. Sollte ich mich um ihn kümmern? Ihn nach Hause schicken? Als ob er auf mich hören würde …
»Wenn Ella Ellerbrake ehrlich wäre, würde sie zugeben, dass sie neidisch auf ihre Klassenkameradin Justina ist. Doch Ella Ellerbrake ist nicht ehrlich …«
Was?! Ich stoppte mitten im Schritt und schaute mich um. Doch Ella Ellerbrake ist nicht ehrlich …! Hä? Wer hatte das denn eben gesagt?! Die hatten sie doch nicht mehr alle … Oder besser gesagt: Der! Denn es war eine männliche Stimme gewesen, ein bisschen müde und rau, aber doch sehr deutlich, als ob jemand direkt neben meinem Ohr gesprochen hätte. Ich drehte den Kopf, aber um mich herum war niemand. Die machten alle einen Bogen um mich, so kam es mir jedenfalls vor.
»Wäre sie ehrlich, dann würde sie zugeben, dass sie Justina um ihre unglaublichen Haare, ihre Bienenköniginnen-Beliebtheit, um den Triumph bei Dorotheas Stück und ihren Erfolg in der Theatergruppe beneidet. Und heute Nachmittag wird Ella Ellerbrake im Proberaum wieder auf dem dritten Stuhl rechts neben der Tür sitzen, mit dem lachhaften Hoffnungsschimmer, dass ihr Name doch noch für eine der Hauptrollen aufgerufen wird.«
»Wie? Lachhafter Hoffnungsschimmer?!«, brüllte ich und drehte mich einmal um mich selbst. »Woher weißt du das mit dem Stuhl? Und musst du immer meinen vollen Namen sagen? Das nervt!«
Die Leute um mich herum starrten mich an. Manche blieben sogar stehen.
»Was guckt ihr denn so? Meint ihr, ich merk das nicht? Ja, toll, ich hab’s gemerkt … Geht weiter!« Ich schnappte nach Luft, mein Herz hämmerte vor Wut und vor Schreck, dass jemand so viel über mich wusste, als mich erneut ein Blick aus dunklen Hundeknopfaugen traf.
»Ewan«, rief ich, »geh nach Hause! Gehst du wohl! Ab!« Ich zeigte mit dem Finger in Richtung Straße. Mein Gott, wie würde er von hier wieder zum Rotkreuzplatz kommen? Wie war er überhaupt hierhingekommen? War er tatsächlich alleine in die Tram gestiegen? Es klingelte zum zweiten Mal, ich musste rein, ich konnte mich jetzt nicht um diesen neurotischen Hund kümmern! Aber da senkte er auch schon den Kopf und trippelte durch das Schultor hinaus.
Im Klassenraum angekommen, fragte ich mich immer noch, wer mich da draußen auf dem Hof mit diesen dummen Witzen verarscht hatte. Wer hatte sich das erlaubt? Und war da überhaupt jemand gewesen oder war das mein sogenanntes Unterbewusstsein, das einem, laut Mama, durchaus mal Streiche spielen konnte? Bitte nicht! Mit offenen Augen träumen und Selbstgespräche führen sei nicht zwangsläufig pathologisch, hatte sie mal erklärt, weil ich sie auf ihre Selbstgespräche hingewiesen hatte. Na super, Ella, fängst du jetzt auch noch damit an? Und auch noch so, dass es alle hören können? Erst das und dann dieser Hund! Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen, holte meine Hefte und das Buch heraus, schlug im Arbeitsheft die Seite mit den Hausaufgaben auf und überflog nervös meine Zeilen. Zum Wochenbeginn gleich eine Doppelstunde Französisch. Hier herrschten andere Sitten als in Köln. Zuspätkommen wurde ins Klassenbuch eingetragen, fehlende Hausaufgaben wurden umgehend mit einer doppelten Menge Aufgaben bestraft und mit Ausreden wie »die Bahn fuhr nicht« kam hier niemand durch. Die Münchner Bahnen fuhren ja auch immer. Nicht wie in Köln, wo sie jederzeit in jedem Tunnel stecken bleiben konnte und das morgens zwischen sieben Uhr dreißig und sieben Uhr fünfzig auch besonders ausgiebig tat. Ach, unterirdisches Köln, wie gerne würde ich jetzt in einem deiner Tunnel stecken, dachte ich und schaute mich aufmerksam im Klassenraum um. Noch einmal würde es niemand schaffen, sich an mich heranzuschleichen. Wer immer das gerade auf dem Schulhof auch gewesen war, ich würde ihn erwischen!
Justina saß schräg hinter mir am Fenster, natürlich umringt von einigen Mädchen. Sie musterte mich vom Scheitel über die kaum vorhandene Brust bis zu den geballten Fäusten auf meinem Pult und sprach dabei weiter, ohne eine Miene zu verziehen.
Auch jetzt war die Bienenkönigin wieder von ihrem Hofstaat umgeben, der auseinanderfliegen würde, sobald Madame Boutin die Klasse betrat. Doch die strenge Madame B. ließ an diesem Morgen auf sich warten.
»Und jetzt kommt der Hammer!«, sagte Justina in diesem Moment. »Meine Agentin hat gestern einen wahnsinnig geilen Casting-Termin für mich reinbekommen!«
»Echt?!«
»Mei, des is’ ja subba!«
Helle Begeisterung unter den gemeinen bayrischen Arbeitsbienen. Ich hatte mich schon längst wieder nach vorne gedreht, verstand jedoch jedes von Justinas Worten.
»Die hatten schon alles besetzt und nun hat sich die Hauptdarstellerin den Arm gebrochen. Und sie casten neu! Wie geil ist das denn? Ich muss da heute um halb eins hin!«
»Aber da haben wir Mathe«, wagte eines der Mädchen einzuwerfen. »Der Behrends lässt dich niemals gehen!«
»Ja und? Ich meine, hallo?! Da geht’s um einen Kinofilm! Da werde ich Mathe wohl ausfallen lassen müssen! Da frage ich doch gar nicht!« Justina lachte kurz auf und seufzte dann. »Gedreht wird in den gesamten Sommerferien, sechs Wochen lang. Wisst ihr, was das bedeutet? Damit fällt der Trip nach Kanada für mich aus und den Tauchkurs bei meinem Vater auf Sardinien kann ich auch knicken … Aber es wäre trotzdem so megageil! Ratet, wer als männliche Hauptrolle dabei sein wird!« Die Mädchen hatten keine Ahnung, quietschten aber schon mal im Voraus.
»Leevi Valtteri Mäkinen!«
»Nein!«
»Himmel, mai, der is’ so süß!«
»Der ist nicht nur süß, der ist auch echt subba-subba-heiß.«
»Ich komme dich besuchen!« Wildes Gekicher, dann beendete Madame B.s Auftritt die Euphorie in den Reihen hinter mir.
Vielleicht bricht sich der süße, subba-heiße Leevi Valtteri Mäkinen ja auch noch den Arm und dann stehst du da, Justina, dachte ich. Oder den Arsch. Sofort schämte ich mich für meine gehässigen Gedanken. Warum hackte ich auf Leevi herum? Er war eigentlich ein ziemlich guter Schauspieler. Dafür, dass alle Mädchen nur über sein Aussehen und seinen wahnsinnig süßen finnischen Akzent redeten und ausrasteten, wenn er irgendwo erschien, konnte er ja nichts.
Ich musste an die Stimme von heute Morgen denken. Nicht ehrlich hatte sie mich genannt. Na und? Vielleicht würde Justina ja auch gar nicht genommen. Doch ich wusste, dass sie die Rolle kriegen würde. Ich wusste es einfach. Mädchen wie sie hatten mindestens Körbchengröße B, hatten tolle Haare, hatten eine Agentin, hatten keinen Blackout bei Premieren, hatten einfach immer Glück.
In der zweiten großen Pause stand ich auf dem Schulhof, kaute an meinem Brot und tat, als hörte ich Alexandra, Mia und Britt zu, während ich die Linien der Pflanzenkübel, die unter den Platanen standen, im Kopf nachzeichnete. Eine wunderbare Ablenkung, ganz ohne denken, das permanente Gebrabbel in meinem Hirn wurde in solchen Momenten immer leiser oder verstummte sogar ganz und machte einer angenehmen Leere Platz.
»Ella Ellerbrake zieht die Schultern hoch, um die Regentropfen davon abzuhalten, in ihren Nacken zu fallen. Ein vergebliches Unterfangen.«
»Nee! Hör auf!« Ich drehte mich blitzschnell im Kreis und duckte mich.
»Sie hasst es nämlich, wenn ihre dünnen Haare nass werden, denn dann sehen sie noch mehr nach öligen Vollkornspaghetti aus, als sie es sowieso schon tun.«
»Nein! Was für ein Mist. Hau ab!«
»Doch sie hat festgestellt, dass es angenehmer ist, mit ein paar Pseudofreundinnen im Regen zu stehen als alleine im Toreingang.«
»Was ist denn mit dir los, hast du eine Wespe unter der Jacke?«, fragte Mia, die in den meisten Fächern neben mir saß. Wir waren eine Zwangsgemeinschaft. Mehr nicht. Drei Augenpaare schauten mich an. Ich drehte mich weiter. Zwei kleine Jungs liefen an uns vorbei und lachten unter ihren Kapuzen über meinen Tanz.
Schnell richtete ich mich auf. »Es ist angenehmer, mit ein paar … äh … Freundinnen im Regen zu stehen als alleine im Toreingang. Habt ihr das gehört?«
»Ich stehe auch nicht gerne allein in der Pause herum!« Alexandra, die niemals zum engeren Kreis von Justina gehören würde, nickte. Sie hatte einen Klecks Nutella am Kinn, aber niemand machte sie darauf aufmerksam.
»Nein. Ja. Ich meine, habt ihr den Satz gehört?«
»Welchen Satz?«
»Es ist angenehmer, zu zweit im Regen zu stehen, als alleine zu sein!«
»Äh … Nein.«
»Wer hat das denn gesagt?« Britt sprach durch die Nase. Auch sie keine Justina-Vertraute, weil heuschnupfenverquollen und übergewichtig.
»Vergesst es. Alles gut!« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, ein Grinsen für die Mädchen zustande zu bringen. Doch in mir schrillten gleich mehrere Alarmglocken. Er hatte wieder zu mir gesprochen, aber nun wusste ich, dass nur ich ihn hören konnte. Er war so real! Er redete in mein Ohr. Nicht in meinem Ohr. Und das war kein Geplauder, sondern überlegte Sätze. Als ob mir jemand eine Geschichte vorlas. Was sollte ich tun? War das jetzt mein Unterbewusstsein? War das noch normal oder ging das schon ins Pathologische? Sollte ich meine Mutter fragen? Pff, die würde mich sofort zu dem Psychodoktor schleppen, zu dem sie selber jeden Mittwoch ging, oder mir Medikamente einflößen, anstatt mir richtig zuzuhören. Und auch wenn sie es täte, würde sie mir niemals glauben. Vielleicht lieber zu Onkel Manfred? Kritisch … Bei ihm wusste man nie, welche seiner zahlreichen Seiten man erwischte. Die politische? Ella, merkst du es nicht, in dir spricht die Stimme des Kapitals, wir sind alle immer noch Opfer des Imperialismus! Oder die des belesenen Buchhändlers: Du hast doch Die Buddenbrooks gelesen. Da hört der junge Christian auch Stimmen und gilt dann irgendwann als geisteskrank. Oder aber auch ganz banal, die des besorgten Onkels: Sag mal, Ella, meinst du nicht langsam auch, dass du Hilfe brauchst?
Ja, ich brauchte Hilfe, denn jetzt war klar: Ich wurde wahnsinnig!
Bevor ich mir weiter den Kopf über Onkel Manfred und Geisteskranke zerbrechen konnte, sah ich ihn! Wieder saß er an derselben Stelle neben dem Zaun und guckte zu uns herüber.
Oh Mann! Mein Gehirn drehte fröhlich durch und dann noch dieser durchgeknallte Hund! Den letzten Teil des Satzes hatte ich anscheinend laut gesagt, denn Britt fragte: »Was für ein Hund? Erst eine Wespe, dann …« Sie unterbrach sich mitten im Satz und auch Mia und Alexandra folgten nun meinem Blick. »Ach, ist der süß!«
»Nee, lass man, der ist nicht süß! Der ist leider nur gestört«, sagte ich, während wir auf Ewan zugingen. Ich seufzte. »Das ist Ewan. Er ist mir anscheinend nachgelaufen. Soll ich ihn jetzt etwa nach Hause bringen und Mathe verpassen?«
»So einen hatte ich auch mal, allerdings als Stofftier, der hatte rote Räder statt Pfoten und ganz steife Beine und man konnte ihn überallhin ziehen«, sagte Britt.
»Räder statt Pfoten wären jetzt ziemlich praktisch«, murmelte ich.
Mia kniete sich vor Ewan und streichelte ihm über den Kopf. »Oh, du süßer Ewan!« Sie sprach den Namen sogar richtig aus. »I-wenn«. »Was für einen lustigen Namen du hast. Wie dieser Schauspieler Ewan McGregor!«
»Ja! Der ist so toll!« Mia bekam ganz leuchtende Augen.
Ach, ehrlich?, dachte ich. Genau nach dem I-wenn hat mein Vater ihn ja benannt. Der ist in Schottland geboren, in Perth, genau dort, wo er Ewan gefunden hat und wo er selber von seiner Mutter im Heim abgegeben worden war. Aber ich hatte keine Lust, das den Mädchen jetzt zu erzählen.
»Vorsicht. Er hat’s nicht so mit Menschen. Manchmal schnappt er«, warnte ich sie.
»Ach, der ist so süß … der schnappt doch nicht!«
»Kann er irgendetwas? Er sieht aus, als ob er irgendwelche Kunststücke draufhat.« Alexandra hielt ihm ihr Nutellabrot hin. Ewan lehnte eindeutig ab.
»Nimm ihn doch mit in den Unterricht! Er kann unter unserem Tisch liegen.« Mia tätschelte den Hundekopf immer noch.
»Keine gute Idee, glaub mir. Der Hund hört nicht und kann nichts, außer schlecht gelaunt sein. Er hasst alle Menschen, seit mein Vater tot ist.«
»Oh.« Betretenes Schweigen. Die Mädchen schauten mich mit aufgerissenen Augen an.
»Tut mir leid«, hauchte Alexandra.
»Davon … also von deinem Vater … darüber hast du noch nie erzählt.« Britt legte sogar eine Hand auf meinen Arm.
Ich senkte schnell den Blick. »Ist schon zwei Jahre her. Los, ab nach Hause, Ewan.« Mein Zeigefinger wies ihm die Richtung. »Na, geh schon. Stell dich nicht so an!«
Es klingelte. Alexandra und Britt schulterten ihre Taschen. Mathe hatten wir nicht in unserem Klassenzimmer, sondern drüben im B-Trakt, Raum 207.
»Willst du ihn nicht lieber wegbringen? Nachher kommt er noch unter ein Auto! Wir sagen Herrn Behrends, dass du später kommst.« Mia ließ endlich von Ewan ab, richtete sich auf und klopfte sich den Dreck von den Knien ihrer Jeans. »Ist doch quasi ein Notfall!«
»Nö. Womöglich muss ich dann noch nachsitzen. Der findet schon allein nach Haus.«
Wir setzten uns in Bewegung, doch in diesem Moment sah ich aus den Augenwinkeln, wie Justina sich mit ihrem Rucksack in Richtung Schultor verdrückte. Die hatte ja Nerven! Wir schrieben in den nächsten Wochen eine Arbeit nach der anderen. Und sie schwänzte einfach. Offensichtlich nur wegen dem blöden Casting! Ich blieb ein wenig zurück. Da schwebte sie wie in Slow Motion über den nassen Asphalt, die rotgoldenen Haare kräuselten sich filmreif in der feuchten Luft. Moment mal! Wenn sie heute wegen des Castings nicht in der Theatergruppe erschien, würde Dorothea mir eventuell doch die Rolle der Titania … Vergiss es, Ella! Du liebst es zu spielen, vielleicht kannst du es auch ganz gut, doch da gibt es ein winzig kleines Problem: das Publikum! Fast erwartete ich, wieder die Stimme zu hören. Doch die schwieg. Ich sah mich in unserem Proberaum auf dem dritten Stuhl rechts neben der Tür sitzen, die Beine wie eine Kletterpflanze um die Stuhlbeine gewunden. »Und dann haben wir noch den Baum: Wie wär’s, wenn du das machst, Ella? Sind nur zwei Sätze, das schaffst du!« Genau so würde es ablaufen.
»Korrekt. Ella Ellerbrake weiß, dass sie recht hat!«, meldete sich die Stimme plötzlich wieder zu Wort und das kleine Biest vor dem Zaun schaute mir dabei tief in die Augen.
»Nein! Nein, nein, ich fasse es nicht, das … das kommt von ihm!«, rief ich. »Du bist das, Ewan! Du … aber wie …?! Hä?«
Die Mädchen waren stehen geblieben und hatten sich zu mir umgedreht. Spätestens ab diesem Moment mussten sie mich für völlig durchgeknallt halten. Ich war durchgeknallt, denn ich hörte nicht nur eine Stimme, sie kam auch noch von einem Hund! Das kann nicht sein, sagte ich mir. Wo ist der Trick? Das kann doch nicht sein!
»Das verrückte Tier will, dass ich es nach Hause bringe.« Ich lachte heiser, obwohl ich am liebsten geschrien hätte.
»Siehst du, er mag dich doch! Jetzt wedelt er sogar mit seinem Schwänzchen!«
»Großartig«, sagte ich mit zusammengepressten Zähnen. »Das hat er seit achtundneunzig Wochen und drei Tagen nicht mehr gemacht. Was ist los mit dem?«
Ewan hob den Kopf und lief auf seinen kurzen Beinen davon, Richtung Schultor.
»Ewan! He!« Ich rannte los. »Sagt dem Behrends, dass mir schlecht geworden ist.« Das stimmte sogar. Mir war ganz flau im Magen.
»Ewan! Warte! Du bleibst sofort stehen!« Ich strauchelte, meine Tasche fiel auf den Asphalt, ich hob sie auf, lief schneller. Raus aus dem Tor, rechts oder links? Rechts, denn ich sah, wie Ewan auf die Treppen der U-Bahn-Station zulief, auf denen noch der letzte Glanz von Justinas rötlichem Haar zu sehen war, bevor er mitsamt Hund in der Tiefe verschwand.
2. Kapitel
Ich nahm zwei Stufen auf einmal, als ich die letzte Rolltreppe hinuntersprang. Keuchend kam ich unten an. Was für ein Wahnsinn! Dads Hund konnte sprechen! Ewan, der traurige Ewan, der seit zwei Jahren auf dem Treppenabsatz hockte und sich selbst Gassi führte, hatte mit mir geredet. Oder, na ja, über mich.
Ich suchte den Bahnsteig ab. Nur wenige Menschen warteten an diesem Montagmittag um halb zwölf am U-Bahnhof Scheidplatz. Dahinten war er! Brav, die Vorderpfoten ordentlich nebeneinandergestellt, saß er vor einer Bank und schaute zu jemandem hoch, als ob er ein Stück Hundekuchen erwartete. Komm! Hier! Hin! Sofort! Nach Hause geht’s mit der Straßenbahn viel schneller!, versuchte ich ihm mit der Kraft meiner Gedanken zu befehlen, doch er zuckte nicht mal mit den Ohren, sondern beobachtete weiterhin die Person auf der Bank, von der ich nur die Beine sah. Beim Näherkommen erkannte ich die teuren Turnschuhe.
Justina beachtete den Hund nicht, sondern guckte auf einige Papiere, die sie im Schoß hielt. Ihre Lippen bewegten sich, vermutlich ging sie ihren Text für das Casting noch mal durch.
»Ewan!«, zischte ich. Keiner von beiden zeigte eine Reaktion. Niemals hätte ich mich so dicht neben Justina gestellt, doch ich wollte Ewan unbedingt in die Augen schauen. »Was machst du denn! Ja, komm her! Komm her zu mir!« Ich klopfte auf meine Oberschenkel und beugte mich zu ihm hinunter.
Justina sah mich völlig genervt an. Der Blick aus ihren schräg stehenden Augen sagte so etwas wie: Hallo?! Ich würde mich ganz gerne konzentrieren.
»Hallo, Justina!« Meine Stimme wie immer zu leise.
Jetzt erst schien sie mich zu erkennen. »Hey! Auch nicht bei Mathe?«
»Nein, äh, mein Hund!«, stotterte ich und zeigte auf Ewan. »Er ist in der Schule aufgetaucht und hier heruntergelaufen. Komm, Ewan, wir müssen hoch zur Tram!«
Doch Ewan machte keinerlei Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.
»Na los!«
Er wollte nicht. Ich ließ mich neben Justina auf die Bank fallen und überlegte, was ich zu ihr sagen sollte, doch Justina hatte sich schon wieder ihren Seiten zugewandt. Ich hätte kotzen können, dass ich keinen vernünftigen Satz herausbekam, und blickte in Ewans Augen. Sie waren blank und undurchsichtig wie Murmeln aus schwarzem Glas. Sag jetzt nichts von Ella Ellerbrakes unterwürfiger Art, die sie bei Justina an den Tag legt!, warnte ich ihn in Gedanken.
Er schaute zu Boden.
Sprich zu mir!
Nichts.
»Du sagst jetzt sofort, was das soll und woher du das kannst«, raunte ich ihm zu. Pff. Keine Antwort. Er sah mich nicht mal an!
»Sprich! Mit! Mir!«
Es war wirklich toll. Ich flüsterte einen Hund an, damit er mit mir redete, während der reglos wie ein Stofftier durch mich hindurchstarrte. Fehlten nur noch die Rollen unter seinen Pfoten. Was tat ich hier? Fünf Minuten, sagte die Anzeige, bis die Bahn Richtung Olympiazentrum kam. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, also zählte ich die Sekunden. Vier Minuten. Ich erhielt Nachrichten von einem Hund! Ich hatte sie laut und deutlich gehört! Das konnte doch alles nicht wirklich passieren. Die harten Metallgitterkästchen der Bank, auf der ich saß, arbeiteten daran, ein Muster in meinen Hintern zu drücken. Jedes Kästchen zwei mal zwei Zentimeter. Ich starrte wütend auf Ewan. Ja! Jetzt hältst du die Klappe, du komisches Wesen!
»Wie bitte?«, sagte Justina. Oh Gott, hatte ich den letzten Satz etwa laut gesagt? Doch man konnte Justina gar nicht beleidigen, weil sie nie zuhörte.
»Ey, Mist, so ’ne geniale Chance und ich kann mir diesen Scheißtext nicht merken!« Sie seufzte und faltete die Seiten zusammen. »Hast du ja vielleicht schon mitbekommen, ich muss gleich zum Vorsprechen für ’ne Hauptrolle. Peggy Licht war dafür besetzt, bis sie sich vorgestern beim Reiten den Arm gebrochen hat. Ey? Hallo?! Die darf gar nicht reiten, wenn die so ’ne Rolle hat! Aber anyway. Ich sehe besser aus als Peggy Licht, ich spiele besser als Peggy Licht! Und ich meine, wer soll das in Deutschland sonst spielen? Außer mir?«
Ich wollte schon nicken, fühlte mich aber von Ewan beobachtet, der in diesem Moment gähnte. Ich hatte mal gelesen, dass Hunde gähnen, wenn ihnen etwas peinlich ist.
Ob Fremdschämen dazugehörte?
Auf jeden Fall war Justinas Ego-Geschwafel mehr als peinlich. Ich nickte also nicht, sondern zog mit den Augen die Linien der Bodenkacheln nach. Ewan saß akkurat in der Mitte einer dieser Kacheln. Braver Hund. Sprechender Hund?!
»Dann verpasst du heute Nachmittag wahrscheinlich die Theaterprobe?«
»Keine Ahnung, kann sein. Weiß nicht, wie lange das dauert. Das ist Kino! ’ne Riesenproduktion. Und die Rolle der Titania habe ich ja sowieso. Aber wenn ich drehe? Kann ich die nächsten Proben knicken. Ich werde nämlich fast jeden Nachmittag bei Kostüm- und Maskenproben sein, hat meine Agentin mir schon gesagt. Weil das so knapp ist. Tja, dann sehe ich schwarz für unseren Sommernachtstraum. Denn ich meine, echt jetzt, wer aus der Gruppe soll das spielen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Nein, nach dem Desaster bei der Premiere war Ella Ellerbrake nicht mutig genug, um ihrer ungeliebten Klassenkameradin ein lautes »Ich!« entgegenzuschleudern, dachte ich, nicht einmal mutig genug, um ihr zu sagen, dass es in Deutschland vermutlich an die hundert wunderbare, begabte Nachwuchsschauspielerinnen ihres Alters gab.
Am liebsten hätte ich mir Ewan geschnappt, um ihn durchzuschütteln und ihn für immer vom Reden abzuhalten. Doch die Leute fanden es nicht gut, wenn man kleine Hunde schüttelte. Quengelnde Kinder schon, da mischten sie sich nicht ein, aber Hunde? Ich räusperte mich: »Worum geht’s denn in dem Drehbuch?«
»Ach, irgend so eine Zeitsprunggeschichte. Tochter gerät in die Vergangenheit und steht auf einmal vor ihrer eigenen Mutter, die da noch Jugendliche ist, oder so.«
»Aber nicht etwa Muffins & Marzipan!«
»Doch, ich glaube, so heißt das.«
»Echt? Das wird verfilmt? Ich hab’s gelesen, das ist echt super.«
»Ich nicht. Ich lese keine Bücher.«
Oh Gott, sie las keine Bücher. Gut, dass Onkel Manfred sie nicht hören konnte!
»Ich schaue nur Serien, da lernt man auch ’ne Menge von.«
Genau. Deswegen sprichst du auch so ein fantastisches Deutsch …
»Ich muss zum Rotkreuzplatz, diese Casting-Firma ist dort irgendwo. Und bitte! heißen die, oh Gott, ich hoffe, ich finde das! Ich verlauf mich doch immer.« Plötzlich war Frau Bienenkönigin gar nicht mehr so selbstsicher.
»Ich weiß, wo die sind.«
Und bitte! war eine Besetzungsagentur bei uns in der Nibelungenstraße, das stand jedenfalls auf dem Schild, an dem ich jeden Morgen auf dem Weg zur Straßenbahn vorbeikam. Im Hinterhof war eine Tür mit dem gleichen Schild und dem Hinweis, die Agentur auf keinen Fall ohne Termin zu betreten. Was machten die dadrinnen, wie sah es da wohl aus, hatte ich mich schon oft gefragt und mich durch die Tür marschieren sehen. Ausgerechnet ich, die Schauspielerin, die bei ihrem ersten großen Auftritt vor Publikum kein Wort herausbrachte.
»Komischer Name, oder? Na ja, die heißen so, weil Regisseure immer ›und bitte!‹ sagen, wenn …« Die U-Bahn fuhr ein und verschluckte den Rest ihrer dämlichen Erklärung. Als ob ich nicht wüsste, dass der Schauspieler auf dieses Kommando hin anfangen sollte zu spielen …
»Um in die Nibelungenstraße zu kommen, kannst du viel einfacher die Straßenbahn nehmen!«, rief ich über den Lärm. »Die hier fährt zum Olympiazentrum, das wäre sowieso die falsche Richtung.«
Wir begaben uns nach oben. Ewan folgte uns wie selbstverständlich. Seine Pfoten klickten auf den Bodenfliesen, berührten aber nie die Linien. Zufall? Ich konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen und mich mit ihm in meinem Zimmer einzuschließen. Ich würde diesen Hund vom Kopf bis zur Schwanzspitze, von oben, unten und innen durchchecken! Die Tram kam gerade, wir stiegen ein.
»Boah, jetzt wäre ich doch echt falsch gefahren. Du kannst aber nicht mitkommen!« Justina warf sich auf einen Platz und stellte ihren Rucksack wie eine Barriere zwischen uns. Ihre Stimme klang so arrogant wie eh und je. Meine Augen trafen die von Ewan. Was für eine Zicke, oder? Denkt die, ich will mitkommen, um mich in ihr zukünftiges Hollywoodstar-Leben einzuschleichen? Als ob!
Ewan sagte nichts. Ha! Ich war auf seine Hilfe nicht angewiesen, ich konnte mich auch ohne ihn wehren. »Ich wohne da, gleich um die Ecke. Muss jetzt den Hund nach Hause bringen.«
Die Fahrt bis zum Rotkreuzplatz verbrachten wir schweigend. Schweigend stiegen wir aus und schweigend gingen wir auch nebeneinander über die Straße. Es regnete jetzt stärker. Meine Haare waren nun richtig nass. Als wir vor der Agentur standen, sagte ich: »Da geht’s rein! Ciao.«
Justina verschwand ohne ein Wort in der Toreinfahrt. Unglaublich. Die sagte nicht mal Tschüs, geschweige denn Danke! Ich ging weiter. Warum glauben solche Mädchen wie Justina, alles würde sich um sie drehen?, dachte ich. Und warum dreht sich die Welt tatsächlich meistens um sie? Weil sie diese Haltung ausstrahlen?
»Und ich meine, wer soll das in Deutschland sonst spielen?!«, äffte ich sie nach und beugte mich zu Ewan. »Außer mir?« Mein Lachen klang bitter. »Oh Mann. Ich habe keine Lust auf die Theatergruppe heute. Ich kann die alle nicht mehr sehen, schon beim Reinkommen stolzieren sie herum und sagen ihren Text auf oder springen wie gedopte Häschen auf und ab!« Ewan blieb wie auf Kommando stehen. »Dabei weiß Dorothea doch auch, dass ich Talent habe. Hat sie neulich noch gesagt, nachdem sie mich überredet hat, einen Pfeiler zu verführen.« Ich kicherte. »Ich habe den Pfeiler total angemacht. Weil sie diesen wahnsinnig zuversichtlichen Blick hatte, genau wie Dad früher, wenn er mir zusah. Wenn er im Publikum gesessen hätte statt Mama, hätte ich keinen Blackout gehabt. Na komm, wir gehen nach Hause!«
Ewan schien das Gehörte erst verarbeiten zu müssen, denn er blieb sitzen. Wir waren ungefähr sechsundsechzig Bodenplatten von der Toreinfahrt entfernt. Was sollte die Nummer denn jetzt? »Nein, Ewan, das ist nicht dein Ernst. Du willst nicht, dass ich da hinterhergehe.« Ich schnaubte durch die Nase. Was bildete sich dieser durchgedrehte Glatthaar-Jack-Russell-Terrier ein? Dass ich eine Chance auf die Rolle habe, auf die Justina scharf ist? Haha. Sehr lustig. Wollte er uns etwas vergleichen? Ihre tollen Haare mit meinen dünnen Strähnen? Meine knabenhafte Figur mit ihrem Hingucke-Körper und den Kurven an der richtigen Stelle?
»Obwohl: Spielen kann ich ebenso gut wie sie! Glaubst du nicht? Oh doch, mein Lieber. Hast du mich jemals spielen sehen? Na also. Und es fühlt sich so toll an, Ewan. So … keine Ahnung … Wie ein Rausch. Wenn wir proben, kann ich zwischen vielen Figuren wechseln, die ich oft sehr spontan erfinde. Ich bin dabei selber voller Spannung, was als Nächstes wohl aus mir herauskommt, verstehst du? Für diese paar Stunden kann ich die Ella in mir vergessen. Danach bin ich dann echt ausgepowert, aber auch stolz und glücklich. Meistens zumindest. Tja. So geht’s mir ungefähr, wenn ich gespielt habe. Aber nicht vor einer Kamera und tausend Casting-Leuten, die mich anstarren. Also, vergiss den Scheiß einfach!«
Eine alte Frau lief vorbei und schaute mich böse an, nur weil ich Scheiß gesagt hatte … sollte sie doch, Spießerin. Ich ging weiter, ohne mich noch mal umzudrehen. Irgendwann würde Ewan schon wieder lostrotten, sich durch die Katzenklappe der Hinterhoftür zwängen und sein Lager im Zwischenstock einnehmen.
An der Tür zum Laden hatte er mich eingeholt. Ich drückte die Klinke hinunter und freute mich über das leise Bimmeln der Glocken, die jeden Kunden ankündigten. Nicht allzu oft am Tag, aber das war meinem Onkel ganz recht. Genießerisch saugte ich den Geruch nach staubigem Papier, Holz und schwarzem Tee ein. Ewan witschte hinter mir durch die Tür.
»Tach, Onkelchen!«
Manfreds grauer Haarkranz tauchte hinter der Kasse auf. »Oh, guten Tag, ihr holden Eindringlinge!«
Manchmal unterhielt ich mich mit Onkel Manfred ausschließlich mit Zitaten aus bekannten Büchern. Das ging wunderbar mit ihm, wenn man welche las … Nein, ich wollte jetzt nicht an Justina denken.
Ewan trippelte über die Holzdielen und verschwand hinter dem Tresen, auf dem die Registrierkasse neben dem gut sichtbaren Schild Heute kein Ankauf! stand. Dort, im Schutze der halbrunden Kanzel aus schweren Holzbalken, las Onkel Manfred viele ungestörte Stunden lang in seinen Büchern. Innen war der Boden etwas erhöht, an der Öffnung, durch die man eintreten konnte, ließ sich ein dickes Brett hinunterklappen, dann war man rundherum eingeschlossen. Onkel Manfred liebte es, in seinem Sessel hinter der Kanzel fast unsichtbar zu sein, doch wenn er sich erhob, hatte er die Kontrolle über die vollgestopften Regale und überladenen Tische. Ich mochte den Laden, das Durcheinander machte mich komischerweise ruhig. Hier gab es keine geraden Linien, die man miteinander verbinden konnte, nur Zickzack, schiefe Bücherstapel und Chaos. Auch der Staub und die vielen Krümel störten mich nicht. Onkel Manfred ernährte sich fast ausschließlich von Tee und Zuckerzwieback. Vegan nannte er das.
Ewan war nicht mehr zu sehen. Ich wusste, er würde gleich auf den Sessel und von da aus auf den Tresen springen. Neben der Kasse lag sein platt gelegenes Kissen, auf dem er sich manchmal niederließ.
Freundchen, wir sprechen uns noch, dachte ich und musste fast lachen, weil sich der Spruch, an einen Hund gerichtet, einfach komisch anhörte.
Mama dadrin?, fragten meine Augen, während mein Kopf eine Bewegung nach hinten durch die Bücherregale machte.
Wo sonst?, antworteten Onkel Manfreds zuckende Schultern.
Ich holte tief Luft. Sollte ich meinem Onkel von meinem verrückten Erlebnis mit Ewan berichten? Oder sollte ich lieber mutig in das kleine Hinterzimmer eindringen, in dem meine Mutter sich hinter ihrem Laptop zwischen Wörterbüchern und ausgedruckten Seitenstapeln verschanzte, und ihr von dem sprechenden Hund erzählen, mit dem wir zusammenlebten?
Ich überlegte … Zuerst Mama! Wenn nicht ihr, wem dann? Sie hatte über achtzehn Jahre mit meinem Vater verbracht, und soweit ich das beurteilen konnte, waren sie bis zu seinem Tod ziemlich glücklich gewesen. Früher hatten sie dauernd zusammen im Bett gelegen oder am Küchentisch gesessen und Mama hatte leise und zärtlich auf ihn eingeredet, als ob sie lauter Geheimnisse mit ihm zu besprechen hätte. Sie will ihm ganz nahe sein, sie will ihn nicht mit mir teilen, hatte ich als Kind manchmal gedacht. Sogar Akkordeon spielen hatte sie gelernt, als ich Stunden bekam. Ich könnte wetten, sie hatte da nie wirklich Lust darauf gehabt, sondern nur mitgemacht, damit sie nicht ausgeschlossen war, wenn Dad mit mir Musik machte.
Wenn Dad irgendetwas über Ewans Fähigkeiten gewusst haben sollte, hatte er ihr garantiert darüber erzählt. Vielleicht hatte Ewan auch mit ihm gesprochen!
Aufgeregtes Kribbeln schoss durch meinen Magen. Ich atmete tief ein, hielt die Luft an und klopfte.
»Ja?«
Mist, ich stieß die Luft wieder aus. Sie klang, wie sie fast immer klang, wenn sie arbeitete. Abwesend. Ungeduldig. Genervt.
»Mama?« Ich öffnete die Tür. Mann, wie konnte sie es in diesem engen dunklen Kabuff nur aushalten? Oben hatte sie eine geräumige Wohnung mit einem hellen Wohnzimmer und einem wunderschönen Schlafzimmer, in das sie locker drei Schreibtische hätte stellen können, und was tat sie? Verkroch sich im allerkleinsten Raum des Hauses. Pardon, ich hatte unsere Gästetoilette vergessen, die war noch kleiner.