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1. Auflage, November 2016
ISBN 978-3-7431-8511-1
© 2016 Dr. Thomas Schutz
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Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Satz, Layout und Umschlaggestaltung: Petra Wechsel
Das Lernen wollen, sei einmal vorausgesetzt. „Wie unrealistisch“, würde man als Erwachsener heute meinen. Aber erinnern wir uns daran, dass wir damals als kleine Kinder – also auch wir damals – von selbst und höchst vergnügt auch dann gelernt haben, wenn es unsere Eltern eher gerade nicht wollten. Wenn wir beispielsweise die Wurffähigkeit und die Geschoßeigenschaften gewisser Gegenstände im Restaurant testeten oder als wir unsere Sprachmotorik in diversen Tonlagen und Lautstärken in vollbesetzten Zügen in nicht endenwollenden und immer wiederkehrenden „Chorälen“ einübten und verfeinerten. Das waren Zeiten. Herrlich.
Fassen wir kurz zusammen: Lernen kann jeder.
Und, wie andere Tiere auch, lernen wir bereits vor der Geburt, damit es nach der Geburt klappt mit dem Überleben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Tieren kann sich ein Menschenkind mit dem Lernen richtig viel Zeit lassen, bis es auf eigenen Füßen stehen und selbständig überleben kann und muss. In dieser Zeit – und auch später – saugt ein „systemfreundlicher Normal-Neuro“ 1 (Kapitel 1) unaufhörlich – einer Lernmaschine gleich – alles in sich auf, was es zum Überleben in dieser zunehmend komplexen und digitalen Welt braucht. Und dies ist keine Trauerveranstaltung: Kleine Kinder wollen und können von sich aus lernen. Man muss es ihnen nicht einmal sagen, sie besonders motivieren oder ihnen die Notwendigkeit des Lernens für zukünftige Herausforderung detailliert begründen. Vielmehr scheint das Lernen an sich den „Kleinen“ richtig viel Spaß und Freude zu machen. Warum verlernen wir dies bzw. warum scheint uns diese enorme natürliche Lernkompetenz zu entschwinden? Ein Blick in die Fachliteratur ist eher enttäuschend: Der Zusammenhang zwischen Lernen und Glück, der zwar nicht unwichtig für den Lernerfolg zu sein scheint, wird in der Fachliteratur eher nicht so oft betrachtet: Lernen und Glück, das muss nicht sein. Doch warum eigentlich nicht? Wann, wo und wie verlernen wir unser selbständiges Lernen und unsere ehemalige, kindliche, fast unerschöpfliche Lernfreude? Oder wie können wir dem Ver- oder Weg-lernen sinnvoll vorbeugen?
Fassen wir nochmals kurz zusammen: Lernen kann jeder. Nicht-Lernen will gelernt sein (Kapitel 2).
Bei dieser Frage an dieser Stelle stimmt das Buch auf erfrischende Art und Weise leider nicht in die allgemeinen Leidensabgesänge über die Schlechteste unserer aller Bildungswelten ein, fügt auch nicht der Menschheit weitere Kapitel an umfassender, erkenntnisreicher Ratgeberliteratur hinzu oder fordert enttäuscht und beleidigt dieses oder jenes Reförmchen – nope. Unsere lieb gewonnen, industriell-geprägte Bildungssysteme scheinen hier weltweit eine hohe Trägheit zu besitzen. Wenn wir uns diese industriellen Bildungsmodelle näher anschauen, stellen wir fest, dass es eine Hauptannahme gibt: Wir bilden Schüler und Studierende, nach Jahrgängen, also nach Herstellungsdatum sortiert, in einer linearen Produktionslinie aus, so dass sie am Ende der Ausbildung oder des Studiums standardisiert vom Bande plumpsen. Klasse! Schade nur, dass wir nicht mehr im Industriezeitalter leben und dass – abgesehen von punktuellen Ausnahmen – die individuellen Stärken, Potentiale und Talente der Schüler und Studierenden eine eher untergeordnete bis keine Rolle zu spielen scheinen: „We still educate people from outside in“ (Robinson, 2008). Wir unterrichten Fächer und halt keine Menschen – sorry. Jetzt haben wir ja doch gelitten! Gemeinsam! Gemeinsam gelitten! Klasse!?! Yipp, ein bisschen müssen wir noch leiden, dann ist es aber vorbei. Also, nicht in den Tisch beißen und durch.
By the way, den Frohsinn im wissenschaftlichen und unternehmerischen Alltag in seiner schlichten Schönheit erfrischt auch hier der gemischte Gebrauch der deutschen und englischen Sprache: In beiden Teilen korrekt, in der Summe phantastisch. Die wertvollsten (denglischen) Phrasen und Worthülsen seien in Maßen eingestreut – natürlich nachhaltig und kritisch reflektiert. Sie greifen hier Trends und, selbstredend, auch Mikro- und Megatrends auf, die hier jedoch nicht, wie sooft, die Wissenschaftlichkeit der Aussagen erhöhen sollen, sondern im Sinne eines wahrgenommenen Live-Kabaretts den geneigten Leser beim Lesen erfreuen sollen. „Überheblich, arrogant, ..., unglaublich“ – yipp, aber halt auch lustig. Lesen und Lernen darf und sollte auch Spaß und Freude machen.
Zu unterscheiden sind die ,denglischen‘ Phrasen von den englischen Zitaten. Diese sind bewusst im Original zitiert, um zum einen die Urdenker der Gedanken selbst zu Wort kommen zu lassen. Zum anderen können wir im Original aber auch Zwischentöne wahrnehmen und Humoriges, bisweilen Tief-Schwarzes zwischen den Zeilen lesen, was bei mancher Übersetzung und Zusammenfassung schlicht untergeht oder wegfällt. Aber nun zurück „zum Ernst des Lebens“ – wie das Leben und das Lernen mit Beginn der Schulzeit ja auch bezeichnet wird. Neuro- und lernbiologisch leider maximal falsch.
Für industriell-geprägte Bildungsmodelle haben sich einige Schlüsselwörter herauskristallisiert: Wie die Nützlichkeit, die Linearität, die Konformität und die Standardisierung: „But I think we need to shift from this industrial paradigm to an organic paradigm and I think it is perfectly doable“ (Robinson, 2008). Was aber bedeutet dieses organische Modell für das Rollenverständnis der Lehrenden und Führungskräfte einerseits und für die essentiellen Lernkompetenzen der Lernenden und Mitarbeiter einer Organisation andererseits. Wieder neue Lernmodelle und Lehrpläne, neue Unterrichtsfächer und Abschlüsse? Nicht ganz. Was es aber bedarf, ist kein weiteres Leiden oder Warten auf weitere Optimierungen der bestehenden Bildungs- und Erziehungsprogramme und -einrichtungen. Vielmehr bedarf es aber einen „Change“ in der zugrunde liegenden Lern- und Entfaltungsmentalität, in der Haltung zum Lernen. Die enorme Lern- und Leistungsfähigkeit eines jeden einzelnen Gehirns (Kapitel 2) und seiner Träger, entfaltet durch sich selbst und begleitet durch eine „minimalinvasive Erziehung“ 2, vermag soviel mehr (Kapitel 4).
Ziel dieses Buches ist es nicht, auf charmante Art und Weise zu ideologisieren noch bei diversen Glücksbetrachtungen esoterischen, spirituellen oder religiösen Positionen Raum zu geben. Ziel dieses Buches ist es, Anregungen einem jeden zu geben, über das Lernen allgemein (Kapitel 1, 2, 4 und 5) und über das eigene Lernen (Kapitel 3 und 5) nachzudenken, um es freudiger, mitunter glücklicher zu gestalten (Kapitel 2, 6 und 7). Hierzu lädt auch der kleine Rundgang durch die Glücksphilosophie der letzten Jahrtausende und die sportliche Abkürzung der grandiosen Glücksindustrie der letzten Jahrzehnte ein (Kapitel 6): Glück to go? Run fast, think slow? No brain, no pain? Was ist für mich Glück? Und, wenn ja, worin besteht allgemein und konkret für mich die Verbindung zum Lernen? Wie kann ich konkret mein eigenes Lernen auch im Team, im Unternehmen und in der Gesellschaft letztendlich glücklicher gestalten (Kapitel 7)?
Die Leidenschaft zu lernen, kreativ und phantasievoll zu sein und so seine Umwelt wahrzunehmen und zu gestalten, spiegelt sich in diesem Buch ebenfalls in vielen Exkursen von Gastautoren, Interviews, Geschichten und Anekdoten aus dem Alltag wider. Wir sind der Meinung, „dass solche wahren Geschichten die Zuhörer mindestens ebenso sehr wie Statistiken und Expertenmeinungen davon überzeugen, dass wir zu uns und dem, was wir mit unserem Leben machen, eine andere Einstellung brauchen; dass wir die Erziehung und Ausbildung unserer Kinder überdenken müssen und ebenso die Art, wie wir unsere Firmen führen“ (Robinson & Aronica, 2010, S. 10). Diese Geschichten und Exkurse kommen mitunter aus Richtungen, die wirklich überraschend sind und aufzeigen, dass Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Generationen und Berufen weltweit sich nicht nur gemeinsam heiser und wund diskutieren, sondern schlicht in ihrem Einflussbereich handeln. Learning IS doing. Und zwar mit einer Logik, die dem Heute und dem Morgen angemessen ist: „The greatest danger in times of turbulence is not the turbulence, but acting with yesterday‘s logic“ (Drucker 3, 1993, S. 22). Auf ähnliche Herausforderungen für die heutigen Führungskräfte aller Branchen verweist beispielsweise der US-amerikanische Vier-Sterne General Stanley McChrystal in seinem äußerst beeindruckenden TED-talk „Listen, lern ... then lead“ (McChrystal, 2011), der auch mit deutschen Untertiteln 4 verfügbar ist: „Zuhören, lernen ..., dann führen“. All diese Exkurse und Geschichten sind nicht als ‚best practice’-‚copy & paste’-Aufforderungen mißzuverstehen, sondern vielmehr als Gedankenanstöße, über das Eine oder Andere nachzudenken, ob Teile auch für einen selbst relevant sind.
Aber die Frage bleibt: Wie kommen die Informationen in jeden einzelnen Lernenden hinein und wie generieren diese dort aktionsfähiges Wissen? Und wie kommt dieses in Form von Kompetenzen als Fähigkeiten zum selbstorganisiertem Handeln wieder heraus? Von den neurobiologischen Grundlagen bis hin zur Selbstorganisation in Unternehmen: Wir beginnen erst zu verstehen, wie die vielschichtigen kognitiv-emotionalen Prozesse im Einzelnen, in der Gruppe oder im gesamten Unternehmen funktionieren und wie wir uns mit der Kenntnis davon in der modernen komplex-dynamischen Welt zurecht finden können. Einst aber ist sicher: Die Rolle des Chefs und des Lehrenden als Dozenten Gesprächs-komatöser Wachzustände hat sich im lernerzentrierten, digitalen Zeitalter hin zu einem Lernprozessbegleiter selbstgesteuerten Lernens gewandelt. „Aha, wieder so ein neumodischer reformpädagogischer Firlefanz?“ – Falsch.
Wir wiederbeleben eine neue alte Form des Lernens: Das Konzept stammt aus dem Jahre 1680 und heißt Mathetik (Kapitel 4) oder „Mathetica, d.h. Lernkunst“ 5, die Kunst des Lernens. Es heißt in der Tat „Mathetik“ und nicht „Mathematik“, also kein Scherz und auch kein rechtsshraibfeeler (Kapitel 4), und bezeichnet ein Lernen, bei dem der Lerner und die Entfaltung der individuellen Talente im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Mathetik ist dabei kein Gegensatz zur Didaktik, der Kunst des Lehrens, sondern die notwendige und wechselseitige Ergänzung. Also kein ,entweder-oder‘, sondern vielmehr ein ,sowohl-als auch‘. Übertragen auf das alltägliche ,shopping event‘: Wenn der Verkäufer versteht, wie der Käufer tickt, geht es Beiden besser. Schlichte Weisheit, gilt so auch für das Lernen: Didaktik und Mathetik.
,Lern Dich glücklich‘, für einen jeden, ob Generation X, Y oder Z, ob digital oder traditionell lernend (Kapitel 1). Das zweite Kapitel des Buches zeigt auf, was es neurobiologisch mit der Geburt quasi umsonst gibt und eigentlich und uneigentlich nur nicht mehr verlernt, sondern weiter entfaltet werden sollte. Wir werden uns auf die Suche nach den Neuromechanismen begeben, die das Gehirn als Prototyp eines sich selbst organisierenden Systems nicht nur in den ersten Lebensjahren auszeichnet. Anschließend werden wir mit diesen Erkenntnissen, Kompetenzen und Haltungen unsere eigenen Lernprozesse gehirnfreundlicher gestalten: Und zwar individuell als einzelner Lernen, kollektiv im Team und organisational in unserer Organisation (wie Familie, Schule, Verein, Firma usw.). Lern Dich glücklich – geht doch!
Kritische Leser mögen spätestens hier einwenden, dass ,glücklich lernen‘ eine ganz schön gewagte, paradoxe Aufforderung darstellt. Gewagt schon. Paradox jein. Ähnlich wie „sei spontan“ scheint ,lern Dich glücklich‘ ein paradoxe Handlungsaufforderung zu sein. Man ist entweder spontan oder ist es eben nicht. Aber Spontanität durch Aufforderung bezeichnet man eher als nicht so wirklich spontan. Auch das Schild mit der Aufschrift „Dieses Schild bitte ignorieren!“ hat man durch das Lesen ..., genau. So erschließt sich dem geneigten Leser durch Lesen der entsprechenden Kapitel die „Wunderwelt der Paradoxien“, was mit ,Lern-Dich-glücklich‘ als ,Paradoxon‘ konkret gemeint ist und sich beispielsweise hinter den Überschriften „Den Schwarzen Schwan weiß quatschen: Think positive and go shopping!“ oder „1, 2, 5 – die Heilige Handgranate und die sieben goldenen Regeln des Gedächtnis“ verbirgt.
Abschließend im siebten Kapitel, Lern Dich glücklich für Fortgeschrittene: Als deluxe-Version für die Gruppe und das Team, als supreme-Variante für die Unternehmen und Organisationen: Organisch, mathetisch, gut. ‚So turn and burn and specialize in the unpredictable‘ (Kapitel 7.5)!
Alle Kapitel haben gemein, unsere lieb-gewonnen Lehr-/Lernmuster unserer Lern- und Arbeitswelten illust zu hinterfragen, ,a little bit different‘ zu denken und (wieder) mit unbändiger Freude lernen zu wollen. Mehrere mögliche, mitunter glücklich-machende Handlungsmöglichkeiten werden so für ein jedes Gehirn und für seinen Träger aufgezeigt, so dass sich abschließend die Frage stellt:
„Why join the navy, if you can be a pirate? – Steve Jobs“
(Elliot & Simon, 2011, S. 55).
Berlin und Meran, im September 2016
Dr. Thomas Schutz
1 an dieser Stelle bitte nicht gleich aufregen und an die Decke hüpfen oder in den Tisch beißen. Der Begriff „systemfreundlicher Normal-Neuro“ wird später noch erläutert und ist umfassend positiv. Merken Sie ich an dieser Stelle vielleicht einmal, was Ihr Gehirn jetzt alles an Gedanken und an Emotionen generiert hat – allein beim Hören des Begriffs „systemfreundlicher Normal-Neuro“. Wie phantastisch kreativ und emotional das Gehirn doch ist, da kann man sich richtig hineinsteigern! Klasse, aber leider völlig unbegründet. ... Aber trotzdem, ... .
2 Professor Mitra nennt seine „neue Pädagogik“ vom selbständigen Lernen in Anlehnung an die minimal-invasive Chirurgie „minimally invasive education (MIE)“ (Mitra et al., 2005, S. 408).
3 Peter Drucker – seines Zeichens Erfinder, Pionier und Vater des modernen Managements und weltweit erster Inhaber eines entsprechenden Lehrstuhls.
4 Auch viele andere talks wurden in andere Sprachen übersetzt, auch in‘s Deutsche, und sind kostenlos online über http://www.TED.com verfügbar: „Riveting talks by remarkable people, free to the world“.
5 vgl. Winkel, R. (1996): Mathetica, d.h. Lernkunst.
Nein, hier geht es nicht um Damenbinden. Damenbinden? In der Tat. Die Kapitelüberschrift ist angelehnt an einen Werbetext aus den 80er Jahren, der die Generationen „nachhaltig geprägt“ hat: „Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse“. Werbeschaffende entdeckten damals Themen wie die Gesundheitshygiene völlig neu und schufen diese Klassiker der deutschen Werbekunst „sauber und diskret“. Dieser Belehrungs-Spot – die extra3-Version dieser o.b.-Werbung sei hier neben dem Original empfohlen 6 –, wie auch der für Damenbinden der Marke „A..... u....“ und die Windelwerbung von „P.....“, liefen fortlaufend und penetrant zur besten Abendbrotsendezeit und stählten somit den Zuschauer für die anschließenden Hauptfilme und allgemein für den Ernst des Lebens – sauber und diskret mit dem Holzhammer.
Einen ebenso sauberen und diskreten, geschichtlichen Überblick über das Lernen wird es an dieser Stelle nicht geben, wohl aber ein Paar plumpe Missverständnisse und Fehlgewichtungen, mit denen unsere Geschichte anscheinend voll ist, als auch ein Paar bahnbrechend schlichte Projekte und Geschichten, Erkenntnisse und Einsichten. Hier kommt ein solches unglaubliches Projekt: Unglaublich, aber wahr. Dafür relativ kostenarm und von fulminanter Wirkung. Here we go!
Im Jahre 1999 installierten Professor Mitra 7 und seine Kollegen in ‘einem Loch in einer Wand‘ 8 in einem Slum in New Delhi einen Computer mit einem high-speed-Internetzugang und ließen ihn dort zurück (Mitra et al., 2005, S. 407ff). Was sie mit einer versteckten Kamera beobachten konnten, waren die Kinder des Slums, wie sie spielerisch erforschten und sich selbständig beibrachten, wie man einen Computer benutzt und wie man mit ihm online geht.
Und mit ,selbständig‘ meint Professor Mitra selbständig im eigentlichen Sinne, wie folgender Ausschnitt aus seinem äußerst motivierenden und belebenden TED-talk „The child-driven education“ zeigt: „At that point, I became a little more ambitious and decided to see what else could children do with a computer. [...] I gave them a computer with a speech-to-text interface, which you now get free with Windows, and asked them to speak into it. So when they spoke into it, the computer typed out gibberish, so they said, „Well, it doesn‘t understand anything of what we are saying.“ So I said, „Yeah, I‘ll leave it here for two months. Make yourself understood to the computer.“ So the children said, „How do we do that?“ And I said, „I don‘t know, actually.“ [Laughter] And I left. [Laughter]“ (Mitra, 2010). Wenn Sie an dieser Stelle nicht alles verstanden haben, dann erging es Ihnen genauso wie den Schülern mit den Computern in der Klasse. Als die Schüler dies verwundert anmerkten und den Lehrer nach einer Lösung fragten, sagte er schlicht, dass er keine Lösung habe, aber nach zwei Monaten wiederkäme und jetzt ginge. Und er ging.
Das Hole-in-the-Wall-Projekt hat aufgezeigt, dass auch ohne jegliche direkte Anweisung eines Erziehers Lernen durch Selbst-Instruktion und durch geteiltes Wissen erfolgen kann. Benötigt wurde lediglich eine Hole-in-the-Wall-Lernstation (Mitra et al., 2005, S. 409), die die natürliche Neugierde der Kinder und das kollaborative Lernen anregt. Diese neue Pädagogik nennt Prof. Mitra in Anlehnung an die minimal-invasive Chirurgie „minimally invasive education (MIE)“ (Mitra et al., 2005, S. 408) 9. Minimal-invasive Erziehung/ Bildung: herrlich. Aber die Geschichte geht noch weiter:
In ihrer 2010 erschienenen Studie 10 stellen sie die Frage, ob Tamil-sprechende Kinder in einem abgelegenen, indischen Dorf Grundlagen der modernen Molekularbiologie, verfasst in Englisch, selbständig lernen können. Abwegig? Moderne Molekularbiologie ist ja in hiesigen Oberstufen oder innerhalb des Medizin-Studiums ja schon eine „spannende“ Herausforderung für den Lehrkörper. Also nur mit Fachexperten nach einem jahrelangen Studium möglich? Let‘s have a look: „I called in 26 children. They all came in there, and I told them that there‘s some really difficult stuff on this computer. I wouldn‘t be surprised if you didn‘t understand anything. It‘s all in English and I‘m going. [Laughter] So I left them with it. I came back after two months“ (Mitra, 2010). Nach zwei Monaten kehrte er zurück und tata. ... Also TED-talk anschauen 11 (und mitunter die Studie lesen)!
Ein weiteres Beispiel für die schlichte Schönheit und Sinnhaftigkeit einer „minimally invasive education“ ist gerade im digitalen Zeitalter des cloud-computing Mitra‘s „UK Granny Cloud“: In dem „Soles and Somes“-Projekt 12, wie es offiziell heißt, stehen hunderte freiwillige Großmütter aus Newcastle via einer kostenlosen Skype-Videokonferenz Kindern aus Indien einmal wöchentlich als Vorleser und Ausbildungs-Mentoren zur Verfügung. „Was alles so möglich ist!“, mag man denken. Genau! Alles möglich. Professor Mitra beendet seinen TED-talk mit der Einschätzung, dass Bildung an sich ein sich selbst-organisierendes System sei: „I think we‘ve just stumbled across a self-organizing system. A self-organizing system is one where a structure appears without explicit intervention from the outside. Self-organizing systems also always show emergence, which is that the system starts to do things, which it was never designed for. Which is why you react the way you do, because it looks impossible. I think I can make a guess now. Education is a self-organizing system, where learning is an emergent phenomenon“ (Mitra, 2010).
Und hier regnen bereits – auf wundersame Weise – viele Begriffe auf uns nieder wie „selbständiges oder selbstorganisiertes Lernen“, die recht häufig als Modewörter übernommen wurden und werden – copy/paste und fertig –, ohne den wirklichen Gehalt erfasst zu haben. Gleiches gilt allzu oft für die Begriffe ,Kompetenz‘ und ,Talent‘, ,lebenslang‘ und ,nachhaltig‘. Dies ist kein Vorwurf, sondern einfach nur schade. Denn vieles entgeht so, was schon da ist oder war. Denn worüber man eher nicht sooft nachdenkt, ist, was der Begriff der ‘Selbstorganisation‘ eigentlich – und uneigentlich – bedeutet: „Selbstorganisation hat jedenfalls weder etwas mit ‘Laissez-faire‘ noch mit ‘Durchwursteln‘ oder chaotischen Alltagsstrukturen zu tun. Umgekehrt legt das Wort ‘Selbstorganisation‘ es scheinbar nahe, an besonders ausgeprägter Eigeninitiative zu denken: Selbst organisiertes Lernen im Gegensatz zu fremd bzw. von außen organisiertes Lernen. Kreativität und Willensstärke, so könnte man meinen, führen zum Erfolg und zeichnen den leistungsstarken Manager aus. Organisieren wir uns lieber selbst als von außen über uns verfügen zu lassen. Basisdemokratie statt Fremdbestimmung. [...] Die Theorie der Selbstorganisation erhält hier eine besondere Affinität zu emanzipatorischen Werten und aufklärerischen Idealen. Das mag man sympathisch finden, doch auch dies bringt uns einem Verständnis nicht näher“ (Haken & Schiepek, 2006, S. 65).
Da der Begriff des selbst-organisierten Lernens oft als schicker Marketing-Begriff oder Qualitätsmerkmal von Organisationen und Einzelpersonen verwandt wird, möchte ich eine klare Linie ziehen zu dieser Anwendung als eine ,Pillepalle-Pädagogik‘, die das selbstorganisierte, selbständige Lernen schlicht nicht ist. Ganz im Gegenteil: Da beim selbstorganisierten Lernen nahezu alle Entscheidungen von den Systemmitgliedern selbst getroffen und ausgeführt werden, kann der kurzfristige Lernaufwand für den Lehrenden und den Lernenden immens sein. Zwei weitere ‘unangenehme‘ Aspekte kommen hinzu: Erstens trifft man nahezu alle Entscheidungen selbst, wodurch man auch lernt, sich selber entscheiden zu müssen – was wiederum positiv eigene Selbstwirksamkeit bewirken kann. Mit der Entscheidung hat man aber auch die Verantwortung ‘gewonnen‘, die man so aber leider keinem Anderen in die Schuhe schieben kann.
Zweitens führt der Modebegriff des selbstorganisierten Lernens oft dazu, dass man erst einmal in diese am Anfang aufwendigere Lernmethode investiert – vorerst. Wenn dann die Umwelt verstanden hat, dass man selbstorganisiert lernen kann und somit selbstständig, verantwortungsbewusst, umsichtig, reflektiert, gebildet, ..., blablabla, ... ist, behält man den Schein gerne bei und wechselt wieder zu anderen Methoden, die nicht soviel Eigenengagement erfordern. Dies ist gerade in ‘Hotel-Mamma‘-Lebensumgebungen sehr einfach möglich und beliebt. Der Vorteil aber vergeht so, der sich mittel- und langfristig einstellen kann, wenn man selbstorganisiert lernt, nämlich die Fähigkeit zum selbstorganisierten Handeln – was die Definition von Kompetenz darstellt.
Zwei weitere Fehl-Dehnungen des Begriffs wollen wir noch zerstreuen: Man kann beim selbstorganisierten Lernen auch mit anderen zusammen lernen, denn ‘selbst‘ muss nicht heißen ‘allein für sich‘. Zweitens sollte man die „entweder-das-Eine-oder-das-Andere“-Logik beim selbstorganisierten wie auch bei anderen Lernmethoden eher nicht anwenden, sondern das Selbstorganisierte Lernen zusammen mit anderen Methoden und Formen anwenden, wenn man selbst erkannt hat, dass diese Lernmethode für einen geeignet erscheint: „In einer Firma wird dem einzelnen Mitarbeiter genau vorgegeben, was er zu tun hat. [...] Dieser geplanten Organisation und detaillierten Steuerung eines Systems stellt die Synergetik der Natur folgend ein anderes Prinzip gegenüber, nämlich das der Selbstorganisation. [...] In der Praxis kommt es stets auf eine geschickte Kombination aus Organisation und Selbstorganisation an“ (Haken, 2005, S. 17).
Zurück zu den Selbstorganisationsfähigkeiten, sprich zu den Kompetenzen. 13 Diese spielen für den Einzelnen in der Zukunft eine immer größer werdende Rolle sowohl für den Alltag als auch für einen nicht so häufig auftretenden Bewerbungsprozess: Entscheidend sind neben den Qualifikationen zunehmend die Kompetenzen, die man bislang erworben hat. Professor Scholz formuliert dies auf seine eigene erfrischende Art und Weise: „Da gibt es Kompetenzen, die gegenwärtig am Markt voll durchsetzbar sind (‘Milchkuh-Kompetenzen‘) und andere, bei denen die Ertragskraft zumindest hoch wahrscheinlich ist (‘Star-Kompetenzen‘). Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, zu lange an solchen Kompetenzen festzuhalten, die am Markt nicht mehr nachgefragt werden (‘Arme-Hunde-Kompetenzen‘). Und dann gibt es noch die ‘Fragezeichen-Kompetenzen‘, deren Entwicklung noch nicht abzusehen sind“ (Scholz, 2003, S. 149f). Diese nicht so häufig zu findende Einteilung der Kompetenzen ist nicht nur recht spaßig, sondern auch völlig zutreffend: „Der Umgang mit den eigenen Kernkompetenzen als überlebensfähigen Wettbewerbsfaktoren wird [...] zum zentralen Aspekt der individuellen Karriereplanung“ (Scholz, 2003, S. 144).
Okay, Kompetenzen, Selbstorganisationsfähigkeiten, Selbstorganisation, selbstorganisiertes Lernen, selbständiges Lernen, Lernen. Eine Geschichte, an die ich zu Beginn meiner Workshops zum Thema „Team-Lernen“ oder „Innovatives Lernen“ immer denken muss, ist folgende. Ein sechsjähriges Mädchen, das normalerweise im Unterricht nicht besonders auffiel, war jetzt im Zeichenunterricht ganz bei der Sache. Über zwanzig Minuten war sie völlig in das vertieft, was sie zeichnete. Dies fiel auch der Lehrerin auf. Fasziniert fragte sie das Mädchen, was sie malen würde. Ohne den Blick von ihrem Blatt abzuwenden, sagte sie: „Ich male ein Bild von Gott.“ „Aber niemand kann sagen, wie Gott aussieht“, entgegnete die Lehrerin erstaunt. „Wenn sie einen Moment warten“, sagte das Mädchen, „gleich wissen Sie‘s.“
Dreierlei Dinge finde ich an diese Geschichte bemerkenswert. Zum einen scheint es für einen jeden Tätigkeiten oder Themen zu geben, in die wir uns hineinvertiefen können. Und zwar auch diejenigen, die im normalen Lernbetrieb eher nicht auffallen. Und insbesondere auch bei den Tätigkeiten oder Themen, die eher nicht so „hoch angesehen“ sind. „Zeichnen? Na, meinetwegen, aber Mathe wäre besser.“ Kinder finden beinahe mühelos Tätigkeiten oder Themen, in die sie sich richtig hineinvertiefen können, bei denen sie ganz in ihrem Element sein können. Und so heißt auch das Buch von Sir Ken Robinson „In meinem Element: Wie wir von erfolgreichen Menschen lernen können, unser Potential zu entdecken“ (Robinson & Aronica, 2010), in welchem sich auch diese kleine Geschichte findet. Sir Ken Robinson, einer der international renommiertesten Kreativitätsexperten und Persönlichkeitstrainer, liebt „diese Geschichte, denn sie erinnert uns daran, dass kleine Kinder ein wunderbares Zutrauen in ihre Fantasie haben. Die meisten von uns verlieren diese Sicherheit, wenn sie größer werden“ (Robinson & Aronica, 2010, S. 9).
Und genau hierin liegt auch drittens der Grund dafür, dass gerade Kindergartenkinder bei der „Marshmallow Challenge“ so gut abschneiden. Zu Beginn von vielen „Team-bildenden Workshops“ bitte ich die Teilnehmer, folgende Gegenstände mitzubringen (Abbildung 1): Eine Packung Spagetti, eine Rolle Tesafilm und eine Rolle Paketkordel . 14 Dann teilt sich die Gruppe in Vierteams auf – was bei manchen Erwachsenen-Gruppen schon die erste Herausforderung darstellt und völlig eskalieren kann. Jedes Team erhält neben den mitgebrachten Sachen einen Marshmallow oder Schokokuss und die Aufgabe, in 18 Minuten einen möglichst hohen, freistehenden Turm zu bauen, auf dem oben der Marshmallow oder Schokokuss so zu platzieren ist, dass der Turm frei stehen bleibt. Und die Zeit läuft ab jetzt: 18 Minuten.
Dieses Spiel 15 wurde weltweit in vielen Workshops gespielt, sowohl in kleinen Gruppen (Abbildung 2) als auch in Großgruppen auf Tagungen (Abbildung 3). Weiterhin wurde eine eigene Internet-Seite, http://marshmallowchallenge.com , eingerichtet und einige Spiele dokumentiert und ausgewertet. Tom Wujec stellte dieses 2010 einem größeren Publikum vor: „Build a tower, build a team“ (Wujec, 2010).
Bei der Auswertung kam man zu manchen illustren Ergebnissen. Raten Sie einmal: Welche Gruppe war wohl diejenige, mit dem höchsten Türmchen? Mit besseren oder eher schlechteren Ergebnissen und warum? Neben dieser brennenden Frage fiel aber noch auf, dass alle Gruppen die gleichen Phasen zu durchlaufen scheinen: Zuerst eine Orientierungsphase, dann eine Planungsphase und schließlich die Umsetzungsphase. Am Ende dann die Phase der Wahrheit: Marshmallow oben drauf und „tata“, wenn das Türmchen stehen bleibt, oder „ohhh“, wenn nicht (Abbildung 4) – was oft der Fall war bzw. ist.
Zurück zu der brennenden Frage: Nun, die Architekten und Ingenieure schnitten am besten ab – was jetzt eher nicht so verwundert, bedenkt man, dass auch reale Objekte von Architekten und Ingenieuren tendenziell eher stehen bleiben sollten – sprich Architekten und Ingenieuren darin geübt sind. Bei der Gruppe, die am schlechtesten abschnitt, war folgendes Phänomen zu sehen: Ein langer Mix aus Orientierungs- und Planungsphase ohne eine wirklich lange Umsetzungsphase, folglich viel „ohhh“. Diese Gruppe war die Gruppe der „Business-Studenten“: In einem Ansturm an operativer Hektik wurde die EINE beste Lösung, also die Musterlösung ,Best-Practice‘, ausdiskutiert, begleitet mit einer besonderen Form des „Platzhirschgehabes“. Und dann? Time over. Schnell irgendwas fertig bauen und „ohhh“. Klasse! Und was haben die Besten anders gemacht?
Schaut man sich die Türmchen der Gewinnerteams auf http://marshmallowchallenge.com an, so wird schnell klar: Die eine wahre Musterlösung hat es wohl nicht gegeben! Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Teams von Kindergarten-Kindern schnell anfangen zu bauen und beim ersten Einsturz nach wenigen Minuten nicht verzweifeln, sondern an der entsprechenden Stelle die Konstruktion abstützen. Und dann wieder „ohhh“, weiter basteln, Test und „ohhh“ und weiter, bis das Türmchen steht. Spielend, experimentell zur Lösung: Learning by doing, Learning by prototyping: Das Kind hat viele Namen. Wichtig ist, dass fortlaufend Prototypen entwickelt und getestet werden. Dann ein fluchses Re-Design und wieder testen, bis das Türmchen steht. That‘s it.
Nun, ein jeder wird sich wohl beim Betrachten der Türmchen an seine eigene Kindergarten-Zeit mit Legos, Sandkasten und Eisenbahn zurückerinnern und wahrscheinlich an ähnlich kreative Gebilde. Und man muss sich wohl auch fragen, warum man als Erwachsener nicht mehr so locker flockig dasselbe vermag, was man als Kleinkind noch mühelos und voll der Freude vollbracht hat. Und das, obwohl in der heutigen Zeit mit den Megatrends Digitalisierung und Individualisierung kreative Lösungen in Familie und Beruf mehr denn je gefragt sind. Dieses einfache, experimentelle Spiel vermag noch soviel mehr, doch davon später mehr in einigen weiteren Unterkapiteln.
Fassen wir nochmals kurz zusammen: Jeder kann lernen und lernt auch permanent. Das Nicht-lernen will gelernt sein. Jeder findet als Kleinkind Tätigkeiten und Themen, in die man sich hinein vertiefen kann, bei denen man in seinem Element ist. Talente und Begabungen, Phantasie und Kreativität sind nicht nur den Genies, Künstlern und Erfindern vorbehalten, sondern sind natürlicher und essentieller Bestandteil kindlichen Lernens.
6 beide Spots sind zu finden u.a. bei YouTube.
7 Dr. Sugata Mitra ist Professor für Educational Technology an der School of Education, Communication and Language Sciences an der Newcastle University (UK) und zu Zeit ,visiting Professor‘ am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Media Lab in Boston, MA (USA).
8 im Rahmen ihres Projektes „Hole-in-the-Wall“ (Mitra et al., 2005:, S. 407; Mitra & Dangwal, 2010, S. 672).
9 Die weiteren Erfolgsgeschichten dieses bahnbrechenden Projektes sind auf www.hole-in-the-wall.com zu finden.
10 „Limits to self-organising systems of learning – the Kalikuppam experiment“ (Mitra & Dangwal, 2010, S. 673).
11 Mitra, S. (2010): The child-driven education. Online verfügbar auf http://www.TED.com.
12 siehe http://solesandsomes.wikispaces.com
13 Eine wissenschaftlich fundierte Herleitung und Betrachtung der Bedeutung von Kompetenzen findet sich in den Arbeiten der Professoren John Erpenbeck und Volker Heyse, siehe Literaturanhang.
14 vielerorts auch „Strippe“ genannt.
15 siehe auch: http://marshmallowchallenge.com
„Deutschland sucht das Superhirn“. So titeln viele Zeitungen immer wieder und berichten dann über die Deutschen Gedächtnismeisterschaften, über die Eliten des europäischen Gedächtnissports oder die „500 wichtigsten Intellektuellen“ nach Meinung des Magazins „Cicero“ (Cicero, 2012). Auch eine ZDF-Show gibt es: „Deutschlands Superhirn“. Das Konzept erinnert stark an „Wetten, daß …?“: Mehrere Kandidaten mit außergewöhnlichen Gedächtnis- oder Rechenleistungen treten gegeneinander an und am Ende der Show wird „das Superhirn“ gekrönt. So auch am 27.04.2013 der Kopfrechen-Gigant Rüdiger Gamm. Beispielsweise kommt auf die Frage: „Was ist 67 hoch 33?“, postwendend die Antwort: „1.8 21.664.894.730.078.753.748.347.739.907.973.449.122.612.636.443.046.968.910.787“.
Korrekt, aber in der Realschule wurde er des öfteren u.a. mit einem mangelhaft in Mathematik nicht versetzt. Erst im Alter von 20 Jahren entdeckte er, dass er das Zeug zum Rechengenie hatte: „Ich habe meine Kindheitsträume nie aus den Augen verloren. Zu Beginn stand nicht die Mathematik im Vordergrund, im Gegenteil, ich brachte fast nur ungenügende Noten vom Mathematik-Unterricht nach Hause und wurde mehrmals nicht versetzt. Aber ich wollte schon in jungen Jahren etwas Einzigartiges erreichen, in einem Bereich die Nummer 1 der Welt sein. Beim Fussball musste ich rasch einsehen, dass das unmöglich war. Mit Bodybuilding hörte ich auf, als es ohne Anabolika nicht mehr weitergegangen wäre. Mit knapp 21 Jahren entdeckte ich schliesslich meine spezielle Begabung im Umgang mit Zahlen“ (Morgenthaler, 2015).
Doch wie macht dieser ‚wandelnder Großrechner‘ das nur? Nun: „Potenzieren ist an sich eine relativ einfache Operation. Natürlich kann ich das nicht in dem Tempo neu berechnen. Ich merke mir Zahlenreihen und muss diese dann bloss noch abrufen. In meinem Kopf sieht es dann ähnlich aus, wie wenn im Film Matrix Zahlenreihen über den Computerbildschirm rattern“ (Morgenthaler, 2015). Diese enorme Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnis’ machen sich auch oft Kinder mit Dyskalkulie (Rechenstörung, F81.2 nach ICD-10) zu nutze. Stellt der Lehrer beispielsweise eine Rechenaufgabe, kommt sofort die richtige Antwort und alle sind zufrieden. Der Lehrer, die Eltern und der Schüler. Und dies, obwohl der Schüler die Aufgabe gar nicht rechnen kann, sondern sich nur vorher das richtige Ergebnis zur Aufgabe gemerkt hat. Dies geht in der Regel eine Weile ‚gut’, bis diese Strategie an schwerer werdenden Aufgaben in höheren Klassen scheitert.
Doch zurück zu den ‚Superhirnen‘: „Ein Datum, sagt George Widener, ist ein Ding mit vier Variablen, sie heißen Tag, Monat, Jahr, Wochentag. Eine wunderschöne Erfahrung, sagt er, die Symmetrie der Zahlenfolgen zu spüren, fast wie eine Droge. Doch wer diese Erfahrung machen will, muss dafür einen Preis zahlen. Am 24. 6. 2011, einem Freitag, steht der Kalenderexperte George Widener an einer Straßenkreuzung in Manhattan und leidet unter dem Chaos der Gegenwart. Ihre Zumutungen überfluten seine Sinne an diesem Tag, dem 18 033. seines Lebens. New York City ist ein Brodeln aus Menschen und Autos und Häusern, in denen noch mehr Menschen und Autos gestapelt sind. Eine Baustelle drückt Presslufthammerlärm direkt ins Hirn, das bedeutet Qualen auch für jemanden, der nicht so ist wie George Widener. Aus seinem massigen, bärenhaften Körper dringt nichts nach außen. Aber er leidet. Alles hier zu laut, zu schnell, zu viel“ (Henk, 2011).
Der Name für dieses Syndrom ist das „Savant-Syndrom“ (zur Übersicht Treffert, 2014, 2012) – ‚Die Wissenden‘ (Savant nach dem französischen Wort für „Wissender, Gelehrter“) verblüffen mit fast außerirdischen Talenten in Mathematik, Physik, Kunst, Musik und obskuren Faktenwissen, doch haben sie in anderen Bereichen so eklatante Einschränkungen, dass sie in der Regel nicht ohne fremde Hilfe leben können. Vor nicht allzu langer Zeit empfahlen Kinderärzten den ‚betroffenen’ Eltern, dass ihre Savant-Kinder wahrscheinlich niemals lernen und laufen können werden und dass es am besten für die Eltern sei, ihre Kinder in ein Heim zu geben und sie schlicht weg zu vergessen!
Doch viele Eltern folgten zum Glück diesen ‚Empfehlungen’ nicht und einige Forscher widmeten sich diesem Syndrom, um herauszufinden, was das Besondere am Gedächtnis der Savants ist. Eines der wohl bekanntesten Beispiele hierfür ist das wandelnde Lexikon, „the Mt. Everest of memory“ Kim Peek, „The REAL Rain Man“ (Treffert, 2012, S. 120ff), der für Dustin Hoffmann, der in dem Hollywood-Film „Rain Man“ (1988) den an einem Savant-Syndrom leidenden Autisten Raymond Babbitt spielte, die ‚Vorlage‘ war. Kim Peek konnte beim Lesen, besser beim Scannen eines Buches mit dem linken Auge die linke Seite und mit dem rechten Auge die rechte Seite eines Buches (Treffert, 2012, S. 121) innerhalb von acht bis zehn Sekunden komplett in sein Gedächtnis einlesen und danach nahezu jede Frage über das Buch richtig beantworten (Treffert & Christensen, 2006). Bis zu seinem Tode am 19.12.2009 verinnerlichte er so über 12.000 Bücher (Treffert, 2012, S. 120) von Telefonbüchern, Büchern über die Postleitzahlen Amerikas, Lexika bis hin zu Büchern über klassische Musik und Sport, über Schauspieler und Raumfahrt, über Geschichte und Literatur (Treffert, 2012, S. 121).
Der Psychologe Dr. Darold Treffer, der als einer der bedeutendsten Savant-Forscher der Welt gilt, hat ein Register über das Savant-Syndrom erstellt. Auffällig ist, dass demnach 75% aller Savants Autisten sind (Treffert & Rebedew, 2015, S. 158). Dr. Temple Grandin ist Autistin und Professorin für Tierwissenschaften und Viehzucht, denkt wie Tiere in Bildern und in 3D, nicht in Worten und sieht die Details, die Tiere in Panik versetzen. „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier: Eine Autistin entdeckt die Sprache der Tiere“, so der Titel eines ihrer Bücher (Grandin & Johnson, 2014). Die meisten Menschen sehen diese Details nicht, Autisten aber schon (Baron-Cohen et al., 2009). Ja, mehr noch. Vereinfachte Modelle von der komplexen Welt (mind sets, mentale Muster), basierend auf unseren bisherigen Erfahrungen, vereinfachen uns die Wahrnehmung unserer Umwelt und somit unseres Lebens: Wenn sich die Welt ein bisschen ändert, so what? Wir sehen mit unseren Augen, was wir mit unserer Erfahrung erwarten (Kapitel 4.3). Autisten besitzen diese Wahrnehmungsfilter nicht. Sie sehen die Welt, wie sie ist. Catherine Mouet, eine Autistin mit Asperger-Syndrom, hat ihre Doktorarbeit abgebrochen, da sie nicht erkannte, wie Normal-Menschen – „Normal-Neuros“, wie sie sie nennt – ticken: Gesichtsausdrücke, Ironie, Wortspiele oder Doppeldeutigkeiten sind ihr ein Rätsel. Dreiecksbeziehung beispielsweise. „ Dreiecksbeziehung? – Für mich ist ein Dreieck ein Dreieck.“
Prof. Dr. Allan Snyder, Physiker und Direktor des Centre for the Mind der Universität Sydney, ist der Überzeugung, dass wir alle diese [Savant]-Fähigkeiten latent in uns haben, aber dass unser Gehirn sie absichtlich unterdrückt, um obige mentale Muster bzw. Wahrnehmungsfilter für das Überleben in einer komplexen Welt auszuprägen: Wir müssen etwas im normalen Gehirn abschalten, um diese unglaublichen [Savant]-Fähigkeiten anzuschalten (Snyder, 2009; Snyder et al., 2006).
Dr. Simon Baron-Cohen, Professor für ‚Developmental Psychopathology‘ und Direktor des ‚Autism Research Centre (ARC)‘ an der Universität Cambridge, benennt in seiner E-S-Theorie (Baron-Cohen, 2009) zwei wichtige Fähigkeiten des Gehirns: Die Empathie (E) und das Systematisieren (S). Wenn die beide Fähigkeiten gleich ausgebildet sind, spricht Baron-Cohen von einem B-Typ oder von einem ausgeglichenen Gehirn (‚balanced brain‘). Autisten hält er demgemäß für die extremste Form eines S-Gehirns. Oft findet sich auch die treffliche Formulierung „freundliche Systemgehirne“. Und dieser Begriff ist für unsere weitere Betrachtung zentral. Es geht nicht allein um ‚Super-Duper-Hirne‘, sondern um Gehirne mit ganz bestimmten Prägungen und Präferenzen. Diese sind für sich genommen weder gut noch schlecht. In einem weiteren Kontext haben sie jedoch in der Regel Vorteile wie Nachteile und versprühen als Extremvarianten eine gewisse Faszination. Greifen wir den obigen Begriff von Catherine Mouet wieder auf und kombinieren ihn mit ein wenig Simon Baron-Cohen, so ergibt sich: Systemfreundliche Normal-Neuros.
„Wo bleibt da die Empathie?“, mag man sofort in maximaler Empörung einwenden. Nun, ohne (emotionale) Empathie ‚geht‘ relativ wenig bis gar nichts. Also bei Psycho- und Soziopathen schon (zur Übersicht: Blair, 2013a, 2013b; Shirtcliff et al., 2009). Aber eben solche würde ich eher nicht als Normal-Neuros bezeichnen. Wie wir später noch sehen werden, haben kognitive und emotionale Empathie einen mitunter wesentlichen Einfluss auf das Lernen und das gemeinsame Glücksempfinden. In den weiteren Kapiteln betrachten wir also das Lernen von systemfreundlichen Normal-Neuros und meinen damit auch nahezu jeglichen E/S-Typ-Mix mit Ausnahme der Extremvarianten. Und für ebendiesen E/S-Typ-Mix gilt: Lernen kann jeder, Nicht-Lernen will gelernt sein.
„Sieglinde kommt freudestrahlend von der Grundschule nach Hause und ruft ihren Eltern im Garten entgegen: „Ich bin die Beste!“ Die Eltern denken sogleich an eine Eins im Lesen, Schreiben oder Rechnen. Falsch. Sieglinde hat mit ihren Freundinnen in der Schule eine Spiele-App entdeckt und steht nun in der Bestenliste auf Platz eins in ihrem Heimatort. Sieglinde präsentiert ihren Eltern „Om Nom“, das gefräßige, putzige Monster aus „Cut the Rope“, dem vielfach preisgekrönten Puzzlespiel. Cut the Rope wurde bereits mehr als 100 Millionen Mal seit seiner Veröffentlichung 2011 heruntergeladen. Aufgabe ist es, Om Nom mit Süßigkeiten zu füttern. Dazu müssen Seile so durchtrennt werden, dass die Süßigkeiten, den Gesetzen der Physik folgend, in den Mund des Knuddelmonsters fallen“ (Lorber & Schutz, 2016b, S. 14).
„Das ist ja ganz nett, wenn Sieglinde ein Knuddelmonster füttert, aber sollte sie nicht vielmehr in der Grundschule für das Leben lernen, als ihre Zeit mit Knuddelmonster-Fütterungen zu vergeuden?“, könnten da die Nachbarn jenseits des Zaunes in allerliebster Absicht wohlwollend anmerken. Zugespitzt könnte die Anmerkung als Frage auch lauten: „Hat Sieglinde überhaupt gelernt?“ „Die Frage erscheint zunächst banal, ist sie aber nicht, und lautet ganz einfach: Wann wird überhaupt was gelernt? Lernt man im Englischunterricht Vokabeln oder im Mathematikunterricht das Einmaleins, dann ist klar, wann gelernt wird (im Unterricht) und was gelernt wird („table – Tisch“, „3 x 4 = 12“). Das liegt daran, dass „Unterricht“ von außen strukturiert wird, kurz: Weil ein Lehrer festlegt, wann was gelernt wird“ (Spitzer, 2015, S. 851).