Von Gabriele und Jürgen Jost bereits erschienen:
Kriminalromanreihe Die Taunus-Ermittler:
Band 1 – Steinige Wege
Band 2 – Spuren
Band 3 – Endstation Linie 3
Band 4 – Wo ist Verena?
Band 5 – Blanke Gewalt
Andere Romane:
Meeresrauschen für Lara – Eine Arbeitswelt, Mallorca und Frauenroman
Weitere Infos unter:
www.Gabriele-und-Jürgen-Jost.de
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© 2015 Gabriele und Jürgen Jost
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
ISBN: 978-3-7392-7213-9
An einem klaren Sonntagmorgen im Dezember, die Zwillinge von Verena und Stefan Weimershaus waren gerade einmal zehn Monate alt, stand Stefan schon früh auf. Er hatte in der vergangenen Nacht nur wenig geschlafen, dennoch hielt ihn nichts mehr im Bett. Auch seine Frau konnte ihn selbst mit den verlockendsten Angeboten nicht zum Liegenbleiben bewegen.
Da es für diese Jahreszeit außergewöhnlich mild war, trat er im Schlafanzug auf den Balkon hinaus und atmete tief durch. Er dachte an die vergangene Nacht zurück, die es in sich gehabt hatte, auch wenn er und Verena wieder mal nicht dazu gekommen waren, miteinander zu schlafen. Aber das war in den letzten zehn Monaten ohnehin nur im Ausnahmefall vorgekommen, denn ihre ungemein nachtaktiven Zwillinge wussten das meist zu verhindern. Abends wollten die kleinen Teufel stundenlang herumgetragen werden, bis sie dann irgendwann doch schliefen. Aber wehe, Stefan und Verena hatten sich erschöpft von den endlosen Wanderungen endlich ins Schlafzimmer zurückgezogen, dann begann eines von beiden erneut zu plärren, und der ganze Zirkus ging von vorn los.
In der vergangenen Nacht waren die Kleinen besonders unruhig gewesen, denn sie waren erkältet. Und gerade als die beiden gegen halb zwölf endlich im ersten Schlummer gelegen hatten, hatte das Telefon zu läuten begonnen, und das Ende vom Lied war, dass Alina und Anina sich erneut zu Wort meldeten.
Aber auch Verena war bei dem Klingeln heftig zusammengezuckt, denn sie war in Sorge um ihren Opa, Andreas Stettner, der mit seinen inzwischen fünfundsiebzig Lenzen zwar noch sehr rüstig war, aber zurzeit mit einer schweren Grippe im Bett lag.
»Stett… äh, Weimershaus«, hatte sie sich erschrocken gemeldet, obwohl sie sich eigentlich schon gut an ihren neuen Familiennamen gewöhnt hatte.
Dann hatte sie das Telefon auf die Freisprecheinrichtung umgestellt, und zu ihrer und Stefans Erleichterung war es nicht die Stimme ihrer Oma Dagmar, die ihnen entgegenschallte. Das laute Organ ihrer Nachbarin Greta Hirsch, deren Wohnung am mittleren der drei Treppenaufgänge ihrer kleinen Wohnanlage lag, kam lautstark und nicht gerade höflich aus dem Gerät.
»Zum Donnerwetter mit Ihren Zwillingen«, hatte sie ins Telefon gebrüllt, »können die denn nichts anderes als immerfort zu plärren? Wie soll man denn da seine Ruhe finden, nicht wahr, Gernot?«
Greta Hirsch hatte ihren Mann um Unterstützung gebeten und diese auch prompt bekommen, als Verena den Fehler beging, darauf hinzuweisen, dass die Kleinen im Moment erkältet seien.
»Denken Sie daran, dass Sie diese Wohnung nur gemietet haben!«, hatte Gernot Hirsch losgepoltert, noch bevor Verena ihren Satz beenden konnte. »So etwas kann sich sehr schnell ändern, wenn man rechtschaffene Personen, die morgens früh rausmüssen, von ihrem nötigen Schlaf abhält.«
In diesem Augenblick hatte sich Stefan nicht mehr zurückhalten können.
Er hatte Verena den Hörer aus der Hand genommen und die Hirschs angefahren: »Das trifft ja bei Ihnen ganz gewiss nicht zu!«
Dann hatte er kurzerhand aufgelegt. Ob er die Rechtschaffenheit der Hirschs gemeint hatte oder dass sie früh herausmussten, hatte er ganz bewusst offen gelassen. Schließlich wusste er genau, dass Gernot Hirsch seit dem vergangenen Sommer Rentner war und viel Zeit hatte.
Zum Glück waren die Zwillinge nach diesem Zwischenfall recht schnell wieder eingeschlafen, und auch Verena war endlich zur Ruhe gekommen. Nur Stefan, der sich mehr aufgeregt hatte, als er zugab, hatte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank genommen und sich damit noch einmal ins Wohnzimmer gesetzt. Erst nach eins war er zu Verena ins Bett geschlüpft.
So weit hatte er auf dem Balkon in Gedanken die letzte Nacht noch einmal Revue passieren lassen, als Verena leise von hinten an ihn herantrat und in sein Ohr sagte: »Guten Morgen, mein Schatz.«
Er fuhr herum, grinste nach einer Schrecksekunde seine Frau an und fragte: »Morgen, Liebling, du bist auch schon auf?«
»Ja, es ist so mild heute Morgen, da musste ich einfach raus. Man könnte meinen, in einigen Tagen wäre Ostern und nicht Weihnachten.«
»Ja, wir könnten fast auf dem Balkon frühstücken.«
»Na, jetzt übertreib mal nicht. – Mir lässt das keine Ruhe, was der alte Hirsch heute Nacht am Telefon gesagt hat. Meinst du, er könnte uns wirklich Schwierigkeiten machen?«
»Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Aber ich ruf nachher zur Sicherheit mal unseren Vermieter an. Denk dran, was Herr Wohlers zu uns gesagt hat, als wir hier eingezogen sind: Hier im Haus seien fast in jeder Wohnung Kinder groß geworden, und mit unseren Kleinen komme nun, da sie alle erwachsen sind, endlich wieder etwas Leben in die Bude. Und alle anderen Nachbarn haben sich bei unseren Antrittsbesuchen so ähnlich ausgedrückt. Ich denke, von daher droht wenig Gefahr.«
»Sprich trotzdem mit ihm, bitte. Denn erst wenn er sagt, dass alles okay ist, werde ich meine Ruhe wiederfinden.«
»Ja, mach ich gleich heute Vormittag. Jetzt ist es noch etwas früh. Aber sag mal, die Hirschs sind doch sonst auch sonntags schon vor sieben auf. Heute sind die Rollläden bei denen noch geschlossen.«
»So?«, rief Verena verwundert, die inzwischen schon wieder am Kinderbettchen stand, denn die Kleinen hatten sich auch schon wieder zu Wort gemeldet.
Da öffnete sich zaghaft einer der Rollläden der Wohnung Hirsch.
»Schade«, entfuhr es Stefan, »ich dachte schon, der Teufel hätte die zwei endlich geholt.«
»Schatz, was hast du gesagt?«
»Ach, nichts«, antwortete Stefan, um dann aber zu wiederholen: »Ich dachte schon, der Teufel hätte sie geholt.«
»Der hätte sie spätestens nach zwei Tagen zurückgebracht, denn das hätten seine Nerven nicht ausgehalten«, kommentierte Verena Stefans Wunsch trocken und nahm die Kleinen aus dem Bett.
Gut zwei Stunden später hatten Stefan und Verena gefrühstückt, und auch ihr Nachwuchs war versorgt. Während sie mit ihrer Mutter im Wohnzimmer spielten, nahm Stefan das Mobilteil ihres Telefons mit in die Küche und wählte die Nummer ihres Vermieters.
Konrad Wohlers war ein Mann Ende siebzig und noch sehr rüstig. Dennoch lebten seine Frau und er in einem Apartment im Altenheim beim Kloster, da Frau Wohlers letztes Jahr einen Schlaganfall erlitten und sich nur teilweise davon erholt hatte. Damals waren die zwei kurzerhand aus der Krakauer Straße auf den Klosterberg umgezogen und hatten ihre Eigentumswohnung vermietet.
»Wohlers«, meldete sich der alte Mann denn auch prompt, kaum dass Stefan die Durchwahl zu seiner Wohnung gewählt hatte.
»Guten Morgen, Herr Wohlers, hier ist Stefan Weimershaus.«
Konrad Wohlers hatte den besorgten Unterton in Stefans Stimme sofort vernommen und fragte rundheraus: »Na, wo drückt denn der Schuh?«
»Wie bitte?«
»Herr Weimershaus, wenn Sie sonntagvormittags bei mir anrufen, dann brennt’s doch irgendwo. Ist ein Fenster kaputt oder die Heizung ausgefallen?«
»Wenn es nur das wäre – wir haben Ärger mit einem Nachbarn und …«
»Etwa mit dem Ehepaar Hirsch?«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Stefan verblüfft, und der Alte antwortete: »Es konnte im Grunde gar nicht anders sein. Obwohl ich gehofft hatte, die wären inzwischen ruhiger geworden. Haben Ihre Kinder vielleicht draußen gespielt und sind dem Auto von Herrn Hirsch zu nahe gekommen?«
»Nein, unsere Kinder sind ja erst zehn Monate alt … Warum fragen Sie?«
»Ach, das haben die vor fünfzehn Jahren schon mal gemacht. Damals hatten sie die Krämers nebenan auf dem Kieker. Hirsch hat Herrn Krämer bis vor den Kadi gezogen, weil dessen Sohn angeblich beim Spielen sein Auto beschädigt hatte. Diese Leute sind fürchterliche Querulanten. Übrigens ist Frau Hirsch noch schlimmer und stachelt ihren Mann immer wieder aufs Neue an. Ich glaube fast, sie ist die eigentliche Triebfeder. Welcher Art ist der Ärger denn, den Sie haben?«
»Gestern Nacht um halb zwölf haben wir einen Anruf von Frau Hirsch bekommen. Sie beschwerte sich, unsere Zwillinge würden zu laut schreien. Aber auch ihr Mann hat uns durchs Telefon angeblafft. Er hat gesagt, wir sollen uns vorsehen, wir seien schließlich nur Mieter …«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Die Hirschs sind in der gesamten Wohnanlage nicht gerade beliebt. Die schaffen es nicht, gegen Sie Stimmung zu machen. Ich könnte Ihnen da Dinge erzählen …«
»Ja?«, hakte Stefan sofort nach.
Da der alte Mann das Ganze gern einmal loswerden wollte, erzählte er prompt weiter: »Meine Frau und ich haben diesen Leuten nie allzu viel Angriffsfläche geboten, denn wir haben keine Kinder, und unser Auto parkten wir weit von deren Wagen entfernt. Aber einmal hat es auch uns erwischt. Wir hatten zu Silvester Besuch, da riefen sie bereits um kurz nach halb eins an, wir sollten doch endlich Ruhe geben. Dabei wurde auf der Straße noch heftig geknallt und geböllert. Aber das ist nichts im Vergleich mit dem, was ihre Nachbarn im mittleren Treppenaufgang mitzumachen haben. Wehe, da liegt ein Papierschnitzel herum oder ein Schuhabdruck ist auf der Treppe zu sehen. Die klingeln überall und geben keine Ruhe, bis der Verursacher wieder für Ordnung sorgt. Ausgerechnet an diesem Treppenaufgang wohnen mehrere Familien mit Kindern.«
»Daran wird es liegen. Die Hirschs haben keine Kinder und wissen nicht damit umzugehen …«
»Da täuschen Sie sich aber«, unterbrach ihn Wohlers, »sie haben einen erwachsenen Sohn. Er wohnt in Hornau und hat nur wenig Kontakt zu seinen Eltern, was ich ihm wirklich nicht verdenken kann … Normalerweise tratsche ich nicht, aber falls die beiden Sie wirklich aufs Korn genommen haben sollten, ist es besser, Sie wissen Bescheid.«
»Moment, sagten Sie nicht, die können uns nicht an den Karren fahren?«
»Diese Leute können Sie nicht einfach rauswerfen lassen, da habe ich schließlich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Aber nun zu ihrem Sohn, Rainer heißt er; der hatte alles andere als eine schöne Kindheit. Er durfte nur zum Spielen raus, wenn das Wetter gut war, und falls er sich einmal schmutzig gemacht hatte, war der Teufel los. Da hat man den Alten bis zu uns herüber brüllen gehört. Oder meinen Sie vielleicht, der Junge hätte Freunde mit nach Hause bringen dürfen? Nein, die hätten ja die Wohnung schmutzig machen können. Außerdem hat Frau Hirsch peinlich genau darauf geachtet, dass er sich nicht mit Kindern abgab, die unter ihrem ›Niveau‹ waren.«
»Ach du Scheiße …«
»Das können Sie laut sagen. Zum Bruch zwischen den Eltern und Rainer kam es schließlich, als er ihnen seine Freundin vorstellte. Sechs oder sieben Jahre ist das her. Die war vor allem Frau Hirsch nicht gut genug. Sie hat nur an ihr herumgemäkelt. Als sie ihrem Sohn den Umgang mit ihr verbieten wollte und sein Vater ins gleiche Horn stieß, ist Rainer kurzerhand ausgezogen. Die beiden hatten einfach übersehen, dass ihr Sohn schon vierundzwanzig war und eine abgeschlossene Ausbildung hatte. Rainer ist dann mit seiner Freundin zusammengezogen. Inzwischen haben die beiden in Hornau ein Haus gekauft. Rainer ist übrigens trotz der verkorksten Kindheit ein netter Kerl geworden.«
»Das kann man bei diesen Eltern fast nicht glauben.«
»Ist aber so. Immer wenn er es zu Hause nicht mehr aushielt, kam er zu uns und hat sich ausgeheult. Ich glaube, die Alten hätten ihm und uns den Kopf abgerissen, wenn sie das auch nur geahnt hätten. Aber Rainer hat uns das nie vergessen, dass wir für ihn da waren. Als meine Frau den Schlaganfall hatte, hat er uns beim Umzug geholfen, und er hat uns hier oben schon zweimal besucht.«
»Danke für die Informationen«, sagte Stefan, und gerade als er sich verabschieden wollte, fragte Wohlers: »Ich hatte es Ihnen ja schon einmal angeboten: Wollen Sie die Wohnung nicht kaufen? Ich hätte sie, wie Sie wissen, ja ohnehin lieber verkauft als vermietet.«
»Ja, das würden wir gerne machen, aber das ist im Moment finanziell nicht drin. Vielleicht klappt es ja in zwei oder drei Jahren, wenn die Zwillinge im Kindergarten sind und meine Frau und ich wieder beide arbeiten können. Aber erst einmal danke für Ihre Offenheit in Sachen Familie Hirsch – und schönen Sonntag noch!«
Nachdem er aufgelegt hatte, sah Stefan auf die Uhr und sagte darauf zu Verena: »So, jetzt müssen wir uns aber beeilen.« Sie waren zum Mittagessen bei Peter, Annika und Sven eingeladen.
Nicht einmal eine halbe Stunde später saßen alle sieben um den großen Esstisch in Peters ehemaligem Arbeitszimmer versammelt und ließen sich den Schweinebraten mit Klößen, den Annika zubereitet hatte, schmecken. Peter hatte sein Arbeitszimmer nach Stefans Auszug in das kleinere der beiden Zimmer unter dem Dach verlegt und das alte Arbeitszimmer zum Esszimmer umfunktioniert. Sven hatte das größere Dachzimmer und seine eigene Dusche bekommen, und so waren alle zufrieden.
Annikas und Svens Umzug nach Kelkheim im vergangenen Juni hatte reibungslos geklappt. Sven besuchte inzwischen die vierte Klasse der Grundschule in den Sindlinger Wiesen und hatte sich so schnell eingewöhnt, dass er bereits zu den Klassenbesten zählte. Endlich war Peter am Ziel seiner Träume und hatte die kleine Familie, die er sich zeitlebens gewünscht hatte. Auch wenn er dafür über fünfzig Jahre alt hatte werden müssen.
Nach dem Essen lehnte Peter sich genüsslich zurück und sagte: »So, Stefan, erzähl mal, was hat dieser Hirsch dir alles an den Kopf geworfen?«
Stefan erzählte alles, was sich in der Nacht ereignet hatte, und berichtete auch vom Telefonat mit seinem Vermieter und von dessen erneutem Angebot, ihm die Wohnung zu verkaufen.
»Mensch, dann kauf sie doch!«, rief Peter überschwänglich, und Stefan fragte irritiert: »Wovon denn?«
»Als Anzahlung könnt ich dir zwanzigtausend Euro leihen. Über den Rest könnt ihr ja Ratenzahlung vereinbaren.«
Während Stefan seit gut einem Jahr Alleinverdiener war, hatten Annika und Peter ein doppeltes Einkommen, und den Unterschied merkte man immer wieder. Während das junge Ehepaar erst neulich Verenas neues Auto bar bezahlt hatte, hatte Peter seinen Wagen als Firmenwagen günstig finanzieren können. So war er zurzeit deutlich flüssiger als sein Freund.
»Also – wenn du deinem Vermieter eine Anzahlung machst und tausend Euro monatlich …«
»Tausend, spinnst du? Von was denn?«
»Jetzt gib doch erst einmal Ruhe und hör zu, was ich mir ausgedacht habe! Was hältst du davon, wenn wir die Arbeit in unserer Detektei zukünftig etwas anders verteilen?«
»Und zwar wie?«
»Ich wollte mir ohnehin etwas mehr Zeit für meine Familie nehmen. Deshalb wäre es mir ganz recht, wenn wir die Arbeit nicht mehr halbe-halbe aufteilen, sondern du etwa sechzig Prozent übernimmst. Das bedeutet, bei den größeren Fällen würden wir wie bisher zusammenarbeiten, aber bei kleineren Aufträgen wie Scheidungssachen oder Überwachungen könntest du einige Fälle in Eigenregie übernehmen …«
»Moment mal, was soll mir das bringen?«
»Na, mehr Geld natürlich. Denn in den Fällen, die du künftig allein bearbeitest, brauchtest du das Honorar selbstverständlich auch nicht zu teilen.«
»Das hört sich nicht einmal schlecht an. Heißt aber auch, dass du dir einen faulen Lenz machst, während ich mich abrackere.«
»Nein, nein, so war das nicht gedacht. Zum Ausgleich würde ich dir natürlich Vorrang in der Urlaubsplanung einräumen. Wenn du zum Beispiel vier Wochen am Stück nehmen willst, würde ich nur zwei machen, damit der Laden weiterläuft. Was hältst du davon?«
»Das hört sich nicht schlecht an und ist durchaus des Nachdenkens wert.«
»Mach aber schnell, bevor ich es mir anders überlege.«
»Ach, im Grunde habe ich mich bereits dafür entschieden. Nur fürchte ich, Herr Wohlers wird mit einer Anzahlung von zwanzigtausend Euro kaum zufrieden sein.«
»Wieso nicht?«
»Der Mann ist fast achtzig. Selbst bei tausend Euro im Monat würde das für ihn zum Verlustgeschäft werden.«
»Stimmt.«
»So schnell können Träume sterben.«
»Nun wirf die Flinte mal nicht so schnell ins Korn. Was haltet ihr davon, wenn ich meinen Vater anhaue. Er hat ja damals durch den Verkauf seines Hofs und der dazugehörenden Ländereien ganz schön Kohle gemacht und das Geld mehr als geschickt investiert. Es würde mich nicht allzu sehr wundern, wenn er seiner einzigen Enkelin und dir zuliebe den Wohnungskauf unterstützt.«
»Irgendwie ist mir das unangenehm«, sagte Stefan, und Verena nickte. Aber Peter erklärte: »Das muss es nicht, denn ihr wollt das Geld ja nicht geschenkt, sondern als zinsgünstiges Darlehen. Warum soll man das Geld den Banken in ihren nimmersatten Rachen werfen, wenn es auch anders geht?«
»Auch wieder wahr«, meinte Verena, und Stefan nickte nachdenklich. Dann lächelte er und sagte: »So, jetzt lasst uns mal über was anderes reden als über Geld oder diese blöden Hirschs.«
»Ja, zum Beispiel, wo unser Ausflug nächsten Sonntag hingehen soll«, meldete sich nun Sven zu Wort, und so sprachen sie noch eine Weile darüber, ob es in der kommenden Woche kalt genug würde, um auf der Wasserkuppe rodeln zu gehen.
Ein Kälteeinbruch drei Tage später klärte diese Frage, und so vergingen die nächsten Wochen im ständigen Wechsel aus zu warmen und bitterkalten Tagen. Zwischen den Familien Weimershaus und Hirsch schien wenigstens während der kalten Jahreszeit so etwas wie Waffenstillstand zu herrschen, und Stefan gab sich bereits der trügerischen Hoffnung hin, dass alles ausgestanden wäre.
Doch dann kam dieser erste wirklich angenehm warme Morgen im März. Stefan war etwas zu spät dran und wollte die kurze Strecke zur Detektei in der Frankfurter Straße ausnahmsweise mit dem Auto fahren. Er hatte sich gerade in seinen im vergangenen Jahr von Peter übernommenen Wagen gesetzt und das Fenster heruntergelassen, als ihn ein scharfer Zuruf innehalten ließ.
»He, Sie da!«
Stefan nahm die Hand vom Fensterheber und drehte sich auf dem Fahrersitz herum. Da sah er zu seinem Schrecken, wie Gernot Hirsch direkt auf sein Auto zugestürmt kam.
Noch bevor Stefan »Guten Morgen« sagen konnte, polterte sein Gegenüber los: »Ach, Sie sind das! Hätt ich mir ja denken können. Hab ich Sie endlich erwischt!«
Stefan, der es sehr eilig hatte, da er Peter bei einer Observation in Mörfelden-Walldorf ablösen sollte, fragte ungeduldig: »Was gibt es denn? Ich habe nicht viel Zeit.«
Das hätte er besser nicht gesagt, denn nun lief Gernot Hirsch zur Hochform auf.
»Die werden Sie sich schon nehmen müssen.«
»Wieso …?«
»Weil ich Sie dabei erwischt habe, wie Sie meinen Wagen gerammt haben!«
»Wie denn das? Ich bin heute Morgen noch keinen Meter gefahren. Sehen Sie Gespenster?«
»Aber gestern Abend!«, brüllte Hirsch nun umso lauter und setzte hinzu: »Ich werde jetzt die Polizei rufen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber ich muss zur Arbeit, und die Polizei hat bestimmt Besseres zu tun, als sich um Ihren Mist zu kümmern.«
»Das werden wir ja sehen.«
Stefan, der sich auf keine weitere Diskussion einlassen wollte, startete das Auto und legte den Rückwärtsgang ein, um aus der Parkbucht zu fahren, aber Hirsch war schneller. Blitzschnell baute er sich hinter dem Auto auf, zog sein Handy aus der Tasche und wählte. In diesem Moment trat Verena auf den Balkon hinaus, der nur wenige Meter von den Parkplätzen entfernt war.
Stefan wusste, dass er jetzt keinen Fehler machen durfte, um sich nicht ins Unrecht zu setzen, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war.
Deshalb rief er seiner Frau zu: »Verena, Herr Hirsch behauptet, ich hätte gestern Abend sein Auto gerammt! Er hat bereits die Polizei gerufen, was ja sein gutes Recht ist. Ich lasse mein Auto hier stehen, damit die Beamten es untersuchen können. Wirf mir doch bitte deinen Autoschlüssel runter. Sprich auch mit den Beamten und ruf Claus an. Vielleicht kann er ja mal kurz vorbeikommen.«
»Ach, verständigen Sie bereits Ihren Anwalt?«, fragte darauf Gernot Hirsch, der schon glaubte, leichtes Spiel zu haben.
»Klar doch«, sagte Stefan und grinste, dann meinte er schnippisch: »Lassen Sie die Beamten ruhig meinen Wagen untersuchen. Wenn die auch nur einen Kratzer finden, der zu den tausend Beulen an Ihrer alten Schüssel passt, gebe ich Ihnen ein Bier aus.«
»Ich lasse mich doch nicht von Ihnen bestechen!«, fuhr Stefans Nachbar hoch und wandte sich wieder seinem Handy zu.
Während er telefonierte, ging Stefan zu Verenas Auto, fuhr ins Büro hinüber und holte das Teleobjektiv, um das Peter ihn gebeten hatte.
Unterdessen hatte Verena Claus Mergentheimer angerufen und den Leitenden Kommissar der Hofheimer Kripo auch gleich selbst an der Strippe. Sie schilderte Peters Freund, was geschehen war, und bat ihn um Hilfe.
Claus, der bereits um den schwierigen Charakter Gernot Hirschs wusste, dachte kurz nach, dann sagte er: »Wir bekommen dann sicher gleich einen Anruf der Kelkheimer Beamten, sie werden die Spurensicherung anfordern. Normalerweise würde ich dafür Franz Leitner rausschicken, aber in diesem Fall schnappe ich mir unseren Mann von der KTU und komme selbst. In spätestens einer halben Stunde bin ich da.«
Verena legte den Hörer zurück und trat wieder auf den Balkon, um Gernot Hirsch zu beruhigen. Der Querulant stand noch immer vor Stefans Auto, grummelte leise vor sich hin und wartete auf das Eintreffen der Polizei.
Als Verena sich ihm zeigte, sagte er grimmig: »Aha, ich dachte schon, Sie hätten sich auch aus dem Staub gemacht. Das wäre dann Fahrerflucht gewesen.«
»Beruhigen Sie sich, Herr Hirsch, ich komme zu Ihnen heraus. Dann können wir gemeinsam auf die Polizei warten.«
»Na ja …«, brummte er und sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.
Während Gernot Hirsch ruhelos auf der Straße auf und ab ging, mühte sich Verena damit ab, die Kleinen anzuziehen und in den Kinderwagen zu setzen, was bei den zappeligen Zwillingen gar nicht so einfach war. Endlich hatte sie es geschafft, den Zwillingsbuggy, den Stefan am Morgen aus dem Keller geholt hatte, auseinanderzuklappen und mit ihren Kindern auf die Straße zu rollen.
Gerade als sie beim Auto ankam, bog auch der Kelkheimer Streifenwagen ein. Die Beamten stiegen aus und gingen auf Gernot Hirsch zu. Dabei konnte der Ältere der beiden, der schon öfter mit Hirsch zu tun gehabt hatte, ein Grinsen nicht unterdrücken und warf dem jüngeren Kollegen einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Guten Morgen, haben Sie uns angerufen?«
»Ja.«
»Welches ist denn das Auto, das gerammt wurde?«, fragte der Ältere.
Hirsch zeigte auf seinen alten, klapprigen Ford Sierra und sagte: »Der Ford da ist es. Die Stelle, die ich meine, ist die Beule hinten links.«
»Und welches Auto soll nun das sein, das Ihren Wagen gerammt hat?«
»Das war der kleine Mercedes da. Sein Besitzer hat das gestern Abend beim Einparken verursacht.«
»Wo ist denn der Halter des Fahrzeugs?«
»Der hat sich aus dem Staub gemacht.«
»Also Fahrerflucht?«, fragte der jüngere der beiden Beamten seinen älteren, erfahrenen Kollegen, und als der nicht gleich reagierte, erklärte Verena: »Moment mal, das Auto gehört meinem Mann. Und außerdem, wenn überhaupt jemand die Rostlaube dieses werten Herrn gerammt hat, müsste ich es gewesen sein, denn ich bin gestern Abend gefahren.«
Hirsch fuhr herum und starrte Verena eine Sekunde lang zornig an, denn diese Runde ging eindeutig an sie.
Dann aber entspannten sich seine Züge, und er sagte scheinbar gleichgültig: »Na ja, egal, wer gefahren ist. Hauptsache, Sie kommen für den Schaden auf.«
»Welchen Schaden denn? Ich weiß von nichts.«
»Sie bestreiten also, das Auto von Herrn Hirsch gerammt zu haben?«
»Ja, ganz entschieden.«
»Dann werden wir wohl die Spurensicherung brauchen. Ruf doch mal in Hofheim an«, wies der ältere Beamte seinen jungen Kollegen an, der zum Polizeiwagen hinüberging.
Hirsch, der andere Beamte und Verena mit ihren Zwillingen standen einige Minuten schweigend bei den Autos, und gerade als der zweite Beamte vom Telefonieren zurückkam, hielt ein dunkelblauer Opel Omega Caravan bei ihnen an.
»Das ging aber schnell«, murmelte der ältere Polizist und kratzte sich an seinem blanken Schädel, denn er hatte den zivilen Wagen der Hofheimer Kripo sofort erkannt.
»Ihr werdet ja immer schneller«, begrüßte er Claus Mergentheimer. »Ist heute nicht Kriminalhauptmeister Leitner im Dienst?«
»Nein, heute bin ich selbst vor Ort. Wir waren gerade in einer anderen Angelegenheit unterwegs, als wir Ihren Anruf bekamen«, flunkerte Claus, der nicht alle Karten auf den Tisch legen wollte.
Unterdessen hatte sich der Mann von der Spurensicherung an die Arbeit gemacht und ließ sich von Gernot Hirsch erklären, welche Delle Stefans Auto verursacht haben sollte. Fünf Augenpaare verfolgten dabei jede seiner Handbewegungen, und als der Kriminaltechniker sich wenige Minuten später erhob, fragte Claus: »Na, Thorsten, wie sieht’s aus?«
»Ich hab nichts finden können. Wenn es überhaupt einen Zusammenstoß der beiden Wagen gab, hat er keine Spuren hinterlassen.«
»Was soll das?«, fragte Hirsch, nach Luft schnappend, und der Kriminaltechniker erklärte: »Beulen und Kratzspuren gibt es ja zur Genüge, aber davon ist keine neuer als vier Wochen. Die meisten davon sind sogar deutlich älter. Der angesetzte Rost spricht da eine ganz deutliche Sprache. Ganz besonders die Beule, um die es geht. Das wäre aber auch für jeden Laien zu erkennen gewesen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Hirsch, gar nicht mehr so selbstsicher.
»Mit etwas bösem Willen könnte man das als versuchten Betrug werten«, sagte Claus zu dem daraufhin vollends verunsicherten Mann, der augenblicklich begann zurückzurudern.
»Da … da muss ich mich wohl geirrt haben«, sagte er mit brüchiger Stimme, und Verena, die keine Eskalation wollte, stimmte zu: »So wird es gewesen sein.«
Dabei warf sie Claus einen vielsagenden Blick zu.
»Dann haben wir dieses Missverständnis ja aufgeklärt«, sagte Claus. »Thorsten, wir packen zusammen.«
Dann verabschiedete er sich und gab dabei nicht zu erkennen, dass er Verena kannte. Dieser Querulant hätte sonst bestimmt Claus’ Chef, Kriminaloberrat Bäumler, angerufen und Claus ein Gefälligkeitsgutachten unterstellt. Das wäre zwar abwegig gewesen, denn die Untersuchung hatte Thorsten Fink durchgeführt, und der kannte weder Verena noch Stefan. Aber da Claus und sein Chef ohnehin oft genug unterschiedlicher Meinung waren, hätte es trotzdem zu Verwicklungen führen können.
Kurz nachdem die Hofheimer Beamten gefahren waren, verabschiedeten sich auch die Kelkheimer Polizisten.
Verena sah Hirsch, der wie ein getretener Hund davonschlich, noch eine Weile nach, murmelte: »Du kannst mir nur leidtun«, und ging mit den Kleinen noch eine halbe Stunde im nahen Park spazieren.
In den folgenden Wochen gingen sich die Familien Hirsch und Weimershaus so gut wie möglich aus dem Weg, und wenn sie sich doch einmal begegneten, sah Gernot Hirsch demonstrativ zur Seite.
So kam es, dass an jenem Tag im März die letzten Worte zwischen Stefan, Verena und den Hirschs gewechselt wurden.
Ziemlich genau vier Wochen später, der noch junge April nervte einmal mehr mit launischem Wetter, hatten Stefan und Peter einen arbeitsfreien Tag eingelegt.
Das aber nicht deshalb, weil nach dem sonnigen Vortag mit fast fünfzehn Grad nun ein heftiges Schneegestöber niederging, sondern einfach, weil derzeit die Aufträge nicht allzu dicht gesät waren. Auch der Anwalt Dr. Pfannmöller, mit dem sie seit dem Fall mit den Neonazis1 gelegentlich zusammenarbeiteten, hatte sich nun schon lange nicht mehr mit einem Ermittlungsauftrag gemeldet. Nicht dass sie sich ernsthafte Sorgen um ihr Auskommen machen mussten, aber es blieb einfach viel zu viel freie Zeit übrig, in der sie sich womöglich noch mit der lästigen Buchführung beschäftigen mussten. Das musste irgendwie verhindert werden.
An diesem Montagmorgen saß Stefan mit Verena und den Zwillingen am Frühstückstisch in der Küche. Die Kleinen, die in ihren Kinderstühlchen erhöht über der Szene thronten, machten einen infernalischen Lärm, und so war es nicht verwunderlich, dass dem Lärm, der sich draußen auf der Straße erhob, zunächst niemand Beachtung schenkte.
Doch als nach ein paar Minuten immer noch keine Ruhe einkehren wollte, sagte Verena nachdenklich: »Da draußen ist irgendetwas Ungewöhnliches im Gange. Ich geh mal auf den Balkon und seh nach.«
Kurz darauf hörte Stefan, wie seine Frau jemanden auf der Straße ansprach, konnte aber nichts verstehen, da die Zwillinge ihn völlig in Anspruch nahmen.
»Brr, ist das kalt draußen«, sagte Verena bibbernd, als sie in die warme Küche zurückkehrte, »aber wenigstens schneit es nicht mehr.«
»Kein Wunder, dass dir kalt wird, wenn du mit deiner leichten Bluse rausrennst. Aber erzähl schon, was ist draußen los?«
»Du wirst es nicht glauben, aber draußen auf der Straße stehen Claus und noch ein paar mehr Leute von der Kripo. Auch ein Krankenwagen ist da. Den Hirschs muss, wie mir Frau Krämer eben erzählt hat, etwas zugestoßen sein.«
»Wie bitte?«
»Ja, und dem Aufwand nach, den die da draußen treiben, geht es um mehr als einen Wohnungseinbruch.«
»Wie meinst du das?«