8. komplett überarbeitete und erweiterte Auflage 2018
Stand: Februar 2018
© Marianne Moldenhauer
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Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Umschlaggestaltung: Marianne Moldenhauer
ISBN: 978-3-7460-9062-7
Die Bezeichnung weiblicher oder männlicher Personen durch die jeweils maskuline Form in diesem Buch bringt die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung von Mann und Frau nicht angemessen zum Ausdruck. Auf die Verwendung von Doppelformen oder andere Kennzeichnungen für weibliche und männliche Personen wird jedoch ausdrücklich verzichtet, um die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zu wahren. Mit allen im Text verwendeten Personenbezeichnungen sind stets beide Geschlechter gemeint.
Die Autorin geht davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autorin übernimmt, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.
Bitte beachten Sie, dass nachfolgende Informationen eine persönliche Beratung nicht ersetzen können. Wenden Sie sich bei Bedarf an eine Beratungsstelle, die Sozialverbände oder an einen Rechtsanwalt Ihres Vertrauens.
Autorin
Marianne Moldenhauer, Jg. 1965, geb. in Vechta (Niedersachsen), an Multipler Sklerose (MS) erkrankt seit 1989, lebt als selbstständig tätige Rechtsanwältin in Baunatal (Hessen). Mit ihren fachlichen Publikationen zu arbeits- und sozialrechtlichen Themen bietet sie MS-Erkrankten, Angehörigen und Interessierten seit mehr als zwei Jahrzehnten praktische Lebenshilfen und zeigt Perspektiven auf. In ihren weiteren Büchern gewährt sie zudem Einblicke in ihre Gefühlswelt und liefert Denkanstöße zum achtsamen Umgang mit der eigenen Lebensenergie hin zu einem aktiven und positiven Leben.
Ihr Buch „MS und Arbeitsplatz“ möchte Sie allgemeinverständlich informieren und Ihnen zugleich Ratgeber und Wegweiser für eine gute berufliche Zukunft sein. Verstehen Sie das Buch als Praxisleitfaden hin zu einem selbstverantwortlichen, kritischen und angstbefreiten Handeln mit Lebensfreude im Berufsalltag.
Die MS-Erkrankung wirkt sich häufig auch auf das Arbeitsleben Betroffener aus. Sie führt jedoch nicht zwangsläufig zur Arbeitsunfähigkeit oder vorzeitigen Berentung, d. h. Betroffene sind zumeist in der Lage, eine Ausbildung zu absolvieren oder ihren Beruf über lange Zeitstrecken ohne größere Beeinträchtigungen auszuüben.
Wie Sie nach der Diagnosestellung Ihre Schritte ins Berufsleben oder Ihre nächsten Schritte im Rahmen des bestehenden Beschäftigungsverhältnisses planen, hängt von Ihrer ganz persönlichen Situation, den beruflichen Anforderungen und den Verhältnissen im Betrieb Ihres (möglichen) Arbeitgebers ab.
Treten im Verlauf Ihrer MS-Erkrankung Funktionsbeeinträchtigungen auf und/oder kommt es zu MS-bedingter Arbeitsunfähigkeit, stellen Betroffene sich allerdings regelmäßig eine Vielzahl von Fragen: Ist z. B. ein Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft sinnvoll? Haben Arbeitgeber das Recht nach einer Schwerbehinderung zu fragen? Habe ich vielleicht sogar eine Mitteilungspflicht meinem Arbeitgeber gegenüber? Sollte ich evtl. meine Arbeitszeit reduzieren oder gar einen Tätigkeitswechsel in Betracht ziehen? An wen kann ich mich mit meinen Fragen wenden? Usw.
Vielleicht zögern Sie noch, einen Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch zu stellen, weil Sie z. B. Nachteile bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder an Ihrem derzeitigen Arbeitsplatz befürchten.
Nachfolgende Informationen mögen Ihnen Ihren Berufsalltag erleichtern und mögliche Missverständnisse bestmöglich vermeiden bzw. auszuräumen helfen. Sie können und sollen eine individuelle Beratung allerdings nicht ersetzen.
Ihre
Im September 2016
Die Neuauflage berücksichtigt in gewohnter Zuverlässigkeit und Präzision aktuelle arbeitsrechtliche Entwicklungen und wichtige Änderungen und Neuerungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung bis Januar 2018 mit zahlreichen Verknüpfungen in Bereiche des Sozialrechts und bringt Sie damit auf den aktuellen Stand.
Überzeugen Sie sich selbst und gestalten Sie Ihr Arbeitsleben passgenau!
Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre.
Die Verfasserin
Im Februar 2018.
Wer auf morgen wartet,
wird übermorgen erkennen,
dass er heute versäumt hat,
das Notwendige zu tun.
Walter Scheffel
Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark oder am Sehnerv als ein Teil des Gehirns), von der in Deutschland vermutlich mehr als 200.000 Menschen betroffen sind. Das häufigste Erkrankungsalter liegt zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr; zwei Drittel der MS-Erkrankten sind Frauen.
Gesunde Nervenbahnen sind – einem Kabel vergleichbar – von einer Isolierschicht umhüllt und geschützt, die als Myelin bezeichnet wird. Bei dieser sog. Myelinschicht (auch Markscheide oder Nervenscheide genannt) handelt es sich um eine Schicht aus Fett und Eiweiß.
Bei der MS wird diese Schicht aufgrund einer Fehlreaktion des Immunsystems angegriffen oder zerstört, so dass die einzelnen Nervensignale nur noch verlangsamt bzw. überhaupt nicht mehr weitergegeben werden können. Auch ganze Nervenbahnen können davon betroffen sein. Man spricht hierbei von einer sog. Demyelinisation (= Entmarkung) der Axonen (= Nervenfasern), die an ganz unterschiedlichen („multiplen“) Stellen auftreten kann und zur Entstehung einer verhärteten (sklero [griech.] = hart), narbenartigen Gewebeschicht führt. Dieses Gewebe ist nicht mehr imstande, die elektrischen Nervensignale weiterzuleiten.
Da die Vernarbungen bei jedem Erkrankten anders auftreten, sind auch die Beschwerdebilder ganz unterschiedlich („1.000 Gesichter der MS“, „MS – das Chamäleon der neurologischen Erkrankungen“). Sie äußern sich z. B. in Seh-, Sprach-, Bewegungs-, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Blasen- und Darmstörungen, extremer Müdigkeit und Energielosigkeit, Taubheitsgefühlen, spastischer Versteifung und Lähmung sowie auch kognitiven Störungen.
Bei der MS geht man von drei grundsätzlich zu unterscheidenden Krankheitsverläufen aus: Bei einer schubförmigen MS (Erscheinungshäufigkeit ca. 40 %) treten ein oder mehrere neurologische Symptome nur kurzzeitig auf, d. h. sie klingen bereits nach wenigen Tagen wieder (fast) vollständig ab. Bei einem sekundär-fortschreitenden Krankheitsverlauf (Erscheinungshäufigkeit ebenfalls ca. 40 %) entwickelt ein Großteil der Patienten mit einer schubförmigen MS in einem Zeitraum von zehn bis 15 Jahren kontinuierlich zunehmende Beeinträchtigungen. Im Unterschied dazu ist die primär fortschreitende Verlaufsform, bei der sich die auftretenden neurologischen Symptome nicht mehr zurückbilden, eher selten. Es treten auch Mischformen dieser Grundformen der Erkrankung auf.
MS-bedingte Beschwerden können zu bleibenden Behinderungen führen. Es ist damit allerdings keineswegs so, dass MS-Erkrankte per se als schwerbehinderte Menschen gelten.
In Anlehnung an die UN-Behindertenrechtskonvention (seit dem 26. März 2009 geltendes deutsches Recht) definiert das Gesetz den Behindertenbegriff mit Inkrafttreten der 2. Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in § 2 Abs. 1 des Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX)1 seit dem 1. Januar 2018 wie folgt:
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“
Neben den bisherigen Voraussetzungen:
muss nun auch noch
Demnach entsteht eine Behinderung dadurch, dass ein Mensch mit einer körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigung auf materielle oder soziale Barrieren in seiner Umwelt stößt.
HINWEIS: | Die jetzige Begriffsbestimmung rückt somit das Ziel der Teilhabe an den verschiedenen Lebensbereichen („am normalen Leben“) in den Vordergrund. |
Die Feststellung der Behinderung richtet sich nach den bundesweit einheitlichen "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen"2. Diese bestehen zu einem wesentlichen Teil aus einer Liste von medizinischen Befunden und Grunderkrankungen, denen abhängig von Auswirkungen und Schwere der Beeinträchtigungen ein sog. Anhaltswert für den Grad der Behinderung (GdB) oder Grad der Schädigungsfolgen (GdS)3 zugewiesen wird.
Entscheidend ist eine Gesamtschau, die auch berücksichtigt, wie weit die Beeinträchtigung(-en) die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft einschränkt/einschränken.
Bei Multipler Sklerose richtet sich der GdB seit dem 1. Januar 2009
„vor allem nach den zerebralen und spinalen Ausfallerscheinungen. Zusätzlich ist die aus dem klinischen Verlauf sich ergebende Krankheitsaktivität zu berücksichtigen.“4
WICHTIG: | Entscheidend für die Feststellung des GdB ist nicht die getroffene Diagnose, sondern allein das Ausmaß der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen. |
Der GdB wird jeweils in Zehnergraden von 10 bis maximal 100 eingeteilt, § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX.
Liegen neben der MS-Erkrankung weitere Gesundheitsstörungen und Funktionsbeeinträchtigungen vor, wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Dabei wird der höchste Einzel-GdB als Richtwert herangezogen. Im Bezug darauf wird geprüft, ob die anderen Beeinträchtigungen dessen Auswirkungen erhöhen.
WICHTIG: | Die Gesamtbeurteilung erfolgt also nicht durch eine schlichte Addition der Einzelgrade! |
Die so bemessene Schwere der Behinderung führt ab einem (Gesamt-)Behinderungsgrad von wenigstens 50 zur Feststellung der Schwerbehinderung und zur Erteilung eines Schwerbehindertenausweises, denn nach § 2 Abs. 2 SGB IX gilt unverändert:
„Menschen sind im Sinne des Teils 3 (SGB IX) schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.“
Zur Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen wird ab einem GdB von wenigstens 20 eine Feststellung getroffen6 und eine Bescheinigung (z. B. für einen Steuerfreibetrag) ausgestellt.
Auf Antrag stellt die Feststellungsbehörde auch gesundheitliche Merkmale, sog. Merkzeichen7, für die Inanspruchnahme besonderer sog. Nachteilsausgleiche8 fest.
1 Zuvor lautete § 2 Abs. 1 SGB IX wie folgt: Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
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