Manche sehen Narben und denken an Wunden. Für mich aber sind Narben der Beweis dafür, dass es Heilen gibt.

Linda Hogan, Sonnenstaub

Antje Babendererde

Die Suche

Kriminalroman

Ausgabe des Thunder Bay Observer vom 26. Juni 2004

Indianerlager in der Wildnis entdeckt

Nachdem ein vermisster neunjähriger Indianerjunge aus dem Dog Lake Reservat nach zwei Wochen unversehrt wieder aufgetaucht war, gelangte das Gerücht von einem traditionellen Indianerlager am Jellicoe Lake bis ins Police Department von Thunder Bay. Daraufhin durchsuchte eine Spezialeinheit der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) das genannte Gebiet.

Tatsächlich stießen die Beamten auf ein Zeltlager mit rund 50 Männern, Frauen und Kindern. Menschen, die der Zivilisation den Rücken gekehrt haben, um im Einklang mit der Natur zu leben. Sie haben sich der Vergangenheit zugewandt, um einen Weg in die Zukunft zu suchen.

Das Areal, in dem sich die Aussteiger niedergelassen haben, steht seit einiger Zeit im Mittelpunkt eines Rechtstreites zwischen Ureinwohnern und der Provinzregierung, die das Land zur Abholzung durch die Shimada Paper Company freigegeben hatte.

Inzwischen sind neue Verhandlungen angesetzt worden, die die Landrechtsfrage am Jellicoe Lake klären sollen. Walter Katz, der Anwalt der Dog Lake Cree, wird die Rechte der Waldbewohner vor Gericht vertreten. Die Aussteiger, die aus verschiedenen Reservaten der Umgegend stammen, behaupten, nach dem Aboriginal Title rechtmäßige Besitzer des Landes zu sein und beharren auf ihrem Recht, dort leben und jagen zu dürfen.

Die Jugendbehörde ist eingeschaltet, weil sich im Zeltlager auch Kinder im schulpflichtigen Alter befinden. Der Sprecher des Dorfes, Tommy Tahanee, ist bereit, mit den Behörden über den Bau einer Schule am Jellicoe Lake zu verhandeln. Den Vorschlag, die Kinder in Internaten unterzubringen, lehnte er jedoch strikt ab.

Eine Untersuchung des Gesundheitsdienstes ergab, dass sich sämtliche Mitglieder des kleinen Indianerstammes bester Gesundheit erfreuten.

Das Gerücht, unter den traditionell lebenden Waldbewohnern würden sich auch polizeilich gesuchte Straftäter aufhalten, konnte die RCMP nicht bestätigen.

1.

Ein hoher Schreckenslaut kam aus Canyons Kehle, als sie auf dem moosbewachsenen Stein ausglitt und beinahe in einer schwarzen Wildsuhle gelandet wäre.

Der junge Constable packte sie geistesgegenwärtig am Arm. „Vorsicht, Miss Toshiro! Ist verdammt rutschig hier.“ Er bemühte sich, ein Lächeln zu verbergen, allerdings ohne Erfolg.

„Kein Wort über meine Schuhe“, sagte Canyon, als sie wieder sicher stand.

Der Polizist presste grinsend die Lippen zusammen und sie ließ es ihm durchgehen. Für eine derartige Expedition war sie nicht ausgerüstet. Sie trug leichte, beigefarbene Slipper und die Nässe drang durch das dünne Leder. Als sie vor zwei Stunden in Thunder Bay losgefahren war, war es sommerlich warm gewesen und die Straßen trocken. Doch hier, hundertfünfzig Kilometer weiter nördlich, in einer Wildnis, die zu einem Indianerreservat gehörte, gab es nicht einmal Straßen im herkömmlichen Sinne.

Nachdem Canyon den schnurgeraden Highway verlassen hatte, war sie eine Schotterpiste gefahren und dann auf eine breite, ausgefahrene Rinne voller Wasserlöcher abgebogen. Noch vor einer Woche hatte es Nachtfrost gegeben, obwohl es schon Anfang Juni war. In diesem Winkel der kanadischen Provinz Ontario, am Nordrand der Großen Seen, gab der Frühling meist nur ein kurzes Gastspiel. Es war schlagartig heiß geworden und die sommerlichen Temperaturen lockten die ersten Plagegeister aus ihren Verstecken.

Misstrauisch beobachtete Canyon winzige schwarze Tierchen mit weißen Flügeln und Beinen, die sich auf ihren Armen niederließen. Die blutrünstigen Schwarzfliegen bissen erbarmungslos zu, wo immer sie ein Stück nackte Haut erwischen konnten. Wütend schlug Canyon nach ihnen. Dabei rutschte sie erneut und klammerte sich an der Uniform des sommersprossigen Polizisten fest, dessen Namen sie vergessen hatte.

„Hoppla!“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Wo ist er denn nun?“, fragte Canyon ungeduldig. Sie und ihre Kollegin Sarah Wilson hatten bereits Dienstschluss gehabt, als ihr Vorgesetzter ins Büro gekommen war und sie angewiesen hatte, noch raus in ein Indianerreservat zu fahren. Der Fall sei dringend.

Sarah hatte ihren 15. Hochzeitstag, und kein noch so dringender Fall hätte sie davon abbringen können, das geplante Abendessen mit ihrem Mann Charlie im „Harrington Court“ sausen zu lassen. Also hatte sich Canyon allein auf den Weg gemacht, und war nach einer endlos scheinenden Fahrt nicht wie erwartet in einem Indianerdorf, sondern in einer summenden, feuchtwarmen Wildnis gelandet.

Der Polizeibeamte wies auf drei Männer, zwei Indianer und einen Weißen im Anzug, die etwas abseits vor der riesigen Wurzel eines umgestürzten Baumes standen und miteinander sprachen. „Dort drüben bei den anderen, Miss. Der Große im Holzfällerhemd. Er ist Lehrer an der High School von Nipigon und lebt mit seinem Sohn in Dog Lake. Auf dem Weg hierher sind Sie an der Siedlung vorbeigekommen.“

Canyon erinnerte sich, hinter einer Wegbiegung drei oder vier Holzhäuser gesehen zu haben. An einem Abzweig der Schotterstraße hatte dieser milchgesichtige Constable gewartet, um sie zu den anderen zu führen. Mit Hausnummern und Wegbeschreibungen käme man hier draußen nicht weit, hatte Sarah sie vorgewarnt.

„Danke“, sagte sie. Der Polizist nickte und blieb stehen. Sie ging auf die Männer zu, die ihr Gespräch unterbrachen und ihr entgegensahen. Ein schwarzer, argwöhnischer Blick traf Canyon, der sie einen Moment zögern ließ. Sie atmete tief durch und setzte ihren Weg über den feuchten Waldboden fort.

Die beiden Indianer musterten sie wie ein Fabeltier. Natürlich war Canyon klar, was für ein Bild sie in ihren winzigen Schuhen, der weißen Bluse und dem knielangen cremefarbenen Rock hier in der Wildnis abgeben musste. Das war auch nicht ihre übliche Dienstkleidung, doch am Vormittag hatte sie einen Gerichtstermin gehabt und dort wurde von den Mitarbeitern des Jugendamtes angemessene Kleidung erwartet. Als Canyon sich am Morgen für dieses helle Kostüm und die flachen Schuhe entschieden hatte, konnte sie nicht ahnen, in welche unwirtliche Gegend es sie an diesem Tag noch verschlagen sollte. Es war ihr erster Fall außerhalb der Stadt.

„Canyon Toshiro“, stellte sie sich vor und setzte allen Unbilden zum Trotz ein freundliches Lächeln auf. „Ich bin vom Jugendamt in Thunder Bay. Man hat mich hergeschickt, weil ein Junge verschwunden ist.“

Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, bemerkte sie ein kurzes, verwundertes Aufflackern in den Blicken der beiden Indianer, das jedoch schnell wieder verlosch.

„Lange nicht gesehen, Miss Toshiro“, begrüßte sie Inspektor Harding vom Thunder Bay Police Department, mit dem sie schon in anderen Fällen zu tun gehabt hatte. Auch er war unpassend gekleidet, allerdings auf andere Art. In den billigen Anzügen, die er stets trug, und seinen geschmacklosen bunten Krawatten, fiel er sogar in der Stadt auf, doch hier draußen wirkte seine Erscheinung grotesk.

Harding war ein untersetzter Mann mit zu langen kräftigen Armen, braunem Haar und einem Gesicht, das den Eindruck von einem Neandertaler noch verstärkte: eine breite Nase, wulstige dunkle Augenbrauen und ein tiefer Haaransatz. Einige Mitarbeiter des Jugendamtes behaupteten, er könne sich in den Kniekehlen kratzen, ohne sich zu bücken.

Canyon mochte die kühle, abschätzende Art des Inspektors nicht, die er niemals abzulegen schien. Alles an ihm war Routine, sogar sein Mitgefühl. Aber sie war auf die Zusammenarbeit mit ihm angewiesen, also versuchte sie, ihn ihre Abneigung nicht spüren zu lassen.

Harding schüttelte ihr die Hand und stellte ihr die beiden anderen Männer vor. „Constable Miles Kirby von der Dog Lake Stammespolizei und Mr Jem Soonias, er ist der Vater des vermissten Jungen.“

Der hochgewachsene Indianer mit Pferdeschwanz und finsterer Miene reichte ihr nicht die Hand, obwohl sie ihm ihre entgegenstreckte. Mit verächtlichem Blick starrte er auf ihre Dienstmarke, die sie noch schnell an ihre Bluse gesteckt hatte, bevor sie aus dem Wagen gestiegen war.

Canyon ging darüber hinweg, denn diese Art Unhöflichkeit war sie gewohnt. In ihrem Beruf als Sozialarbeiterin hatte sie lernen müssen, mit Zurückweisung zurechtzukommen. Mitarbeiter des Jugendamtes wurden von den betroffenen Eltern selten herzlich empfangen. Ihr Erscheinen war Vorwurf genug und auf Sympathiebekundungen durfte sie nicht hoffen. Allerdings beschlich sie sofort das ungute Gefühl, dass sich hinter Jem Soonias Unhöflichkeit noch mehr verbarg. Ein lang angestauter Groll vielleicht. Besser, sie war auf der Hut.

Mit einem freundlichen Kopfnicken wandte Canyon sich dem indianischen Polizisten zu und begrüßte ihn. Kirby trug Uniform und unter den Achseln seines Hemdes hatten sich dunkle Flecken gebildet. Sie schätzte ihn auf Anfang oder Mitte vierzig. Er hatte kurzes schwarzes Haar und ein offenes, sympathisches Gesicht mit dunkelbraunen Augen. Constable Kirby würde ihr gewiss helfen, sollte der Vater des verschwundenen Jungen beschlossen haben, sie als Feindin zu betrachten.

Während Harding sie kurz aufklärte, musterte Canyon Jem Soonias verstohlen. Der Indianer mochte Mitte dreißig sein und trug die typische Kleidung der Männer, die in der Wildnis zu Hause waren: Jeans, ausgetretene Trekkingstiefel und ein rot-schwarzes Holzfällerhemd. Nicht der neueste Schrei, aber hier draußen allemal praktischer als das, was sie selbst am Leibe trug. Soonias stand unbeweglich wie ein Baum in der Landschaft und sein Gesichtsausdruck war immer noch unnachgiebig und verschlossen.

Der Inspektor räusperte sich. „Am besten, Sie lassen sich von Mr Soonias selbst erzählen, was passiert ist, Miss Toshiro. Meine Beamten haben die Gegend abgesucht und keinen Hinweis darauf gefunden, was mit dem Jungen geschehen sein könnte. Unser Spürhund ist auch nicht weitergekommen. Zuerst haben wir gedacht, Stevie wäre vielleicht in den Wald gelaufen und hat sich verirrt. Aber dann hätte die Hündin seine Spur gefunden. Sie ist eine unserer Besten.“

„Was ist mit Reifenspuren?“, erkundigte sich Canyon.

Harding schüttelte den Kopf. „Sehen Sie sich doch um! Wer weiß, wie viele Wagen heute schon durch diesen Schlamm gefahren sind. Unsereins kommt die Gegend ziemlich abgelegen vor, aber für die Leute aus dem Reservat ist der Wald die Vorratskammer. Constable Kirby sagt, sie sammeln hier Holz und irgendwelche Pflanzen.“ Er hob die Schultern. „Wenn die Kollegen den See abgesucht haben, gibt es hier für uns erst einmal nichts weiter zu tun.“ Der Inspektor gab dem indianischen Beamten einen Wink, dass er ihm folgen sollte.

Canyon trat von einem Bein auf das andere, um nicht im aufgeweichten Waldboden zu versinken. Ihre teuren Schuhe waren längst ruiniert.

„Steven hat also zuletzt hier gespielt“, wandte sie sich an den Vater des vermissten Jungen und versuchte, dabei nicht vorwurfsvoll zu klingen. Objektivität, Sachlichkeit, Gelassenheit, die drei obersten Regeln in ihrem Beruf.

Wenn man so wenig über einen Fall und seine Beteiligten informiert war, wie sie in diesem Moment, dann war es besser, sich neutral zu verhalten und den Eltern nicht gleich mit verletzter Aufsichtspflicht zu drohen. Von Robert Lee Turner, ihrem Chef, hatte sie nur erfahren, dass ein neunjähriger Indianerjunge verschwunden war. Es gab eine Akte über Jem Soonias und seinem Sohn, doch Canyon hatte keine Zeit gehabt, sie einzusehen, denn Robert Lee hatte sie unverzüglich losgeschickt.

„Sein Name ist Stevie, Miss“, korrigierte sie der Indianer. „Und er spielt immer hier.“

Canyon sah sich um und versuchte herauszufinden, was ein Junge von neun Jahren alleine hier draußen spielen konnte. Vor ihnen lag dieser kleine See, dessen Wasser grün von Algen war. Sonnenstrahlen warfen winzige funkelnde Lichtpunkte auf seine glatte Oberfläche, über die schillernde Libellen im Zickzackflug glitten. Wasser zog Kinder magisch an, das war kein Geheimnis. Aber Dog Lake, die Siedlung, in der Stevie mit seinem Vater lebte, lag an einem großen See, das hatte sie auf der Karte gesehen. Der Junge hatte das Wasser vor seiner Haustür und hätte nicht erst hierher kommen müssen, um geschnitzte Rindenboote auf ihre Tauglichkeit zu testen oder eine selbstgebaute Angel auszuwerfen.

Canyons Blick machte einen Bogen. Es war ein sonniger, warmer Tag gewesen, trotzdem glitzerte noch Feuchtigkeit in den Gräsern, Moosen und Flechten am Boden. Sie sah beige, feinverzweigte Gebilde wie Kugeln aus Schaum. Weinrote Moose, durch deren Geflecht sich die ersten Blätter von Orchideen schoben. Ein Birkenwäldchen verdeckte zur Hälfte den umgestürzten Baumriesen, dessen Wurzeln wie Arme von Waldgeistern in die Höhe ragten.

Dahinter begann lichtlose Wildnis. Schwarzfichten, Douglas- und Hemlocktannen mit graugrünen Gespinsten in den Zweigen, die wie Bärte alter Männer aussahen. Ein Gebiet, in das keine Wege führten, zumindest keine sichtbaren. Ein Ort voller Geheimnisse und Magie. Canyon durchforschte ihr Gedächtnis: Wie war es, neun Jahre alt zu sein?

In diesem Alter hatte man schon eine Menge gehört und gesehen und sich seine Gedanken darüber gemacht. Die Phantasie war stark ausgeprägt, aber in der Regel siegte die natürliche, noch nicht durch Erfahrung getrübte Neugier.

Canyon erinnerte sich, wie sehr sie sich als Kind davor gefürchtet hatte, allein zu sein, obwohl ihre Welt damals noch in Ordnung gewesen war. Stevie dagegen hatte es nichts ausgemacht, hier draußen alleine zu spielen. Offenbar war er mit der Wildnis vertraut und fürchtete sich nicht vor ihren Bewohnern. Doch nun war er verschwunden.

„Sie haben Ihren Sohn hier spielen lassen, Mr Soonias? Ganz allein? Wir sind fast zwei Kilometer vom Dorf entfernt!“ Ihre Stimme war schärfer geworden, eindringlicher. Jetzt wollte sie vorwurfsvoll klingen, um ihn aus der Reserve zu locken. Sie sah ihn an, aber sein Blick blieb unergründlich. Er war auf der Hut - genauso wie sie.

„Er kam mit dem Rad hierher. Hinter der Wurzel hat er sich eine Höhle gebaut.“ Der Indianer antwortete nur widerwillig. Sie ging ihm auf die Nerven, das versuchte er gar nicht erst zu verheimlichen. Doch seine Abneigung galt nicht nur ihren unangenehmen Fragen. Canyon vermutete, dass mehr dahintersteckte. Vielleicht irgendetwas, dass sie wissen sollte, bevor sie schärfere Geschütze auffuhr.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es ist noch nicht mal acht. Vielleicht hat er ja mit seinen Freunden die Zeit vertrödelt. Sie wissen doch, wie Kinder sind.“

„Mein Sohn ist ein sehr zuverlässiger Junge“, erwiderte Soonias. „Ich musste mir noch nie Sorgen machen, weil er nicht nach Hause kam. Wir wollten heute Nachmittag zusammen ins Kino gehen. Das hätte er auf keinen Fall versäumt.“

„Kino?“, entfuhr es Canyon verwundert. Als sie Soonias ärgerlichen Blick sah, schluckte sie.

Wie Jem diese versteckte Art von Überheblichkeit hasste. Als wären die kanadischen Ureinwohner in den Reservaten arme Wilde, an denen der Fortschritt vorübergegangen war und die deshalb noch in einer Art Steinzeit lebten. Aber er war zu durcheinander, um mit dieser Frau aus der Stadt über Vorurteile zu diskutieren. Was sie über Indianer dachte, interessierte ihn nicht. Er wollte nur seinen Sohn wiederhaben. Deshalb rang er sich eine Erklärung ab.

„Im Kulturzentrum von Red Rock läuft Die Mumie II. In den Sommerferien gibt es dort manchmal Kinovorstellungen.“

„Verstehe.“ Canyon nickte lächelnd. „Sie sagten, Stevie wäre mit dem Fahrrad hierhergekommen. Haben Sie oder die Polizei es gefunden?“

Jem schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht.“ Canyons Blick folgte seinem und wanderte hinüber zum See, wo Polizisten in einem Schlauchboot dabei waren, mit Stangen den Grund nach Stevie und seinem Fahrrad abzusuchen. Der See war flach, höchstens anderthalb Meter tief. Bis auf einen dunkelgrünen Fleck in der Mitte, wo Algen wuchsen, konnte man überall den sandig gelben Boden sehen.

„Was denken Sie, Mr Soonias?“

„Dass die Männer nichts finden werden“, antwortete er schroff.

Vermutlich war es sinnlos, Jem Soonias zu fragen, weshalb er so sicher war. Der Indianer konnte oder wollte ihr nicht in die Augen sehen und auch nicht mit ihr reden. Er ließ sich nicht aus der Reserve locken und sagte kaum mehr, als unbedingt nötig war. Lag es nur daran, dass sie Mitarbeiterin des Jugendamtes war, oder hatte Soonias etwas zu verbergen?

Canyon war keine Anfängerin mehr, doch in diesem Fall schien ihre Intuition sie im Stich zu lassen.

„Können wir zu Ihnen nach Hause fahren?“, bat sie. „Ich würde mir gerne Stevies Zimmer ansehen und Ihnen gleich noch ein paar Fragen stellen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden.“

Als einziges Zeichen seiner Zustimmung stiefelte Soonias los, dorthin, wo die Wagen auf einer Lichtung geparkt waren. Canyon folgte ihm. Morastiges Wasser drang in ihre Schuhe und verursachte beim Gehen schmatzende Geräusche. Als der Indianer schließlich stehen blieb, sah sie sich kurz um. Außer den beiden Polizeifahrzeugen und ihrem Dienstwagen konnte sie kein weiteres Auto entdecken.

„Miles Kirby hat mich mit hier rausgenommen“, sagte Soonias, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Ich kann auch laufen, wenn Sie Angst haben, mit mir in einem Wagen zu sitzen.“

So ein Idiot! Plötzlich hatte Canyon ein klammes Gefühl in der Kehle. Sie fasste nach dem Türgriff auf der Fahrerseite ihres Dienstwagens und musterte Soonias schlammverschmierte Halbstiefel. Schließlich stieg sie ein und öffnete ihm die Beifahrertür. Sie startete den Motor und manövrierte den kirschroten Toyota durch Wasserlöcher und über Wurzeln in Richtung Schotterstraße. Der Wagen würde eine gründliche Reinigung brauchen, wenn sie erst wieder in Thunder Bay war. Und sie selbst auch. Canyon schwitzte und hoffte, dass ihr verstockter Fahrgast keine allzu feine Nase hatte.

Soonias musste den Kopf einziehen, um nicht an die Decke des Toyotas zu stoßen, wenn Canyon durch die Löcher holperte. Er schien ins Grübeln versunken. Schwer zu ahnen, was er eigentlich dachte.

Dranbleiben, Canyon. Versuch, sein Vertrauen zu gewinnen. „Sie erziehen den Jungen allein?“

Jem Soonias blickte stur geradeaus, doch sie bekam eine Antwort. „Stevies Mutter starb bei seiner Geburt. Fruchtwasserembolie. Aber das wissen Sie doch längst alles. Damals wollte das Jugendamt mir meinen Sohn wegnehmen, weil ich mit seiner Mutter nicht verheiratet war. Ich habe einen Krieg gegen Ihre Behörde geführt.“

Das ist es also, schoss es Canyon durch den Kopf. Daher diese unverhohlene Abneigung. „Und Sie haben gewonnen“, stellte sie fest.

Sie dachte an die Akte Soonias, die Robert Lee auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Manchmal war es von Vorteil, genau über alles Bescheid zu wissen und manchmal war es besser, unvoreingenommen an eine Sache heranzugehen. Objektivität beruhte auf Fakten. In diesem Fall hätte sie gerne mehr gewusst, aber das musste nun warten, bis sie wieder in ihrem Büro war.

„Ich habe meinen eigenen Sohn adoptiert.“

Canyon wollte ihm sagen, dass sie erst seit anderthalb Jahren im Jugendamt von Thunder Bay arbeitete und daher nichts über die alte Geschichte wissen konnte. Aber sie ließ es bleiben, als sie sein verschlossenes Gesicht sah. Halbseidene Zugeständnisse würden diesem Mann keine Sympathie entlocken. Da müsste schon ein Wunder geschehen. Und Canyon Toshiro glaubte seit langer Zeit nicht mehr an Wunder.

2.

Nach wenigen Minuten erreichten sie die Indianersiedlung am Dog Lake, die größer war, als Canyon zuerst angenommen hatte. Es war eine Ansammlung von rund dreißig Holzhäusern in pastellfarbenem Einheitsanstrich, verstreut zwischen Bäumen und zerzausten Sträuchern, die langsam grün wurden. Windschiefe Bretterschuppen klebten an den Häuserwänden, alte Autos standen davor und hier und da rostete ein Skidoo, ein Motorschlitten, vor sich hin. Zwischendrin bunte Wäschestücke, die zum Trocknen auf der Leine hingen und Stangengerüste, auf denen Fisch dörrte.

Neben einem der Häuser stand ein großes, mit ausgebleichtem Segeltuch bespanntes Tipi, das mit stilisierten Tierfiguren bemalt war und sie daran erinnerte, wo sie sich befand.

Auf dem Dorfplatz gab es einen kleinen Gemischtwarenladen auf dem Dorfplatz, der sich „Pinkies Store“ nannte. Es war ein einfaches Holzhaus mit vergitterten Fenstern, von dessen Bretterwänden die weiße Farbe blätterte. Ein holpriger Bohlensteg führte zum Eingang, Schilder mit Pepsi- und Eiscremewerbung prangten über der offenen Tür. Die dunkle Erde auf dem Dorfplatz war aufgeweicht und schlammig, aber über den Steg kam man vom Ufer des Sees trockenen Fußes bis zum Laden. Dunkelhäutige Kinder saßen auf den Stufen vor dem Eingang, leckten Eis am Stiel und gestikulierten lachend. Ihre bunten Fahrräder hatten sie achtlos im Morast liegengelassen.

Vielleicht war Stevie da drinnen und kaufte sich gerade ein Eis. Vielleicht hatte er vergessen, dass sein Vater mit ihm ins Kino gehen wollte. Canyon bremste und stellte den Motor ab. Sie machte Anstalten auszusteigen, um die Kinder nach dem Jungen zu fragen. Doch Jem Soonias hielt sie mit festem Griff am Arm zurück.

„Die Mühe können Sie sich sparen, Miss“, sagte er. „Ich habe bereits überall in der Siedlung herumgefragt. Stevie ist nicht hier. Glauben Sie mir, ich hätte die Polizei nicht herbemüht, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass etwas nicht stimmt.“

Er zeigte auf ein Holzhaus am Waldrand mit weißen Fensterrahmen und Dachrändern, das sich durch seinen kräftig gelben Anstrich von den anderen Häusern unterschied. „Dort hinten wohnen wir.“

Sein energischer Griff war Canyon unangenehm und sie war erleichtert, als er sie wieder losließ. Schon spürte sie dieses unangenehme Kribbeln unter der Haut, dort, wo er sie berührt hattee. Sie brachte den Toyota neben einem schlammbespritzten Jeep Cherokee mit Pseudoholzleisten zum Stehen und wandte Jem ihr Gesicht zu. „Sind Sie verheiratet, Mr Soonias?“

„Nein“, antwortete er unwirsch. Die Gereiztheit war wieder da.

Jem stieg aus, schlug die Wagentür zu und betrat die Stufen zum Hauseingang. Canyon bemerkte, dass er auf ihrem Blazer gesessen hatte, der jetzt zerknittert auf dem Beifahrersitz lag. Sie holte ihre Tasche vom Rücksitz und folgte dem Indianer über die Treppe aus Holzbohlen zur Tür. Mit einer Hand hielt sie sich am abgegriffenen Geländer fest. Jem Soonias offene Ablehnung verunsicherte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie fühlte sich unwohl, konnte aber das Indianerdorf nicht verlassen, bevor sie ihre Aufgabe erledigt hatte. Sonst würde Robert Lee sie noch einmal hierher schicken und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.

„Haben Sie eine Partnerin, Mr Soonias? Jemanden, der bei Stevie in den vergangenen Jahren die Mutterrolle übernommen hat?“

Jem wandte sich um und betrachtete Canyon von oben herab. Er blinzelte gegen das Licht der Abendsonne.

„Das geht Sie nichts an, Miss Toshiro“, sagte er. „Ich habe die Polizei verständigt, weil mein Sohn verschwunden ist. Und was passiert: Man hetzt mir das Jugendamt auf den Hals.“ Unbewusst drohte er ihr mit der Faust. „Ich bin Lehrer, verdammt noch mal. Ich arbeite mit Kindern und lasse sie nicht verschwinden.“ Er wandte sich um, klappte das Fliegengitter zurück und öffnete die Tür, die in der Regel unverschlossen blieb.

„Lassen Sie Ihr Haus immer offen stehen?“

Jem war kurz davor, Canyon mit harten Worten zum Schweigen zu bringen, oder schlimmer noch, ihr unmissverständlich klarzumachen, wie dämlich er sie fand. Aus ihrem Mund waren bisher nur Fragen gekommen, die zugleich auch Vorwürfe waren. Er bückte sich und zog seine Halbstiefel aus. Nutzte die Zeit, um seinen Zorn zu bändigen.

„Hat diese Frage auch etwas mit Stevies Verschwinden zu tun?“

„Ja“, meinte sie. „Irgendwie schon.“

Jem seufzte. „Aber er ist da draußen verschwunden und nicht aus diesem Haus entführt worden.“ Seine Geduld war am Ende und er wurde von einer tiefen Niedergeschlagenheit erfasst. Jem hatte dieser Frau und ihren Fragen nichts mehr entgegenzusetzen.

„Sie glauben, er wurde entführt?“

Er hob die Arme zu einer ratlosen Geste. „Eine andere Erklärung habe ich nicht. Stevie war am Vormittag draußen in seiner Höhle, zumindest hat er mir das so gesagt. Er sollte gegen 12 Uhr zu Hause sein, wir wollten zusammen bei meinen Eltern essen. Um 14 Uhr hätte die Kinovorstellung begonnen.“

Die Tür zu Stevies Zimmer stand offen. Er ging hinein und knipste das Licht an. „Als Stevie um 14 Uhr immer noch nicht zu Hause war, fing ich an mir Sorgen zu machen und bin raus zur Höhle gefahren. Ich habe überall nach ihm gesucht, aber er war nicht da. Nirgends. Sein Fahrrad auch nicht. Da habe ich Miles Kirby in seiner Dienststelle in Nipigon angerufen.“

„Und Sie haben nicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, dass Ihr Sohn sich verlaufen haben könnte?“

„Natürlich habe ich daran gedacht. Aber Stevie kennt sich bestens aus da draußen. Er hat sich noch nie verlaufen. Und er hätte wohl kaum sein Fahrrad mit in den Busch genommen.“

Canyon nickte, als würde sie ihm mit dieser Überlegung recht geben. Auch sie schlüpfte aus ihren Schuhen, doch als sie feststellte, dass ihre Füße schwärzer waren als die Sohlen ihrer Slipper, zog sie sie schnell wieder an. Wenn alles nicht so furchtbar gewesen wäre, hätte Jem darüber lachen können.

Canyon war schon in unzähligen Kinderzimmern gewesen und die meisten hatten eines gemein: Die kreative Unordnung, mit der Kinder ihr eigenes Reich zu verzaubern wussten. Stevies Zimmer war eine Räuberhöhle und sein Sinn für Ordnung entsprach dem eines normalen neunjährigen Jungen. Kleidungsstücke lagen wahllos verstreut auf zwei Stühlen und auf dem Bett an der Wand.

Auf dem Bett, das zur Hälfte von einem bunten Star-Quilt bedeckt war, lagen auch noch andere Sachen: verschieden große, seltsam geformte Steine, ein Vogelnest, gefüllt mit schillernden Glasmurmeln und ein Paar neue Turnschuhe. Unter dem Kopfkissen lugte der gestreifte Schwanz eines Plüschwaschbären hervor.

Die übrige Einrichtung des Zimmers bestand aus einem abgeschabten Sessel, einem Bücherregal und einem Kleiderschrank, der offen stand. Das Chaos in seinem Inneren war Canyon kein ungewohnter Anblick. Sie lächelte in sich hinein. Wenn Jem Soonias davon überzeugt sein sollte, dass die Unordnung im Kinderzimmer ihm Minuspunkte als Vater einbringen würde, so irrte er. Dies war ein reiner Männerhaushalt, der gut funktionierte, das würde sie in ihrem Bericht berücksichtigen.

Und doch war das Zimmer dieses Jungen anders als jene, die sie bisher gesehen hatte. Keine Plakate mit Popstars an den Wänden, keine Konterfeis von Baseballhelden. Dafür eine große Landkarte der Provinz Ontario, auf der einige Gebiete mit einem Rotstift besonders hervorgehoben waren. Nirgendwo Kriegsspielzeug aus Plastik, kein Nintendo. Dafür waren Stevies Schreibtisch und das Regal darüber angefüllt mit Dingen, die jede Mutter zur Verzweiflung getrieben hätten und irgendwann dem Hausputz zum Opfer gefallen wären: ein Marmeladenglas mit vertrockneten Grillen und Schlangenhäute in den verschiedensten Stadien des Verfalls. Leere Hornissennester; runde, graue, papierartige Gebilde. Ein mumifizierter Frosch und Schädelknochen verschiedener Kleintiere. Von der Decke hingen selbstgebaute Fabeltiere aus Wurzeln, Steinen und Federn.

Ein merkwürdiger Bau aus zwei Stühlen und Holzstangen, darüber zwei dunkle Wolldecken gelegt, weckte Canyons Aufmerksamkeit.

„Stevies Höhle“, beantwortete Soonias ihre unausgesprochene Frage. „Er liebt Höhlen.“

Canyon versuchte, sich aus den spärlichen Sätzen des Mannes und dem, was sie sah, etwas zusammenzureimen. Stevie hatte draußen im Wald eine Höhle und er hatte eine in seinem Zimmer. Musste der Junge sich vor etwas verstecken? So wie sie sich mit zwölf im Kleiderschrank versteckt hatte, weil sie sich fürchtete? Warum liebte Stevie Soonias die Dunkelheit und das Alleinsein? Gab es irgendetwas, das falsch war an dem, was sie sah?

Canyon setzte sich auf das Bett des Jungen und betrachtete ein Foto auf seinem Nachtschrank, das ihn zusammen mit seinem Vater zeigte. Stevie lachte in die Kamera. Er war ein ausnehmend hübscher Junge mit feinen Gesichtszügen, ausdrucksvollen dunklen Augen und langem Haar, das ihm über die Schultern fiel. Sie wollte nach dem Bild greifen, um es sich genauer anzusehen, als plötzlich ein felliges Ungeheuer mit ärgerlichem Gezeter hinter dem Kopfkissen hervorschoss. Sie schrie erschrocken auf. Mit zusammengepressten Knien und angehobenen Füßen verharrte sie regungslos.

„Das war bloß Edgar, Stevies Waschbär“, bemerkte Soonias spöttisch. „Sie haben ihn bei seinem Nickerchen gestört.“

Hätte Canyon Jems Lächeln sehen können, hätte sie gewusst, dass er nicht so war, wie sie ihn einschätzte. Aber sie sah dem Tier nach, das mit erhobenem Schwanz beleidigt davonzog.

„Edgar Wallace?“, wollte sie wissen, nachdem sie ihre Füße wieder auf den Boden gesetzt und mit einem geübten Blick den Bücherstapel auf Stevies Nachtschrank inspiziert hatte.

„Nein, Edgar Allen Poe.

„Ist Stevie nicht noch ein bisschen jung für solche Lektüre?“

„Stevie liest eben andere Sachen als die meisten Jungen in seinem Alter.“ Er griff sich ein Buch aus dem Regal. „Sehen Sie: Hemingway.“

„Haben Sie ihm diese Bücher empfohlen?“

„Ich gebe Tipps, nichts weiter. Er liest, was ihn interessiert. Nipigon hat eine kleine Bibliothek.“

Weil Canyon inzwischen auch einen großen Stapel Comichefte auf dem Fußboden entdeckt hatte, und Spiele wie Scrabble und Monopoly, hielt sie Poe und Hemingway nicht mehr für besorgniserregend.

„Ist Stevie gut in der Schule?“

Jem zuckte die Achseln. „Seine Noten sind in Ordnung.“

„Hat er Pläne für die Zukunft?“

Jem Soonias bedachte sie mit gerunzelter Stirn. „Er ist erst neun.“

„In seinem Alter wollen Jungs Fußballstar werden oder Feuerwehrmann – etwas in der Art.“

„Stevie möchte Arzt werden“, sagte er. „Weil er verhindern will, dass Mütter sterben, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht haben.“

Canyon spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Auf Distanz bleiben. „Welche Fächer unterrichten Sie eigentlich, Mr Soonias?“, fragte sie so unbeirrt wie möglich.

„Englisch, Stammessprache und amerikanische Geschichte.“

„Macht Ihnen Ihr Beruf Freude?“

„Natürlich“, erwiderte Jem verwundert. „Sonst hätte ich mir längst einen anderen gesucht.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat diese Frage auch etwas mit Stevies Verschwinden zu tun?“

„Nein“, sagte sie. „Das hat mich persönlich interessiert.“ Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den Dorfplatz hinaus, wo ein paar Kinder mit Stöcken barfuß einem Ball hinterher jagten. Die Jungen und Mädchen waren von oben bis unten mit Schlamm bespritzt und schienen sich herrlich zu amüsieren. Ihr Lachen hörte sich gut an, irgendwie tröstlich. Eine bunte Hundemeute rannte ebenfalls dem Ball hinterher und begleitete das Spiel mit aufgeregtem Bellen.

„Was ist mit Freunden?“ Sie wandte sich um und strich sich eine Strähne ihres schulterlangen Haares aus der Stirn. „Hatte Stevie viele Freunde?“

Jems Gesicht wurde auf der Stelle wieder abweisend. „Was heißt hatte? Und wie kommen Sie darauf, dass er keine Freunde haben könnte?“

„Nun, Stevie fährt mit dem Rad fast zwei Kilometer, um in seinem eigenen Reich zu spielen, wo doch alle seine Altersgenossen hier auf dem Dorfplatz herumtoben.“

„Manchmal ist er lieber allein.“

„Ist Stevie beliebt bei den anderen Kindern? Hat er Feinde?“

„Feinde?“ Jem sah sie entgeistert an. „Wie kann ein neunjähriger Junge Feinde haben?“

Sie hob die Schultern. „Sich unbeliebt machen, ist ziemlich einfach.“

„Ich glaube nicht, dass Stevie Feinde hat. Mag sein, dass er ein wenig eigenbrötlerisch ist, aber mein Sohn ist ein freundlicher Junge und die anderen Kinder haben ihn immer mit Respekt behandelt. Jedenfalls hat er sich nie beschwert.“

Canyon betrachtete ihn von der Seite. Bring es hinter dich. „Sind Sie ein guter Vater, Mr Soonias?“

Jem schien einen Moment zu brauchen, um diese Frage zu verarbeiten. Sein Körper verspannte sich und seine schwarzen Augen funkelten zornig. „Warum sparen wir uns dieses Gespräch nicht einfach, Miss Toshiro, und Sie sagen mir, was Sie wirklich denken. Mein Sohn ist verschwunden und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist jemand, der mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben will. Glauben Sie, ich hätte Stevie vernachlässigt und er ist davongelaufen? Gibt es einen Verdacht gegen mich?“

„Das habe ich nicht gesagt“, verteidigte sie sich. „Aber wir müssen die Möglichkeit, dass er davongelaufen sein könnte, genauso in Betracht ziehen, wie alles andere.“

In den meisten Fällen waren Kinder, die als vermisst gemeldet wurden, von zu Hause weggelaufen. Manchmal waren die Gründe offensichtlich, manchmal aber auch nicht. Stevie war erst neun, deshalb schien Canyon diese Möglichkeit nicht sehr wahrscheinlich. Es sei denn, der Junge war vor etwas davongelaufen, dass ihn quälte und dass er nicht mehr ertragen konnte. Danach sah es zunächst einmal nicht aus, aber der Schein konnte trügen. Meist spürte Canyon sehr schnell, ob sie es mit einem Ausreißer zu tun hatte, oder ob ein Verbrechen vorlag. Anhand des Zimmers, des Fotos und Stevies persönlicher Sachen versuchte sie, die Gegenwart des Jungen zu erspüren. Doch diesmal versagte ihre Intuition. Dieser Fall war anders als alle, die sie bisher bearbeitet hatte.

„Und was gibt es Ihrer Meinung nach noch für Möglichkeiten?“, wollte Jem wissen.

Er war ihr unangenehm nahe gekommen und seine erneut aufkeimende Aggressivität hielt sie für ein schlechtes Zeichen. Canyon bekam Angst, dass er sich in seinem Zorn vergessen könnte. Gerne hätte sie sich auch noch die anderen Räume des Hauses angesehen, vor allem die Küche, hielt das aber im Augenblick für keinen guten Zeitpunkt.

Canyon wandte sich zum Gehen und mit einem letzten Rest Beherrschung in der Stimme fragte sie: „Gibt es da draußen wilde Tiere?“

Jem Soonias lachte kopfschüttelnd und diesmal war sein Lachen kalt und abweisend. Er folgte ihr durch den Flur. „Ja klar, Wölfe und Bären.“ Bevor Canyon die Haustür öffnen konnte, schnappte er sie am Arm und instinktiv versteifte sich ihr Körper. Die Stelle, an der er sie festhielt, begann zu kribbeln und wurde taub. Eine Fühllosigkeit, die sich auf ihren ganzen Körper auszubreiten drohte.

Canyon bereute es, den Mann so in die Enge getrieben zu haben. Das war eigentlich nicht ihre Art, denn mit solchen Situationen hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht.

Einmal, ganz zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jugendamt, hatte ein aufgebrachter Vater sie als Geisel genommen. Sie hatte den Mann im Gespräch verdächtigt, seine kleine Tochter krankenhausreif geprügelt zu haben. Er schloss Canyon im Badezimmer ein und drohte damit, sie nicht eher gehen zu lassen, bis man öffentlich seine Unschuld erklärte. Canyon war erst seit einem Monat beim Jugendamt angestellt und ihr fehlte die Erfahrung.

Robert Lee hatte den Forderungen des Mannes nachgegeben, weil er um Canyons Sicherheit fürchtete. Später hatte sich herausgestellt, dass der Mann seine siebenjährige Tochter über Jahre hinweg geschlagen hatte.

Seitdem war Canyon vorsichtiger geworden. Und misstrauisch war sie sowieso. Jems zorniges Gesicht näherte sich ihrem und sie wich zurück ins Dunkel des Flures.

„Kein wildes Tier hat Stevie etwas getan und ist danach mit seinem Fahrrad verschwunden“, sagte er mit gepresster Stimme. „Das ist einfach lächerlich.“

Plötzlich sprang die Haustür auf und Jem ließ Canyon abrupt los. Beinahe wäre sie gefallen, fing sich jedoch wieder. Licht drang in den Korridor und eine Frau stand vor ihnen, die ungefähr in Jems Alter sein musste. Mitte dreißig, schätzte Canyon, vielleicht auch ein oder zwei Jahre jünger.

Die Indianerin fixierte sie mit einem scharfen Blick kalter Neugier. Sie war groß, einen ganzen Kopf größer als Canyon. Die sinkende Sonne im Rücken, schien ihr langes schwarzes Haar wie von einer rötlichen Aura umgeben. Ihr Blick streifte Canyons Dienstmarke und ein feindseliger Ausdruck schlich in ihre Augen.

Canyon schluckte beklommen. Irgendetwas Seltsames schien von dieser Frau auszugehen, etwas, das ihr mehr Angst einjagte, als Jem Soonias Zorn. Das Ganze lief aus dem Ruder und sie wollte nichts als weg von diesem Ort, an dem sie nicht willkommen war.

„Ranee!“ stieß Jem hervor. „Ich dachte, du bist in Kenora?“

„War ich auch. Aber was ist eigentlich hier los? Mir sind Polizeifahrzeuge entgegengekommen.“

„Stevie ist verschwunden.“

„Was sagst du da?“

„Er war draußen bei seiner Höhle und ist nicht nach Hause gekommen.“

„Das ist ja furchtbar.“ Die Stimme der Frau klang mitfühlend, aber Canyon war wachsam.

Sie stand zwischen den beiden und fühlte auf einmal ein seltsames Vibrieren in der Brust. Als wäre sie in ein Magnetfeld geraten und eine negative Energie würde durch sie hindurch strömen. Etwas Magisches verband diese beiden Menschen. Ihr wurde schlagartig klar, dass die Indianerin Jem Soonias Geliebte war.

Canyon trat einen Schritt zur Seite, um dem Energiefeld zu entkommen. „Sind Sie eine Freundin von Mr Soonias?“, fragte sie, als sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte.

Die Frau ignorierte ihre Frage.

„Ranee Bobiwash“, sagte Jem an ihrer Stelle. „Ranee ist Künstlerin und wohnt drüben in Nipigon. Gelegentlich hält sie Workshops in der Schule, an der ich unterrichte.“

Canyon blickte zu Ranee auf. Ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen, braune Haut und schräge Augen. Sie waren jedoch nicht dunkel, wie sie zuerst geglaubt hatte. Ranees Augen waren moosgrün.

„Und wer sind Sie?“, fragte die Indianerin.

Obwohl Canyon wusste, dass Ranee die Dienstmarke an ihrer Bluse registriert hatte, antwortete sie: „Canyon Toshiro, Sozialarbeiterin vom Jugendamt in Thunder Bay. Ich musste Mr Soonias ein paar Fragen stellen. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wohin der Junge verschwunden sein könnte?“

Die Indianerin schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Keine Ahnung?“

Canyon hatte kein Entgegenkommen erwartet von dieser Frau, die sich so eigenartig benahm. Man konnte nie wissen, was Indianer dachten oder warum sie etwas taten. Ihre Gefühlswelt schien eine vollkommen andere zu sein und bisher war Canyon noch nicht dahintergekommen, wie diese Welt funktionierte.

Sie wandte sich dem Vater des Jungen zu, zog ihre Visitenkarte aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das von Wichtigkeit sein könnte, Mr Soonias, oder wenn Sie merken, dass in Stevies Zimmer etwas fehlt, dann rufen Sie mich an. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.“

Canyon wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht, damit sie schnell fortkonnte aus dieser Welt, die ihr fremd und unheimlich vorkam. In Wirklichkeit konnte sie nichts tun und sie zweifelte sogar daran, dass ihre Anwesenheit tatsächlich von Nutzen gewesen war. Sollte die Polizei sich um die Sache kümmern, dafür war sie schließlich da. Es gehörte nicht zu ihrem Aufgabenbereich, nach verschwundenen Kindern zu suchen.

Ihr Vorgesetzter hatte sie hierher geschickt, damit sie herausfand, ob die Eltern des Jungen etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Jem Soonias keinen blassen Schimmer hatte, wo sein Sohn sich aufhielt und warum er nicht nach Hause gekommen war. Aber sicher war sie sich nicht. Sicher war nur, dass sie hier nichts mehr verloren hatte. Man würde das Jugendamt erst dann wieder einschalten, wenn Stevie aufgetaucht war.

Wenn er lebend aufgetaucht war.

Canyon lief die Treppe hinunter, sorgsam darauf bedacht, nicht zu fallen. Sie spürte den bohrenden Blick der Indianerin im Rücken und wollte vermeiden, dass sie vor deren Augen ausrutschte oder stolperte.

Der Schlamm an ihrem Wagen war inzwischen getrocknet und hatte sich grau gefärbt. Canyon stieg ein und verließ das Dorf. Sie hatte nicht auf Wiedersehen gesagt. Mit Sicherheit war Jem Soonias nicht darauf erpicht, sie wiederzusehen.

3.

Ranee stand immer noch in der Tür. In diesem Moment klingelte das Telefon in der Küche. Jem lief ins Haus und nahm hastig ab. „Hallo? Wer ist da?“

„Harding hier“, meldete sich der Inspektor. „Sind Sie es, Mr Soonias?“

„Ja. Haben Sie etwas gefunden? Irgendeine Spur von meinem Sohn?“

„Nein“, sagte Harding, mit ehrlichem Bedauern in der Stimme. „Wir haben den ganzen See abgesucht. Erfolglos. Auch die Hündin konnte nichts finden. An einer Stelle hört die Spur Ihres Jungen plötzlich auf. Dort könnte ein Auto gestanden haben, aber da sind so viele Spuren, die sich überlagern. Der Boden ist zu aufgeweicht.“

„Danke“, sagte Jem und dachte darüber nach, was der Polizist gerade gesagt hatte. Erfolglos. Wäre es für Harding ein Erfolg gewesen, wenn Stevie auf dem Grund des Sees gelegen hätte? „Was werden Sie jetzt weiter unternehmen?“

„Wir werden die Suche morgen bei Tageslicht fortsetzen. Außerdem brauche ich ein Foto Ihres Sohnes, nicht zu klein, wenn möglich. Dann werde ich eine Vermisstenmeldung mit seiner Beschreibung herausgeben und an die anderen Provinzbehörden weiterleiten. Wenn Stevie bis morgen nicht wieder aufgetaucht ist, müssen wir seine Freunde und die Leute aus dem Dorf befragen.“

„Das habe ich schon getan“, sagte Jem ungeduldig.

„Überlassen Sie mal uns, was wir tun oder nicht tun, Mr Soonias. Wenn es etwas Neues gibt, melde ich mich wieder. Dasselbe erwarten wir von Ihnen. Miles Kirby kommt nachher vorbei und holt das Foto. Beschreiben Sie ihm bitte so genau wie möglich, was Ihr Sohn heute angehabt hat.“

„In Ordnung.“ Jem legte auf.

„Die Polizei?“, fragte Ranee. Sie trug helle Jeans und eine dunkelgrüne Bluse aus roher Seide, die zur Farbe ihrer Augen passte.

„Ja. Sie haben den See bei seinem Versteck abgesucht und nichts gefunden.“

Ranee stieß Luft durch die Zähne, was Jem als Ausdruck der Erleichterung deutete. Wie schön sie ist, dachte er, wie begehrenswert. Und wunderte sich, dass er kein Verlangen spürte, wie sonst in ihrer Nähe.

„Ich wusste, dass sie ihn dort nicht finden würden“, sagte er und lehnte sich rücklings gegen die Spüle. „Stevie ist nicht tot, verdammt noch mal. Mein Sohn lebt, ich weiß es.“

Ranee sah ihn mitfühlend an. „Natürlich, Jem.“

„Hätte allerdings sein können, dass sein Rad im See liegt“, bemerkte er nachdenklich. „Aber es war nicht dort.“ Das rote BMX-Rad war nagelneu. Stevie hatte es zu seinem neunten Geburtstag bekommen und das war erst ein paar Wochen her. Es war genauso spurlos verschwunden wie sein Sohn.

„Was glaubst du, ist passiert?“, fragte Ranee.

„Jemand hat ihn mitgenommen.“

„Was?“ Die Indianerin riss ihre Augen weit auf. „Warum sollte jemand Stevie entführen?“

Jem hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Möglicherweise hat sein Verschwinden etwas mit dem Kahlschlag am Jellicoe Lake zu tun. Der Gerichtstermin in Ottawa rückt näher. Vielleicht klingelt gleich das Telefon und es meldet sich irgend so ein Idiot, den die Shimada Paper Company angeheuert hat, um mich einzuschüchtern.“

„Würde mich nicht wundern, wenn es so wäre.“ Ranee nickte. „Immerhin bist du Vorsitzender und Sprecher von KEE-WE. Du hast der Organisation einen Anwalt besorgt und ihr habt gute Chancen, dass die Provinzregierung die Abholzungsgenehmigung zurückzieht und Shimada klein beigeben muss.“

„Genau das ist mir auch durch den Kopf gegangen.“

„Hast du es der Polizei erzählt?“

„Nein, noch nicht. Ich will erst mal abwarten, was passiert. Ob sich überhaupt jemand meldet. Ich will Stevie nicht unnötig in Gefahr bringen.“

„Verstehe.“ Ranee lehnte sich gegen seine Brust. Sie war genauso groß wie er und hatte lange, sehnige Muskeln. Durch sein T-Shirt spürte er die festen Knospen ihrer Brüste. Nicht mal im Winter trug sie einen BH.

„Trotzdem würde ich der Polizei von deinem Verdacht erzählen. Die wissen schließlich auch, dass dem Papierkonzern jedes Mittel recht ist, um seine Interessen zu verteidigen.“ Sie küsste ihn auf den Mund und ließ ihre Zunge über seine Zähne gleiten.

Doch er schob sie von sich. „Nicht jetzt, Ranee“, brummte er unwillig. „Miles kommt gleich und ich muss noch ein Foto von Stevie heraussuchen.“

Später, nachdem Miles Kirby gegangen war, schickte Jem Ranee nach Hause. Sie ging, ohne zu protestieren. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg zu seinen Eltern, deren Haus am anderen Ende der Siedlung stand.

Jem war nicht mehr so verzweifelt gewesen, seit die Frau, die er liebte, bei der Geburt ihres Sohnes gestorben war. Nach Marys Tod hatte Jem sich wie ein Schlafwandler durch sein Dasein bewegt. Es war eine Art Lähmung gewesen, eine dunkle Klage, die verhinderte, dass er trauern und sich wieder dem Leben zuwenden konnte.

Der Sorgerechtskampf um seinen neugeborenen Sohn hielt ihn damals davon ab, vor Schmerz um den Verlust seiner Liebe verrückt zu werden und zur Flasche zu greifen. Sein Zorn auf eine Behörde, die vorgab, das Beste für Stevie zu wollen, indem sie ihn zu Pflegeltern steckte, weit weg von seiner Familie, rettete ihn. Er siegte und erhielt die Erlaubnis, seinen Sohn adoptieren zu dürfen.

Schließlich hatte Jem das Unabänderliche akzeptiert und gelernt, die Leere, die Marys Tod hinterlassen hatte, zu ertragen. Er ging arbeiten und die Nachmittage und Wochenenden gehörten seinem kleinen Sohn. Es war anstrengend, wenn Stevie nachts schrie und er nicht wusste, warum. Wenn ihm dann am nächsten Tag der Schlaf fehlte und er vor versammelter Klasse einzunicken drohte, weil er unendlich müde war. Manchmal fürchtete er, es nicht zu schaffen, aber seine Eltern hielten immer zu ihm. Jakob und Elsie Soonias halfen und unterstützten ihn wo sie nur konnten, daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Stevie wurde seiner Mutter immer ähnlicher und dafür liebte Jem ihn nur noch mehr. Mary war gegangen, aber sie hatte ihm etwas zurückgelassen, etwas aus Fleisch und Blut, dem er seine ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit schenken konnte. Aus dem anstrengenden Säugling wurde ein freundlicher und wissbegieriger Junge. Noch nie hatte Jem sich Sorgen um Stevie machen müssen. Und seit Ranee am letzten Tag des vergangenen Jahres wieder in sein Leben getreten war, fühlte er sich als glücklicher Mann. Doch nun war sein Sohn auf rätselhafte Weise verschwunden und Jem hatte nicht die geringste Vermutung, was passiert sein könnte. „Sind Sie ein guter Vater?“, hatte ihn die hartnäckige Sozialarbeiterin mit dem japanischen Namen gefragt. Diese Frage beschäftigte ihn seither pausenlos. Zusammengekauert hockte er auf der hölzernen Bank in der Wohnküche seiner Eltern.

„Das Jugendamt war natürlich gleich zur Stelle“, berichtete er. „Ob ich auch genug Zeit für Stevie hätte, hat diese Frau mich gefragt.“

„Du hättest die Polizei nicht holen dürfen“, warf ihm seine Mutter vor, eine rundliche Frau mit grauem Zopf, die verschrumpelte Äpfel schälte. Äpfel vom vergangenen Jahr, deren Schalen einen starken Duft verströmten.

„Lass ihn in Frieden, Elsie“, schritt Jakob ärgerlich ein. „Natürlich musste er die Polizei informieren. Der Junge ist verschwunden. Was glaubst du, wäre passiert, wenn Jem Stevie erst nach einer Woche als vermisst gemeldet hätte?“

Elsie warf ihrem Mann einen aufgeschreckten Blick zu. Und auch Jem wagte nicht daran zu denken, wie sein Leben aussehen mochte, wenn man in einer Woche immer noch keine Spur von seinem Sohn gefunden hatte.

Vor Stevie waren schon andere Bewohner aus Dog Lake und verschiedenen Nachbarreservaten spurlos verschwunden. Meist waren es jedoch Jugendliche. Sie kamen mit dem Gesetz in Konflikt und endeten, ihrer Geschichte beraubt, irgendwo in den grauen Straßen der Städte. Wie Simon, Jems jüngerer Bruder. Es schmerzte immer noch körperlich, wenn er an ihn dachte.

„Glaubst du, es interessiert sie wirklich, wenn ein Indianerkind verschwindet?“ Elsies braune Hände kneteten Teig auf das Blech und drückten die Ränder fest. Dann begann sie, die Äpfel in schmale Scheiben zu schneiden und auf den Teig zu legen. Das Rezept hatte sie von einer Deutschen, die eine Zeit lang in Dog Lake gelebt hatte. Nur seine Mutter verstand es, diese Art Apfelkuchen zu backen.