Die Ermittlerin:

Lena Peters ist eine brillante Kriminalistin. Sie ist klug. Und sie ist verletzlich. Ihre dunkle Vergangenheit hat ihre Instinkte geschärft. Sie kennt das Böse. Sie hat gelernt, um ihr Leben zu kämpfen. Selbst dann, wenn ihr niemand mehr glaubt.

Doch gleich in ihrem ersten Fall wird sie auf der Jagd selbst zur Gejagten.

An ihrer Seite:

Wulf Belling. Expolizist. Gescheiterte Existenz und ein Ermittler der alten Schule. Was Lena nicht ahnt: Auch Belling hat seine Abgründe – und seine ganz persönlichen Motive, um der makabren Mordserie, die ganz Berlin in Atem hält, ein Ende zu bereiten.

Der Täter:

Ein gefährlicher Psychopath, der seine Opfer mit chirurgischer Präzision verstümmelt. In seinen unterirdischen Kellerverliesen treibt er Nacht für Nacht sein Unwesen an wehrlosen Opfern. Sein Motiv: liegt tief in der Vergangenheit. Sein Selbstbild: Er ist ein Künstler. Ein Todeskünstler, der sein nächstes Opfer bereits im Visier hat …

Von Hanna Winter sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Spur der Kinder

Stirb

Opfertod

ist der erste Band der Serie um die Kriminalpsychologin Lena Peters.

Hanna Winter

Opfertod

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage März 2012
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © Getty Images / Nick Vaccaro
Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 978-3-8437-0128-0

»Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.«

Honoré de Balzac

Für Alex

1

Berlin, 8. Mai, 22.18 Uhr

Der Regen lief ihr über das Gesicht, ihre federnden, schnellen Schritte knatschten auf dem nassen Asphalt und ihr verschwitztes T-Shirt klebte an ihrem Rücken wie eine zweite Haut. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als Lena Peters vom Joggen zurückkam und vor ihrer Haustür in der Boxhagener Straße angelangt war. Außer Atem stützte sie sich auf ihren Knien ab und verschnaufte kurz. Mit den Gedanken bereits bei der morgigen Besprechung, zog Lena ihren Hausschlüssel aus der Trainingshose und lief durch den Innenhof, in den lediglich das schwache Licht umliegender Wohnungen fiel. Nur wenige Meter vor ihrer Erdgeschosswohnung blieb sie abrupt stehen. Ein Mann im Anorak stand vor ihrem Schlafzimmerfenster.

Was zum Teufel …! Lenas Puls begann zu rasen. Zögerlich trat sie näher und beobachtete, wie der Mann den beleuchteten Raum auskundschaftete. Er stieg über die Terrakottakübel in die kleine, unbepflanzte Parzelle hinter der Wohnung, die nach Angaben der Maklerin einen Garten darstellen sollte. Der Mann näherte sich der Terrasse. Kurz überlegte Lena, die Polizei zu alarmieren, entschied aber, die Sache auf ihre Weise zu regeln.

So, wie sie bisher immer alles alleine geregelt hatte.

Vorsichtig griff sie den kleinen Spaten, der neben dem Sandkasten an der Hauswand lehnte, und schlich sich langsam von hinten an. Der Mann schien sie noch immer nicht bemerkt zu haben, obwohl Lena jetzt dicht hinter ihm war, denn er war kurz davor, seine Hand in den Spalt der gekippten Verandatür gleiten zu lassen. Lena holte zum Schlag aus, als der Mann sich in derselben Sekunde umwandte und ihn die flache Seite des Spatens gradewegs im Gesicht traf, während Lena schrie: »Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«

Der Mann torkelte nach hinten, hielt sich ächzend vor Schmerz die Hände vor das Gesicht und ging rücklings zu Boden.

»Verdammt, sind Sie vollkommen wahnsinnig?!«, fuhr er Lena wütend an und hielt sich die blutige Nase. »Ich bin die Polizei!«

In diesem Moment fiel Lena auf, dass sie den Mann kannte.

»Herr Drescher? Volker Drescher?« Entsetzt ließ Lena den Spaten fallen und machte einen Schritt auf den Mann zu. Doch anstelle des stattlichen Kriminalisten, dessen sonnengebräuntes Gesicht sie aus zahlreichen Fernsehinterviews kannte, blickte unter der Kapuze des Anoraks ein schmächtiger Mann, Mitte vierzig, mit eingefallenen Zügen und spitzem Kinn hervor. Als er sich aufrichtete, war er kaum einen Kopf größer als Lena.

»Um Himmels willen! Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie hier …«

Drescher lehnte ächzend an der Hauswand und rückte seine Brille zurecht, ehe er verärgert aufsah. Verblüfft sah er Lena an. »Für eine Frau Ihrer Statur schlagen Sie aber ordentlich zu!«

Lena wusste, dass man ihr nicht viel Kraft zutraute, und war über seine Reaktion keineswegs überrascht. »Darf ich fragen, was Sie hier in meinem Garten zu suchen haben?«

»Ich habe geklingelt, aber es hat niemand geöffnet. Und als ich sah, dass Licht brannte …«

»Ich lösche das Licht nie, wenn ich das Haus verlasse.«

Drescher schaute sie überrascht an, sagte aber nichts.

»Ihre Nase, ist die gebrochen?«, fragte Lena ehrlich besorgt.

Er tastete seinen Nasenrücken ab und verneinte.

Lena streckte ihm ihre Hand entgegen und wartete darauf, dass er sie ergriff. Doch Drescher schlug ihre helfende Hand aus. Lena sah zu, wie er sich aufraffte und sich den Schmutz vom Anorak strich. »Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein Pflaster«, sagte sie schnell. Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte Lena sich um und schloss die Wohnungstür auf.

Mist! Mist! Mist! Musste sie ausgerechnet ihren neuen Chef niederschlagen! »Und wenn Sie wollen, auch einen Whisky, das hilft gegen die Schmerzen«, fügte sie hinzu und wartete darauf, dass Drescher ihr folgte.

Die rund sechzig Quadratmeter große Altbauwohnung, für die Lena sich in erster Linie wegen der günstigen Miete entschieden hatte, war unrenoviert und konnte einen neuen Anstrich vertragen. Gleich neben der Eingangstür befand sich die Küche. Dahinter ein kleines Esszimmer, das an das Wohnzimmer grenzte. Am Ende des langen Flurs lagen Lenas Schlafzimmer, das Bad und ein winziger Raum, den sie als Arbeitszimmer nutzte. Bis auf ein paar Möbel gab es hier nicht den allerkleinsten Hinweis auf ein Privatleben. Keinerlei Familienfotos, Postkarten oder Souvenirs vergangener Urlaube. Nichts, was an ihre Vergangenheit erinnern sollte.

Lena streifte im Flur, in dem sich größtenteils unausgepackte Kisten türmten, ihre nassen Turnschuhe ab. Noch immer ein wenig verwirrt, begrüßte sie ihren gescheckten Kater Napoleon, der sie bereits sehnsüchtig erwartet zu haben schien und sich maunzend zwischen ihren Knöcheln schlängelte. Lena hob ihn hoch und streichelte ihn kurz.

»Nett haben Sie’s hier«, sagte Drescher, der ihr gefolgt war, und nahm seine Kapuze ab, so dass sein lichtes braunes Haar zum Vorschein kam.

»Ist noch alles etwas provisorisch. Ich bin noch nicht zum Auspacken gekommen.« Sie setzte den Kater ab und führte Drescher ins Badezimmer. In Wahrheit konnte sie sich nicht vorstellen, in diesen vier Wänden die nächsten Wochen oder gar Monate zu verbringen. Obwohl sie schon öfter mehr oder weniger freiwillig umgezogen war, tat sie sich noch immer schwer damit, sich an neue Umgebungen zu gewöhnen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie in den nächsten Wochen ohnehin nur zum Schlafen herkommen; die Ermittlungen zur laufenden Mordserie, in die Drescher sie von morgen an als Profilerin mit einbinden und die sie rund um die Uhr auf Trab halten würden, waren schon jetzt eine echte Herausforderung. Lena steckte bereits mitten in den Vorbereitungen zum Fall, und ihre Gedanken kreisten seit Tagen kaum mehr um etwas anderes.

»Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt?«, fragte Drescher, während Lena eine Flasche Jod und Verbandsmaterial aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken nahm. »Ich war joggen.«

»Verdammt, Peters – ich habe versucht, Sie zu erreichen –, hatten Sie denn kein Handy dabei?«

Drescher stand jetzt unmittelbar hinter ihr. Lena, die sich längst an den rauen Ton bei der Polizei gewöhnt hatte, drehte sich um. »Nein«, sagte sie knapp und tupfte ihm mit einem jodgetränkten Wattebausch die blutige Nase ab, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass bereits der Anblick weniger Blutstropfen Übelkeit auslöste und ihr das Gefühl gab, keine Luft mehr zu bekommen.

Mit einem Schlag kam die Erinnerung an damals in ihr hoch. An das brennende Autowrack, in dem sie mit ihrer Zwillingsschwester Tamara auf der Rückbank eingequetscht gewesen war.

Blut.

Überall war Blut.

Und Rauch.

Und Glassplitter von zertrümmerten Scheiben.

Ihre Mutter hatte bewusstlos auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater gelegen. Und noch während die Einsatzkräfte der Feuerwehr dabei gewesen waren, sie und Tamara aus dem Wrack zu befreien, hatte Lena die blutüberströmte Hand ihrer Mutter ergriffen. Sie nicht mehr loslassen wollen. Selbst dann nicht, als die Flammen auf ihre Mutter übergesprungen waren. Kaum hatten die Feuerwehrmänner Lena aus den Trümmern gezerrt, war der Wagen explodiert.

Für ihre Eltern war jede Hilfe zu spät gekommen. Der Unfall lag inzwischen rund zwei Jahrzehnte zurück, doch das Blut an ihren Händen hatte Lena zeitweise noch heute vor Augen.

»Wieso nicht?«, fragte Drescher und musterte sie über den Rahmen seiner schmalen Brille hinweg.

Die Frage riss Lena aus den Gedanken und brachte sie abrupt ins Hier und Jetzt zurück. »Es war ausgemacht, dass ich morgen früh auf dem Präsidium erscheine und …« – »Morgen, morgen! Erzählen Sie das mal unserem Killer!«

Plötzlich zuckte er leicht zurück. »Das Zeug brennt ja wie Spiritus!«

Lena ließ die Hand mit dem Wattebausch sinken und sah ihm fest in die Augen. »Ein weiteres Opfer?«

Dreschers Seufzer sprach für sich.

»Etwa heute Abend?«, fragte sie nach.

»Dachten Sie etwa, diese Bestie mordet nur zu Geschäftszeiten?« Mit einem verächtlichen Lacher schob er seine Brille in den Haaransatz, nahm den kühlen Waschlappen, den Lena ihm reichte, und drückte ihn auf seine rotgeschwollene Nase.

»Nein, … natürlich nicht«, sagte sie beherrscht. Noch einen Patzer durfte sie sich nicht erlauben, wenn sie vor Drescher den letzten Funken Autorität wahren wollte. Irgendwie hatte sie bereits geahnt, dass Volker Drescher die Sorte Polizist war, die es reichlich Überwindung kostete, eine Profilerin zu einem Fall hinzuzuziehen – denn dies setzte die Einsicht voraus, dass die Ermittlungen an einem toten Punkt angelangt waren. In den allermeisten Fällen wurde Lena erst dann engagiert, wenn die zuständigen Ermittler gründlich gescheitert waren, die Nerven des Teams bereits blanklagen und jeder weitere Einsatz lediglich ein Akt purer Verzweiflung war. Somit war Lena es durchaus gewohnt, mit einer Mischung aus Argwohn und Neugierde empfangen zu werden. Auch dieses Mal spürte sie schon jetzt die Blicke der neuen Kollegen im Nacken, die jeden ihrer Schritte genauestens verfolgen und ihre Vorgehensweise kritisch beäugen würden. Doch sie hatte sich ein dickes Fell zugelegt und genügend Vertrauen in ihr eigenes Können, dass ihr das nichts anhaben konnte. Zumindest redete sie sich das ein.

»Geben Sie mir fünf Minuten, ich dusche nur rasch und bin gleich wieder da.« Sie reichte Volker Drescher ein Pflaster und bat ihn, im Wohnzimmer zu warten.

Drescher hielt drei Finger in die Höhe. »Drei Minuten«, drang es unter dem Waschlappen hervor, ehe er diesen gegen das Pflaster eintauschte. »Und wenn Ihr Angebot noch steht, würde ich jetzt auf den Whisky zurückkommen.«

Lena blieb lächelnd in der Tür stehen. »Bedienen Sie sich, die Flasche steht auf dem Küchentisch – ein Glas müsste auch irgendwo herumstehen.«

Mit diesen Worten schloss sie die Tür zum Badezimmer hinter sich, während Drescher schon Richtung Küche verschwand.

Momente später stellte Drescher zwei großzügig gefüllte Whiskygläser auf den Couchtisch im Wohnzimmer und setzte sich auf das helle Sofa. Wie er beim Hinsetzen bemerkte, war es noch immer mit knirschender Schutzfolie überzogen. Während das Prasseln der Dusche aus dem Badezimmer drang, sah er ungeduldig auf seine Uhr. Schließlich nahm er sein Glas und schaute sich ein wenig um. Karge Wände, nackte Glühbirnen, weitere Umzugskartons. Im Vorbeigehen spähte er in die offenstehenden Zimmer. Ein Futon-Bett, ein überdimensionaler Schreibtisch mit einem Laptop darauf. Im Regal dicke Wälzer über Sexualverbrechen, fallanalytische Verfahrensweisen und historische Kriminalfälle. Ein gönnerhaftes Grinsen kroch über seine Lippen, als er darunter auch sein neustes Buch entdeckte. Mal sehen, was diese Profilerin draufhat …

Lena hielt die Augen geschlossen und genoss die warme Dusche, während sie spürte, wie das Wasser ihren Nacken entspannte. Schon wieder ein neues Opfer, ging es ihr durch den Kopf. Die Abstände, in denen der Killer zuschlägt, werden immer kürzer, überlegte sie und stellte das Wasser ab.

Zuerst gab es alle paar Wochen ein neues Opfer, dann wöchentlich, und nun vergehen kaum mehr als drei Tage, in denen er nicht zuschlägt. Mit dem heutigen Opfer sind es bereits zwölf grausam verstümmelte Frauen, überlegte sie, während sie aus der Dusche stieg und sich rasch abtrocknete. Was will er uns damit sagen? Sie zog ihren Slip und ein frisches T-Shirt über und schlüpfte in ihre Jeans. Geht es darum, der Polizei seine Macht zu demonstrieren? Oder ist er inzwischen einfach übermütig und vollkommen größenwahnsinnig geworden? Lena betrachtete einen Moment lang die ratlos dreinblickende Frau im Spiegel und kämmte sich schnell die nassen Haare zurück. Sie nahm ihr Handy, das sie am Waschbeckenrand abgelegt hatte, und wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, da hielt sie nach einem Blick auf das Display plötzlich inne. Irritiert sah Lena auf, ehe sie mit dem Mobiltelefon in ihrer Hand barfuß zu Drescher ins Wohnzimmer lief.

»Sie sagten, Sie hätten versucht, mich zu erreichen«, meinte sie beim Betreten des Raums. »Das ist seltsam, ich habe gar keine Nachricht darüber erhalten.«

»War nur ein Test«, gab Drescher mit unbewegter Miene zu. »Ich wollte sehen, wie Sie reagieren.«

Ein Test? Lena fragte sich, was als Nächstes kommen würde.

»Wie soll ich sagen …« Er räusperte sich. »Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, dessen Ausmaß an Brutalität es so bislang nicht gegeben hat. Und außergewöhnliche Fälle erfordern nun einmal außergewöhnliche Maßnahmen und außergewöhnliche Qualifikationen, wenn Sie verstehen …«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Lena skeptisch und ließ sich ihm gegenüber in den Ledersessel sinken.

»… es gibt Leute, die meinen, diese Mordserie sei möglicherweise eine Nummer zu groß für Sie.«

Lena spürte ein Pochen in ihren Schläfen. »Aber Sie scheinen anderer Meinung zu sein, sonst hätten Sie mich wohl kaum engagiert.« Beiläufig registrierte sie, wie die Augen ihres Vorgesetzten von ihren nackten Füßen zu ihrem flachen Dekolleté und ihren hageren Schultern schweiften – dezent zwar, doch der Blick war ihr nicht entgangen. Dann senkte er den Blick auf das Whiskyglas und befühlte seine bepflasterte Nase. »Sie haben erstklassige Referenzen, Peters. Und damit meine ich nicht nur Ihre hervorragenden Abschlüsse in Psychologie und Kriminologie, sondern vor allem Ihre exzellenten Studien zur Erstellung von Täterprofilen.«

»Danke.« Lena brachte ein Lächeln über die Lippen, das sich rasch verflüchtigte. »Aber trotzdem hätten Sie bei einer Profilerin eher eine Eins-achtzig-Frau mit Boxerrücken erwartet«, sagte sie und warf einen Blick auf seine lädierte Nase.

»… das haben Sie jetzt gesagt.« Drescher räusperte sich und schob seine Brille mit dem Mittelfinger hoch.

Lena nahm ihren Whisky vom Couchtisch, zwang sich aber, das Glas nicht in einem Zug zu leeren. »Sie selbst haben in einer Fachzeitschrift erklärt, gute Leute seien rar, und das man einem Teammitglied die Kompetenz ebenso wenig an der Nasenspitze ansieht wie einem Verbrecher die kriminelle Energie«, konterte sie und ärgerte sich sogleich, dass sie sich von ihm aus der Reserve hatte locken lassen. Das Pochen in Lenas Schläfen wurde schlagartig stärker, als sie spürte, wie ein Schwall Wut sie überkam. Mehr zu ihrer eigenen Beruhigung strich sie über das weiche Fell ihres Katers, der soeben auf die Couch gesprungen war und es sich neben ihr bequem gemacht hatte. Drescher knackte mit den Fingern und sah von seinem Glas auf, ohne den Kopf anzuheben. »Das hier ist immerhin Berlin – und nicht Fischbach oder wie das Kaff heißt, wo Sie aufgewachsen sind.«

Überaus scharfsinnig. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, waren die Rotlichtmorde, die toten Hafenkinder oder die Giftmischer auch nicht in Fischbach.«

»Aber das hier ist ein vollkommen anderes Pflaster«, sagte er mit einem vehementen Kopfschütteln.

Lena hielt seinem stechenden Blick stand und überlegte, wie sie ihn davon überzeugen konnte, dass sie die Richtige für den Fall war. Aber musste sie das überhaupt? Schließlich war er es gewesen, der sie für den Fall angefragt hatte und nicht andersherum. Lena spülte ihren Ärger darüber, dass er ihre Kompetenz bereits anzuzweifeln schien, bevor sie mit ihrer Arbeit überhaupt richtig losgelegt hatte, mit einem ordentlichen Schluck Whisky hinunter, als ihr im nächsten Moment unverhofft ein Lächeln auf den Lippen lag.

Er will mich auf die Probe stellen? Na schön, das kann er haben. Sie schwenkte das Glas in ihrer Hand und wartete, bis sie seine ganze Aufmerksamkeit hatte. Dann schloss Lena die Augen und sagte: »Sie tragen ein hellblaues Ralph-Lauren-Hemd aus Baumwolle mit Manschettenärmeln. Es hat sechs Knöpfe, den fehlenden in der Mitte nicht mitgerechnet. In ihrer rechten Brusttasche befindet sich ein anthrazitfarbener Lamy-Kugelschreiber, auf dem ihr Name eingraviert ist. Er ist am oberen Rand leicht angekaut, womöglich weil sie unter Druck stehen«, erzählte sie und hielt die Augen weiter geschlossen. »Sie sind nicht verheiratet, denn sie tragen seit längerer Zeit keinen Ehering; die leichte Einbuchtung fehlt, die über die Jahre entstanden wäre. Ihre HUGO-BOSS-Brille hat vorne links einen kleinen Kratzer am Metallbügel, vielleicht, weil sie ihnen schon einmal heruntergefallen ist. Sie benutzen Vetiver von Guerlain. Allerdings haben Sie es sich heute Morgen nur hinter ein Ohr gespritzt, wahrscheinlich waren Sie in Eile.« Lena hielt die Augen weiterhin geschlossen.« Sie legen Wert auf Pünktlichkeit und sind es auch selbst, denn ihre Uhr«, sagte sie und tippte sich aufs Handgelenk, »die geht zwei Minuten vor. Sie tragen klassische Lederschuhe, deren Absatz gut vier Zentimeter beträgt, was darauf schließen lässt, dass …« – »Okay, okay, es reicht, Peters«, unterbrach er Lena. »Sie haben gewonnen.«

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie seinen erstaunten Blick.

Drescher schob mürrisch den Unterkiefer zur Seite und sagte: »Ich wollte Sie bloß gewarnt haben, das ist alles.«

Sie unterdrückte ein Grinsen, und für einen Moment tat sich ein beklemmendes Schweigen wie ein tiefer Abgrund zwischen ihnen auf.

»Ich dachte, Sie leben alleine«, wechselte Drescher abrupt das Thema, die Augen auf das Schachspiel gerichtet, das auf einer schlichten, weiß lackierten Kommode aufgebaut war. »Gegen wen spielen Sie dann?«

Lena rang sich ein Lächeln ab. Sie sprach ungern über sich selbst. Zudem hatte sie nicht die geringste Lust, sich von Drescher über ihr Privatleben ausfragen zu lassen, und tat seine Frage mit einem Achselzucken ab.

Der Abgrund wurde tiefer.

Sie sah Drescher an, dass er sich einen Kommentar verkniff. Kurz darauf zog er ein Foto aus der Brusttasche seines Hemdes und legte es auf den Couchtisch. Von dem Abzug schaute Lena eine junge Frau mit einnehmendem Lächeln an. Sie trug ein kurzes Kleid, und ihre Füße steckten in hohen Riemchensandalen. Ganz offensichtlich befand sie sich zum Zeitpunkt, als das Foto aufgenommen wurde, auf einer Party und sah aus, als hätte sie Spaß.

»Das Opfer?«, fragte Lena.

Drescher holte tief Luft. »Ihr Name ist Yvonne Nowak, zwanzig Jahre« – er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf –, »fast noch ein Kind.«

»Wo wurde sie gefunden?«

»Noch gar nicht«, erklärte er und zog die Stirn in Falten. »Sie studiert Mathematik an der Humboldt-Universität und ist nach der gestrigen Vorlesung spurlos verschwunden.«

Lena schluckte, wollte aber vorerst optimistisch bleiben. »Das muss noch nichts heißen … – sie könnte spontan verreist oder sonst wo sein.«

Drescher schüttelte erneut den Kopf und trank seinen Whisky aus. »Mein Gefühl sagt mir, dass die Kleine etwas mit dem Fall zu tun hat. Außerdem sollte sie gestern ihren nagelneuen Wagen abholen, den ihre Eltern zum Studium haben springen lassen. Einen roten Beetle mit allem Pipapo … Sie hat ihn sich selbst ausgesucht und sich nach Angaben ihrer Mitbewohnerin schon seit Wochen drauf gefreut. Ich meine, so was vergisst man doch nicht einfach, oder?«

»Nein, wahrscheinlich nicht …«

»Frau Nowak wohnt in einer WG in Kreuzberg – unweit der Haustür hatte Augenzeugen zufolge mehrmals derselbe fensterlose schwarze Lieferwagen geparkt. Genau so einer wurde auch vor dem Verschwinden der anderen Opfer in deren Nähe gesichtet.«

Irritiert stellte Lena ihr Glas ab. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Herrgott, es vergeht kein Tag, an dem dieser verfluchte Fall nicht die Schlagzeilen dominiert – wir treten bei den Ermittlungen schon viel zu lange auf der Stelle und können uns kein weiteres Opfer erlauben. Die Presse und der Polizeipräsident machen ordentlich Druck.«

Lena presste die Lippen zusammen. »Trotzdem müssen wir bei Yvonne Nowak deshalb nicht zwangsläufig mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Nein, müssen wir nicht«, sagte Drescher.

Doch Lena meinte ihm anzusehen, dass da noch etwas anderes war. Eine entscheidende Information, die Drescher zurückhielt.

2

Montagmorgen, 9. Mai

Nur wenige Stunden nachdem sie ins Bett gefallen war, riss Lena das Klingeln ihres Handys aus einem unruhigen Schlaf. Mit halbgeschlossenen Lidern tastete sie auf ihrem Nachttisch nach dem Telefon.

»Ja, Peters hier …« Langsam richtete sie sich auf und rieb sich die müden Augen.

Es war Volker Drescher. »Verdammt, wo bleiben Sie denn? Es hat ein weiteres Opfer gegeben. Und der Mord geht zweifellos auf das Konto dieser Bestie.«

Abrupt fuhr Lena hoch. Ein hämmernder Schmerz pochte in ihren Schläfen, der sich nach einem Blick zum Wecker auf dem Nachttisch noch verstärkte. Es war nach acht – die Konferenz hatte bereits angefangen! Lena verscheuchte Napoleon, der auf der Decke eingerollt lag, und sprang aus dem Bett.

»Ich bin auf dem Weg!«, rief sie ins Telefon. Kaum hatte sie aufgelegt, griff sie sich an den Kopf. Au, Shit! Sie hatte noch nie verschlafen – wie hatte das bloß passieren können? Fluchend zog sie ihr weites Schlaf-T-Shirt aus, griff ihren BH und hüpfte mit einem Bein in ihrer Jeans Richtung Kleiderschrank, während sie krampfhaft versuchte, den gestrigen Abend zu rekonstruieren. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, mit Drescher bis in die späten Abendstunden über den Fall diskutiert zu haben. Und dann? Lena hielt kurz inne. Nachdem Drescher gegangen war, hatte sie sich noch einen weiteren Whisky genehmigt und war schließlich todmüde ins Bett gefallen. Lena massierte sich die Schläfen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre ein ganzer Vogelschwarm darin eingesperrt. Was war bloß los mit ihr? Das einzige Mal, dass sie so betrunken gewesen war, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte, war als Teenager am Abend ihres Abschlussballs gewesen. Doch das lag Ewigkeiten zurück, und es war absolut nicht ihre Art, die Kontrolle zu verlieren. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch stülpte sie sich eine dunkle Bluse über und knöpfte sie bis oben hin zu. Dann eilte sie ins Badezimmer, spritzte sich Wasser ins Gesicht und band ihre schulterlangen hellbraunen Haare zu einem Zopf. Das Make-up beschränkte sich an diesem Morgen auf den roten Lippenstift, von dem sie fand, dass er sie älter wirken ließ und ihr etwas Strenges verlieh. Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester Tamara war Lena eher der sportlich-burschikose Typ, entschied sich jetzt aber für ihre Absatzschuhe, die sie gut fünf Zentimeter größer machten. Ein dezenter Spritzer Parfum, dann hetzte sie in die Küche, stellte Napoleon das Katzenfutter hin. Im Flur griff sie ihre Tasche und ihren Trenchcoat von der Garderobe und lief hastig zur Tür hinaus. Lena setzte ihren Helm auf, schwang sich auf ihre nachtblaue Vespa und gab Gas. Mist! Musste denn ausgerechnet an ihrem ersten Tag alles schiefgehen!

3

Knapp zwanzig Minuten später eilte Lena mit klackernden Absätzen über den Flur der Mordkommission auf den Besprechungsraum zu. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee drang ihr in die Nase, doch für ihre allmorgendliche Dosis Koffein, ohne die Lena normalerweise keinen Arbeitstag begann, blieb jetzt keine Zeit. Die Hand auf der Klinke, hielt Lena kurz inne und atmete einmal tief durch, bevor sie die Tür öffnete. Rücken gerade, Brust raus.

»Ab sofort werden keine Informationen mehr an die Presse weitergegeben – und wenn ich keine sage, dann meine ich das auch so! Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt«, hörte sie Volker Drescher noch sagen, ehe er sie erblickte. »Frau Peters – wie schön, dass Sie noch zu uns gefunden haben«, bemerkte Drescher, der halb auf den Tisch gelehnt vor seinem Auditorium saß, mit einem unverblümt tadelnden Blick auf seine Uhr.

»Guten Morgen. Ich …« – »Setzen Sie sich doch«, schnitt er ihr das Wort ab, sah sie über den Rand seiner Brille hinweg streng an und wies auf den erstbesten freien Stuhl. Lena nickte in die Runde neugieriger Gesichter, und sofort fiel ihr die Anspannung auf, die in dem Raum lag und die mit den Händen greifbar schien. Obwohl die großen Fenster gekippt waren, schien der Luft in dem Raum jeglicher Sauerstoff zu fehlen. Lena ging durch die eng bestuhlten Sitzreihen, ehe sie mit hochrotem Kopf Platz nahm und sich dabei immer wieder ermahnte, nicht auf Dreschers Nasenpflaster zu starren und die Blutergüsse, die sich um die Augen abzeichneten. Den Blicken ihrer neuen Kollegen schenkte sie ebenso wenig Beachtung wie dem Tuscheln. Sie kramte ihr schwarzes, in Leder gebundenes Notizbuch sowie einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, bemühte sich, eine konzentrierte Miene aufzusetzen, und folgte Dreschers Blick zu der Wand mit den Fotos all jener Frauen, die innerhalb der letzten zwei Monate verstümmelt aufgefunden worden waren. Alle zwölf Opfer waren auf Feldwegen, in Waldstücken oder an schlecht einsehbaren Ufern gefunden worden, doch an keinem der Tatorte war je verwertbares Beweismaterial sichergestellt worden. Die Frauen auf den Fotos waren zwischen siebzehn und fünfunddreißig, und jede von ihnen war nackt und lag auf dem Bauch. Die Hände auf dem Rücken gefesselt. Zudem waren ihnen verschiedene Körperteile abgetrennt worden. Der einen fehlten die Arme, die Genitalien, der komplette Unterleib, der anderen wieder die Arme oder gar der Kopf. Neben starken Prellungen wiesen alle Opfer mehrere Einschnittstellen auf sowie die typischen Quetschungen an Hand- und Fußgelenken, die Lena von Opfern kannte, die mit Schraubzwingen malträtiert worden waren. Dennoch gab es keinen dominierenden Typ unter den Frauen, kein eindeutiges Opferprofil, wie Lena es von anderen Serienmördern kannte, die es beispielsweise nur auf Blondinen, auf Rothaarige, Brünette, besonders füllige oder schmächtige Frauen abgesehen hatten. Diese Frauen waren so unterschiedlich wie die Milieus, denen sie entstammten, ging es Lena durch den Kopf, während sie ihre Augen weiter über die Fotos schweifen ließ. Bei dem letzten Bild in der Reihe musste Lena plötzlich schlucken. Die Mathematikstudentin. Das zwölfte Opfer. Drescher hatte mit seiner gestrigen Annahme ins Schwarze getroffen.

»Bei dem jüngsten Opfer handelt es sich um die zwanzigjährige Yvonne Nowak«, fügte Drescher wie zur Bestätigung hinzu, als er Lenas entsetzten Blick registrierte.

Die junge Frau war ebenfalls nackt. Das Lächeln, das Lena von dem anderen Foto in Erinnerung hatte, war einer schmerzverzerrten, erstarrten Miene gewichen. Als Lena sah, dass der Frau die Füße abgetrennt worden waren, überlief sie ein kalter Schauer.

»Ein Gabelstaplerfahrer hat ihren Leichnam in den frühen Morgenstunden auf dem Schrottplatz im Wedding entdeckt«, fasste Drescher noch einmal für Lena zusammen. »Nach Angaben der Gerichtsmediziner war Yvonne Nowak zu diesem Zeitpunkt bereits gut zwölf Stunden tot, was wiederum für die Annahme sprechen würde, dass ihr Mörder sie am Donnerstag nach ihrer letzten Vorlesung an der Uni abgepasst hat …«

Versunken nickte Lena. »Sonst noch was?«, fragte sie, überrascht über ihre eigene Lautstärke. Alle Blicke waren nun auf sie gerichtet.

Drescher nickte. »Beim Überprüfen von Nowaks Laptop hat sich herausgestellt, dass sie des Öfteren in Foren unterwegs war, in denen sich Okkultisten über schwarze Rituale und all solchen Hokuspokus austauschen«, berichtete er, während ihm die Anwesenden gebannt lauschten. »Den Chat-Protokollen nach war sie am frühen Donnerstagabend, also etwa zum Zeitpunkt ihres Verschwindens, mit einem gewissen ›Dark Armon‹ in einer Bar in der Görlitzer Straße verabredet gewesen.«

Wieder wurde Getuschel laut.

»Wissen wir schon, wer hinter dem Chat-Namen steckt?«, ergriff Lena erneut das Wort.

Drescher nickte. »Sein richtiger Name lautet Ferdinand Roggendorf. Medizinstudent, neunundzwanzig Jahre, keine Vorstrafen.«

»Sagen Sie jetzt bitte nicht, der ist mit diesem Charlottenburger Staranwalt verwandt«, stöhnte Lenas rothaariger Sitznachbar, dessen durchtrainierter Oberkörper sich unter seinem engen Poloshirt abzeichnete. Drescher verzog keine Miene. »Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, Vogt.« Er räusperte sich streng, ehe er fortfuhr. »Ferdinand Roggendorf ist der Sprössling von Richard Roggendorf.«

»Na, das kann ja heiter werden …«, seufzte Vogt.

Lena vernahm ein leises Aufstöhnen rechts und links von sich und blickte ihre Kollegen an. Die meisten im Konferenzraum schienen Vogts Meinung zu teilen, denn der Unmut darüber, mit wem sie es zu tun hatten, stand ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben.

»Zeugenaussagen nach ist Nowak in dieser Bar in der Görlitzer Straße wohl nie aufgetaucht«, erklärte Drescher weiter. »Ob Ferdinand Roggendorf zum besagten Zeitpunkt dort war, wird sich noch herausstellen, die Befragungen laufen noch. Bisher haben wir über ihn lediglich in Erfahrung bringen können, dass er neben seinem Studium als Pfleger im Virchow-Krankenhaus jobbt« – Drescher schürzte die Lippen –, »was nicht uninteressant ist, da in Yvonne Nowaks Blutbahn nach ersten Angaben der Gerichtsmedizin Spuren von Flunitrazepam nachgewiesen worden sind.«

»K.-o.-Tropfen«, dachte Lena laut. »Roggendorf hätte als Krankenpfleger leicht Zugang dazu.«

»So ist es«, meinte Drescher. »Wir lassen den Burschen auf alle Fälle observieren.«

Nachdenklich nickte Lena. Wenn dieser Medizinstudent tatsächlich im Chatroom nach potentiellen Opfern Ausschau hält, um sie bei einem möglichen Treffen mit Hilfe von K.-o.-Tropfen in seine Gewalt zu bringen, gilt es, schleunigst herauszufinden, ob er mit den übrigen Frauen ebenfalls gechattet hat.

»Wenn sein Alter Wind davon bekommt, hagelt es eine Klage nach der anderen«, befürchtete der Rotschopf neben Lena. »Wundert mich sowieso, dass dieser Ferdinand Roggendorf zusätzlich als Pfleger schuftet – ich meine, bei dem Honorar, das sein Alter kassiert, hätte der das doch gar nicht nötig.«

»Vielleicht ist Richard Roggendorf ja geizig und will, dass der Sohnemann auf eigenen Füßen steht«, meldete sich die Brünette mit Lockenmähne zu Wort, die schräg gegenüber von Lena saß. Das muss Rebecca Brandt sein, dachte Lena. Drescher hatte ihr bereits von Brandt erzählt und sie als unverzichtbares Teammitglied hervorgehoben. Mit ihrem pinkfarbenen Top, dem tiefen Ausschnitt und den falschen Fingernägeln wirkte sie auf Lena mehr wie eine verdeckte Ermittlerin von der Sitte.

»Ach so, bevor ich es vergesse: Roggendorf geht jeden Donnerstagabend gegen neunzehn Uhr zum Boxen«, sagte Drescher noch. »Der Club heißt ›Stahlfaust‹. Wer von euch schaut sich da mal um?«

Der Rotschopf hob die Hand und meldete sich freiwillig. »Das übernehme ich. Ich kenne den Club – da lungern ziemlich üble Typen rum.«

»Sehr gut«, sagte Drescher, als die Tür von außen aufgestoßen wurde und eine mollige Frau eintrat.

»Das hier ist soeben aus der Pathologie eingetroffen.« Sie nahm zwei Farbabzüge aus einem Kuvert und legte sie vor Drescher auf den Konferenztisch.

»Danke, Lucy.«

Noch ehe die Frau wieder verschwunden war, heftete Drescher die Abzüge unter das Bild von Yvonne Nowak. Es handelte sich dabei um Großaufnahmen der Unterschenkel, von denen der Studentin die Füße abgetrennt worden waren.

»Was fällt Ihnen auf?«, fragte Drescher in die Runde.

Nicht nur Lena war anzusehen, dass sie sich diesen Anblick am frühen Morgen lieber erspart hätte.

»Saubere Arbeit«, bemerkte Rebecca Brandt. »Die gleiche Präzision wie bei den anderen Opfern – der Kerl versteht sein Handwerk.«

»Wenn ihr mich fragt, haben wir es mit einem Trophäen-Sammler zu tun«, mutmaßte Lenas Sitznachbar und zupfte sich einen Brötchenkrümel vom Poloshirt, »wahrscheinlich sammelt er die abgetrennten Gliedmaßen in irgend ’ner Scheißtiefkühltruhe – einer, die ich nicht finden möchte …«

»Das glaube ich nicht«, wandte Lena ein. Aller Augen waren jetzt auf sie gerichtet. »Trophäen zu sammeln ist ein Hobby. Hobbys setzen einen Spieltrieb voraus.« Sie drehte ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Aber was dieser Psychopath da treibt, macht er nicht aus purem Spaß an der Freude – er kann nicht anders, ist regelrecht besessen davon.«

»So präzise, wie der die Gliedmaßen abtrennt, könnte es sich auch um einen Chirurgen handeln«, warf Rebecca Brandt ein. »Einen, der beispielsweise seine Zulassung verloren hat, nicht mehr auf die Beine gekommen ist, aber mit der Materie bestens vertraut ist und jetzt einen Riesenreibach mit illegaler Transplantation macht …«

»Dann würde er professioneller handeln«, setzte Lena dagegen. »Er würde die Leichen einfach verschwinden lassen. Aber diese Leichen hier sollten gefunden werden, sonst hätte er sie wohl kaum an Orten abgelegt, an denen sie so leicht aufzufinden waren.«

»Da gebe ich Frau Peters recht«, äußerte sich Drescher.

Die Brünette lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen. Lena sah einen Funken Verärgerung in ihren Augen aufblitzen.

Dreschers Handy begann zu klingeln. Nach einem Blick auf die Nummer nahm Drescher den Anruf an. »Volker Drescher hier, was gibt’s?« Er lauschte dem Anrufer, und Lena entnahm seiner Miene, dass es keine guten Nachrichten gab.

»Verstehe … Ja, ist gut, danke.« Zwölf Augenpaare schauten ihn gebannt an, als Drescher auflegte. »Ein Spaziergänger hat in der Spree einen abgetrennten Fuß entdeckt, ganz in der Nähe von dem Schrottplatz, auf dem Nowaks Leichnam gefunden wurde. Die Wasserschutzpolizei ist dabei, das Ufer weiträumig abzusperren, und Polizeitaucher suchen noch nach dem zweiten Fuß.« Er schielte in Lenas Richtung. »Die Füße haben Schuhgröße neununddreißig, genau wie die von Yvonne Nowak. Ob es sich nun tatsächlich um ihre Füße handelt, wird der Laborbericht zeigen.« Er wandte sich erneut der Fotowand zu. In diesem Augenblick platzte die mollige Lucy ein weiteres Mal herein.

»Eine junge Frau wurde in der U-Bahn-Station Ernst-Reuter-Platz aufgefunden«, brachte sie unter kurzen Atemstößen hervor und starrte entsetzt auf das Fax, das sie in der Hand hielt. »Ihr Name ist Christine Wagenbach. Dreiundzwanzig. Kindergärtnerin«, las sie vor. »Stammt aus Schöneberg und ist wohl schon seit zwei Tagen nicht mehr zum Dienst erschienen.« Lucy zögerte eine Sekunde, ehe sie sagte: »Ihr ist die rechte Hand abgetrennt worden.«

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, brach eine plötzliche Unruhe aus. Drescher schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Scheiße!«

4

Drescher nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und setzte sie wieder auf. Der Konferenzraum erschien Lena mit einem Mal noch stickiger als zuvor. Sie beobachtete, wie Dreschers Augen durch die Runde schnellten und bei der Brünetten hängenblieben. »Brandt, Sie machen sich auf den Weg ins Leichenschauhaus.«

Rebecca Brandt nickte. »Geht klar.«

»Nein, nein – sie ist noch am Leben«, unterbrach Lucy. Für einen Augenblick herrschte Totenstille im Konferenzraum, als sei ein jeder mitten in der Bewegung erstarrt.

»Mein Gott!«, rief Drescher geschockt aus. Plötzlich sah Lena, wie sich seine Miene erhellte.

»Wenn diese Frau das Schwein identifizieren könnte …«

»Sie haben sie ins Franziskus-Krankenhaus gebracht, Budapester Straße«, erklärte Lucy.

Drescher blickte die Mollige an. »Ist sie bei Bewusstsein?«

»Soweit ich weiß, schon.«

Volker Drescher wurde sichtbar nervös. »Peters, Sie begleiten Frau Brandt.«

Lena schaute ungläubig auf. »Mit Verlaub, das Opfer wurde gerade erst gefunden, eine Befragung zum jetzigen Zeitpunkt wäre doch reichlich ehrgeizig und kann sich bei Trauma-Patienten negativ auf die anschließende Rehabilitation auswirken.«

Drescher blickte in Lenas hellgrüne Augen und wurde wütend. »Sie halten eine Befragung für verfrüht? Erzählen Sie das mal dem nächsten Opfer!«

Lena unterdrückte einen entrüsteten Seufzer. Wenn Drescher einen Entschluss gefasst hatte, war es offenbar zwecklos, ihn davon abzubringen. »Na schön, ich rede mit Christine Wagenbach, aber ich mache es auf meine Art – und erwarten Sie nach allem, was diese Frau durchgemacht haben muss, bitte keine Wunder.«

Böse Zungen behaupteten, Volker Drescher sei ein Hitzkopf, der unter dem Napoleon-Komplex leide, da er stets seinen Willen durchsetzen musste und seine oft unangemessen aufbrausende Art so gar nicht zu seiner geringen Körpergröße passte. Allmählich verstand Lena, was damit gemeint war.

»Ich erwarte Ihren vollständigen Bericht bis spätestens morgen früh und den ersten Ansatz eines Täterprofils binnen der nächsten Tage«, sagte er nur. Damit war die Diskussion beendet.