Maja von Vogel

Das rote Phantom

Kosmos

Umschlagillustration von Ina Biber, München

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

Grundlayout: Doppelpunkt, Stuttgart

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-14711-5

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Besuch vom Meisterkoch

Franzi ließ den Mann mit dem Messer nicht aus den Augen. Die große, scharfe Klinge blitzte kurz auf, als er mit voller Wucht zustach. Einmal, zweimal, dreimal. Seine Bewegungen waren sicher und präzise. Hier war ein Profi am Werk. Ein Profi, der sein Handwerk verstand und keine Sekunde zögerte, wenn es darauf ankam.

»So, das hätten wir.« Maxime legte das Küchenmesser zur Seite und drehte sich lächelnd um. »Das Hähnchen lässt sich am besten mit einem sehr scharfen Messer zerteilen. Franzi, du kannst schon mal die Kartoffeln abbürsten. Kim, viertelst du bitte die Zitronen?«

»Klar.« Franzi nickte und auch Kim machte sich eifrig an die Arbeit.

Maxime war zum Glück kein Serienkiller, sondern ein preisgekrönter Koch aus Paris, der sogar eine eigene Kochshow im Fernsehen hatte. Außerdem betrieb er ein kleines, aber feines Restaurant in der Innenstadt, das Chez Maxime. Dort wurden die Gäste mit französischen Spezialitäten, ausgesuchten Weinen und perfektem Service verwöhnt.

Heute kochte Maxime jedoch nicht in seinem Restaurant, sondern in der Küche von Familie Jülich. Franzi und ihre Freundinnen Kim und Marie hatten vor einer Weile an einem Krimi-Dinner teilgenommen, das Maxime im Jugendzentrum veranstaltet hatte. Dort war ihr Detektivclub Die drei !!! gleich doppelt zum Einsatz gekommen. Sie hatten Maxime nicht nur aus einer brenzligen Situation gerettet, sondern auch den fiktiven Fall während des Krimi-Dinners gelöst. Kim hatte den ersten Preis gewonnen: einen Gutschein für eine exklusive Küchenparty bei ihr zu Hause. Außer Franzi und Marie hatte Kim noch ihren Freund Michi und Maries Freund Holger eingeladen. Kims Familie war natürlich auch dabei.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Maxime tatsächlich hier ist«, flüsterte Kim Franzi zu, während sie die Zitronen zerteilte.

Franzi grinste. »Ich glaube, deiner Mutter geht es ähnlich. Sie ist ganz schön nervös, oder?« Sie warf einen Blick zu Frau Jülich hinüber, die mit hochroten Wangen am Küchentisch saß und Pfifferlinge für den Salat klein schnitt.

»Ist es so richtig, Monsieur Maxime?«, fragte Kims Mutter gerade. »Oder sind die Stücke zu groß?«

»Perfekt!« Maxime nickte ihr freundlich zu. »Aber nennen Sie mich bitte einfach Maxime.«

Frau Jülich errötete leicht und hauchte: »Wenn Sie darauf bestehen, Maxime …«

»Meine Frau sieht sich jeden Donnerstag Ihre Kochshow an«, erzählte Herr Jülich. »Sie war völlig aus dem Häuschen, als Kim verkündet hat, dass Sie zu uns kommen.«

»Also bitte, Peter, das interessiert Monsieur … äh, ich meine, Maxime doch überhaupt nicht.« Frau Jülich warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Freut mich, dass Ihnen meine Show gefällt.« Maxime wischte sich die Hände an seiner blütenweißen Kochschürze ab, die die Aufschrift Restaurant Chez Maxime trug. »Marie, was macht der Feldsalat?«

»Fertig!« Marie stellte eine große Schüssel mit frisch gewaschenem und gezupftem Feldsalat auf den Küchentisch.

»Sie können jetzt die Pfifferlinge kurz anbraten«, wies Maxime Frau Jülich an. »Ich kümmere mich um die Gewürzmischung für das Hähnchen.« Er zauberte ein kleines Glas hervor, das mit einem gelblichen Pulver gefüllt war. Kaum hatte er den Deckel abgeschraubt, breitete sich intensiver Currygeruch in der Küche aus.

»Ist das etwa deine berühmte Curry-Gewürzmischung?«, fragte Marie ehrfürchtig. Der Starkoch hatte ihr und den anderen Teilnehmern des Krimi-Dinners das Du angeboten.

Maxime nickte. »Ich habe sie noch etwas verfeinert. Jetzt ist das Mischverhältnis perfekt.« Er verteilte die Hähnchenstücke auf einem Backblech und rieb sie großzügig mit dem Pulver ein. »Ohne euch wäre die Rezeptur jetzt in den Händen der Konkurrenz. Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin.«

»Keine Ursache.« Franzi sog den Curry-Duft ein und dachte an ihren letzten Fall, den sie an nur einem Nachmittag gelöst hatten. Das war selbst für die erfolgreichen Die drei !!! ein absoluter Rekord.

»Jetzt träufle ich noch etwas Honig auf das Hähnchen«, sagte Maxime. »Kim, du kannst schon die Zitronen dazugeben.«

Während Kim die Zitronenschnitze zwischen das Fleisch legte, sah ihr Vater dem Meisterkoch interessiert zu.

»Wozu ist der Honig?«, erkundigte er sich.

»Der Honig karamellisiert auf dem Hähnchen und ergibt zusammen mit der Curry-Gewürzmischung einen unvergleichlichen Geschmack«, erklärte Maxime.

»Das muss ich mir unbedingt merken«, murmelte Herr Jülich. »Toll, was man von einem echten Profi alles lernen kann.«

Seit Kims Vater seinen Job als Uhrmacher gekündigt und sich als Kuckucksuhren-Hersteller selbstständig gemacht hatte, war er zu großen Teilen für den Haushalt und das Kochen zuständig. Neuerdings sammelte er Rezepte, um etwas Abwechslung in den Speiseplan seiner Familie zu bringen.

»Hier kommen die Getränke!« Michi und Holger betraten die Küche und brachten einen Schwall frischer Luft mit herein. Holger stellte eine Kiste Mineralwasser neben der Tür ab und Michi trug einen Korb mit mehreren Flaschen Apfel- und Orangensaft, die er in den Kühlschrank räumte.

»Vielen Dank, mein Schatz.« Kim drückte ihrem Freund einen schnellen Kuss auf die Lippen.

»Keine Ursache.« Michi legte den Arm um Kim und lächelte ihr verliebt zu.

Holger schnupperte genießerisch. »Hier riecht es ja schon richtig gut«, stellte er fest. »Da bekomme ich sofort Hunger.« Er wollte sich etwas Feldsalat aus der Schüssel angeln, aber Marie klopfte ihm auf die Finger.

»Nicht naschen«, wies sie ihren Freund zurecht. »Den Salat gibt’s erst später.«

Holger seufzte. »Sei doch nicht so streng.«

Marie grinste. »Tut mir leid. Wie wär’s mit einer kleinen Wiedergutmachung?« Sie umarmte Holger und küsste ihn aufs Ohr.

Holger lachte und schüttelte sich. »Das kitzelt. Na warte, das kriegst du zurück!«

Während Marie und Holger sich kichernd gegenseitig durchkitzelten, spürte Franzi einen Stich in der Brust. Sie versuchte das bittere Gefühl zu verdrängen, das in ihr aufstieg. Ein vertrautes Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf: milchkaffeebraune Haut, ein lachender Mund mit strahlend weißen Zähnen, dunkelbraune Augen und schwarze Ringellocken. Felipe!

Franzi sah ihren Ex-Freund so genau vor sich, als hätten sie sich gestern erst getroffen. Dabei war ihre Trennung schon eine ganze Weile her und Franzi hatte den schlimmsten Liebeskummer eigentlich hinter sich. Am Anfang hatte sie Felipe furchtbar vermisst, aber inzwischen schaffte sie es meistens, sich mit ihren Hobbys und dem Detektivclub abzulenken. Da gerade kein neuer Fall in Sicht war, hatte Franzi umso mehr Zeit, auf ihrem Pony Tinka auszureiten, mit ihren Inlinern durch den Skatepark zu düsen und joggen oder schwimmen zu gehen. Ein Leben ohne Sport war für Franzi unvorstellbar. Beim Skaten oder Reiten konnte sie völlig abschalten. Außerdem setzte die körperliche Anstrengung Glückshormone frei, die sie allen Kummer vergessen ließen.

Entschlossen schob Franzi den Gedanken an Felipe beiseite. Sie wollte diesen Nachmittag in vollen Zügen genießen und nicht ihrem Ex-Freund hinterhertrauern. Es wurde Zeit, das Kapitel Felipe endgültig abzuschließen.

»Was soll ich mit den Kartoffeln machen?«, fragte Franzi Maxime, der gerade den Honig zur Seite stellte.

»Die Kartoffeln kommen auch auf das Backblech«, erklärte der Koch. »Du kannst sie vorsichtig zwischen das Fleisch legen. Das ist übrigens eine ganz besondere französische Sorte«, fuhr er fort. »Sie heißt La Ratte. Die Kartoffeln zeichnen sich durch ihre Hörnchenform und ihren nussigen Geschmack aus. Diese alte Sorte wurde lange nicht mehr angebaut, weil sie nur wenig Ertrag brachte. Vor einigen Jahren ist sie für den Feinschmeckermarkt wiederentdeckt worden. Ich beziehe sie von einem Biobauern hier in der Nähe.«

»Also kochen Sie vorwiegend mit regionalen Produkten?«, erkundigte sich Herr Jülich, während seine Frau vorsichtig die Pfifferlinge in der Pfanne wendete.

Maxime nickte und schob das Backblech in den vorgeheizten Ofen. »Ich versuche, so viel wie möglich saisonal und regional einzukaufen. Das ist gut für den Geschmack – und für die Umwelt.«

In diesem Moment flog die Küchentür auf und ein schwarzweißer Blitz sauste herein.

»Herrje!« Maxime zuckte zusammen. »Was ist das

»Pablo!«, rief Frau Jülich streng. »Raus aus der Küche!«

Aber der Hund dachte gar nicht daran. Er rannte direkt auf Franzi zu und sprang schwanzwedelnd an ihr hoch.

»Hallo, mein Hübscher!« Franzi ließ die stürmische Begrüßung lachend über sich ergehen. Sie mochte Pablo, auch wenn der Hund der Jülichs nicht besonders gut erzogen war. Dafür sah er mit seinen langen Schlappohren, dem wuscheligen schwarz-weißen Fell und den treuen braunen Hundeaugen einfach zu süß aus. Pablo war ein Cocker-Spaniel-Mischling, den Jülichs als Welpen aus dem Tierheim geholt hatten. Inzwischen war er ordentlich gewachsen, aber an seinem lebhaften Temperament hatte sich nichts geändert. Genauso wenig wie an seiner Vorliebe für Franzi. Pablo schien genau zu spüren, dass Kims Freundin ausgesprochen tierlieb war.

»Pablo, Pablo, wo bist du?« Kims zehnjährige Zwillingsbrüder Ben und Lukas stürmten in die Küche.

»Warum habt ihr nicht auf Pablo aufgepasst?«, fragte Kim vorwurfsvoll. »Der Hund hat in der Küche nichts zu suchen.«

»Er ist ausgebüxt«, behauptete Lukas.

Bens Magen knurrte. »Wann gibt es Essen? Ich hab Hunger!«

»Hun-ger, Hun-ger!«, rief Lukas und sein Bruder fiel sofort ein.

»Hun-ger, Hun-ger, Hun-ger!«, grölten die Zwillinge und stampften mit den Füßen im Takt dazu.

Kim verdrehte die Augen, Frau Jülich schimpfte, Herr Jülich lachte und Pablo bellte laut. Franzi kraulte ihn beruhigend zwischen den Ohren und betrachtete kopfschüttelnd das Spektakel. Kims Brüder waren eindeutig die größten Nervensägen des Universums. Jedes Mal, wenn Franzi ihnen begegnete, war sie froh, keine jüngeren Geschwister zu haben. Franzis ältere Schwester Chrissie konnte zwar auch ganz schön anstrengend sein, aber das war nichts im Vergleich zu den Zwillingen. Mit ihrem großen Bruder Stefan kam Franzi zum Glück richtig gut klar. Stefan studierte BWL und lebte in einer WG in der Innenstadt.

Schließlich griff Maxime nach einem Kochlöffel und schlug dreimal gegen die Salatschüssel. Die Zwillinge verstummten. »Sehr schön.« Der Koch nickte zufrieden. »Ihr zwei könnt jetzt den Tisch decken und dann beginnen wir mit der Vorspeise.«

Zum Erstaunen aller leisteten Ben und Lukas der Anweisung augenblicklich Folge. Ohne zu murren, schnappten sie sich Teller und Besteck und verschwanden im Esszimmer. Pablo trabte schwanzwedelnd hinterher.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Herr Jülich beeindruckt. »Wenn ich die Jungs bitte, den Tisch zu decken, stellen sie sich immer taub.«

»Nehmen Sie einfach einen Kochlöffel in die Hand, das verschafft Ihnen eine natürliche Autorität.« Maxime zwinkerte Kims Vater zu. »Und wenn das nicht hilft, können Sie vor lauter Ärger immer noch hineinbeißen.«

»Guter Tipp.« Herr Jülich lachte.

»Fertig«, riefen die Zwillinge aus dem Esszimmer. »Wir können essen!«

Kurze Zeit später saßen alle um den festlich gedeckten Tisch. Frau Jülich hatte extra eine weiße Tischdecke aufgelegt und die silbernen Kerzenleuchter poliert. Franzi saß zwischen Herrn Jülich und Marie und freute sich auf das leckere Menü. Aus der Küche zog bereits der verführerische Duft des gebackenen Hähnchens herüber, aber jetzt war erst einmal die Vorspeise an der Reihe.

»Feldsalat mit Pfifferlingen und karamellisierten Walnüssen«, verkündete Maxime und servierte mit einer ausladenden Armbewegung die Salatteller. »Bon appétit!«

Das ließen sich die Gäste nicht zweimal sagen. Genüssliches Schweigen senkte sich über den Tisch. Franzi schloss genießerisch die Augen. Der würzige Geschmack der Pilze harmonierte perfekt mit der Süße der karamellisierten Walnüsse.

»Ein wahrer Hochgenuss«, stellte Frau Jülich fest. »Ich hätte nicht gedacht, dass man aus einfachem Feldsalat so eine Delikatesse machen kann.«

»Gibt’s noch mehr?« Ben hielt Maxime seinen leeren Teller hin. Er und Lukas hatten ihren Salat im Nu verputzt.

»Die Vorspeise soll den Appetit anregen«, erklärte Maxime den Zwillingen. »Sie ist nicht zum Sattessen gedacht. Aber keine Sorge, gleich ist das Hühnchen fertig.«

Auf den Hauptgang, französisches Rosmarin-Zitronen-Hühnchen mit Backkartoffeln, folgte die Nachspeise, Mousse au Chocolat mit Chili und roten Johannisbeeren.

»Göttlich!« Kim seufzte verzückt, während sie sich den letzten Löffel Mousse au Chocolat in den Mund schob.

Franzi und Marie wechselten einen Blick und grinsten. Kim liebte Schokolade, Kuchen und Süßigkeiten über alles. Sie behauptete immer, ohne eine Extrazufuhr Zucker nicht klar denken zu können, aber Franzi hatte den starken Verdacht, dass das nur eine Ausrede war, um während der Ermittlungen des Detektivclubs hemmungslos Süßes zu naschen.

»Ich kann nicht mehr.« Holger schob sein halb volles Schälchen zur Seite. »Aber es hat ganz vorzüglich geschmeckt.«

»Das finde ich auch.« Michi nickte. »Ich bin wirklich froh, dass ich heute mal eine kleine Lernpause eingelegt habe.«

»Und ich erst!« Kim legte ihre Hand auf Michis. »Wenn du weiter so viel lernst, weiß ich bald gar nicht mehr, wie du aussiehst.«

»Glaub mir, ich hätte die Abschlussprüfungen auch lieber schon hinter mir.« Michi zog eine Grimasse. Seine Ausbildung zum Chemisch-technischen Assistenten war fast zu Ende und er wollte sie unbedingt mit guten Noten abschließen.

»Ich finde es prima, dass du dich so gründlich auf deine Prüfungen vorbereitest«, lobte Frau Jülich. »Daran kannst du dir ruhig ein Beispiel nehmen, Kim.«

Kim verdrehte die Augen, was ihre Mutter zum Glück nicht sah.

Maxime tupfte sich mit seiner Serviette die Lippen ab. »Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt. Leider muss ich mich jetzt entschuldigen, die Pflicht ruft. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, für Sie alle zu kochen.« Er erhob sich.

Frau Jülich stand ebenfalls auf. »Es war mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen. Mein Mann und ich werden sicher bald mal in Ihrem Restaurant vorbeischauen.«

Kims Eltern begleiteten den Koch zur Haustür. Die drei !!!, Michi und Holger räumten den Tisch ab. Die Zwillinge hatten sich natürlich mal wieder im richtigen Moment verdrückt. Anschließend machten sich auch Franzi, Marie und Holger auf den Heimweg.

»Vielen Dank für die Einladung!«, rief Marie, während sie sich auf ihr Fahrrad schwang und mit Holger in Richtung Ostviertel davonfuhr.

»Bis bald!« Franzi winkte Kim und Michi zu, die in der hell erleuchteten Haustür standen. Michi hatte den Arm um Kims Schultern gelegt.

»Tschüss«, rief Kim. »Kommt gut nach Hause!«

Auf dem Heimweg trat Franzi kräftig in die Pedale. Obwohl es erst früher Abend war, hatte sich die Novemberdunkelheit bereits über die Landstraße gelegt, die aus der Stadt hinaus und zu dem alten Bauernhaus führte, in dem Franzi mit ihrer Familie wohnte. Die Luft war kühl und feucht. Der nasse Radweg glänzte im Schein des Fahrradlichts und Franzi beschleunigte das Tempo, um möglichst schnell nach Hause zu kommen. Tinka wartete bestimmt schon auf ihr Abendheu. Franzi freute sich auf die gemütliche Wärme des Stalls, den Geruch nach Stroh und Pferd und das sanfte Schnauben ihres Ponys …

Plötzlich zuckte sie zusammen. Lautlos hatte sich ein Radfahrer von hinten genähert und setzte zum Überholen an. Franzi warf einen schnellen Seitenblick nach links, aber die Gestalt hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht und einen dunklen Wollschal über Mund und Nase gezogen, sodass kaum etwas zu sehen war.

Als sie genau auf einer Höhe waren, streckte der Radfahrer blitzschnell den Arm aus und griff nach Franzis Rucksack, der vorne in ihrem Fahrradkorb lag.

»He!«, rief Franzi empört. »Was soll das?«

Vorsicht, Überfall!

Ehe Franzi reagieren konnte, war die vermummte Person auch schon an ihr vorbeigezogen – mit ihrem Rucksack!

»Verflixter Mist!«, schimpfte Franzi.

Was sollte sie tun? Den Dieb verfolgen? Ein vorbeifahrendes Auto anhalten? Mit dem Handy Hilfe rufen? Franzi war einen Moment unaufmerksam und geriet auf dem feuchten Radweg ins Schlingern. Geistesgegenwärtig lenkte sie gegen und stützte sich mit beiden Füßen ab. Das Fahrrad wurde langsamer und sie schaffte es in letzter Sekunde, einen Sturz abzufangen. Mit zitternden Knien kam sie zum Stehen.

»Mist, Mist, Mist!« Wütend schlug Franzi mit der Hand auf den Lenker. Weiter vorne wurde der Dieb gerade vom Novemberdunkel verschluckt. So ein dreister Kerl! Aber so schnell würde Franzi nicht aufgeben. »Wenn du das glaubst, hast du dich geschnitten, Freundchen«, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Nicht mit Franziska Winkler!«

Franzi schwang sich wieder in den Sattel und nahm die Verfolgung auf. Sie sauste den Radweg entlang, beugte sich tief über den Lenker und trat rhythmisch in die Pedale. Rechts, links, rechts, links … Der Fahrtwind trieb ihr Tränen in die Augen und ihre Oberschenkel brannten vor Anstrengung. Nach einer Weile begann sie zu keuchen – und musste sich eingestehen, dass sie keine Chance hatte. Der Dieb hatte einen zu großen Vorsprung. Und er war verdammt schnell.

Franzi wollte schon aufgeben, da sauste ein Motorrad an ihr vorbei. Die Landstraße war leer und der Fahrer drückte aufs Gaspedal. Er hatte den Rucksack-Dieb im Nu eingeholt. Das Motorrad überholte den Radfahrer, scherte nach rechts aus, bremste und kam quer auf dem Radweg zum Stehen, direkt unter einer Straßenlaterne. Dem Dieb war der Fluchtweg versperrt.

Franzi drosselte das Tempo und hielt an. Was war das denn für eine Aktion? Das schien sich der vermummte Radfahrer auch zu fragen. Er musste scharf bremsen, um nicht mit dem Motorrad zusammenzustoßen. Einen Moment standen sich beide reglos gegenüber. Es hatte angefangen zu nieseln. Im Licht der Straßenlaterne hingen die Regentropfen wie feiner Nebel in der Luft.

Plötzlich kam wieder Bewegung in den Dieb. Er ließ den Rucksack fallen, wendete sein Rad und sauste in die entgegengesetzte Richtung davon, direkt auf Franzi zu. Er fuhr so dicht an ihr vorbei, dass sie den Luftzug spüren konnte. Dabei murmelte er etwas, das wie »Verdammter Verrückter!« klang. Seine heisere Stimme jagte Franzi einen Schauer über den Rücken.

Der Motorradfahrer stand immer noch reglos auf dem Radweg und blickte dem Dieb hinterher. Oder sah er Franzi entgegen? Das war schwer zu sagen, denn er trug einen schwarzen Helm mit verspiegeltem Visier. Weder seine Augen noch sein Gesicht waren zu erkennen. Trotzdem hatte Franzi das Gefühl, dass der Typ sie anschaute.

Der Motorradfahrer wirkte seltsam unwirklich im kalten Licht der Straßenlaterne, wie aus einer anderen Dimension. Der Sprühregen bildete eine Art feuchten Heiligenschein um seinen Kopf mit dem schwarzen Helm. Dazu trug er einen roten Lederanzug und schwere, schwarze Stiefel. Auch seine Maschine war feuerrot.

Franzi schluckte. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken und ihr Herz klopfte wie verrückt. Wer war dieser Kerl? Woher kam er? Was tat er hier? Sollte sie sich bei ihm bedanken? Immerhin hatte er den Dieb in die Flucht geschlagen. Doch bevor Franzi einen Entschluss fassen konnte, ließ ihr Retter seine Maschine aufheulen. Er nickte ihr zu, drehte am Gasgriff und raste davon. Eine Sekunde später war er in der Dunkelheit verschwunden. Nur das Dröhnen des Motorrads war noch etwas länger zu hören.