Die Wahrheit mit der Muttermilch

Familie und kommunistischer Widerstand

Karl-Wolf. So steht es geschrieben in meiner Geburtsurkunde. Nicht Wolf, sondern Karl-Wolf Biermann. Im vierten Jahr des Tausendjährigen Reiches, am 15. November 1936, wurde ich in Hamburg geboren, genau fünf Minuten nach zwölf. Ich war – auf den Tag genau – ein Achtmonatskind. Meine Mutter flüsterte die Standardfrage. Die Hebamme des Sankt-Georg-Krankenhauses durchschnitt die Nabelschnur und knurrte: »… is ’n Junge.« Emma gluckste vor Glück. Ausgerechnet die Arbeiterin Emma Biermann tirilierte das blöde Liedchen »Ja, wir haben einen Sohn, einen Erben für den Thron …« Die Hebamme war womöglich genervt. Sie sagte mit spitzer Zunge: »Der hat ja ’ne kleine Judennase!« War das nun die Diagnose einer erfahrenen Geburtshelferin? Oder der blinde Affekt einer missgelaunten Nazi-Hippe?

Am Abend dieses Sonntags, direkt nach seiner Sonderschicht auf der Deutschen Werft, kam mein Vater in Arbeitskluft zur Klinik. Dagobert hatte Augen nur für seine Emma. Vom Balg nahm er freundlich Notiz. Ja, er war glücklich mit ihr, war verliebt in seine Frau. Und: Er war ihr dankbar. »Du bist nicht nur mein Lieb, sondern der beste Kamerad, den ich je hatte«, schrieb er später in einem Brief aus dem Gefängnis.

Dagobert Biermann hatte Schlosser und Maschinenbauer erlernt. Aufgewachsen war er im »Lazarus-Gumpel-Stift zur Unterstützung bedürftiger Juden« in der Schlachterstraße 46, nahe dem Hamburger Michel, in einer Hinterhofwohnung, in die nie ein Sonnenstrahl fiel. Eine meiner ersten Erinnerungen: drei Treppenstufen hoch am Geländer. Gleich vorne die düstere Wohnstube. Großvater schlief auf dem Sofa, mit einem Hut auf’m Gesicht. John Biermann, meines Vaters Vater, war ambulanter Elektrikermeister mit nur einem Angestellten: er selber. Seine ganze »Firma« bestand aus einem wohlgeordneten Holzkasten fürs Handwerkszeug, dazu eine Stehleiter, ein paar Kabelrollen und eine schwere Kiste voll mit elektrischem Kleinkram. Großvater ging in die Häuser und reparierte den Leuten die Leitungen. Meines Vaters Bruder Karl war zwei Jahre jünger und wurde auch Elektriker. Die hübsche Schwester Rosa, die Hutmacherin, war ganze zwölf Jahre jünger. Weil Großmutter Louise aus einer orthodoxen Familie Löwenthal kam, schickte sie ihre Kinder auf die Talmud-Tora-Realschule, gleich neben der Synagoge am Grindel.

Gewiss Hebräisch, ja, Tora, ja, Talmud. Aber dann ging Dagobert mit vierzehn Jahren in die Lehre auf der Werft Blohm & Voss. Noch lieber als Jude sein wollte er Mensch werden. Er trat der Metallarbeitergewerkschaft bei. Seine Religion war fortan der Kommunismus. Und weil er nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut reden konnte, wählten die Lehrlinge ihn zu ihrem Sprecher. Durch sein unerschrockenes Auftreten zog er den scharfen Blick der Werftleitung auf sich. Nach vierjähriger Lehrzeit kriegte er, trotz allerbester Prüfungen, mit dem Gesellenbrief zugleich die Entlassungspapiere. Er landete außerdem auf der »schwarzen Liste«. Und das bedeutete für viele Jahre, auch nach der tiefen Werftenkrise, Arbeitslosigkeit.

Dagobert traf Emma Dietrich im Jugendverband der KPD, der »Kommunistischen Jugend Deutschlands« (KJD). Sie bewunderten einander. Er ihre Schroffheit, sie seine Geduld. Emmas Realschullehrerin hatte die Eltern besucht und gesagt: »Die kleine Emma sollte weiterlernen. Sie könnte Lehrerin werden.« Aber der alte Dietrich knurrte: »Wir können uns keine Gräfin erlauben.«

1919 begann das Mädchen eine Lehre als Maschinenstrickerin. Nach zweijähriger Ausbildung arbeitete sie im Akkord und verdiente gutes Geld. Dann strickte sie elegante Modekleider auf Sylt. Aber 1924 kam es für sie noch besser: Sie wurde von der Hamburger Blindenanstalt eingestellt. Dort baute sie in eigener Verantwortung eine neue Blindenwerkstatt für Maschinenstrickerei auf. Und das war ihre Idee: Die Arbeitsgänge wurden, im Sinne einer Manufaktur, so unterteilt und die Maschinen so eingerichtet, dass die Blinden und Halbblinden nach ihren Möglichkeiten in ausgetüftelter Zusammenarbeit etwas wirklich Brauchbares produzieren konnten. Emma liebte diese Arbeit und war stolz.

Das Liebespaar heiratete 1927. Beide waren inzwischen in die KPD eingetreten und standen aktiv in der Arbeiterbewegung. Emma und ihre jüngeren Geschwister Lotte und Karl, genannt Kalli, und ihr Dagobert verstanden sich bestens, sie waren ja beides: Familienbande und Genossen. Auch Emmas Eltern, Karl Dietrich und Martha.

Die Dietrichs waren aus Sachsen über Kiel nach Hamburg gezogen. In der Schmiedelehre in Halle an der Saale hatte Emmas Vater durch einen glühenden Eisenspan ein Auge verloren, so dass er beim Hämmern nicht mehr den Abstand in der dritten Dimension sehen konnte. Er arbeitete fortan als Steineträger auf Baustellen. Immer fünfundzwanzig Ziegelsteine mit dem Schulterbrett die Bauleitern hoch. So trug er sich krank und krumm. Der Sachse wurde in Hamburg ein führender Kader des Rotfrontkämpferbundes der KPD, und Ernst Thälmann war sein vertrauter Genosse. Karl galt als der beste Schütze unter den Mitgliedern des RFB. Immerhin, so spotteten die Genossen, musste er sein Glasauge beim Zielen nicht zukneifen. Das war vielleicht sein einziges Privileg im Leben: Er gewann jedes Jahr den ersten Preis, einen ganzen Schinken, beim fröhlichen Wettschießen für den Sieg der Weltrevolution.

An den Wochenenden fuhren die jungen Kommunisten mit der Vorortbahn in die Lüneburger Heide. Sie waren begeistert von der Wandervogelbewegung. Der neueste Schrei: FKK – Freikörperkultur. Emma übte sich im Ausdruckstanz à la Mary Wigman. Sie sangen gemeinsam »Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all« oder das von Rosa Luxemburg aus dem Polnischen übersetzte Lied: »Des Volkes Blut verströmt in Bächen, / Und bitt’re Tränen rinnen drein. / Doch kommt der Tag, da wir uns rächen, / Dann werden wir die Richter sein …« Na ja. Und die Kitschlieder von Hermann Löns: »Ja grün ist die Heide / Die Heide ist grüüüüün …« Der Maschinenschlosser »Dago« zupfte dazu die Gitarre, die Maschinenstrickerin »Emsch« die Waldzither.

Die Nationalsozialisten griffen zu Beginn der dreißiger Jahre nach der Macht. Als die SA, der Rotfrontkämpferbund und die Kampfgruppe »Eiserne Front« sich gegenseitig verprügelten und die Vereinslokale demolierten, machte Dagobert sich einen Namen, weil er es schaffte, mit jungen, bürgerlichen Nazis immerhin unblutige Streitgespräche zu führen, statt immer nur »Eins-in-die-Fresse-mein-Herzblatt!«. 1932 wurde mein Vater von den Thälmann-Anhängern als »Abweichler« gebrandmarkt. Er war der Meinung, die KPD sollte verbündet mit der SPD gegen die Nazis kämpfen. Sein Schwiegervater Karl Dietrich wütete gegen den Abweichler. Als Dago und seine Emsch an der Wohnungstür klingelten, riss der Alte die Tür auf, schwang ein Beil überm Kopf und brüllte einen Satz, der von da ab zur geflügelten Phrase unserer Familiengeschichte gehörte: »Ich! dulde! in meinem Hause!! keine konterrevolutionäre!!! Brut!!!« Die Frauen kreischten und schimpften. Sie rissen dem Berserker mit vereinten Kräften das Beil aus den Händen. An diesen acht Wutworten war wirklich alles falsch. Von wegen »Ich dulde nicht …«. Der Alte musste es dulden, denn schon gleich danach saßen sie wieder zusammen bei Kaffee und Bienenstich am Küchentisch. Auch war sein Schwiegersohn keine »konterrevolutionäre Brut«. Und dann noch das große Wort »in meinem Hause!«. Dieser herzkranke Steineträger Karl Dietrich war froh, wenn er die Miete zahlen konnte.

Er hatte Glück, er starb an seinem schweren Herzfehler schon 1932. Als die Überfallkommandos der NSDAP nach Hitlers Machtergreifung 1933 mehrmals an Oma Meumes Wohnungstür standen, um den Alten zu verhaften, rannte Oma Meume ins Schlafzimmer und zerrte wütend die vertrockneten Kränze von seiner Beerdigung unterm Ehebett hervor. Sie zeigte auf die zerknitterten Kranzschleifen und schrie auf Sächsisch: »Der is doooot! Den gönnd ihr nich mehr dotschlagn!«

Anders als die Sozialdemokraten war die KPD sofort verboten worden, und damit auch ihr Parteiblatt, die Hamburger Volkszeitung. Die Genossen arbeiteten illegal weiter. Meine Eltern und Emmas Bruder Kalli waren in der Parteigruppe St. Georg organisiert. Doch bereits am 8. Mai 1933 wurde mein Vater verhaftet. Die Polizei ertappte ihn auf frischer Tat. Im Atelier des Kunstmalers Arnold Fiedler vervielfältigte er mit einer primitiven Druckmaschine die Notausgabe des verbotenen Parteiblattes, die illegal verteilt werden sollte. Weil die eigentlichen Redakteure schon seit März als »Schutzgefangene« im KZ Fuhlsbüttel saßen, hatte Dagobert auch den Leitartikel verfasst. Darin berichtete er über den unmittelbar anstehenden Prozess zum Altonaer Blutsonntag. Ein knappes Jahr zuvor, am 17. Juli 1932, war es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der SA und den Kommunisten gekommen. Achtzehn Menschen waren erschossen worden. Kaum an der Macht, stellten die Nationalsozialisten den Klempner Bruno Tesch, den Packer Walter Möller, den Schuhmacher Karl Wolff und den Seemann August Lütgens als Schuldige vor ein schnell eingerichtetes Sondergericht. Alle vier wurden ohne Beweise zum Tode verurteilt, das Urteil wurde am 1. August 1933 vollstreckt. Da saß mein Vater schon in Haft. Zwei von den Angeklagten waren erst neunzehn Jahre alt, nach damaligem Gesetz noch nicht volljährig.

Eine unerhörte Begebenheit bei der Hinrichtung hatte sich rasch herumgesprochen. Der beamtete Henker der Hansestadt stand grade nicht zur Verfügung. Ein junger Schlachtermeister aus Wandsbek war eingesprungen, ein Mitglied der NSDAP. Die Exekution fand auf dem Hinterhof des Gerichtsgebäudes in Altona statt. Einer nach dem anderen wurde von dem Ersatzhenker mit dem Handbeil geköpft. Als zuletzt dem Schuhmacher Karl Wolff befohlen wurde, seinen Kopf auf den Hackblock zu legen, bat er um eine letzte Gunst. Sie wurde ihm gewährt, wer weiß, vielleicht von einem Hanseaten, der sich erinnerte, dass auch dem berühmten Seeräuber Störtebeker ein letzter Wunsch erfüllt worden war.

Der junge Schuster aus Altona bat darum, ihm die Fesseln auf dem Rücken zu lösen. Er wolle, sagte er, sich nur noch einmal im Leben richtig ausrecken können. Doch kaum war die erste Hand befreit, schlug er dem nächsten Beamten die Handschellen in die Zähne. Diese letzte Rebellion im ewigen Freiheitskrieg der Menschheit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Kundschaft im Stadtteil Wandsbek blieb dem Schlachter, nachdem er seinen Parteigenossen den Schlächter gemacht hatte, weg. Die meisten Kunden hatten nichts gegen die Nazijustiz. Aber sie ekelten sich bei dem Gedanken, dass Menschenblut an den Händen oder an den Werkzeugen des Hilfshenkers klebt und bei ihnen mit dem Schweinebraten auf den Tisch kommt.

Mein Vater wurde am 14. August 1933 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Er hatte gelogen, alle Artikel der illegalen Ausgabe seien von ihm verfasst. Dadurch konnte er seine zwei Mittäter entlasten. Seine Frau wurde am Tage der Veröffentlichung des Urteils fristlos entlassen. Alle Bewerbungen um eine neue Arbeitsstelle wurden abgelehnt. Nach Monaten vermittelte ihr das Arbeitsamt eine primitive Hilfsarbeit in einer Fabrik.

Bald darauf brachte Emmas Bruder Kalli einen Genossen mit. Es war der ältere Bruder von Karl Wolff. Arbeiter auch er, Kommunist im Rotfrontkämpferbund und, wie die meisten Genossen, auf der Flucht vor den Nazis. Emma sollte diesem Hans Wolff zwei, drei Tage Unterschlupf geben, bis die Fluchtwege im Hamburger Hafen frei waren, um nach Dänemark zu entkommen. Sie versteckte den Wolff-Bruder. Am Tag des Aufbruchs wickelte sie drei Wurstbrote in einen Bogen legales Zeitungspapier und sprach ein großes Wort gelassen aus: »Genosse! Wenn mein Mann in eineinhalb Jahren wieder aus dem Knast kommt … und wenn ich dann schwanger werde … und wenn es ein Sohn wird …, dann nennen wir ihn nach deinem Bruder. Und so machen wir uns einen neuen Karl Wolff!«

Der Bruder des Geköpften rettete sich nach Dänemark, er verschwand auf Nimmerwiedersehn. Bis zur Entlassung von Dagobert war es noch lange hin. Eines Sonntags, am Nachmittag, ging die Strohwitwe Emma über den Jungfernstieg, als eine SA-Kolonne mit Tschingdera und Gegröle vorbeimarschierte. Und so blühte ein junges Glück auf im Unglück: Emma verliebte sich in einen anderen Mann. Was ihn verzauberte? Die junge Frau mit den weichen Locken riss als Einzige in der Menge am Straßenrand nicht den Arm hoch zum Heil-Hitler-Gruß. Er zog sie ins Gespräch. Er lockte sie in den Alsterpavillon. Hübscher Zufall: genau der magische Ort, an dem Heinrich Heine hundert Jahre vorher mit seinem Verleger Julius Campe Rheinwein getrunken und Austern schlampampert hatte.

Der schicke Kerl an der Binnenalster erwies sich als ein gebildeter Mann, ein wohlhabender Mann und ein Anti-Nazi. Paar Jahre jünger als Emma. Friedel Runge war eine Mischung aus Sozialdemokrat und Dandy und Kommunist. Ein linker Einzelgänger. Er arbeitete als Handelsvertreter und fuhr damals schon ein eigenes Auto. Er lockte die Frau des Schlossers Dagobert Biermann bald in die Oper, bald ins Bett. An den Wochenenden flanierte das Paar plebejisch an der Bille, bürgerlich an der Alster. Sie wanderten ins Alte Land auf der anderen Elbseite. Friedel tauchte um die Wette mit seinem Freund unter einem Schlickrutscher in der Elbe durch, eine Art freiwilliges Kielholen im Übermut. Er war stark, er war sanft, er liebte das blonde Kommunistenweib Emma Biermann. Ihr Ehemann saß im Gefängnis, gewiss, aber sie wollte es wissen, sie wollte alles wissen. Emma war so schön, und so schön begeistert, und so schön allein.

Jeder liefert im Spiel der Geschlechter eben das, was er hat. Emma besaß ein geklinkertes Holzboot, ein Kajak für zwei Paddler, es lag an der Bille im Schuppen des Bootsbauers Willi Schulz. Und sie konnte dem Anderen auch ein Stückchen Welt liefern! Sie hatte Russisch gelernt für eine Reise in die Sowjetunion vor ein paar Jahren. In der Kommunistischen Partei hatte sie »Lohnarbeit und Kapital« von Karl Marx studiert. Sie kannte die romantischen Gedichte von Heinrich Heine. Das »Buch der Lieder« hatte ihr Dagobert zur Verlobung von einem Genossen in rotes Leder binden lassen.

Ein ewiges Jahr dauerte die Himmelhölle dieser Liaison. Doch die Zeit erwies sich als grausam kurz. Als der 8. Mai 1935 näher kam, der Tag, an dem Dagobert Biermann aus der Haft entlassen werden sollte, graute seiner Frau vor diesem heiklen Freudentag. Emma hatte alles tausendmal her und hin überfühlt, hatte hin und her überlegt. Dann auferlegte sie sich selbst den Parteiauftrag: Verzicht! Aus Treue zur Partei – und aus Achtung vor ihrem Genossen Ehemann. Einen Tag vor der Entlassung traf sie den Anderen ein letztes Mal. Sie küssten sich, sie redeten, sie weinten, sie schwiegen. Dann riss sie sich das Herz aus dem Leibe, und sie riss sich Büschel ihrer goldblonden Locken vom Kopf.

Am Morgen fuhr Emma mit der U-Bahn raus nach Fuhlsbüttel. Sie holte ihren gehörnten Ehemann ab. Er kam ihr schon auf der Straße entgegen mit seinem Bündel, denn er war zehn Minuten zu früh entlassen worden. Scheues Küsschen, aber kein Kuss. Noch auf der Straße gestand sie ihm alles. Sie sagte: »Wenn du willst, wenn du es aushalten kannst, bleibe ich bei dir. Wenn nicht, dann gehe ich mit dem Anderen.« Er entschied sich gegen die Scheidung. Aber als er Emma, zurück in der Wohnung, aufs Bett legen wollte, sagte sie: »Nein, nicht! Noch nicht. Bitte! Ich liebe noch immer den Anderen.« Dagobert richtete sich sein Bett in der Küche. Er ertrug seine Einsamkeit, weil er nicht vereinsamen wollte. Er umklammerte sein Herz, er war todtraurig von alledem und trotz alledem froh.

Warum und wie Emma ihrem Mann das Zeichen gab, dass endlich! aus dem Genossen auch wieder ihr Bettgenosse werden durfte, weiß ich nicht. Weil ich aber auf den Tag genau ein Achtmonatskind sein soll, kann ich mir ausrechnen, wann es passierte: am 15. März 1936. Seit Dagoberts Entlassung war fast ein Jahr vergangen, so grausam lange hatten die beiden in kommunistischer Keuschheit nebeneinanderher gelebt. Er hatte nichts erzwingen können, und sie musste ihm nichts abschlagen. Alles hat eben seine Zeit. Sie streichelten sich, sie küssten sich, sie umarmten sich. Und danach? Sie schwiegen. So lagen sie zum ersten Mal seit fast drei Jahren innig beieinander. Alles war wieder gut. Er lächelte. Dann brummte er: »Ich hab aber nicht aufgepasst!« Emma sprang – in ihrem Jargon: wie von der Tarantel gestochen! – mit einem Schrei aus dem Bett. Sie rannte rüber in die kleine Küche. Ran an den Handstein! Wasser aufgedreht. Sie ritt wütend über dem gusseisernen Ausguss, ihrem Proletarier-Bidet. Sie schimpfte und greinte, sie lachte böse und weinte wirre Wortfetzen und fluchte aus sich raus und klagte in sich rein, trocknete sich ab, saß nackt am Küchentisch und schwieg feindselig. Doch der Zorn meiner Mutter wandelte sich wie von selber in eine Glückseligkeit. Bald schon pries die Frau ihren Mann für seinen Mangel an Rücksicht und lachte vor Freude. Und natürlich hielt Emma ihr Versprechen, und die beiden nannten mich Karl-Wolf.

***

Mein Vater fand Arbeit auf der Deutschen Werft. Er war Spezialist für die »Laufkatzen«, die auf den Stahlseilen zwischen den mächtigen Torpfeilern der Hellinge den Schiffsbauern die Bauteile ranschaffen. Der Führer brauchte jede Hand für Kraft-durch-Freude-Dampfer und neue Kriegsschiffe. Dagobert brachte seiner Frau jedes Wochenende die Lohntüte – ungeöffnet. Für sich behielt er in seinem kleinen, abgenuddelten Lederportemonnaie nur paar Groschen für den Pfennig-Skat in der Mittagspause.

Meine Eltern und Onkel Kalli gehörten einer Widerstandsgruppe an, die Sabotage betrieb. Onkel Kalli und Dagobert spionierten während ihrer Arbeit im Hafen harmlose Handelsschiffe aus, die heimlich Panzer, Flugzeugteile und Munition nach Franco-Spanien bringen sollten. Heimlich, denn der Völkerbund hatte zum Spanischen Bürgerkrieg, der seit 1936 tobte, das Prinzip der Nichteinmischung beschlossen. Hitler hatte dem Putschgeneral Franco eine Elitetruppe, die Legion Condor, geschickt. Antifaschisten aus aller Welt, Demokraten, Kommunisten, Anarchisten, gründeten daraufhin die Internationalen Brigaden, die auf Seiten der Spanischen Republik kämpften – jeder schickte eben seine Elite in die Schlacht. Den Verbündeten auf Seiten der Republik wollte die Widerstandsgruppe diejenigen Schiffe verraten, die Waffen transportierten. Meine Mutter arbeitete als Kurier von Informationen, einmal entging sie nur knapp der Verhaftung. Ein Genosse hatte ihr eine falsche Hausnummer genannt. Genau das stellte sich als Glück heraus, denn in der Wohnung mit der richtigen Hausnummer saß ein Gestapomann, es war eine Falle.

Die Gruppe flog dann doch durch einen Spitzel auf. Die Gestapo stürmte im März 1937 die Wohnung meiner Eltern. Sie verhafteten meinen Vater, meinen Onkel und wollten auch Emma mitnehmen. Doch Emma schrie: »Mein Kind! Mein Kind!« Die Beamten glotzten in meine Wiege, berieten sich, und der Chef entschied: »Dann bleiben Sie erst mal hier, aber halten Sie sich bereit!« Emma stand unter Hausarrest. Mein Vater drehte sich in der Wohnungstür um, zog den Ehering vom Finger, holte sein kleines Portemonnaie aus der Tasche und legte beides auf den Küchentisch. Dann packten die Beamten ihn und Kalli, prügelten die Verhafteten die Treppen runter, pferchten sie ins Auto und brachten sie ins Gefängnis Fuhlsbüttel. Dort wurden Dagobert und Kalli voneinander getrennt und in Kellerzellen mit Ketten an die Wand gefesselt. Sie wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Nacheinander wurden sie zu Verhören geholt. Sie wurden schwer misshandelt. Vier Monate blieb Onkel Kalli angekettet, Dagobert musste neun Monate diese Qual aushalten.

Emma steckte sich den Ring ihres Mannes auf den Finger und setzte den eigenen davor. Sie nahm ihren Säugling mit zu den endlosen Verhören bei der Gestapo und stillte mich dort. Sie log das Blaue vom Himmel, verstellte sich als tumbes Muttertier, ahnungslos und absolut unpolitisch, und konnte uns so retten. Emma sah ihren Mann vier Monate nicht und wusste auch nicht, wo er war. Dann wurde Dagobert auf einmal während eines Verhörs meiner Mutter in den Raum geführt. Die Gestapo hoffte, dass meine Eltern sich irgendwie verraten. Aber sie hatten damit kein Glück, die beiden sahen sich nur an – und verstanden sich.

Mein Vater wurde in das Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis verlegt. Insgesamt zwei Jahre vergingen von der Verhaftung bis zum Prozess. Alle vier bis sechs Wochen konnte Emma mit mir zusammen Dagobert besuchen. Einmal kriegte sie dabei raus, auf welcher Seite des Gebäudes seine Zelle lag. Freitags war im Gefängnis Fensterputzen angesagt. Meine Mutter ging fortan jeden Freitag mit mir zu der Straßenseite des Gebäudes, zu der die Zelle meines Vaters lag. Und mein Vater putzte nun jeden Freitag besonders gründlich und zeitaufwendig das Fenster. So konnte er erleben, wie sein Wölflein die ersten Schrittchen am Gefängniszaun übte. Ein halbes Jahr dauerte unser kleines Glück, dann beobachtete uns ein Wärter, und mein Vater wurde in eine Zelle verlegt, die nicht zur Straße ging.

Die Anklage gegen meinen Vater lautete: Vorbereitung zum Hochverrat und Landesverrat. Bei der Verhandlung im Januar 1939 kam es zu einem Zwischenfall, den meine Mutter nie vergessen sollte und der ihr den Schlaf raubte. Mein Vater wurde aufgerufen: »Dagobert Biermann, aufstehn!« Er stand auf. Nun rappelte der Richter runter: »Dagobert Biermann, Beruf: Maschinenschlosser. Verheiratet mit Emma Biermann, geborene Dietrich. Wohnhaft Schwabenstraße 50 in Hamburg. Geboren am 13.11.1904. Religion: keine.« Doch statt seine liebe Schnauze zu halten und seinen kleinen Judenhintern zu retten, fiel mein Vater dem Beamten ins Wort und warf in den Saal drei Worte: »Ich! bin! Jude!« Meine Mutter hat sich zeitlebens gefragt, wie ihr Leben weitergegangen wäre, wenn er diesen Satz nicht rausgehaun hätte.

Der Volksgerichtshof verurteilte den Angeklagten zu sechs Jahren Zuchthaus. Zu Emma sagte Dagobert: »Die sitze ich auf einer Arschbacke ab.« Der Kopf der Widerstandsgruppe, der Rechtsanwalt Herbert Michaelis, wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Onkel Kalli kam frei, weil sein Schwager ihn entlastet und alle Schuld auf sich genommen hatte.

***

Obwohl meine Eltern strenge Atheisten waren, ließen sie mich, Karl-Wolf Biermann, das jüdische Kommunistenkind, taufen. Täufling wurde ich aber erst, als ich schon längst laufen und plappern konnte. Mein Vater war zum Absitzen seiner Strafe ins Zuchthaus Bremen verlegt worden. Kinderbesuche waren dort nicht erlaubt, und für meine Mutter war es teuer und mühsam, nach Bremen zu kommen. Beim »Sprecher«, so nennt man den Besuch im Gefängnis, konnte Emma ihren Ehemann immerhin fragen, ob er einverstanden sei, dass sie den Sohn taufen lässt. Unter den gegebenen Zeitumständen fand er die Taufe vernünftig. Ich galt nach den Nürnberger Rassengesetzen als Mischling ersten Grades. Wohlmeinende Genossen hatten Emma dringend geraten, mich taufen zu lassen. So sollte ich nicht als Halbjude, sondern als halber Arier gelten.

Die Taufe fand am 30. Juli 1939 statt, ein Dreivierteljahr nach den Pogromen der sogenannten Reichskristallnacht. Es muss ein Sonntag gewesen sein, denn wochentags arbeitete meine Mutter inzwischen in der größten Hamburger Reinigungsfirma, bei Dependorf. Zuerst als Putzfrau, dann als Expedientin. Der Pastor wird geahnt haben – nein, er hat wohl gewusst –, warum eine fremde kommunistische Arbeiterfrau, deren jüdischer Mann als Häftling im Gefängnis sitzt, zu ihm in die Sankt-Annen-Kirche kommt. Die Taufe sollte mich schützen vor Diskriminierungen, retten vor befürchteten Maßnahmen des Nazi-Staates.

Die Kirche Sankt Annen am breiten Mittelkanal in Hammerbrook lag nur zwei Straßen entfernt von unserer Wohnung. Der Herr Pastor, ein Dr. Ernst Smechula, erwartete uns an der großen, halboffenen Kirchentür, vermutlich nach der Predigt, denn die Kirche war leer. Damals begriff ich wenig von der verrückten Situation, ein herzzerreißend komisches Kapitel aus dem tragischen Familienroman vom Überleben in der Hitlerzeit. Ich hatte mein Spielzeug dabei, wir wollten anschließend mit der S-Bahn ins Grüne fahren, ans Ufer der Bille, wo schöner Sand war. Ich zog mein vertrautes Leiterwägelchen hinter mir her, in dem ein bunter Blecheimer schepperte, dazu Backebackekuchenformen, ein Schaufelchen und ein Sandsieb aus Draht. Der Leiterwagen wurde vor der mächtigen Kirchentür in einer Nische abgestellt.

Der Pastor war ein großer, dunkler Mann mit einer weichen, warmen Hand, die einfach meine Hand umschloss. So schritt er mit mir durch das Kirchenschiff zum Altar. Gottes Haus leuchtete im Schimmerlicht. Hinter uns liefen Mama und Oma Meume. Martha »Meume« Dietrich, die in ihrer langen Proletarierkarriere tausend Kilometer Schafs- und Schweinedärme gewaschen, abgemessen und gebündelt hatte für die Wurstproduktion, spielte die Taufpatin. Die beiden gottlosen Weiber setzten sich in die erste Reihe. Seitwärts links das hohe steinerne Taufbecken. Dort stand ich nun mit dem dunklen Mann. Er hielt eine kleine Predigt, deren Sinn mich nicht erreichen konnte, aber ich erinnere, dass er zwischen den Worten immer wieder sang. Ohne Orgel, versteht sich. Begleitet wurde er nur von einem unhörbaren Engelschor und von Oma Meume.

Meine Oma war damals Mitte fünfzig. Sie sang voller Inbrunst dem Prediger hinterher, sie kannte alle Strophen. Diese Kirchenlieder hatte sie in ihrer Kindheit in Halle gelernt, bei den pädagogischen Pietisten im Waisenhaus der berühmten Franckeschen Stiftungen. Ja, meine Oma Meume sang, wie es in Heines Wintermärchen über das kleine Harfenmädchen heißt: »Sie sang mit wahrem Gefühle / Und falscher Stimme, doch ward ich sehr / Gerühret von ihrem Spiele.« Die Arbeiterin aus dem stinkenden Darmkeller sang so laut »Aus tiefer Not schrei ich zu DIR!«, sie plärrte so unbekümmert daneben, dass es meiner Mutter nicht etwa das Herz rührte. Emma Biermann war eine stolze, eine vernunftgebrannte Gottesleugnerin und viel zu musikalisch. Sie knuffte ihrer Mama in die Seite und zischte: »Du singst falsch!«

Doch diese Zurechtweisung hatte eine unerwartete, eine fatale Wirkung: Die christliche Kommunistin Oma Meume wurde aus ihrem beseelten Mitsingen rausgerissen und lachte sich zitternd ihre Angst aus dem Hals, bis ihr Lachen übermächtig wurde. Sie wollte natürlich – um Gottes willen! – die Zeremonie nicht stören. Sie unterdrückte dieses absurde, peinigende Lachen. Doch der Affekt schaukelte sich hoch. Je mehr die arme Alte gegen den Drang ankämpfte, desto schmerzhafter schüttelten sie die Eruptionen ihres Zwerchfells. Emma haute ihrer Mutter abermals mit dem Ellenbogen in die Seite. Nun schon hilflos brutal. Beiden Frauen war bewusst, worum es hier ging. Beide hatten die panische, nein, die begründete Angst, dass der wohlwollende Herr Pastor Smechula – beleidigt über so viel Mangel an Respekt – den Taufakt abbricht.

Oma Meumes Kampf gegen den übermächtigen Lachreiz war offenbar nicht zu gewinnen. Plötzlich entdeckte meine Mutter, dass die lachende Alte, im Krampfkampf gegen das Lachen, nun auch noch das Wasser nicht halten konnte. Ein Rinnsal pieselte ihr vom Fuß auf den kalten Steinboden und bewegte sich schleichend, unaufhaltsam, auf das nahe Taufbecken zu. Emma geriet in ein blankes Entsetzen. Der gute Hirte jedoch tat unerschütterlich dem Ritus Genüge, so, als lenkte ihn eine fromme Furcht vor dem HErrn, der womöglich eine hastige Schludrigkeit der vorgeschriebenen Szenerie nicht straflos hinnehmen würde. Der Gottesmann griff in das steinerne Becken und benetzte meinen kleinen Kopf – Gottes Dolmetzsch würde sagen: Er taufte mit »durchgottet Wasser«. Und als ich mit heller, klarer Kinderstimme fragte: »Onkel, warum machstu mich nass?«, da kippte auch meine Mutter ins Lachen über, es gab auch für sie kein Halten mehr. Die Junge nun wie die Alte, beide krümmten sich und kämpften immer aussichtsloser gegen die unbesiegbaren Erschütterungen in ihrem Inneren an.

Kaum zu glauben, dass der Pastor dies alles nicht bemerkt haben sollte, doch der Mann führte unbeirrt seine Zeremonie zum Ziel. Am Schluss griff er sich wieder meine Hand und ging mit mir gemessenen Schrittes den langen Weg, den Mittelgang zwischen den leeren Bänken, zurück. Die Frauen liefen, wie zu Beginn, hinter uns her, eine kleine Prozession. Als wir an das schwere Kirchentor kamen, stemmte der Mann den Türflügel auf, und das Sonnenlicht flutete ins Kirchenschiff. Er verabschiedete sich von uns. Das Tor fiel wieder ins Schloss. Ich ging zu meinem Leiterwägelchen.

Wir standen allein auf der Straße, und nun brachen beide Frauen, Mutter und Großmutter, in ein haltloses Schluchzen aus, in ein hemmungsloses Gewein, nein, schlimmer: in ein tiermenschliches Heulen. Solche tiefen Schreckenstöne waren mir neu und ängstigten mich. Verrückt verschieden haben diese beiden Frauen gelacht und geweint. Oma Meume war als Waise aufgewachsen in Halle an der Saale. Ihre Mutter war noch im Kindbett an Tuberkulose gestorben. Der Vater verlor gleich darauf seine rechte Hand in einer Maschine und soff sich fortan zu Tode mit der linken. Die kleine Martha Schimpf vegetierte mit Stiefvater Gott allein im Waisenhaus. Da gab es zu wenig zu essen, zu viele Gebete und noch mehr Prügel. Und darum sang sie so laut und lachte so verzweifelt und weinte so hemmungslos bei der Taufe ihres Enkels. Es kam aus tief kindlichem Kummer. Gott hatte sie dermaßen schäbig im Stich gelassen, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg – Gott sei’s geklagt! – in die Kirche des Kommunismus hatte eintreten müssen.

Im klassenbewussten Herzen ihrer Tochter aber, in Emma Biermann, wütete Zorn, schwelte ein Hass und brannte die Scham. So weit war es also gekommen mit ihrem Leben, mit der stolzen deutschen Arbeiterklasse, ja, mit der ganzen Weltrevolution, so weit, dass sie im Freiheitskampf der Menschheit als Kämpferin für den Kommunismus nun der Kirche unter den Rock kriechen musste, nur um das Leben ihres Kindes vor dem Hitlerstaat zu retten.

Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war. Diesen Schmerz soff ich am Busen meiner Mutter bei der Gestapo in Hamburg, in der Untersuchungshaftanstalt nahe Planten un Blomen, wohin Emma Biermann zu Verhören einbestellt wurde. Den gleichen Kummer schlürfte ich mit der Kunsthonigmilch in meinem Zimmerchen im Häwelmann-Bett über dem Gustavkanal, wenn unten im Fleet der kleine Schlepper mit eingeknicktem Schornstein die Schuten unter die Brücke Schwabenstraße in Richtung zum Mittelkanal zog. Diese heillose Wunde blieb lebenslänglich offen, denn ich kann diesem frühen Tod nicht entfliehen. Der Kummer um den Kommunisten, den Arbeiter, den Juden Biermann ist meine Schicksalsmacht, mein guter Geist, mein böser. Er ist das Gesetz, nach dem ich angetreten bin. So muss ich sein, so bleibe ich. Marx hin, Marx her – ich konnte auf meinem langen Weg an keiner Wegscheide je diesem Fatum entfliehen. Mein Kummer blieb lebendig und machte Metamorphosen durch. Er stumpfte nicht. Er hat sich bis heute immer wieder erneuert, hat sich gewandelt, zusammen mit mir, im Umbruch der Zeiten. Durch ihn bin ich ein frecher Zweifler geworden, dann ein frommer Ketzer, ein tapferer Renegat des Kommunismus. Ein todtrauriges Glückskind in Deutschland, ein greises Weltenkind. Dieser eingeborene Kummer um den Vater war mein Luftholen seit 1937, war mein asthmatisches Japsen seit den Bombennächten in Hammerbrook 1943. Dieser eine Grundkummer ist mein Schreien, mein Quasseln, mein Stottern, all mein Singen, mein Mut, mein Übermut, mein Gelächter, mein Schweigen. Dieser polit-genetisch gezeugte Kummer wurde all mein vegetativer Hass, aber auch meine angelernte Lust am Leben. Der Kummer um meinen Vater blieb meine verwüstbare Hoffnung, meine bedrohte Liebe.

Englische Bomben, wie Himmelsgeschenke

Operation Gomorrha – der Feuersturm in Hamburg. Evakuierung nach Deggendorf.

Und weil ich unter dem Gelben Stern

In Deutschland geboren bin

Drum nahmen wir die englischen Bomben

Wie Himmelsgeschenke hin …

Im Stadtteil Hammerbrook lag ich im Sommer 1943 im Zentrum des Fegefeuers unter dem Bombenteppich, den die Alliierten mit der »Operation Gomorrha« über die Hansestadt ausgebreitet hatten. Meine Mutter freute sich über die englischen Bomben. Es war nur so unpraktisch, dass sie uns auf den Kopf fielen. Komplizierte private Interessenlage im welthistorischen Kuddelmuddel. Ich verstand nichts im Luftschutzkeller, außer Luftholen und Mamas Hand. Die Menschen verbrannten zu Tausenden in den von Bombenfeuern erleuchteten Nächten. Kein Gesicht, keine Farbe, keinen Geruch, kein Geräusch, keine Situation habe ich je aus dem Gedächtnis verloren. Die Erinnerung an dieses Inferno ist mir eingebrannt wie nichts sonst.

Wir schliefen jede Nacht voll angezogen in den Betten. Ein Fliegeralarm riss uns mal wieder hoch. Meine Mutter drückte mir einen Henkeltopf voll Mirabellenkompott in die Hand. Wir stürzten runter in den Luftschutzkeller. Und schon fielen die Bomben. Als das Haus über uns niederbrannte, schlug der Luftschutzwart mit einer Spitzhacke den dünn gemauerten Durchgang zum Nebenkeller auf.

Das ist meine Erinnerung: Urvertrauen. Ich drückte mein Gesicht in den weichen Mantel der Mutter, so konnte ich atmen. Geborgenheit mitten im Weltuntergang. Mama. Wir zwei blieben allein sitzen. Kein Mensch mehr da. Die Kellertreppe brannte schon. Die Hitze. Der Qualm. Wir tappten endlich doch den anderen hinterher, raus aus dem Keller durch das Mauerloch in den Keller des Nachbarhauses – von da nach oben. Dann Augen zu und durch die Feuerwand im Toreingang. So sprangen wir auf die Straße. Luft holen! Wassertuch vor die Nase!

Wenn ganze Straßenzüge brennen, entsteht ein gewaltiger Luftsog. Die heiße Luft rast nach oben, frische Luft strömt von allen Seiten ins Zentrum. Straßen, die in der Richtung des Luftsogs liegen, wirken wie riesenhafte Düsen. In solchem Gebläse brennt alles weg wie Zunder. Der Feuersturm riss ein brennendes Dach über den lodernden Häusern hoch und schleuderte es durch die Luft. Brüllende Blechpappe. Ein Stück Asphalt kochte, eine Frau blieb mit den Schuhen in der schwarzen Pampe stecken und sank um. Die Schwabenstraße, in der wir wohnten, lag günstig, quer zum Sturm. Funkenflug, glühende Holzteilchen brannten sich in die Kleider ein. Das nasse Tuch vorm Gesicht trocknete schnell aus, kein neues Wasser. Schwächere Menschen drehten sich lieber mit dem Rücken zum Sturm und ließen sich treiben.

Wir erreichten den Fabrikhof Ecke Nagelsweg. Die Panik, als irgendwelche Fässer explodierten. Berstende Chemie. Schönste Farbenspiele. Meine Mutter zerrte mich in ein riesiges Fabriklager, ein niedriger Raum voll mit Fässern. Schmale Gänge, aber frische Luft. Ein Däne aus der Nachbarschaft mit seiner Frau. Die beiden. Wir beiden. Wir suchen frisches Wasser für die Tücher. Nichts. Säure. Ätzende Flüssigkeiten. Das Tuch ist versaut. Dann eine Explosion. Der Raum schlägt voll schwarzen Rauch. Keine Hand vor Augen zu sehn, kein Weg zu finden durch die Tonnen, kein Ausgang, keine Luft. Das ist der Tod.

Der dänische Mann hat die kleine Eisentür zum Hof gefunden. Er schreit. Er zündet sein Feuerzeug an, die Flamme zuckt weg. Das Lichtlein, dahin! Wir taumeln zum Ausgang. Jetzt wieder durch eine Feuerwand! Luft anhalten! Und die Hand weggerissen. Mama, Mama! Die Leute schieben und stoßen und trampeln nieder, Mama! Ich bin allein. Die Menschen brüllen. Das ist der Tod. Ich stand ruhig am Rand des Getümmels. Es war ja keine Gefahr mehr, es war das Ende. Das Menschentierchen liegt auf dem Rücken und streckt alle viere von sich. Alles aus. Keine Mama. Das ist eben der Tod.

Plötzlich meine Tante Lotte. Im Gewühl prallte sie auf mich. Sie kreischte. Sie krallte mich. Sie schrie nach ihrer Schwester. Mama! Wir haben uns wieder. Und weiter. Weg hier! Weg! Das kleine Pförtnerhaus auf dem Fabrikhof. Da rein! Leute. Die Hitze. Der Qualm. Das ist der Tod. Wie grün die weiße Wäsche brannte, im Nebenraum auf der Leine. Wieder sind wir die Letzten. Es war so still. Das Feuer im Pförtnerhaus kroch schon das Holzgeländer runter. Die blauen Flämmchen. Das geht uns nichts an. Die Glut. Das tiefe Rot. Unsere Atemtücher ausgetrocknet. Der Qualm beißt in die Lunge. Emma klettert auf ein Klo. Oben im Wasserkasten noch Wasser. Sie tunkt unsere Tücher ein. Raus jetzt! Nah an der Mauer entlang im Windschatten. Zur Brücke! Zur Böschung! Runter ins Wasser! Geh du vor! Kein Grund unter den Füßen. Das ist der Tod. Ich sank unter. Das war der Tod.

Meine Mutter riss mich an den Haaren wieder hoch übers Wasser. Also doch durch den schlimmsten Sturm über die breite Straße auf die andere Seite. Das könnte der Tod sein, isses aber nicht. Der Soldat sah uns von unten. Er kommt uns entgegen. Er will uns übers Geländer helfen. Ein Steinbrocken von der Hochbahnbrücke erschlägt den Mann vor unseren Augen. Einen halben Meter vor uns. Das ist der Tod. Grimms Märchen: De Machandelboom. Der zermatschte Mann. Unter der U-Bahnbrücke standen wir im flachen Wasser des Kanals. Wir drängten uns an den Pfeiler. Das tiefere Wasser. Die alte Frau, ihr Pappköfferchen unter Wasser, die offene Tasche und einen Koffer an der Hand, die schwammen noch halb. Dann lösten sich ihre Finger von den Griffen. Vor meinem Gesicht. Ein Koffer driftete ab. Die Frau sackte unter. Kein Wort. Das ist der Tod. Mama! Die Nächsten kamen die Böschung runtergehetzt ins Wasser. Sie stellten sich auf die versunkene Alte. Wir müssen weg da! Sofort! Die Fabrik. Der Brand. Die Feuergarbe. Die explodierenden Fässer. Die Feuersäulen in der Nacht. Herrlich! Bunte Fontänen schießen aus der Fabrik in den Himmel. Alle paar Sekunden. Das sind die Fässer im Keller.

Und die Wasser teilten sich nicht. Kein Vor, kein Zurück. Meine Mutter nahm mich auf den Rücken. Ich klammerte mich fest an ihr. Das Wasser trug mich. So erreichten wir unter der gerippigen Eisenbahnbrücke das andere Ufer. Bloß raus aus dem Feuer! An der Uferböschung lagen schon paar angesengte Leute im Gras. Das ist der Tod. Das Prasseln der glühenden Güterzüge auf den Gleisen. Ein Waggon nah bei uns brennt aus. Wie schön das große Gelb im Rot! Das knistert so toll! Wir sind ab davon. Das ist das Leben.

Die ganze helle Nacht hindurch im riesigen Feuerofen bis zum düsteren Morgen hielt ich das gedeckelte Aluminiumeimerchen in meiner kleinen Faust. Ich hielt mein Eimerchen durch alle Stürme, Feuer, Explosionen und alle Wasser fest. Nun ruckelte die Mutter den strammen Deckel hoch und gab mir einen Schluck. Die saure Süße der Mirabellen! Wollen Sie auch mal? Zehn Münder, zwölf Schluck, und das Eimerchen war leer.

Übern Südkanal liefen wir auf einer halb weggebrochenen Eisenbahnbrücke. Der Himmel war auch im Morgengrauen noch schwarz. Die Sonne schimmerte fahl im Rauchhimmel. Das Wasser bläkte unter den Schwellen. Die schwarzgekohlten Leichen. Zusammengeschnurrt, so klein. Am Bahndamm der Erstickte. Aufgebläht. Rosa mit Tiefblau sein Gesicht. Das ist nicht der Tod. Das sind die Toten.

Wir liefen den langen Weg. Das ist die Lombardsbrücke. Rüber zur Moorweide am Dammtorbahnhof. Endlich auf der grünen Wiese! Die guten Bäume. Verteilung von Lebensmitteln vom Lastwagen runter. Die viel zu großen Butterstücke in die grapschenden Hände. Das Gezerre. Die Gier. Konserven in die Kinderwagen. Kommissbrot. Panisch die Essensausgabe. Besänftigung der Überlebenden. Mund stopfen. Herz stopfen. Bereicherungsräusche der Ruinierten. Krankenschwestern. Uniformierte Männer. Ein Picasso ohne alle Kunst: die große Schwangere mit der weggebrannten Gesichtshälfte. Das macht der Phosphor. Das lebendige Auge im Totenschädel, als wär’s nix. Und ein Kind schleppt sie, das reitet auf ihrem Bauch. Kein einziges Kind im Feuersturm hat geweint oder gejammert. Der Schrecken war zu übermächtig in dieser Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943.

Es gibt ein Foto vom ausgeglühten Gehäuse einer Taschenuhr in Hiroshima. Die Zeiger der Uhr sind im Zeitpunkt der Explosion auf dem Ziffernblatt festgeschmolzen. Seit ich dieses Bild sah, weiß ich, dass die kleine Lebensuhr in meinem Rippenkäfig auch festgebrannt ist. Sie ist stehengeblieben im Feuergebläse dieser einen Nacht. Ich bin ein grau gewordenes Kind, das immer noch staunt. Sechseinhalb Jahre war ich damals. Und so alt blieb ich mein Leben lang.

Nun lagerten wir mit den Überlebenden auf genau derselben Moorweide, auf der sich nur knapp zwei Jahre vorher die Juden hatten sammeln müssen für den Abtransport nach Minsk. Die gelben Sterne im Nebel. Der kleine Peter. Seine Papierschlange. Der Vogelkäfig mit dem Wellensittich. Butsche Biermann, Butsche Biermann, Schlachterstraße, Schlachterstraße.

***

Die »Operation Gomorrha« der fliegenden Festungen der Royal Air Force war für Bomber-Harris, den britischen Luftmarschall, ein Volltreffer. Halb Hamburg zerbombt. Unser Stadtteil Hammerbrook total ausgelöscht. Zehntausende Tote. Am späten Nachmittag wurden wir auf offene Lastwagen der Wehrmacht verfrachtet. Die Nerven lagen blank. Aber alles friedlich. Für eine Panik reichten die Kräfte nicht mehr. Jeder wollte nichts als weg. Jeder wollte etwas Gerettetes mitschleppen. Meine Tante Lotte, als sie auf die Ladefläche sich hochkämpfte, schlug sich das Schienbein auf. Blutig bis auf den blanken Knochen. Ich hab’s gesehen, den weißen Knochen.

Das Chaos nach dem Hamburger Feuersturm hatte für mich einen Vorteil. Auch die Pläne für die »Endlösung der Judenfrage« waren beschädigt. Fast alle »Volljuden« der Stadt Hamburg waren nach und nach, bis 1942, nach Łódź, Minsk und Riga deportiert worden, die allermeisten liquidiert. Noch lebten Halbjuden, die »Mischlinge ersten Grades« wie ich, und die mischten sich nun unter die Opfer von Bomber-Harris.

Emma und ich schwammen mit im gelenkten Strom der Flüchtlinge. Zehntausende Hamburger wurden in den »Aufnahmegau« Bayern evakuiert. Wir gerieten nach Deggendorf in Niederbayern, wurden bei einer Familie in ein winziges Zimmer einquartiert. Oma Meume landete in einem Nachbardorf, zusammen mit meinem Cousin Kallemann. Kalles Mutter war eine dunkle jüdische Venus aus Ungarn, genannt »die Schwarze«. Sie überlebte, ich weiß nicht wie, als Nachtschatten versteckt in einem Hamburger Schrebergarten.

Die deutsche Bevölkerung hat im Zweiten Weltkrieg kaum gehungert, aber trotzdem war den Leuten jeder zusätzliche Fresser zu viel. Natürlich waren die Massen von zwangseinquartierten »Volksgenossen« nirgendwo willkommen. Wir galten in der Nazipropaganda als Opfer des »angloamerikanischen Bombenterrors«. Aber für die Bayern waren wir Abgebrannten nix als »Ssaupreißn«.

Mich schüttelten asthmatische Hustenanfälle. Der ätzende Rauch, die Phosphorbomben, vielleicht auch die Todesangst – all das hatte meine kleine Kinderlunge angefressen. Die Nebel in den Niederungen der Donau verschlimmerten mir die Atemnot. Meine Mutter ging mit dem Attest eines Kinderarztes zur NSV, der nationalsozialistischen Wohlfahrtsbehörde für »Umquartierte«. Der Umzug in ein Höhenluftklima nach Oberbayern wurde genehmigt. Trotzdem lehnte der NSDAP-Gauleiter den Antrag ab. Seine Begründung: Als Sohn eines toten Kommunisten war ich »nicht würdig«.

Nach einiger Zeit fand Emma ein besseres Untermieterzimmer bei der Familie Xaver Hausinger in der Bahnhofstraße. Im Spätsommer wurde ich eingeschult. Die jungen Lehrer lernten längst alle an der Front. Meine Mutter meldete sich als Hilfslehrerin für die Kleinsten. So kam es, dass ich bei meiner Mama nicht nur die Muttersprache lernte, sondern auch das Lesen und Schreiben.

Es gab in Deggendorf russische Kriegsgefangene, die bastelten buntes Holzspielzeug und verkauften es oder tauschten es gegen Brot. Eines Tages steckte mir solch ein Russe das allerwunderschönste Flugzeug zu, einfach so. Er hatte es mit bunten Lackfarben angemalt. Erst Jahre später erzählte mir meine Mutter, dass sie sich manchmal mit diesem Kriegsgefangenen heimlich getroffen hat. Wäre sie mit diesem Sergej erwischt worden, wäre ich als Vollwaise wohl auch entsorgt worden.

Einmal spielte ich in den Donauwiesen, am Rande der Stadt. An jenem schönen Tag wurde womöglich mein Leben ein weiteres Mal gerettet. Dieses Mal aber von mir selbst. Ein Offizier mit Glitzer auf den Schultern, Wehrmacht, mag sein ein SS-Mann, vielleicht auch ein Bahnbeamter oder Feuerwehrmann – jedenfalls in einer feineren Uniform, ein großer, eleganter Mann. Er sprach mich an und verwickelte mich in ein interessantes Gespräch. Wir schlenderten durch die menschenleere, wilde Landschaft zum Fluss. Ich mutterseelenallein. Als wir ein gutes Stück weit draußen waren, lagerten wir uns in der Sonne an einen sanften Hügel mit wintergewelkten langen, toten Binsengrasbüscheln vom vorigen Jahr, gelbgrün, braun, faulig. Es muss im Frühjahr 1944 gewesen sein.

Der Mann griff mir ohne Hast in meine Hose und fummelte an mir rum. Er machte das wie nebenbei beim Frage- und Antwort-Spiel. Ich spürte eine Todesgefahr. Und weil ich diese Gefahr für groß hielt, hielt ich still und ließ mir das gefallen. Kein Hilfeschrei, genau wie im Feuer unter dem Bombenhimmel in Hammerbrook. Endlich entwand ich mich ohne Hektik, stand auf und ging paar Schritte. Kam aber brav zurück und setzte mich zu diesem Menschen. Wir unterhielten uns weiter. Ich plapperte wie ohne Arg, und er fummelte wieder, als wäre es nix. Ich reagierte auf seine Hand in meiner Hose, als sei es mir egal. Wieder stand ich auf und lief ein Stückchen weiter in die Wiesen. Ich spielte ihm ein spielendes Kind vor. Echt war nur meine Atemnot. Aber ich versuchte, ruhig zu husten. Dann sprang ich, wie selbstverständlich, zu meinem Offizier zurück und lagerte mich wieder neben ihn an den Hang. Er fummelte etwas heftiger und redete leise. Ich hüpfte wieder in die Landschaft und entfernte mich nun schon ein gutes Stück. Fand aber, dass mein Vorsprung noch nicht groß genug sei, schlenderte also zu ihm zurück. Nun war es schon ein vertrautes Spiel. Ich ließ ihn wieder an mir rummachen und entwand mich abermals, noch weiter weg ins Gelände. Ich spekulierte auf sein Vertrauen, dass ich jedes Mal zurückkomme.

Als ich das nächste Mal noch weiter meinen Kreis in Richtung Deggendorf gezogen hatte, war mir der Abstand zwischen uns groß genug. Ich rannte los, rannte um mein Leben. Und schaute mich nicht um. Und wusste nicht, ob er mir folgt. Ich rannte und rannte und keuchte. Ich kämpfte an gegen meine wackligen Beine. Als ich die ersten Häuser erreichte, schmiss ich mich wie ein gewiefter Trapper hinter eine Gartenhecke. Ich lag da und wartete. Der große Uniformierte kam nicht hinterher, weder gerannt noch im Spaziergang. Lange lag ich so. Alles erzählte ich zu Hause meiner Mutter. Wie sie reagierte, hab ich vergessen.

Im April 1945 rollten die Amerikaner mit ihren Tanks und schweren Lastwagen durch die Gassen von Deggendorf. Ich hielt den weißen Stern auf dem Geschützturm der Panzer für den Sowjetstern und wunderte mich, dass er gar nicht rot ist. Für uns, das versteht sich, war dieser Tag der Befreiung keine Niederlage.

In der Bahnhofstraße vor unserer Haustür ein rabenschwarzer Soldat. Der GI fläzte lässig im Jeep, rechte Hand am Steuer, sein linkes Bein ließ er seitlich raushängen. Er trug einen weißen Helm der Militärpolizei. Er wurde beäugt von Zivilisten, die immer auf dem Sprung zum Rinnstein waren, um die amerikanischen Zigarettenstummel aus dem Dreck aufzuklauben. Der Ami rauchte seine Zigarette nur halb, schnipste die lange Kippe dann lässig weg und amüsierte sich über die unzivilisierten Hitlerdeutschen als gierige Kippensammler. Auch ich hatte solch eine kostbare Zigarette erwischt, die aus den Lippen des schwarzen Soldaten stammte. Ich war gut acht Jahre alt. Auf dem Klo bei Hausingers zog ich heimlich und mit Herzklopfen den Qualm der blonden Virginia-Zigarette in meine spirrlige Asthma-Lunge. Schon nach zwei, drei Zügen würgte mich ein Hustenanfall. Es kam über mich eine Übelkeit, und dann explodierte ich auch schon. Der Dünnschiss pladderte aus meinem kleinen Ärschlein in das Plumpsklo. Das ist meine drollige Erinnerung an unsere Befreiung in Deggendorf.

Ganz und gar nicht drollig aber eine andere. Emma kam an einem Abend nicht zurück in unser Zimmer. Erst spät in der Nacht öffnete sie die Tür, schwer abgekämpft. Zitternd umarmte sie mich. Erst viele Jahre später erzählte sie mir von dieser Nacht. Amerikanische Soldaten hatten sie festgenommen und in ihr Camp geschleppt. Dort traf sie noch andere junge Frauen, mit denen die GIs dringend fraternisieren wollten. Sie waren gelähmt vor Angst. Nicht aber Emma. Sie kletterte in einem günstigen Moment über einen hohen Zaun, zerriss sich dabei das Kleid, verlor einen Schuh und blutete an den Beinen. Das ist eben der Krieg, auch im Frieden.