Indonesien 1946: In der Hauptstadt Jakarta werden die Auseinandersetzungen zwischen Unabhängigkeitskämpfern und der holländischen Besatzungsmacht immer heftiger. Der sensible Grundschullehrer Isa lässt sich in die politischen Aktivitäten hineinziehen und wird am Ende zum Sieger - über sich selbst und seine Feinde.
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Mochtar Lubis (1922–2004) war Journalist und Autor. Außerdem übersetzte er Werke von John Steinbeck, Upton Sinclair und Irwin Shaw. Fast zehn Jahre verbrachte er im Gefängnis oder unter Hausarrest. Nach seiner Rehabilitierung wurde er Chefredakteur der Literaturzeitschrift Horison.
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Diethelm Hofstra lebt als freier Übersetzer aus dem Chinesischen, Indonesischen und Malaysischen in Lohmar. Zudem arbeitet er seit mehr als zwanzig Jahren als Reiseleiter durch Nepal, Indien, China und Indonesien.
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Straße ohne Ende
Roman
Aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra
E-Book-Ausgabe
Horlemann @ Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Jalan tak ada ujung.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1996 im Horlemann Verlag.
Die Übersetzung wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt von der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit dem Institut für Auslandsbeziehungen.
Originaltitel: Jalan Tak Ada Ujung
© by Horlemann Verlag 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: giomibi
Umschlaggestaltung: Bettina Wunderli
ISBN 978-3-293-30931-9
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Was ist es, das wir haben müssen
damit wir frei von Angst sind?
Jules Romains
Der Nieselregen verdichtete sich, und rasch kam Finsternis über den zu Ende gehenden Tag. Immer näher rückte das Grummeln und Grollen des Donners heran, und grelle Blitze durchschnitten den Himmel. Das Licht, das sie für Augenblicke warfen, ließ die darauffolgende Finsternis nur um so schwärzer erscheinen. Die Straßen waren leer und verlassen. Einige wenige Menschen flüchteten vor dem Regen, sie flüchteten vor einer Bedrohung, die die Stadt schon seit längerem in Atem hielt.
Ein Lastwagen voller Soldaten mit grimmigen Gesichtern brummte über die leeren Straßen: eine Patrouille, die nach rechts abbog, geradeaus fuhr, nach links abbog, dann wieder nach rechts und wieder geradeaus über die Straßen, die still und leer und verlassen waren. So als handelte es sich um eine immer gleiche Straße an einem finsteren Nieselregenabend, die immer wieder in andere Richtungen führt. Eine Straße ohne Ende.
Jakarta. September 1946. Morgens.
Drei kleine Jungen spielten vergnügt in der schmalen Seitenstraße Gang Jaksa. Wenngleich sie zu dritt waren, gehörte der Papierdrachen nur einem von ihnen. Während einer die Schnur führte, drückte ein anderer den Drachen so hoch in die Luft, dass sich seine Fersen vom Boden abhoben und er nur noch auf den Zehenspitzen stand. Der dritte erteilte Anweisungen und Ratschläge.
»Falsch, falsch, der Wind kommt doch von da. Ihr müsst euch anders aufstellen«, schrie er. Seine beiden Spielgefährten stellten sich anders auf.
»Ayoh, jetzt loslassen!«, feuerte er sie an. »Schnell!«
Aus der benachbarten Seitenstraße, Gang Kebon Sirih Wetan, kam ein anderes Kind daher, das größer und kräftiger als die drei Kleinen war, die vergnügt mit dem Drachen spielten. Seine Gangart und sein Verhalten ließen erkennen, dass dieser Junge in jenem Kampung Chef unter den Altersgenossen war. In der rechten Hand hielt er als Stock den frisch abgebrochenen Ast eines Nangkabaumes. Er blieb an der Mündung der Seitenstraße stehen und spähte nach links und nach rechts. Als er die drei Kleinen mit dem Drachen erblickte, verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, und langsam schlenderte er in ihre Richtung.
Ich werde Jujuh den Drachen wegnehmen, dachte er gierig.
Als er diesen Gedanken gefasst hatte, ließ er den Blick in alle Richtungen schweifen, um auszukundschaften, ob eine der Mütter jener Kleinen in der Nähe war und ihnen beim Spielen zuschaute. Dies war nicht der Fall. Langsam schlenderte er weiter.
In Pak Damrahs Warung saßen zu diesem Zeitpunkt sechs Personen bei einem Getränk zusammen. Eigentlich war es kein richtiger Warung. Es handelte sich lediglich um einen Stand aus vier Bambusstecken, die am Straßenrand in den Boden getrieben waren, mit einem Dach aus acht Sagopalmblättern. Allmorgendlich kam Pak Damrah mit Tragstange und Waren hierher, um seinen Warung zu betreiben, in dem er kleine Mahlzeiten verkaufte: gekochten Reis, mit Hefe versetzte und nach dem Gären gebratene Sojabohnenscheiben, Fisch mit Currysauce, Sambal, gebackene Bananen und natürlich heißen Kaffee. Vier der sechs Gäste gehörten zur Wachmannschaft der Stadtverwaltungsbüros in Kebon Sirih. Sie befanden sich auf dem Weg zur Arbeit, und wie jeden Morgen waren sie auch heute auf eine Tasse Kaffee und ein oder zwei gebackene Bananen eingekehrt. Die beiden anderen waren ein Becakfahrer, der angehalten hatte, um zu frühstücken und dessen Becak vor dem kleinen Warung abgestellt war, sowie ein Altwarensammler, der wie jeden Morgen mit seinem Korb unterwegs war und die Straßen absuchte. Eines seiner Knie lugte durch ein Loch in seinem verschlissenen Sarong.
»Gestern haben die Turbanbriten mal wieder die Häuser in Kampung Tanah Tinggi durchsucht«, erzählte der Altwarensammler, während er an einem großem Stück gebackene Banane kaute. Der Becakfahrer, der soeben geräuschvoll von seinem heißen Kaffee geschlürft hatte, wischte sich mit dem schmutzschwarzen linken Arm über den Mund und verkündete: »Ja, ich bin da gewesen. Konnte drei Stunden lang nicht raus.«
Der Altwarensammler schaute den Becakfahrer an und ließ ein angedeutetes Lachen hören.
»Weißt du …?«, fragte er geheimnisvoll.
Die vier Wachleute, die bereits im Aufbruch zurück zum Gebäude der Stadtverwaltung begriffen waren, nahmen wieder Platz, denn der Tonfall des Altwarensammlers versprach eindeutig eine spannende Geschichte.
Der alte Pak Damrah zerbrach ein paar dürre Zweige und stopfte die Holzstückchen in den tragbaren Dreifuß, auf dem er die Töpfe befeuerte. Sorgfältig und unbeirrt schichtete er eines über das andere. Die Sehnen seine Arme und Hände zeichneten sich deutlich unter seiner Haut ab. Ihm lag nichts an spannenden Geschichten.
»Ich habʼ gestern drei jungen Burschen in Tanah Tinggi geholfen«, nahm der Altwarensammler den Faden wieder auf. »Die haben mir zwei Pistolen und fünf Handgranaten anvertraut; haben sie in meinem Sammelkorb deponiert. Und ich bin hin und hab mich nicht weit von dem Lastwagen von den Turbanbriten hingesetzt und habʼ gewartet, bis die Razzia vorbei war.«
Mit deutlichem Stolz blickte der Altwarensammler um sich.
»Hattest du keine Angst?«, fragte einer der Wachleute.
»Angst?«, wiederholte der Altwarensammler die Frage. Prüfend bückte er jedem einzelnen der Anwesenden ins Gesicht. Er wusste, dass sie ihm nicht glauben würden, wenn er vorgab, keine Angst verspürt zu haben. Also beschloss er, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Wah, ich bin beinahe gestorben vor Angst. Aber nicht aus Angst vor den Turbanbriten, sondern aus Angst vor den jungen Burschen. Die haben mir angedroht, mich fertigzumachen, wenn ich ihre Waffen nicht verstecke. Als die Turbanbriten dann endlich weg waren, sind die jungen Burschen zurückgekommen und haben die Sachen wieder abgeholt. Was war ich da erleichtert!«
»Und dann?«, hakte der Becakfahrer nach.
»Haben sie mir die fünf Rupiah hier geschenkt«, erwiderte der Altwarensammler. Er warf das Geld auf den kleinen Tisch, um seinen Kaffee und die gebackenen Bananen zu bezahlen. Die vier Wachleute standen auf und schritten in Richtung ihrer Arbeitsstätte davon.
Pak Damrah zog die Schublade seines Ladentischchens auf und kramte nach einigen Münzen, um dem Altwarensammler das Wechselgeld herauszugeben. Der Becakfahrer schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee.
Baba Tan saß auf dem Stuhl vor seinem Laden und gönnte sich einen tiefen Zug aus seiner langen Bambuspfeife, als eine Frau, die ihr Baby auf den Rücken gebunden hatte, vor dem Laden stehenblieb und ihn anschaute. Er aber würdigte sie keines Blickes, sondern tat einfach so, als bemerke er sie nicht. Die Frau schien unschlüssig, ob sie weitergehen oder eintreten solle. Schließlich drehte sie sich um und betrat den Laden.
»Gib mir zwei Litermaß Reis«, sagte sie zu Baba Tans Sohn, der den Laden beaufsichtigte. Der Junge füllte die gewünschte Menge Reis in eine Tüte und legte sie vor die Frau auf den Ladentisch.
»Macht sechs Rupiah!«
»Ach, ist der Preis schon wieder gestiegen?«, erwiderte die Frau. »Vorgestern hat das Maß doch nur einen Ringgit gekostet.«
»Im Augenblick ist nur sehr schwer an Reis zu kommen«, verteidigte der Junge seinen Preis.
»Dann lass ichs anschreiben«, erwiderte die Frau und streckte die Hand nach der Tüte Reis aus.
»Wir können dir jetzt keinen Kredit mehr geben«, mischte sich Baba Tan ein, der sich in die Ladentür gestellt und zugehört hatte.
»Aber ich zähle doch zu deinen Stammkunden!«
»Schon, aber im Augenblick ist alles sehr schwierig, und auch ich habe so meine Schwierigkeiten«, erwiderte Baba Tan. »Wir können nicht mehr anschreiben. Es geht einfach nicht mehr.«
Die Frau zog die nach der Tüte Reis ausgestreckte Hand zurück und blieb schweigend stehen. Von wem kann ich jetzt noch Geld leihen, dachte sie. In ihrem Herzen regte sich Zorn. Ach, vielleicht hat Isa noch etwas übrig, fuhr es ihr durch den Kopf.
»Legt den Reis ein Weilchen zurück«, sagte sie, »ich gehe Geld holen.« Und mit raschen Schritten verließ sie den Laden und trat hinaus auf die Straße.
Sie war erst wenige Meter gegangen, als ihr ein urplötzlich hereinbrechendes Dröhnen durch sämtliche Glieder fuhr. Menschen schrien einander gellend zu: »Aaachtung! Aaaaachtung!«, und bevor sie wegrennen konnte, bogen von Kebon Sirih her zwei Lastwagen voller Soldaten mit Stahlhelmen in die Seitenstraße Gang Jaksa ein. Sofort machte die Frau kehrt und lief zurück zum Laden.
Die vier Wachleute hatten in dem Augenblick, als von überall her die »Aaachtung!«-Rufe einsetzten, ungefähr die Stelle erreicht, an der Gang Jaksa und Gang Kebon Sirih Wetan zusammentreffen. Ohne lange nachzudenken, sprangen sie los, um in den nächstbesten Innenhof zu fliehen. Als die Soldaten die vier davonrennen sahen, eröffneten sie von den Lastwagen herab sofort das Feuer. Das Peitschen der Gewehr- und Maschinenpistolensalven zerriss die Stille, die soeben noch über der Straße gelegen hatte. Wie von einer geheimnisvollen, unsichtbaren Hand aufgehalten, verharrten zwei der vier Wachleute mitten im Lauf, um Augenblicke später mit dem Gesicht in den Straßenstaub zu stürzen. Die beiden anderen rannten noch einige Schritte weiter und verschwanden hinter einer Hauswand. Die Lastwagen ratterten die Straße hinab. Die Kinder, die mit dem Drachen spielten, waren noch nicht kräftig und schnell genug, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Als die Fahrzeuge die Stelle erreichten, an der sie vor wenigen Augenblicken noch im Spiel versunken waren, befanden sich die drei erst in der Nähe von Pak Damrahs Warung. Dort sprangen der Becakfahrer und der Altwarensammler auf und suchten ihr Heil in der Flucht. Pak Damrah blieb wie festgenagelt auf seinem Schemel sitzen. Die Soldaten auf den Lastwagen stellten das Feuer nicht ein, sondern schossen auf alles, was sich bewegte. Am Bein getroffen, brach der Becakfahrer zusammen. Eines der Kinder stürzte, ohne einen Laut von sich zu geben, zu Boden, wo es sich noch zweimal überschlug und dann regungslos im Straßenstaub liegenblieb.
Die Frau mit dem Kind auf dem Rücken flüchtete in die Sicherheit des Ladens, wo sich außer ihr niemand mehr befand, denn Baba Tan und sein Sohn hatten sich längst hinter dem Laden versteckt, ohne sich darum zu scheren, dass ihre Waren unbeaufsichtigt blieben.
Nur wenig später waren die Lastwagen an der Abzweigung von Gang Jaksa und Jalan Asam Lama vorbei. Die Soldaten feuerten immer noch blindwütig nach allen Seiten, und ihren Schüssen schickten sie Schreie und wüste Beschimpfungen hinterher: »Zum Teufel mit dir, Sukarno, du Hund! Unabhängigkeit willst du? Hier hast du deine Unabhängigkeit!« Und wieder spien die Maschinenpistolen und Gewehre ziellos in alle Richtungen.
Die Frau mit dem Kind auf dem Rücken hastete aus dem Laden und verschwand in der ersten engen Gasse, die von der Seitenstraße Gang Kebon Sirih Wetan abzweigt.
Baba Tan, sein Sohn und die übrigen Familienangehörigen verbargen sich noch immer im Hühnerstall hinter dem Laden.
Erst als in der folgenden Viertelstunde keine weiteren Lastwagen mit NICA-Soldaten mehr vorbeigekommen waren, zeigten sich in den engen Gassen allmählich vereinzelt junge Leute, die mit spitzen Bambuslanzen bewehrt hinter Zäunen, Häusern, Toilettenhäuschen und Küchenstuben Wache bezogen, bis einige von ihnen schließlich den Mut fassten, die Seitenstraßen Gang Jaksa und Gang Kebon Sirih Wetan zu betreten.
Verschiedene Leute griffen zum Telefon und forderten Krankenwagen an. Rings um Pak Damrahs kleinen Warung drängelte sich eine immer größer werdende Menschenmenge. Irgendjemand hob den Jungen auf, der von den Schüssen niedergestreckt worden war, und bettete ihn an den Straßenrand. Die kleinen, schmutzigen Fäuste hielten die Schnur des Papierdrachens noch fest umschlossen. Er bewegte sich nicht mehr.
Pak Damrah war nicht verletzt, doch der Schreck war ihm so tief in die Glieder gefahren, dass er kein einziges Wort über die Lippen brachte. Der leere Ausdruck auf seinem bleichen Gesicht beantwortete hinreichend die Fragen, die von allen Seiten an ihn herangetragen wurden. Mehrere junge Leute mit spitzen Bambuslanzen kamen herbeigelaufen. Wenig später traf ein junger Mann ein, der mit einer Pistole bewaffnet war und den Becakfahrer, der vor Schmerzen stöhnend am Boden lag, danach befragte, wer geschossen habe und wie viele Personen es gewesen seien. Aber der Becakfahrer, aus dessen Wunde am Bein immer noch Blut sickerte, stöhnte nur unablässig weiter und schenkte den Fragen des jungen Mannes mit der Pistole keine Beachtung. Dieser wandte sich schließlich von ihm ab und erteilte einigen Leuten die Anweisung, die beiden niedergeschossenen Wachleute an den Straßenrand zu schaffen. Es stellte sich heraus, dass sie noch lebten, jedoch schwer verletzt waren. Ihre abgetragenen grünen Wachmannschaftshemden waren von dunklem Blut durchtränkt. Auch diese beiden Verletzten stöhnten vor Schmerzen.
Wenig später traf ein Fahrzeug des Indonesischen Roten Kreuzes ein, in dem die Verletzten wegtransportiert wurden. Auch das tote Kind wurde fortgebracht.
»Ich werde jetzt telefonisch die Nachrichtenagentur Antara verständigen«, sagte der junge Mann mit der Pistole, ohne seine Worte an eine bestimmte Person zu richten. Er sprach mehr zu sich selbst.
Als die ersten Schüsse in Gang Jaksa die Stille des Morgens zerrissen, war Lehrer Isa zu Fuß unterwegs zu seiner Schule in Tanah Abang. Für Augenblicke befiel ihn Angst um die Sicherheit seiner Frau und des Kindes. Ach, Fatimah wird vorsichtig sein, dachte er dann, schließlich habe ich ihr dringend ans Herz gelegt, nicht auf die Straße zu gehen.
Die gellenden Schreie »Aaachtung! Aaaaachtung!« wurden bis in die Kampungbezirke entlang von Laan Holle und Jalan Asam Lama weitergetragen, so dass nur Augenblicke später auch diese beiden Hauptverkehrsstraßen wie leergefegt waren. Isa war gezwungen, Unterschlupf im Haus von Menschen zu erbitten, die er nicht kannte. Er landete bei äußerst hilfsbereiten Leuten, die ihm ohne zu zögern anboten, sich bei ihnen zu verstecken.
Der Lehrer kauerte sich neben den Hausherrn ins vordere Verandazimmer und spähte über die Fensterbank hinaus auf die ruhige, leergefegte Hauptstraße. Sein nach den Laufschritten fliegender Atem beruhigte sich allmählich, doch das Angstgefühl wollte nicht aus seinem Herzen weichen. Die leer vor ihm liegende Jalan Asam Lama war von weißem Staub überdeckt und voller Schlaglöcher. Ein hellbrauner Hund hechelte am Haus vorbei und lief quer über die Straße.
Die Ehefrau des Hausherrn kam aus dem Nebenraum, doch ihr Mann gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie wieder hineingehen solle.
Seite an Seite kauerten sie fünf lange Minuten hinter der Fensterbank und spähten hinaus. Die Straße war nach wie vor menschenleer. Isa verspürte das Verlangen, sich vorzustellen. Also wandte er sich dem Hausherrn zu und sagte mit angedeutetem Lächeln: »Mein Name ist Isa, ich bin Lehrer an der Schule in Tanah Abang.«
»Sehr erfreut. Ich heiße Semedi und arbeite für die Finanzbehörde«, erwiderte der Hausherr und streckte Isa die Hand entgegen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tauchten in geduckter Haltung zwei mit Gewehren bewaffnete junge Männer auf, die sich hinter einem weißen Mäuerchen und einer grünen Myrrhenhecke versteckten.
»Da kommen welche«, flüsterte der Hausherr Isa zu.
Isa reckte den Hals, um die beiden jungen Leute, die hinter die grüne Myrrhenhecke gekrochen waren, besser beobachten zu können.
Vom Nachbarhof her sprang nun ein anderer junger Mann in den Innenhof des Hauses, in dem sich Isa verbarg. Dieser junge Mann war nur mit einer Pistole bewaffnet. Als er die beiden Männer hinter der Fensterbank bemerkte, huschte er an den Boden gedrückt zu ihnen hin und raunte ihnen zu: »Dort unten an der Straßenmündung ist ein Lastwagen mit Turbanbriten. Sie kommen von Tanah Abang Bukit her und bewegen sich in diese Richtung. Seid vorsichtig!«
Der junge Mann hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als von Tanah Abang her wiederholt die Schreie »Aaachtung! Aaaaachtung!« weitergetragen wurden. Sofort sprang der pistolenbewehrte Mann hinaus auf die Straße, rannte in geduckter Haltung auf die andere Seite und verschwand hinter der grünen Myrrhenhecke, wo er sich dicht neben die beiden Männer mit den Gewehren kauerte.
Jetzt hörte Isa das Geräusch eines Lastwagenmotors, und zusammen mit dem Hausherrn kroch er hinter ein anderes Fenster, durch das sie in die Richtung spähen konnten, aus der sich das Fahrzeug näherte. Nur drei Häuser von ihrem Versteck entfernt hielt der Lastwagen an.
Isa wechselte erneut das Fenster, um zu schauen, was die drei jungen Leute taten, die sich gegenüber versteckt hielten. Sie schienen das Feuer noch nicht eröffnen zu wollen.
Als Isa Augenblicke später wieder hinter dem anderen Fenster kauerte und beobachtete, wie die Soldaten indischer Abstammung vom Lastwagen herab auf die Straße sprangen, hätte er seine Empfindungen nicht beschreiben können. Er fühlte sich hohl und leer, besonders in der Magengrube. Und es nahm ihm den Atem, sich gegen die Leere in seinem Herzen zu stemmen.
Verstohlen richtete er seinen Blick zum Hausherrn, doch der war nicht mehr da. Isa befand sich allein im Verandazimmer. Für Augenblicke wollte er einfach aus dem Zimmer rennen, doch sofort wurde ihm bewusst, dass ihm diese Möglichkeit überhaupt nicht offenstand. Die indischen Soldaten befanden sich nur drei Häuser von seinem Versteck entfernt.