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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2018 Ravensburger Verlag GmbH

Die englische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel
Skeleton Key
by Walker Books Ltd., 87 Vauxhall Walk, London
SE11 5HJ.

Published by arrangement with Anthony Horowitz
Text © 2002 Stormbreaker Productions Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel
Mörderisches Spiel
2004 im Ravensburger Verlag GmbH

Cover © Digital Art by Larry Rostant

Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Penguin Books
USA.

Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-38465-5

www.ravensburger.de

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Die Nacht senkte sich schnell über die Insel Skeleton Key.

Die Sonne schwebte nur kurz über dem Horizont, dann ging sie unter. Und fast sofort rollten Wolken heran, erst rot, dann violett, silbern, grün und schließlich schwarz, als würde die ganze Farbenpracht dieser Welt in einen riesigen Schmelztiegel gesogen. Ein einsamer Fregattvogel glitt über die Mangrovenbäume, doch vor dem Farbenchaos am Horizont wirkte sein Gefieder blass und unscheinbar. Es war schwül; Regen hing in der Luft. Bald schon würde ein Sturm losbrechen.

Die einmotorige Cessna Skyhawk SP kreiste zweimal über der Insel, bevor sie zur Landung ansetzte. Flugzeuge wie dieses kamen in diesem Teil der Welt häufig vor und fielen kaum auf. Darum hatte man sich auch für diesen Typ entschieden. Wenn jemand neugierig genug gewesen wäre, die Registrierungsnummer an der Unterseite der Flügel zu überprüfen, hätte er feststellen können, dass die Maschine auf eine Fotografiefirma in Jamaika zugelassen war. Aber das stimmte nicht. Die Firma gab es nicht, und für Luftaufnahmen war es jetzt schon viel zu dunkel.

Im Flugzeug saßen drei dunkelhäutige Männer in verblichenen Jeans und weit geschnittenen Freizeithemden. Der Pilot hatte langes schwarzes Haar, tiefbraune Augen und eine dünne Narbe, die sich über eine Gesichtshälfte zog. Er hatte seine Passagiere erst an diesem Nachmittag kennengelernt. Sie hatten sich als Carlo und Marc vorgestellt, doch der Pilot bezweifelte, dass sie wirklich so hießen. Aber er wusste, dass sie ihre Reise schon vor geraumer Zeit begonnen hatten, irgendwo in Osteuropa. Er wusste ferner, dass dieser kurze Flug der letzte Reiseabschnitt war. Außerdem wusste er, was sie mit sich führten. Und damit wusste er schon jetzt viel zu viel.

Der Pilot warf einen Blick auf das Funktionsdisplay, das auf dem Instrumentenbord angebracht war. Das beleuchtete Computerdisplay warnte ihn vor dem Sturm, der immer näher kam. Aber darüber machte sich der Pilot keine Sorgen. Niedrig hängende Wolken und Regen gaben ihm Deckung. Während eines Sturms ließ die Aufmerksamkeit der kubanischen Flugsicherung gewöhnlich nach. Trotzdem war er nervös. Er war schon oft nach Kuba geflogen, hierher jedoch noch nie. Und besonders heute Abend wäre ihm fast jedes andere Ziel weitaus lieber gewesen.

Cayo Esqueleto. Die Amerikaner nannten die Insel Skeleton Key. Skelettinsel.

Und da lag sie auch schon unter ihm, 38 Kilometer lang und an der breitesten Stelle neun Kilometer breit, umspült vom Meer, das vor ein paar Minuten noch von einem ungewöhnlich strahlenden Blau gewesen war, sich aber jetzt plötzlich verdunkelt hatte. Weiter im Westen konnte der Pilot die Lichter von Puerto Madre ausmachen, der zweitgrößten Ortschaft der Insel. Der Hauptflughafen lag ein Stück weiter im Norden, außerhalb der Hauptstadt Santiago. Aber dorthin steuerte er die Cessna nicht. Er schob den Steuerknüppel ein wenig nach rechts. Die Maschine beschrieb eine steile Kurve und kreiste über den Wäldern und Mangrovensümpfen, die den alten, verlassenen Flugplatz an der südlichen Spitze der Insel umgaben.

Die Cessna war mit einer Wärmekamera ausgestattet, die dem Modell ähnlich war, das in amerikanischen Aufklärungssatelliten verwendet wurde. Der Pilot drückte auf einen Schalter und blickte auf den Bildschirm.

Ein paar Vögel wurden als winzige rote Pünktchen sichtbar. In den Sümpfen pulsierten weitere Punkte, vielleicht Krokodile.

Und dann noch ein einzelner Punkt, der sich ungefähr 20 Meter von der Landebahn entfernt befand. Der Pilot wollte Carlo, den älteren der beiden Passagiere, darauf aufmerksam machen, aber der hatte sich bereits über seine Schulter gebeugt und starrte ebenfalls auf den Bildschirm.

Carlo nickte schweigend. Wie vereinbart, wurden sie nur von einem einzigen Mann erwartet. Hätte sich dort unten noch eine weitere Person im Umkreis von ein paar Hundert Metern aufgehalten, sie wäre auf dem kleinen Bildschirm zu sehen gewesen. Die Gegend war also sicher und sie konnten landen.

Der Pilot warf einen Blick aus dem Fenster. Vor ihm erstreckte sich die Landebahn, ein rauer Geländestreifen, den man aus dem Dschungel geschlagen hatte und der durch ein sumpfartiges Gebiet zu verlaufen schien. Der Pilot hätte ihn in der rasch zunehmenden Dunkelheit übersehen, wenn nicht Lichterketten auf beiden Seiten der Landebahn installiert worden wären.

Die Cessna schwebte vom Himmel herunter. Im letzten Augenblick wurde sie von einer plötzlichen meeresfeuchten Böe gepackt, als wolle die Natur die Nerven des Piloten auf die Probe stellen. Aber der Pilot zuckte mit keiner Wimper und Sekunden später prallten die Laufwerksräder auf den Boden und das Flugzeug hüpfte und holperte über die Landebahn, genau zwischen den beiden Lichterketten. Er war froh über die Leuchten. Die Mangroven – undurchdringliche buschartige Bäume, die in kleinen Tümpeln mit brackigem Wasser zu treiben schienen – wuchsen fast bis an den Rand der Landebahn. Nur ein paar Meter Abweichung zu einer Seite würden reichen, um das gesamte Laufwerk zu ruinieren. Sie würden sogar ausreichen, um das ganze Flugzeug in einen Schrotthaufen zu verwandeln.

Der Pilot drückte auf ein paar Schalter und drehte an den Schaltknöpfen. Der Motor verstummte; der zweiflügelige Propeller wurde langsamer und kam zum Stillstand. Wieder blickte der Pilot aus dem Fenster. Vor einem der Gebäude parkte ein Jeep und daneben stand der Mann, der als einzelner roter Punkt auf dem Bildschirm erschienen war. Der Pilot wandte sich an seine Passagiere.

»Er steht dort drüben.«

Carlo nickte. Er war ungefähr 30 Jahre alt und hatte schwarzes lockiges Haar. Unrasiert, wie er war, zeigten sich auf seinen Wangen Bartstoppeln in der Farbe von Zigarettenasche. Er drehte sich zu dem anderen Passagier um: »Marc? Bist du bereit?«

Der Mann, der Marc genannt wurde, hätte Carlos jüngerer Bruder sein können. Er war noch keine 25 und wirkte sehr verängstigt, obwohl er es nicht zeigen wollte. Im Widerschein der grünen Instrumentenbeleuchtung glitzerten Schweißperlen auf seinem Gesicht. Er griff hinter sich und nahm eine 10-Millimeter-Pistole, eine Glock Automatic, heraus. Nachdem er überprüft hatte, ob sie geladen war, schob er sie an der Rückseite seiner Hose in den Gürtel und verbarg sie unter dem weiten Hemd.

»Ich bin bereit«, sagte er.

»Er ist allein. Wir sind zu zweit«, versuchte Carlo Marc zu beruhigen. Vielleicht wollte er auch nur sich selbst beruhigen. »Er kann nichts gegen uns ausrichten.«

»Okay, gehen wir.«

Carlo wandte sich an den Piloten. »Halten Sie die Maschine startbereit«, befahl er. »Wenn wir wieder zurückkommen, gebe ich Ihnen ein Zeichen.« Er hob die Hand hoch und formte mit Zeigefinger und Daumen ein O. »Das ist das Zeichen, dass wir unsere Sache erfolgreich durchgezogen haben. Dann starten Sie den Motor. Wir wollen keine Sekunde länger als nötig hierbleiben.«

Sie stiegen aus dem Flugzeug. Die Landebahn war mit einer dünnen Kieselschicht bedeckt, die unter ihren Kampfstiefeln knirschte, als sie zur Ladeklappe an der Seite der Maschine gingen. Die Luft hing drückend und schwül unter dem schweren Nachthimmel. Die Insel schien den Atem anzuhalten. Carlo griff nach oben und öffnete den Laderaum. Im hinteren Teil des Flugzeugs stand ein schwarzer Behälter, ungefähr zwei Meter lang und einen Meter breit. Es kostete die beiden Männer einige Anstrengung, den Behälter herauszuheben und auf den Boden zu stellen.

Der jüngere Mann sah auf. Von den Lichtern der Landebahn geblendet, konnte er nur sehr undeutlich die Gestalt wahrnehmen, die still wie eine Statue neben dem Jeep auf sie wartete. Seit der Landung des Flugzeugs hatte sich der Mann nicht von der Stelle gerührt. »Warum kommt er nicht herüber?«, fragte Marc.

Carlo spuckte nur aus und gab keine Antwort.

Der Behälter hatte zwei Tragegriffe, einen an jeder Längsseite. Die beiden Männer trugen ihn gemeinsam. Dennoch war er so schwer, dass sie nur unsicher und in gekrümmter Haltung gehen konnten. Es dauerte lange, bis sie den Jeep erreichten. Aber schließlich war es geschafft. Erleichtert stellten sie den Behälter ab.

Carlo richtete sich auf und rieb seine Hände an den Hosenbeinen seiner Jeans. »Guten Abend, General«, grüßte er. Er sprach Englisch. Man hörte jedoch, dass dies nicht seine Muttersprache war. Es war auch nicht die Muttersprache des Generals. Aber es war die einzige Sprache, in der sie sich verständigen konnten.

»Guten Abend.« Der General machte sich nicht die Mühe, die Männer mit ihren Namen anzureden, die, wie er wusste, ohnehin falsch waren. »Gab es Probleme beim Flug?«

»Überhaupt keine, General.«

»Die Lieferung?«, fragte der Mann und warf einen Blick auf die Kiste.

»Ein Kilogramm waffenfähiges Uran. Genug für eine Bombe, mit der man eine ganze Stadt auslöschen könnte. Wäre ziemlich interessant zu erfahren, auf welche Stadt Sie’s abgesehen haben.«

General Alexei Sarow trat einen Schritt vor, sodass er in den Lichtschein der Landebahnbeleuchtung geriet. Er war nicht sehr groß, aber offensichtlich gewöhnt, Macht auszuüben und Befehle zu erteilen. Schon aus seiner Haltung wurde deutlich, dass er viele Jahre in der Armee verbracht hatte. Das zeigten sein kurz geschnittenes, stahlgraues Haar, seine wachsamen blauen Augen und sein fast ausdrucksloses Gesicht. Es zeigte sich in seinem gesamten Verhalten: Er schien außerordentlich selbstsicher, gelassen und wachsam zugleich. General Sarow war 62 Jahre alt, wirkte aber 20 Jahre jünger. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schmale dunkelblaue Krawatte. In der schwülen Hitze hätte seine Kleidung eigentlich zerknittert sein sollen. Und er selbst schweißgebadet. Trotzdem wirkte er, als sei er gerade aus einem klimatisierten Raum gekommen.

Sarow ging neben dem Behälter in die Hocke und zog ein kleines Gerät aus der Tasche. Es sah aus wie ein Zigarettenanzünder – bis auf die Kontrollskala, die daran befestigt war. An der Seite des Behälters fand Sarow eine Steckvorrichtung und schloss das Gerät an. Er blickte kurz auf die Skala. Dann nickte er befriedigt.

»Haben Sie den Rest des Geldes?«, fragte Carlo.

»Natürlich.« Der General richtete sich wieder auf und ging zum Jeep. Carlo und Marc beobachteten ihn in höchster Anspannung – das war der Augenblick, in dem der General eine Waffe hervorziehen konnte. Aber als sich Sarow wieder umdrehte, hielt er nur einen schwarzen Aktenkoffer in den Händen. Er ließ die Schlösser aufschnappen und öffnete den Deckel. Der Koffer war mit Banknoten gefüllt: Päckchen mit jeweils 50 gebündelten 100-Dollar-Scheinen. Insgesamt 100 Päckchen. Die Summe belief sich auf eine halbe Million Dollar. Mehr Geld, als Carlo in seinem Leben je gesehen hatte.

Aber immer noch nicht genug.

»Wir haben noch ein kleines Problem«, sagte Carlo.

»Ja?« Sarow schien nicht sonderlich überrascht.

Marc spürte den Schweiß, der in seinen Kragen rann. An seinem Ohr summte eine Stechmücke, aber er widerstand dem Drang, nach ihr zu schlagen. Vor diesem Augenblick hatte er sich von Anfang an gefürchtet. Er stand ein paar Schritte entfernt, mit locker an den Seiten herabhängenden Armen. Langsam und unauffällig schob er seine Hände hinter dem Rücken nach oben, in die Nähe der verborgenen Waffe. Er blickte zu den Gebäuderuinen hinüber. Eine war vielleicht einmal ein Kontrollturm gewesen. Der Bau daneben sah wie eine Zollstation aus. Beide Gebäude waren halb zerfallen und leer, die Mauern teilweise eingestürzt und die Fenster eingeschlagen. Vielleicht hielt sich dort jemand versteckt? Nein. Die Wärmekamera hätte es ihnen verraten. Sie waren ohne verborgene Beobachter.

»Der Preis für das Uran«, erklärte Carlo und hob bedauernd die Schultern. »Unser Freund in Miami lässt Ihnen ausrichten, dass es ihm sehr leidtut. Aber überall auf der Welt sind die Sicherheitsvorkehrungen verschärft worden. Schmuggel ist jetzt viel schwieriger als früher, vor allem bei so speziellen Dingen. Und das verursacht eben zusätzliche Kosten.«

»Wie hoch sind diese zusätzlichen Kosten?«

»Eine Viertelmillion Dollar.«

»Das ist eine sehr … unglückselige Entwicklung.«

»Nur für Sie, General. Denn Sie müssen den Preis zahlen.«

Sarow dachte nach. »Muss ich das? Wir hatten schließlich einen Fixbetrag vereinbart«, sagte er.

»Unser Freund in Miami hofft, dass Sie Verständnis für seine Situation haben werden.«

Ein langes Schweigen trat ein. Marc streckte seine Finger hinter dem Rücken aus und schloss sie um den Griff der Glock Automatic. Aber dann nickte Sarow. »Ich werde aber das Geld erst beschaffen müssen«, sagte er.

»Sie können es auf dasselbe Bankkonto überweisen, das wir schon früher benutzt haben«, sagte Carlo. »Aber ich muss Sie warnen, General. Wenn das Geld in drei Tagen noch nicht eingegangen ist, werden die amerikanischen Geheimdienste darüber informiert, was sich heute Abend hier abgespielt hat … und was Sie gerade in Empfang genommen haben. Sie glauben vielleicht, dass Sie hier auf der Insel in Sicherheit sind. Aber ich garantiere Ihnen: Sie wären dann selbst hier nicht mehr sicher.«

»Sie drohen mir«, murmelte Sarow. Seine Stimme klang ruhig und tödlich kalt zugleich.

»Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen«, sagte Carlo.

Marc zog eine Jutetasche heraus, faltete sie auseinander und kippte das Geld aus dem Koffer in die Tasche. Vielleicht war in dem Aktenkoffer ein Funksender versteckt. Oder eine kleine Bombe. Den leeren Koffer ließ er stehen.

»Gute Nacht, General«, sagte Carlo.

»Gute Nacht«, antwortete Sarow lächelnd. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Rückflug.«

Die beiden Männer gingen davon. Marc spürte die Geldbündel, die durch den Stoff der Tasche gegen seine Beine schlugen. »Der Mann ist ein Idiot«, flüsterte er in seiner eigenen Sprache. »Ein alter Mann. Warum hatten wir vor dem Angst?«

»Verschwinden wir von hier«, sagte Carlo, dem der letzte Satz des Generals nicht aus dem Kopf ging. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Rückflug. Hatte er nicht gegrinst, als er das sagte?

Er gab dem Piloten das vereinbarte Signal, Zeigefinger und Daumen zu einem O geformt. Sofort sprang der Motor der Cessna an.

General Sarow beobachtete sie noch immer. Er hatte sich nicht vom Fleck bewegt; jetzt schob er die Hand in eine Jackentasche. Die Finger schlossen sich um einen Funksender. Sarow hatte nur kurz nachgedacht, ob es wirklich nötig sein würde, die beiden Männer und ihren Piloten zu töten. Er persönlich hätte es vorgezogen, sie leben zu lassen, auch als eine Art Rückversicherung. Aber ihre neue Geldforderung ließ ihm nun keine Wahl mehr. Er hätte sich doch denken können, dass sie gierig werden würden. Bei Waffenhändlern wie ihnen war es fast unvermeidlich.

Wieder im Flugzeug, schnallten sich die beiden Männer an, während der Pilot die Maschine startklar machte. Carlo hörte, wie der Motor aufheulte, als das Flugzeug langsam wendete. Von weit her ertönte ein leises Donnern. Er wünschte plötzlich, sie hätten das Flugzeug sofort nach der Ankunft in Startposition gebracht. Das hätte einige wertvolle Sekunden gespart, denn Carlo wollte so schnell wie möglich weg von hier, wollte wieder in der Luft sein.

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Rückflug.

In der Stimme des Generals war nicht die geringste Gefühlsregung zu erkennen gewesen. Vielleicht hatte er wirklich genau das gemeint, was er sagte. Aber Carlo vermutete, der General hätte auch ein Todesurteil im selben Tonfall ausgesprochen.

Neben ihm hatte Marc bereits begonnen, das Geld zu zählen. Seine Hände glitten durch den Banknotenhaufen. Carlo warf einen Blick zurück auf die Gebäuderuinen und den davor geparkten Jeep. Vielleicht hatte Sarow doch noch etwas vor? Welche Mittel standen ihm hier auf der Insel zur Verfügung? Aber es war keine Bewegung zu sehen, als das Flugzeug in einer engen Kurve wendete. Der General stand noch immer unbeweglich an seinem Platz. Sonst war niemand zu sehen.

Die Landebahnlichter gingen aus.

»Was zum …?«, fluchte der Pilot.

Marc hörte mit dem Geldzählen auf. Nur Carlo begriff sofort, was los war. »Er hat die Lichter ausgeschaltet«, sagte er. »Er will uns hier festhalten. Können Sie ohne Landebahnbeleuchtung starten?«

Das Flugzeug hatte inzwischen die Wende vollzogen. Seine Nase zeigte jetzt wieder in die Richtung, aus der es gekommen war. Der Pilot starrte aus dem Cockpitfenster, krampfhaft bemüht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Es war absolut finster, aber hässliche, unnatürliche Lichtblitze zuckten über den Himmel. Er nickte. »Wird nicht leicht sein, aber …«

Die Lichter gingen wieder an.

Sie erstreckten sich vor ihnen über die ganze Länge der Startbahn, ein Pfeil, der ihnen den Weg in die Freiheit wies und zu einem Extraprofit von einer Viertelmillion Dollar. Der Pilot entspannte sich wieder. »Wahrscheinlich war’s der Sturm«, sagte er. »Hat die Stromversorgung unterbrochen.«

»Machen Sie schon, bringen Sie uns hier raus«, knurrte Carlo. »Ich freue mich erst richtig, wenn wir in der Luft sind.«

Der Pilot nickte. »Sie haben recht.« Er drückte einen der Kontrollschalter und die Cessna rollte vorwärts, wobei sie schnell an Geschwindigkeit gewann. Die Landebahnlichter verwischten sich, wurden zu leuchtenden Streifen, die den Piloten führten. Carlo setzte sich bequem zurecht. Marc starrte aus dem Seitenfenster.

Und dann, Sekunden bevor die Räder vom Boden abhoben, machte das Flugzeug plötzlich einen Satz. Die ganze Welt wirbelte durcheinander, als habe eine riesige unsichtbare Hand das Flugzeug gepackt und zur Seite geschleudert. Die Cessna hatte in diesem Augenblick eine Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern erreicht. Doch innerhalb von Sekunden kam sie zum Stillstand, so plötzlich, dass alle drei Männer brutal nach vorn geschleudert wurden. Ohne ihre Sitzgurte wären sie durch das vordere Cockpitfenster katapultiert worden – oder durch das, was von der zersplitterten Scheibe noch übrig war. Gleichzeitig krachte es mehrmals hintereinander ohrenbetäubend, als etwas gegen den Flugzeugrumpf prallte. Einer der Flügel kippte nach unten weg; der Propeller wurde abgerissen und wirbelte in die Nacht hinaus. Plötzlich stand das Flugzeug völlig still und zur Seite geneigt.

Einen Augenblick lang bewegte sich niemand in der Kabine. Der Motor ratterte und erstarb. Marc richtete sich in seinem Sitz auf. »Was ist passiert?«, schrie er in panischer Angst. »Was ist passiert?« Er hatte sich auf die Zunge gebissen und Blut rann über sein Kinn. Die Tasche war offen und Geldscheine lagen über seinen Schoß verstreut.

»Ich verstehe nicht, wie …«, stammelte der Pilot.

»Idiot! Sie sind von der Startbahn abgekommen!« Carlos Gesicht war vor Schock und Wut verzerrt.

»Bin ich nicht!«

»Da!« Marc deutete auf etwas und Carlo blickte näher hin. Die Klappe an der Unterseite des Flugzeugs war teilweise eingedrückt worden. Schwarzes Wasser sickerte von unten herein und bildete eine Lache um ihre Füße.

Wieder donnerte es, dieses Mal jedoch näher.

»Das hat er gemacht!«, sagte der Pilot.

»Was hat wer gemacht?«, wollte Carlo wissen.

»Ihr … Geschäftspartner. Er hat die Startbahn verschoben!«

Eigentlich war es ein ganz einfacher Trick gewesen. Als das Flugzeug wendete, hatte Sarow mit dem Funksender in seiner Tasche die Startbahnlichter ausgeschaltet. Der Pilot hatte in der Dunkelheit einen Augenblick lang die Orientierung verloren. Dann hatte das Flugzeug die Wende vollendet und die Lichter waren wieder angegangen. Aber der Pilot wusste nicht und konnte auch nicht sehen, dass es sich um eine zweite Lichterreihe handelte – und dass diese Lichter in einem spitzen Winkel von der sicheren Startbahn weg- und in den Sumpf hineinführten.

»Er hat uns in den Sumpf geleitet«, sagte der Pilot.

Jetzt begriff auch Carlo, was mit dem Flugzeug passiert war. Sobald seine Räder die Wasseroberfläche berührt hatten, war sein Schicksal besiegelt gewesen. Ohne festen Boden unter dem Fahrwerk hatte sich das Flugzeug festgefahren und war umgekippt. Das Sumpfwasser drang herein und sie versanken langsam. Die Äste der Mangrovenbäume, die das Flugzeug fast auseinandergerissen hatten, umgaben sie wie Stäbe eines lebenden Gefängnisses.

»Was machen wir jetzt?«, wollte Marc wissen. Er klang plötzlich wie ein Kind. »Wir werden ertrinken!«

»Wir können nicht raus!« Carlo hatte bei dem Unfall mehrere schwere Prellungen erlitten und konnte einen Arm nur noch unter großen Schmerzen bewegen. Er öffnete den Sicherheitsgurt.

»Wir hätten nicht versuchen sollen, ihn hereinzulegen!«, jammerte Marc. »Du hast doch gewusst, wie er ist! Man hat dir gesagt …«

»Halt die Klappe!« Carlo zog den Revolver aus dem Holster unter seinem Hemd und stützte ihn auf sein Knie. »Wir gehen hier raus und knöpfen ihn uns vor. Und dann werden wir schon irgendwie einen Weg finden, wie wir von dieser verdammten Insel wegkommen.«

»Da ist etwas …«, begann der Pilot.

Draußen hatte sich etwas bewegt.

»Was ist das?«, flüsterte Marc.

»Pst!« Carlo hob sich halb aus dem Sitz, sodass sein Körper den engen Kabinenraum fast ausfüllte.

Das Flugzeug kippte noch stärker zur Seite und glitt noch tiefer in den Sumpf. Carlo verlor das Gleichgewicht, rappelte sich aber wieder auf. Er streckte die Hand aus, am Piloten vorbei, als wolle er aus dem zerbrochenen Windschutzfenster klettern.

Etwas Großes, Furchtbares sprang ihn an und blockierte völlig das schwache Licht des Nachthimmels. Carlo schrie, als sich das Wesen kopfüber in das Flugzeug und auf ihn stürzte. Etwas Weißes glänzte, dann war ein grauenhaftes Knirschen und Krachen zu hören.

Die beiden anderen Männer schrien.

General Sarow stand unbeweglich da und beobachtete das Geschehen. Es hatte noch nicht zu regnen angefangen, aber die Luft war schwer. Ein Blitz zuckte auf und lief fast wie in Zeitlupe über den Himmel, so als genieße er seine Reise. In diesem Augenblick sah er die Cessna auf der Seite liegen, halb im Sumpf versunken. Ein halbes Dutzend Krokodile schwärmte um die Maschine. Ein sehr großes Tier steckte mit Kopf und Körper im Cockpit. Nur sein Schwanz war noch sichtbar, der wild um sich schlug, während das Tier sein blutiges Werk vollendete.

Sarow bückte sich und hob den schwarzen Behälter auf. Obwohl zuvor zwei Männer nötig gewesen waren, um ihn zu tragen, schien er in Sarows Händen kein Gewicht zu haben. Er stellte ihn in den Jeep und trat einen Schritt zurück. Erst in diesem Augenblick erlaubte er sich ein leichtes Lächeln, was sehr selten vorkam. Morgen, wenn die Krokodile ihre Mahlzeit beendet hatten, würde er seine Feldarbeiter mit ihren Macheten – die macheteros – in den Sumpf schicken und das Geld holen lassen. Das Geld spielte allerdings keine große Rolle. Er war jetzt Besitzer eines Kilogramms waffenfähigen Urans. Wie Carlo gesagt hatte, verfügte er jetzt über die Macht, eine Stadt zu zerstören.

Nur: Sarow hatte gar nicht vor, eine Stadt zu zerstören.

Sondern die ganze Welt.