Für Maike und Frauke,
mit denen ich heute glücklich
um einen ovalen Tisch sitze.
Und für Simon,
der da immer einen Platz hat.







1. Das Loch im Boden

Große Forscher und Entdecker sagen immer bedeutende Sätze, wenn sie unbekanntes Gebiet erobern. Neil Armstrong zum Beispiel, der als erster Mensch den Mond betrat, funkte, bevor er aus seiner Rakete sprang: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Schritt für die Menschheit.«

Oder Archimedes. Als dem endlich eine wichtige mathematische Formel eingefallen war, rannte er nackt auf den Marktplatz und brüllte: »Heureka!« Was so viel heißt wie: »Ich hab’s!«, aber natürlich viel besser klingt.

Und bei mir? Schon in dem Moment, in dem meine erste Expedition startete, war eigentlich klar, dass ich der Nachwelt höchstens einen Satz wie »Schicht im Schacht« oder »Das war’s dann wohl« hinterlassen würde. Wenn ich überhaupt dazu kommen würde, irgendetwas zu hinterlassen – denn die Lage sah ziemlich düster aus: Irgendwo in einer einsamen Straße baumelte ich der Länge nach in einem dreckigen Gullyloch und kam weder vor noch zurück. Unter mir klaffte ein tiefer schwarzer Abgrund, und das Einzige, was mich vor einem Sturz nach unten bewahrte, waren meine Finger, die sich tapfer an die eiserne Kante krallten.

Ich hatte schon wie wild um Hilfe gebrüllt, aber niemand hatte mich gehört. Verzweifelt strampelte ich mit den Beinen. Es musste in diesem Loch irgendeinen Mauervorsprung oder Tritt geben. Ich hatte genau gesehen, wie die Kanalarbeiter ganz lässig in den Gully rein- und wieder rausgeklettert waren. Doch egal wohin ich meine Füße auch streckte – ich tappte ins Leere.

Der reißende Schmerz in meinen Schultern und Armen wurde immer schlimmer. Ich musste an diese Weingummistrippen denken, die es in Waldmeister- und Erdbeergeschmack gibt und die man auseinanderziehen kann, bis sie am Ende doppelt so lang sind.

Dabei hatte ich Blödmann mir die Situation selbst eingebrockt. Ich war weder gestolpert noch gefallen, sondern mit voller Absicht hinter die rot-weiße Absperrung geklettert und in das Loch gestiegen. Trotzdem war diese Harakiri-Aktion nicht freiwillig. Ehrlich, ich hatte keine Wahl. Ich musste in diesen dreckigen, stinkenden Gully steigen, wenn ich das Liebste, was ich hatte, jemals wiedersehen wollte. Denn irgendwo dort unten, in der düsteren Kanalisation, wo alle Leitungen und Rohre zusammenlaufen, wohin das Wasser aus unseren Badewannen, Waschbecken und Toiletten versinkt, irgendwo dort trieb hilflos und allein mein lieber kleiner, 86 Zentimeter langer Mississippi-Alligator Orinoko. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Schließlich war ich sein bester Freund.

Aber nun hing ich hier, und wenn nicht gleich ein Wunder geschah, dann würde ich Orinoko gar nicht erst suchen können. Weil ich wahrscheinlich nicht einmal den Einstieg in die Kanalisation überleben würde.

»Hilfe!«, schrie ich noch einmal, so laut ich konnte. »Hiiierher!«

Doch niemand antwortete. Verzweifelt starrte ich in das undurchdringliche Schwarz des Abgrunds. Eigentlich brauchte ich mich ja nicht zu wundern, dass mein Rettungsversuch scheiterte. Schließlich lief schon seit drei Monaten alles schief. Ich fragte mich, wie mein bis dahin wunderbares Leben in nur so kurzer Zeit zu einem einzigen Albtraum werden konnte.

Der Mississippi-Alligator gehört wie die Krokodile, Gaviale und Kaimane zur großen Familie der Krokodilier. Er wird frei lebend nur in den Vereinigten Staaten von Amerika angetroffen. Die Durchschnittslänge der geschlüpften Tiere beträgt 22 Zentimeter. Alligatoren wachsen ihr ganzes Leben und werden bis zu fünf Meter lang. Sie gelten als sehr fürsorglich und bleiben in der Regel jahrelang mit ihrem Nachwuchs zusammen.

2. Das Virus

Ich glaube, mein Unglück begann mit dem Montagmorgen, an dem mein Vater plötzlich drei verschiedene Pullover anprobierte und schließlich doch wieder den ersten anzog. Danach warf er beim Frühstück seinen Kaffee um und nuschelte etwas von einem überraschenden Termin und dass er am Abend noch mal dringend wegmüsse. Das war ungewöhnlich, denn seit dem Tod meiner Mutter – und das ist ungefähr genauso lange her, wie ich mich zurückerinnern kann – war mein Vater immer nur zweimal im Monat ausgegangen: am ersten Montag des Monats zum Reptilienstammtisch und am dritten Sonntag des Monats in die Oper. Und genau da war er am Abend zuvor gewesen.

Dass aber definitiv etwas nicht stimmte, wusste ich, als ich am Nachmittag in den Kühlschrank griff und die Dose mit dem Krokodilfutter öffnete. Sie war leer. Das war noch nie passiert. Unsere Krokodile waren unser Ein und Alles. Nichts taten mein Vater und ich lieber, als uns mit diesen außergewöhnlichen Panzerechsen zu beschäftigen und ihr Verhalten zu erforschen.

Mein Vater, Dr. Konstantin Bach, ist nämlich Reptilienforscher am Zoologischen Institut. Immer wieder nimmt er vorübergehend besondere Krokodilier bei uns zu Hause auf. Damit auch ich alles über diese wunderbaren Tiere lernte, hatte er mir außerdem zu meinem sechsten Geburtstag einen echten, lebendigen Mississippi-Alligator geschenkt.

Orinoko war damals gerade frisch aus dem Ei geschlüpft und winzig klein. Ich erinnere mich noch genau, wie ich das erste Mal meine Hand nach ihm ausstreckte und er sie neugierig anstupste. Er hat mich aus seinen silberglänzenden Augen angesehen und das Quakgeräusch gemacht, das für junge Krokodile so typisch ist.

Von diesem Moment an waren wir beide unzertrennlich. Jeden Tag, wenn ich um 15.30 Uhr aus der Schule nach Hause kam, erwartete mich Orinoko schon ungeduldig hinter der Wohnungstür und folgte mir in die Küche. Ich machte mir einen Kakao, und er strich um meine Füße, damit ich ihn kraulte. Am liebsten an der Kehle. Dann gab er leise Grunzgeräusche von sich und zog die Mundwinkel hoch, als würde er lächeln.

Um Punkt 16 Uhr spielten wir einen Erlebnisparcours, der mit seinen Aufgaben in etwa den Anforderungen der Wildnis entsprach und seine natürliche Entwicklung förderte. Alle zwei Tage folgte darauf die Fütterung, und am Abend, wenn ich noch etwas fernsehen durfte, kletterte Orinoko zu mir aufs Sofa und streckte sich gemütlich auf der Rückenlehne aus.

Unser Tagesablauf war perfekt durchorganisiert, denn nur so konnte ich ernsthafte Forschungen für mein wissenschaftliches Projekt betreiben: Eines Tages wollte ich der Welt nämlich beweisen, dass Krokodile ein gutes Gedächtnis haben und sich mehrere Dinge gleichzeitig merken können.

Die meisten Leute denken ja, Krokodile wären hinterhältige, verfressene Bestien, die nur darauf warten, dass einer sein Bein ins Wasser hält, damit sie es abbeißen können. Was für ein Blödsinn! Fast alle Krokodil-Arten sind scheu. Sie kümmern sich fürsorglich um ihren Nachwuchs, jagen nur das, was sie brauchen, bewegen sich nicht unnötig viel und lieben Gewohnheiten.

Eigentlich sind sie genau so, wie mein Vater bis zu diesem Zeitpunkt immer war. Er hatte auch immer liebevoll für mich gesorgt und sich, wenn irgend möglich, nur auf direktem Weg zwischen unserer Wohnung und dem Zoologischen Institut hin und her bewegt. Nichts hatte er mehr geliebt als unseren Trott.

Bis eben zu jenem Montag, als der Kaffee umflog und ich die leere Futterdose in der Hand hielt. Da begann die Wandlung meines lieben Krokodilvaters zu einem blöden, zahnlosen Molch.

Hätte ich in diesem Moment geahnt, welch furchtbares Chaos Orinoko und mir bevorstand, dann hätte ich sicher ganz anders Alarm geschlagen. Aber so fragte ich nur verwundert: »Gibt es irgendeinen Grund, warum wir kein Futterfleisch im Kühlschrank haben?«

»Die neue Krawatte habe ich mir heute Mittag gekauft«, antwortete mein Vater und schaute mit glänzenden Augen an mir vorbei, als hätte hinter mir nicht der alte Küchenschrank, sondern das Himalajagebirge aufgeragt.

Das reichte. Ich beschloss, den merkwürdigen Zustand meines Vaters ab sofort wissenschaftlich zu untersuchen, so wie er es mir beigebracht hatte und wie wir es bei unseren Krokodilen taten. Also fügte ich meinem Forscherprogramm auf dem Computer die Rubrik Dr. Konstantin Bach hinzu und sammelte fortan alle auffälligen Veränderungen. Die Informationen brauchte ich nur in mein iPhone zu tippen, das sie automatisch an den Rechner weitersendete.

Am Ende der Woche stand in meiner Beobachtungsliste:

Gedanklich abwesend

Starrt blöde vor sich hin

Total aufgekratzt

Auffälliger tänzelnder Gang

Verringerte Futteraufnahme

Verweildauer im Badezimmer verdoppelt, mit einhergehender Geruchsveränderung

Ja, mein Vater benutzte plötzlich ein Rasierwasser! Und zwar eins von der Sorte, für das halb nackte Muskelprotze im Werbefernsehen von Klippen springen.

Ich fragte Frau Rüdiger, unsere Nachbarin, ob sie eine Idee habe, was mit ihm los sein könnte.

»Tja«, antwortete sie mit tiefem Bedauern in der Stimme, »deinen Vater hat es wohl voll erwischt. Leider …«

Da war ich mir ganz sicher: Es musste sich um eine gefährliche Krankheit handeln. Doch weder der Tierarzt im Institut konnte sich einen Reim auf die eigenartigen Symptome machen, noch fand ich im Internet eine Diagnose, die halbwegs zu den absonderlichen Anzeichen passte.

Zwei Wochen lang tappte ich völlig im Dunkeln – bis mir der Krankheitserreger an einem Samstagvormittag von ganz allein über den Weg lief. Mein Vater und ich wollten gerade neue UV-Birnen für die Reptilienlampen in unserem Terrarienzimmer kaufen, da stand er plötzlich vor uns. Der Bazillus war nicht zu übersehen: Auch ohne Stöckelschuhe war er über einen Meter siebzig groß und hatte feuerrote lange Locken. Sie hieß Katharina, sang in der Oper und war für ein Gastspiel in der Stadt. Ab dem Moment, als mein Vater sie sah, schien er mich nicht mehr zu bemerken. Er schaute einfach über mich hinweg und parkte mich eine Etage tiefer. Auge in Auge mit der schrecklichen Elektra.

So ein Bazillus kommt nämlich selten allein, und dieser hier hatte eine Tochter. Sie war etwa so groß wie ich und wahrscheinlich auch zehn Jahre alt. Wie ihre Mutter besaß sie lange rote Locken. Die warf sie nun mit großer Geste nach hinten, und dann scannte sie mich mit ihren blauen Augen von oben bis unten ab. Ich kam mir vor wie in einem Röntgengerät.

»Du hast noch das alte. Ich habe schon das neue«, sagte sie schließlich und deutete mit dem Kinn auf mein iPhone. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es noch in der Hand hielt.

»Es funktioniert gut«, verteidigte ich mich.

Sie zog nur eine Augenbraue hoch, wandte sich an ihre Mutter und verkündete: »Ich habe Hunger.«

Das war mein Stichwort. »Ich auch«, sagte ich schnell zu meinem Vater und zog ihn am Ärmel. »Wollen wir?«

»Aber das trifft sich doch ausgezeichnet«, flötete Katharina. »Gehen wir doch zusammen etwas essen. Gleich hier um die Ecke ist unser neuer Lieblingsjapaner.«

Ich schüttelte den Kopf und sagte höflich, aber bestimmt: »Daraus wird leider nichts. Wir haben zu Hause nämlich schon leckere Frikadellen vorberei…«

Weiter kam ich nicht, denn mein Vater unterbrach mich begeistert: »Tolle Idee, Katharina!«

Und so fand ich mich fünf Minuten später in einem ungemütlichen japanischen Restaurant wieder und würgte rohen Fisch hinunter, anstatt unsere wunderbaren selbst gemachten Frikadellen zu genießen. Die beiden rot gelockten Monster verdrückten Unmengen von Thunfisch. Wahrscheinlich hatte sich bis zu ihnen noch nicht herumgesprochen, dass bei dessen Fang jährlich Tausende unschuldige Delfine elendig in den Schleppnetzen verendeten.

Aber was war mit meinem Vater los? Hatte er das plötzlich vergessen, oder warum sagte er nichts?

Anschließend wollte Elektra unbedingt noch ins Kino gehen. Als ich mich weigerte, weil Orinoko pünktlich sein Fressen brauchte, rollte sie mit den Augen und sagte: »Es ist doch vollkommen egal, ob der ’ne Stunde früher oder später frisst. Oder trägt dein Krokodil vielleicht ’ne Armbanduhr?«

Jetzt reichte es! Ich holte tief Luft und wollte ihr gerade gehörig die Meinung sagen, da legte mein Vater seine Hand auf meinen Arm und säuselte: »Aber, Paul, das war doch nur ein Scherz.«

Das verschlug mir endgültig die Sprache. Mein Vater, der sonst keine Gelegenheit ausließ, das präzise Zeitgefühl der Krokodile zu verteidigen, fand das komisch?!

»Vielleicht verschieben wir das Kino besser auf ein andermal«, sagte Katharina.

Mein Vater nickte zum Glück. Aber den Rest des Tages hatte er ausgesprochen schlechte Laune.

Von diesem Nachmittag an wurde alles anders in unserem Leben: Statt an den Wochenenden aufs Land zu fahren und Regenwürmer und Insekten für unsere Echsen zu fangen, latschten mein Vater und ich stundelang hinter den rothaarigen Ziegen durch die überfüllte Innenstadt und guckten Schaufenster an. Wenn Katharina und Elektra uns besuchen kamen, musste Orinoko ins Terrarienzimmer gesperrt werden, weil sonst Elektras kläffendes Schoßhündchen Princess vollkommen ausflippte. Und dann schlugen sie auch noch vor, die Fußbodenheizung runterzudrehen, obwohl das Orinokos Tod bedeutet hätte!

Vier Jahre lang hatte ich das Leben und Verhalten meines kleinen Alligators genauestens protokolliert und mit Fotos belegt. Vier Jahre lang hatte ich jeden Tag um 16 Uhr den Erlebnisparcours mit ihm gespielt. »Der Beginn einer glanzvollen wissenschaftlichen Karriere«, hatte mein Vater mich immer gelobt. Aber nun schien ihn das alles nicht mehr zu interessieren. Egal was die Zicken wollten – ob einen bestimmten Kuchen in einem besonderen Café oder eine Ruderpartie um 15.45 Uhr – mein Vater nickte begeistert.

Natürlich zeigte das Chaos bald Folgen: Orinoko begann seine Nahrung zu verweigern. Plötzlich legte er sich nachmittags auf die Sofalehne zum Dösen. Alles kam durcheinander. Ich war mir eigentlich sicher, dass es nicht furchtbarer werden konnte – aber wie Frau Rüdiger sagt: »Schlimmer geht immer.«

Und so war es. Ich zählte schon die Tage, bis Katharinas Gastspiel an der Oper endlich vorüber war und sie und ihre schreckliche Tochter wieder nach Hause abziehen würden, da setzte sich mein Vater eines Abends zu mir auf die Bettkante, strich mir über den Kopf und verkündete in feierlichem Tonfall: »Katharina hat ein festes Engagement am Opernhaus angenommen. Sie bleibt in der Stadt, und darum werden sie und Elektra jetzt zu uns ziehen. Ist das nicht toll? Wir werden endlich wieder eine richtige Familie!«

Das haute mich um. Was dachte er denn, was wir vorher waren?

Mein Vater schien meinen Schock nicht zu bemerken, denn er sah mich nur breit grinsend an und fragte: »Wie findest du das?«

In meinem Kopf schwirrte alles, aber dann fielen mir wieder die Worte von Frau Rüdiger ein: »Deinen Vater hat es wohl voll erwischt.« Ja, eine andere Erklärung gab es nicht. Mein Vater konnte im Moment einfach nicht klar denken. Und so verwirrt, wie er war, hatte er sich bestimmt bei der Anzahl unserer Zimmer verzählt und gar nicht gemerkt, dass das nicht ging.

Also antwortete ich in einem sehr verständnisvollen Tonfall, wie man eben mit einem Kranken spricht: »Das ist eine schöne Idee, Papa. Aber wir haben leider nicht genügend Platz. Wo sollen die denn schlafen?«

»Ach«, sagte er und winkte selig ab, »alles schon geklärt. Katharina schläft bei mir, und für Elektra räumen wir das Terrarienzimmer.«

Er hätte auch sagen können: Weihnachten wird abgeschafft.

Oder: Morgen geht die Welt unter.

Das Terrarienzimmer war unser ganzer Stolz! Wir hatten es gemeinsam eingerichtet. In stundenlanger Arbeit hatten wir Hügel aus Lehm geformt und ein Wasserbecken angelegt. Sogar die Reptilienzeitung hatte über unser wunderschönes Krokodilgehege berichtet!

Was hatten diese Hexen mit meinem Vater gemacht?! Gehirnwäsche?

»Das … das geht auf gar keinen Fall!«, krächzte ich, als ich die Sprache wiedergefunden hatte. »Wohin soll dann Orinoko? Und die anderen Krokodile?«

»Keine Sorge«, beschwichtigte mich mein Vater und tätschelte mir den Kopf. »Es ist alles organisiert. Meine Echsen, die sowieso nur zur Pflege hier sind, können ins Institut umziehen, und Orinoko bekommt ein hübsches kleines Terrarium in deinem Zimmer.«

»Nein!«, schrie ich. »Er ist sowieso schon ganz durcheinander. Dieses Chaos bringt ihn noch um!«

»Ach, Paul«, sagte mein Vater, und diesmal klang es, als würde er mit einem Kranken sprechen, »warum haben Krokodile 200 Millionen Jahre lang alles überlebt?«

Ich presste stur die Lippen zusammen, aber er gab die Antwort selbst: »Weil sie immer einen Weg gesucht haben, mit Veränderungen klarzukommen.«

Dann strich er mir noch einmal über den Kopf und verließ das Zimmer.

Eine Woche später räumte er das Terrarienzimmer aus und strich die Wände pinkfarben. Auf besonderen Wunsch von Elektra. Während er fröhlich pfeifend den Pinsel schwang, war mir zum Heulen zumute.

»Wir wollten hier außergewöhnliche Echsen studieren – nicht außergewöhnliche Hexen!«, sagte ich wütend.

»Ach, Paul!«, seufzte mein Vater. »Jetzt hör doch mal auf, ständig zu meckern.«

Als wäre ich der Störenfried! Dabei waren es doch diese beiden Zicken, die plötzlich alles anders haben wollten.

Es dauerte nicht lange, da hatten sie sich in jedem Winkel unserer Wohnung breitgemacht. Als Erstes sorgten sie dafür, dass mein Minigewächshaus mit den tropischen Pflanzen vom Küchenfensterbrett verschwand, damit eine Mikrowelle aufgebaut werden konnte. Anschließend wurde im Wohnzimmer die Weltkarte mit den eingezeichneten Krokodilbeständen abgehängt, um Platz für ein riesiges Gemälde voller Farbkleckse zu schaffen. Angeblich hatte es der Künstler Katharina persönlich gewidmet. Die Vorhänge im Schlafzimmer meines Vaters wurden ausgewechselt, damit es zu jeder Zeit stockdunkel war, und die Bettdecken mit giftgrüner Seidenbettwäsche bezogen. Keine Ahnung, wofür das gut sein sollte.

Als die beiden Ziegen jede Ecke ihres neuen Reviers markiert hatten, klingelten sie auch noch bei Frau Rüdiger und stellten Elektra als meine neue Stiefschwester vor! Orinoko und ich wurden natürlich nicht gefragt, wie wir das alles fanden. Wir wurden ins Badezimmer verbannt, das vor lauter Schminksachen fast überquoll, und sollten den Erlebnisparcours fortan in der Wanne durchspielen.

Früher hatten mein Vater und ich danach immer die Ergebnisse durchgesprochen und mit internationalen Studien verglichen. Jetzt unterhielt er sich lieber mit Katharina. Sobald sie den Raum betrat, existierte ich nicht mehr. Es ging sogar so weit, dass er mich nicht einmal vermisste, als ich in einem Restaurant über eine halbe Stunde im Klo gefangen war! Das blöde Schloss hatte blockiert, und ich musste warten, bis mich ein wildfremder Mann befreite.

Als ich endlich wieder zurück an den Tisch kam, guckte er mich nur aus großen Augen an und behauptete: »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du aufgestanden bist.«

Den ganzen Heimweg lang hatte Elektra sich totgelacht, während ich mich wie eins der alten karierten Hemden meines Vaters gefühlt hatte. »Was für ein Albtraum«, hatte Katharina bei deren Anblick gerufen und sie in einen blauen Müllsack gestopft. Mein Vater konnte sich gerade noch dazu durchringen, seine früheren Lieblingsstücke hinten im Schrank zu verstauen, wo sie »nicht störten«.

Aber dann tat er etwas, was ich nie von ihm gedacht hätte. Etwas, was er nie zuvor getan hatte: Er ließ mich allein. Er meldete sich einfach bei einem zehntägigen Krokodilkongress in Florida an. Ohne mich. Bisher hatte er mich auf all seine Reisen mitgenommen. »Wenn irgendetwas passiert«, hatte er immer gesagt, »dann sind wir beide wenigstens zusammen.«

Konnte plötzlich nichts mehr passieren? Oder glaubte er tatsächlich, ich wäre dann nicht mehr einsam – nur weil Katharina und Elektra unsere Wohnung besetzt hatten?

Ich flehte ihn an, mich mitzunehmen. Ich versprach sogar, nicht mehr zu meckern und ohne Gequengel japanisch essen zu gehen. Aber ich hatte keine Chance. An einem Mittwochmorgen packte er seine Koffer, zog seinen Reisepass aus der Schublade, und wir brachten ihn zum Flughafen.

Bevor er durch die Sicherheitskontrolle ging, umarmte er Katharina und Elektra mindestens genauso lang wie mich, und dann begab er sich fröhlich auf seine Reise. Fast 8000 Kilometer weit weg. Auf einen anderen Kontinent. Mit unendlich viel Wasser dazwischen, einem ganzen Ozean.

Nur deshalb trieb Orinoko jetzt hilflos durch die Kanalisation. Nur deshalb konnte Elektra ihren gemeinen Anschlag eiskalt planen und durchziehen. Ja, sie hatte noch die Nachricht abgewartet, dass mein Vater nach zehnstündigem Flug gut in Amerika gelandet war, dann hatte sie ihren Angriff gestartet.

Um 16.45 Uhr – Orinoko lag gemütlich im seichten Wasser der Badewanne, und ich tippte gerade 30 Gramm Rindfleisch unter der Rubrik Nahrungsaufnahme in mein iPhone – tanzte sie mit ihren lila Kopfhörern ins Badezimmer.

»Hau ab, und mach die Tür von außen zu!«, fuhr ich sie genervt an.

Aber das hörte sie natürlich nicht, weil sie ihre Musik ohrenbetäubend laut gestellt hatte. Und darum konnte ihr blöder Köter Princess hinter ihr durch den Türspalt ins Badezimmer schlüpfen. Sofort begann er wie verrückt zu bellen. Katharina, die im Wohnzimmer ihre nervtötenden Gesangsübungen veranstaltete, schrie: »Ruhe! Ruhe!« Und weil Elektra nicht reagierte (weil sie ja nichts hörte!), gab ich ihr einen Schubs – woraufhin Princess total ausflippte und auf den Wannenrand sprang. Das wiederum führte dazu, dass Orinoko einen Riesenschreck bekam und aus dem Wasser flüchtete. In seiner Panik kletterte er über den Wannenrand, rutschte von der glatten Kante ab und fiel kopfüber ins Klobecken direkt daneben.

Genau darauf hatte Elektra spekuliert. Sie gab mir einen Stoß, ich fiel mit voller Wucht rückwärts und landete direkt auf dem Spülknopf. Es rauschte, dann machte es ein Schlurfgeräusch, und bevor ich mich aufrappeln und Orinoko zu Hilfe springen konnte, war er weg. Fortgespült durch das dicke Abflussrohr, das nach einem Knick zwischen den Fliesen im Boden versinkt.

Ich sprang auf und raste ins Treppenhaus. Dort hatte ich das Wasser schon oft durch die Leitungen strömen gehört. Es floss von da in den Fahrradkeller, wo sich mehrere Rohre zu einem größeren vereinten, das dann in der Wand verschwand. Genau an diese Stelle hielt ich mein Ohr, klopfte, rief … doch außer Plätschern und Blubbern hörte ich nichts.

Ich wusste, dass sich die Abwasserleitung von unserem Haus aus unter dem Gehweg entlang bis zu einem unterirdischen Kanal windet, in den die Abwässer aller Häuser der Straße laufen. Das hatte mir Frau Rüdiger mal erklärt, als im Winter, bei Frost, ein Rohr geplatzt war. Und da alle unterirdischen Kanäle irgendwie miteinander verbunden waren, mussten logischerweise alle Gullyeinstiege irgendwie zu Orinoko führen. Darum war ich losgerannt, um irgendwo einen offenen Einstieg ohne zentnerschweren Gullydeckel zu finden.

Ich weiß nicht mehr genau, wie lang ich durch die Gegend gelaufen bin, bis ich endlich einen orangefarbenen Transporter der Kanalinspektion neben einem geöffneten, rot-weiß umzäunten Gullyloch fand. Hinter einem Baum versteckt wartete ich, bis die Arbeiter in ihren Gummianzügen aus dem Loch kletterten und für eine Pause in ihrem VW-Bus verschwanden. Ich notierte mir noch schnell die Notfallnummer, die auf der Beifahrertür stand, und dann startete ich meine Rettungsexpedition.

Der Plan war denkbar einfach: Da mich die Arbeiter sicher nicht freiwillig mit runternehmen würden, wollte ich im Alleingang abtauchen und Orinoko auf eigene Faust suchen. Entweder ich fand ihn, bevor die Arbeiter Feierabend machten, und kletterte gemeinsam mit ihnen wieder an die Oberfläche – und wenn nicht, wollte ich weitersuchen und nach vollendeter Rettungsaktion einfach die Notfallnummer wählen.

Aber nun hing ich hier. Genauso hilflos und allein wie Orinoko, der in irgendeiner stinkenden Kanalröhre schwamm.

Mississippi-Alligatoren sind feinfühlige Wesen. Neben ihrem phantastischen Geruchssinn besitzen sie ein spezielles Sinnesorgan, mit dem sie kleinste Bewegungen erspüren können: die sogenannten Dom-Druckrezeptoren. Diese kleinen Noppen an der Schnauze registrieren sogar den Aufprall eines einzigen Wassertropfens auf einem riesigen See.

3. Gefangen

Lange würde ich mich nicht mehr halten können, so viel war klar. Die Schmerzen in meinen Armen waren jetzt schier unerträglich. Ich musste hier raus. Noch einmal streckte ich mein Bein so weit ich konnte nach rechts, um den rettenden Mauervorsprung zu finden – da passierte es: Mein linker kleiner Finger rutschte über die Kante. »Hilfe!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Hiiiilfe!« Da glitt auch noch mein Ringfinger ab.

Auf der Stelle hielt ich den Mund und atmete ganz flach. Jetzt hielten mich nur noch acht Finger. Nicht bewegen, dachte ich. Doch zu spät, denn nun rutschte ein Finger nach dem anderen über den eisernen glatten Gullyrand. Ich starrte noch einmal in den schwarzen Abgrund – dann fiel ich.

Mein Sturz in das düstere Loch dauerte genau zwanzig Zentimeter, dann knallten meine Füße gegen einen Widerstand und in meinem Rücken gab es einen heftigen Ruck, so wie bei einer Fahrt mit dem alten Fahrstuhl im Nachbarhaus, wenn man unten im Erdgeschoss ankommt. Irgendetwas hatte mich unsanft gestoppt.

Panisch krallte ich meine Hände in die verwitterten Backsteine und presste mich gegen die Wand. Jetzt bloß festhalten. Als ich wieder einigermaßen sicher stand, tastete ich mit meinen Füßen ab, worauf ich gelandet war. Es war ein Steigeisen. Und zwar genau so eins, wie ich es die ganze Zeit gesucht hatte. Die Eisenbügel begannen einfach nur tiefer. Logisch! Wann stiegen hier auch Leute rein, die unter 1,50 Meter groß waren?!

Ich ließ meine Wange erschöpft gegen die schmutzige Wand fallen. Erst jetzt spürte ich das heftige Zittern meiner Hände. Wie das lose Schutzblech an meinem Fahrrad, wenn ich über Kopfsteinpflaster fuhr. Ich atmete kurz durch und blinzelte in den wolkenlosen Himmel über mir. Dann sah ich wieder in den düsteren Abgrund.

Schon auf der Höhe meiner Füße war es so finster, dass ich kaum mehr die Umrisse meiner Turnschuhe erkennen konnte. Ich griff an meinen Hals, wo die Grubenlampe hing, die ich oben bei den Sachen der Kanalarbeiter gefunden hatte. Als ich den Schalter drückte, schoss ein greller Lichtstrahl in die Tiefe. Ich glaubte, ganz unten einen grauen Steinboden zu erkennen. Wie weit es wohl da runterging? Fünf Meter? Sechs?

Vorsichtig kletterte ich Bügel für Bügel das Steigeisen hinab, bis mein rechter Fuß ins Leere trat. Ich leuchtete noch einmal zum Grund. Jetzt konnte ich die Entfernung zum Boden gut abschätzen. Es waren ungefähr 1,80 Meter. So hoch war auch die Mauer auf unserem Hinterhof, und von der war ich schon ein paarmal runtergesprungen. Also lehnte ich mich mutig zurück und ließ los.

Ich landete in der Hocke, verlor das Gleichgewicht und plumpste auf den Hintern. Dabei fiel mir die Grubenlampe aus der Hand. Mit einem scheppernden Geräusch krachte sie auf den Steinboden, und ihr kalter weißer Strahl leuchtete in einen langen Gang. So weit ich sehen konnte, waren da nur verwitterte graue Wände.

Etwas beklommen rappelte ich mich auf. Die Decke des Gangs war so niedrig, dass ich gerade mal aufrecht stehen konnte, und wenn ich meine Arme nach rechts und links ausfuhr, berührten die Ellenbogen mühelos die kahlen Mauern.

Ich band mir die Gummigurte der Grubenlampe um den Kopf, so, wie ich es bei den Kanalarbeitern gesehen hatte, und machte vorsichtig ein paar Schritte in den Tunnel hinein. Ein bisschen gruselig war das schon. Es fühlte sich so an wie in der Geisterbahn auf dem Jahrmarkt, wo man jeden Moment damit rechnen muss, von irgendeinem verkleideten Monster angesprungen zu werden. Nur dass ich da bislang immer direkt hinter meinem Vater gelaufen war und einfach die Augen schließen konnte, wenn ich die Anspannung nicht mehr aushielt.

Ich ballte die Hände fest zu Fäusten und hoffte, dass ich Orinoko ganz schnell wiederfand. Dann würden wir … Ich stockte. Ja, was würden wir dann? Nach Hause gehen? Aber wer wusste, was die schreckliche Elektra als Nächstes mit meinem kleinen Krokodil anstellen würde? Nein. Orinoko in Elektras Nähe, das war unmöglich. Und im anderen Fall, also wenn … ich mochte gar nicht daran denken, aber … wenn meinem kleinen Alligator tatsächlich etwas zugestoßen war … dann konnte ich erst recht nicht wieder nach Hause. Wie sollte ich mich jemals wieder auf unser Klo setzen, ohne an Orinoko zu denken?!

In derselben Sekunde, in der mir das durch den Kopf schoss, hörte ich plötzlich Stimmen. Sie kamen von oben, aus dem Schacht. Die Kanalarbeiter! Eigentlich war ich ganz froh, dass sie schon jetzt runterkamen. Vielleicht konnte ich die Männer ja doch dazu überreden, mir bei der Suche nach Orinoko zu helfen? Sie kannten sich schließlich hier unten aus und wussten bestimmt, wohin mein Alligator von unserem Klo aus gespült worden war. Außerdem würde ich mich in ihrer Gesellschaft eindeutig sicherer fühlen.

Ich tappte noch zwei Meter von dem Einstiegsloch weg, damit sie mich nicht gleich wieder hochjagten, bevor ich alles erklärt hatte, dann hockte ich mich an die Wand, löschte das Licht und wartete. Aus dem Schacht drangen merkwürdige Geräusche. Erst knirschte es, dann klang es, als würde Metall auf Metall prallen, und plötzlich wurde es dunkel. Dumpfe Schläge erfüllten den Schacht. Was war da los?

Ich tastete mich zurück bis unter das Einstiegsloch und starrte nach oben. Doch sosehr ich meine Augen auch anstrengte – ich sah nichts. Nur Schwarz.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag. Hier würde überhaupt keiner mehr nach unten kommen. Denn über dem tiefen Einstiegsloch lag jetzt wieder der zentnerschwere Kanaldeckel. Ich stolperte rückwärts und schnappte nach Luft. Doch als ich endlich den Mund aufriss, um laut zu schreien, heulte oben, weit über mir, der Motor des orangefarbenen Transporters auf.

»Cool bleiben, nur nicht den Kopf verlieren«, versuchte ich mich mit zitternder Stimme zu beruhigen. »Du hast die Notfallnummer. Jetzt einfach ganz ruhig die Notfallnummer wählen. Das wolltest du doch sowieso.«

Mit flatternden Händen zog ich mein iPhone aus der Tasche – und bekam endgültig einen Atemstillstand. Denn hier unten, in der dunklen, düsteren Kanalisation, gab es keinen Empfang. Ich hielt das iPhone über den Kopf, stellte mich auf die Zehenspitzen und drehte mich – doch nicht der geringste Ausschlag. Absolut tote Hose.

Panisch sprang ich hoch und versuchte, eins der Steigeisen zu erreichen, um irgendwie nach oben zu kommen. Vergeblich. Ich brüllte und schrie, bis ich heiser wurde und völlig erschöpft gegen die staubige Wand fiel.

Ich war verloren. Sechs Meter unter der Erde, in der düsteren Kanalisation. Wie sollte mich hier jemals irgendwer finden? Verzweifelt rutschte ich mit dem Rücken an der Mauer hinunter und ließ mich auf den kalten Boden plumpsen. Ich hätte es wissen müssen. In meinem Leben lief halt gerade alles schief. Wenn man sich derart auf dem absteigenden Ast befand, stieg man einfach nicht in einen offen stehenden Gully. Damit forderte man sein Schicksal heraus – und das war einfach dämlich!

Entmutigt schlang ich die Arme um meine Beine und legte den Kopf auf die Knie. Ich fühlte mich elend und hilflos. Wie sollte es da erst Orinoko gehen? Der Arme wusste ja nicht mal, wo er sich befand und was ihm da genau passiert war.

Das war alles ihre Schuld. Sie allein waren dafür verantwortlich: die schreckliche Elektra und ihre furchtbare Mutter. Sie waren in unser Leben geplatzt! Sie hatten sich in unserer Wohnung breitgemacht und alles zerstört! Nur ihretwegen saß ich jetzt hier, einsam und verlassen! Nur ihretwegen trieb Orinoko durch das schmutzige Kanalwasser und wartete verzweifelt auf seine Rettung!

Da begann es in meinem Bauch zu brodeln. Erst nur wenig, aber dann wurde es stärker, und schließlich explodierte es. Eine riesige Wut schoss in mir hinauf, so als hätte man eine Sprudelflasche geschüttelt und dann ganz schnell den Deckel aufgedreht. Ich sprang auf die Füße und brüllte: »Wenn ihr glaubt, dass ich hier unten aufgebe, dann habt ihr euch getäuscht! Ich werde Orinoko finden! Und einen offen stehenden Gully! Und zwar in genau dieser Reihenfolge! Jawohl!«

Dann holte ich tief Luft, richtete die Grubenlampe an meiner Stirn aus, drehte mich in den dunklen Gang und machte mich auf den Weg.

Leider war mein Mut in dem engen Tunnel ziemlich schnell wieder verflogen. Bei jedem Schritt, der dumpf von den Wänden widerhallte, zuckte ich zusammen. Aber diesmal nicht, weil ich mich allein fühlte, sondern weil ich fürchtete, dass ich es eben gar nicht war. Selbstverständlich war mir als logisch denkendem Jungen klar, dass es hier unten keine Monster oder menschenfressenden Wesen gab. Andererseits hatte ich vor Kurzem erst in einer wissenschaftlichen Zeitung gelesen, dass man in Birma eine neue Echsenart und einen stülpnasigen Affen entdeckt hatte. Und wenn man die bisher übersehen hatte, obwohl sie fröhlich an der Oberfläche rumliefen – wie leicht konnte sich dann erst hier unten irgendeine unbekannte Kreatur ausbreiten?

Ich blieb ruckartig stehen und lauschte. Doch außer dem Klappern meiner aufeinanderschlagenden Zähne war es still.

Um gar nicht erst wieder in Versuchung zu geraten, anzuhalten, beschloss ich, laut jeden Schritt mitzuzählen: »Eins, zwei, eins, zwei, eins …«

Das funktionierte. Nach zehn Metern hatte ich wieder ein normales Schritttempo, und mein Herz pochte nur noch so schnell wie die Wasserpumpe in unserem alten Krokodilbecken. Eins, zwei, eins, zwei … Nur nicht nachdenken. Wenn man erst einmal ins Grübeln kam, wurden die Dinge meist kompliziert. Dann fiel einem ein, was alles passieren könnte und wie viel klüger es gewesen wäre, das Ganze doch lieber sein zu lassen. Und da ich sowieso keine Wahl mehr hatte, konnte ich mir diese Gedanken gleich sparen. »Eins, zwei …«

Ich ließ den Strahl der Grubenlampe rechts und links über die Wände des Schachts gleiten und wunderte mich, wie sauber es hier unten war. Das hatte ich sechs Meter unter der Erde nicht erwartet. Wenn ich da an die Ecken in unserem Keller dachte, der nur zwei Meter tief lag … Ich fragte mich, ob die Kanalarbeiter gerade geputzt hatten oder ob alle Tunnel einen so hübsch gefegten Steinboden besaßen.

Bei diesem Gedanken überfiel mich der nächste Schauder: Wie sollte ich mich hier unten zurechtfinden, wenn tatsächlich ein Tunnel wie der andere aussah?! Sicher gab es keine Hinweisschilder unter der Erde … Nur nicht nachdenken!

Eins, zwei, eins, zwei …

Nun begann sich der Tunnel auch noch leicht zu krümmen. Ich reckte den Hals, um den Lichtstrahl so weit wie möglich nach vorn zu richten, doch schon nach zwanzig Metern war Schluss. Dort ging der Tunnel in eine scharfe Kurve, und was dahinterlag, wusste nicht einmal der Himmel. Automatisch wurden meine Schritte kürzer. »Eins, zwei, eins, zwei«, zählte ich tapfer weiter.

Die Biegung kam immer näher. Jede Sekunde konnte irgendetwas dahinter hervorspringen. Ich zog meinen Kopf so weit ein, dass meine Schultern fast die Ohren berührten. Wahrscheinlich sah ich jetzt aus wie die hundertjährige Schildkröte Ida im Zoologischen Institut. Nur dass ich hier unten ganz sicher nicht so alt werden würde. Jetzt begann auch noch der Lichtstrahl zu flackern, weil ich so sehr zitterte. Mit ausgestreckten Händen und im Zeitlupentempo schlich ich um die Kurve – und stand vor einer alten, verrosteten Eisentür.

Erleichtert sackte ich zusammen und fasste mir an den Kopf. So viel Angst wegen einer blöden Tür! Ich ließ den Strahl der Grubenlampe über das verwitterte Eisen wandern. Die Tür sah so aus, als wäre sie in den letzten Jahren nur wenige Male benutzt worden, und wenn man den gelben dreieckigen Warnschildern glaubte, die in Augenhöhe angebracht waren, sollte man sie besser nicht öffnen. Aber hinter der Tür hörte ich Wasser plätschern. Hier mussten die Abwasserkanäle der Stadt sein, und genau da wollte ich hin.

Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Mit einem schrillen Quietschen gab das Eisen nach. Die Tür sprang einen Spalt auf, und ich taumelte zurück. Ein schleimiger, ätzender Gestank schlug mir entgegen. Angeekelt riss ich die Arme vors Gesicht und verbarg meine Nase in meinem Sweatshirt. Ich brauchte eine Maske, sofort! Sonst würde ich mich auf der Stelle übergeben.

Mit der freien Hand löste ich mein Halstuch, legte das Dreieck über Mund und Nase und knotete die Enden am Hinterkopf zusammen. Nun sah ich zwar aus wie Zorro, aber dafür war der Mief erträglich. Besorgt dachte ich an Orinoko: Wie sollte er das mit seiner feinen Nase nur aushalten? Er musste schnellstens hier raus. Ich nahm einen letzten tiefen Atemzug in der sauberen Luft des Schachts, dann stieß ich die Tür weit auf und trat mit einem großen Schritt in das wirre, düstere Netz der Kanalisation.