GIOVANNI BOCCACCIO

Herausgegeben und bearbeitet nach der Ausgabe:

Giovanni di Boccaccio: Das Dekameron. Übersetzt von Albert Wesselski, Leipzig 1912.

Impressum:

© 2020 Conrad Thiess (Hrsg. u. Bearb.)

Übers. v. Albert Wesselski, 1912.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-7519-4509-7

EINLEITUNG ZUM DEKAMERON

VON

ALBERT WESSELSKI.

W AHRLICH, ein großes Unrecht geschieht dem Andenken dieser jungen Liebenden, daß ihre Geschichte noch von keinem Dichter mit schuldiger Erinnerung in erhabenen Versen besungen worden ist, sondern dem entstellenden Geschwätze der Unwissenden überlassen bleibt; weil nun mein Verlangen, mich die Ursache einer Erneuerung ihrer Geschichte nennen zu dürfen, nicht minder groß ist als meine Rührung über ihre Schicksale, so bitte ich dich bei der Kraft, die von meinen Augen an dem Tage ausging, wo du mich das erstemal gesehen und dich mir durch Liebesgewalt verpflichtet hast, nimm dir die Mühe und verfasse in der Sprache des Volkes ein kleines Büchlein, das die Geburt und die Liebe der beiden und ihre Abenteuer bis an ihr Ende erzählt.“

„Herrin, Eure holde Bitte, die mir ein ausdrücklicher Befehl ist, zwingt mich so, daß ich mich nicht weigern kann, diese Mühe auf mich zu nehmen, wie ich es ja auch mit jeder größeren täte, die Euch lieb wäre.“

Dieses Zwiegespräch, das in der Einleitung zum ,Filocopo‘ erzählt wird, muß, wenn es historisch ist, etwa Ende April 1338 in der Kirche eines Nonnenklosters bei Neapel stattgefunden haben. Der Dichter, der die Geschichte der jungen Liebenden — gemeint sind Flore und Blancheflor — besingen soll, ist Giovanni di Boccaccio, der florentinische Kaufmannssohn; die Dame, die diese Aufforderung an ihn richtet, ist Maria d’Aquino, eine Tochter König Roberts von Neapel. Aus dem kleinen Büchlein, das Boccaccio versprochen hat, ist ein umfangreicher Roman, der Filocopo, geworden.

Mit der Abfassung des Filocopo beginnt Boccaccios Tätigkeit, alte Mären in ein künstlerisches Gewand zu kleiden, und die Urheberin und Förderin dieser Tätigkeit ist die schöne Königstochter gewesen, die sich noch in demselben Jahre seinem ungestümen Liebeswerben ergeben hat. Maria d’Aquino fand, wie der Widmungsbrief der Teseide erzählt, ein großes Vergnügen daran, „ein oder die andere Geschichte, sonderlich Liebesgeschichten, zu hören und bisweilen auch zu lesen“, und Boccaccio trachtete, als williger Diener ihren Wünschen zuvorzukommen. Aus dem Romane Fiammetta — Fiammetta ist der dichterische Name Marias — erfahren wir, daß es beiden Liebenden einen hohen Genuß bereitete, in Gesellschaft Novellen oder Geschichten zu erzählen, deren geheimen Sinn nur sie begriffen; voll Freude an dem heimlichen Einverständnis weideten sie sich an der Einfalt der harmlosen Zuhörer. Fiammetta-Maria ist auch die Königin des neapolitanischen Liebeshofes, der im Filocopo geschildert wird: der Reihe nach werden dreizehn Liebesfragen aufgeworfen und entschieden; zwei davon sind mit richtigen Novellen verknüpft, und diese beiden Novellen kehren in einer reiferen Form im Dekameron wieder. Fiammetta zu Gefallen hat der Dichter sicherlich alles durchstöbert, was Erzählungsstoffe bot: die verliebten Fabliaus der Franzosen, die trockenen Erzählungen Italiens, die Ritterromane und die Werke der klassischen Autoren; viel Gold holte er wohl auch aus dem noch ungemünzten Schatze der alten Volksüberlieferungen hervor. Die Lust zu fabulieren kam ihm von der Geliebten. Und so wie Fiammetta-Maria der unmittelbare Anlaß zum Filocopo, zum Filostrato, zur Amorosa Visione und zur Fiammetta geworden ist, so verdanken wir ihr mittelbar das Dekameron.

Das Liebesglück des Dichters war nur von kurzer Dauer: nach einem etwa einhalbjährigen Werben eine ebensolange währende Zeit der Vereinigung. Schon im April 1339 gab ihm Fiammetta, wohl um eines andern willen, den Abschied. Volle vier Jahre brauchte Boccaccio, um sich von dem Herzeleid, das ihm die Liebe zu Madonna Maria brachte, zu befreien; als Dichter des Filocopo und Filostrato hatte er ihre Liebe errungen, durch die Teseide, den Ameto und die Amorosa Visione hatte er ihre verlorene Gunst wiederzuerringen versucht, und in der Fiammetta machte er dem Groll seines mißhandelten Herzens Luft.

Von allen diesen Büchern fallen nur der Filostrato und die Teseide vollständig in die Zeit seines Aufenthalts in Neapel; der Ameto, die Amorosa Visione und die Fiammetta sind schon in Florenz verfaßt, wo auch der in Neapel begonnene Filocopo vollendet worden ist. 1340 oder 1341 war nämlich Boccaccio von seinem Vater nach Florenz heimberufen worden, weil sich der alte Herr nach dem Tode seiner Gattin und seiner Kinder einsam gefühlt hatte. Boccaccio empfand für den Kaufmann in Certaldo, den Verführer der vornehmen Pariserin, die ihm das Leben gegeben hatte, alles andere eher als Liebe; es wäre also wohl nicht erst der Zwang, die Stadt, wo die Geliebte weilte, zu verlassen, nötig gewesen, um ihm die Heimkehr zu dem „kalten, rauhen, geizigen Greise“ zu verleiden. Schon 1343 verließ er den Vater wieder, der sich inzwischen zum zweiten Male verheiratet hatte. In den darauf folgenden fünf Jahren finden wir den Dichter auf Reisen in Oberitalien; in dieser Zeit mag er all die zumeist heiteren Geschichten gesammelt haben, deren Schauplatz die Städte und Klöster dieser Gegenden sind und die mehr als die Hälfte des Dekamerons ausmachen. Dann kam das Jahr 1348 mit der furchtbaren Pest, die in Konstantinopel den Sohn des Griechenkaisers, in Frankreich die Königin und drei Prinzen von Geblüt, in Florenz den Geschichtschreiber Villani, in Rom sieben Kardinäle und in der Provence die Geliebte Petrarcas dahingerafft hat. Wie Boccaccio in seinem Dantekommentar erzählt, war er in diesem Jahre nicht in Florenz; dem scheint die Einleitung zum Dekameron zu widersprechen, wo er von Dingen erzählt, die er selbst gesehen haben will. Der Widerspruch löst sich aber, wenn die Annahme, daß er die Schrecken der Seuche in Neapel erlebt hat, richtig ist. In diesem Jahre 1348 oder in dem folgenden hat er die letzte Hand an das Dekameron gelegt, von dem schon einzelne Teile, nach seinen eigenen Worten die ersten dreißig Novellen, bekannt waren.

Die Rahmenerzählung des Dekamerons, die trotz der Anklänge, die eine Abhängigkeit von der Schilderung des großen Sterbens an Thukydides und Lucretius beweisen sollen, unbestritten als Meisterwerk gilt, macht uns mit sieben Damen und drei jungen Männern bekannt, die aus der verseuchten Stadt in die reinere Luft naher Hügel und Täler entfliehen. Die Frage, wo die Örtlichkeiten, die die Gesellschaft aufsucht, gelegen seien, ist oft untersucht und, wie es scheint, mit Geschick gelöst worden; desto müßiger ist es aber wohl, die Persönlichkeiten aller zehn jungen Leute zum Gegenstande einer Untersuchung zu machen. Künstlerisch schön und vielleicht nicht unrichtig ist die Meinung, daß sich Boccaccio in allen drei Männern selber habe darstellen wollen; dann wäre Panfilio oder der Alliebende derselbe Panfilio, der Fiammetta-Marias Gunst genossen hat, Filostrato oder der von der Liebe Geschlagene das Opfer seiner von Fiammetta verratenen Liebe, und Dioneo der Mann, der die Leidenschaft überwunden hat und durch seinen Namen, der von Dionaea oder Venus abzuleiten ist, anzeigt, als was das Weib für ihn in Betracht kommt. Daß Fiammetta eben Fiammetta ist, ist wohl selbstverständlich.

Das ganze Bild der ländlichen Geselligkeit zwischen den jungen Damen und Herren, das in den zehn oder, richtiger gesagt, vierzehn Tagen ihrer Abwesenheit von Florenz nur geringfügig wechselt, hat Boccaccio schon früher zu öfteren Malen gezeichnet gehabt. Im Filocopo geleitet Fiammetta Florio und seine Gesellen „zu einer in Gräsern und Blumen prangenden, von linden, süßen Wohlgerüchen erfüllten Wiese, die eingesäumt wird von schönen jungen Bäumchen, die die Strahlen des großen Gestirns abwehren; und sie setzen sich um eine kleine klare Quelle in der Mitte der Wiese und beginnen von mancherlei Dingen zu sprechen, dieweil der eine das Wasser betrachtet und der andere Blumen pflückt“. Auf Fiammettas Vorschlag beschließt man, einen König zu wählen, dem jeder eine Liebesfrage zur Entscheidung vorlegen soll; einstimmig wird Fiammetta zur Königin gewählt.

Das Motiv der grünen Wiese mit dem Brunnen in der Mitte kehrt auch im Ameto und in der Amorosa Visione wieder. Und so wie an dem anmutigen Orte im Filocopo Geschichten zur Erläuterung des die Liebe betreffenden Gegenstandes erzählt werden, so wie im Ameto die sieben Nymphen erzählen, wie sie ihr Liebesglück gefunden haben, so erzählen einander im Dekameron die zehn jungen Leute Novellen, die zum weitaus größten Teile von der Liebe handeln.

Boccaccio ist der größte, aber nicht der erste Novellist seines Landes. Die Abenteuerromane und die Feenmärchen Frankreichs waren zwar in Italien nie recht heimisch geworden, desto mehr aber die bürgerliche Erzählung, die die Elemente der beiden anderen Gattungen beibehalten hat: an die Stelle des Riesen oder Drachen, der die schöne Prinzessin bewachte, trat der dumme Ehemann, der seine lüsterne Gattin eifersüchtig hütet; an die Stelle der Ritter, die gegen die Sarazenen ins Feld zogen, traten die Kaufleute, die mit ihren Waren die Märkte des Morgenlandes besuchen; und Zauberer wie Merlin, Aristoteles und Virgil wurden durch Heilige der christlichen Kirche ersetzt. Diese Geschichten mußten zu einer Zeit, wo der, der lesen konnte, ein halber Gelehrter war, selbstverständlich weniger von Hand zu Hand, als von Mund zu Mund verbreitet werden; trotzdem ist uns ein reicher Schatz von Geschichten erhalten geblieben und wir finden die Stoffe oder, besser gesagt, die Motive der meisten Novellen des Dekamerons in Aufzeichnungen älterer Zeit wieder. Hier ist nicht der Ort, eine Übersicht zu geben, was im Dekameron orientalischer Herkunft ist, was auf die heiteren Gedichte der Franzosen zurückgeht und was in der Scholle Italiens fußt; bemerkt sei jedoch, daß mit Ausnahme der zehnten Novelle des fünften Tages und der zweiten des siebenten, die in Einzelheiten wörtlich mit ihrer Vorlage, dem Goldenen Esel von Apuleius, übereinstimmen, von keiner einzigen eine unmittelbare Quelle nachgewiesen ist. Im allgemeinen wird es wohl richtig sein, daß Boccaccio die größte Zahl seiner Stoffe, wenn es auch schon vor ihm geschriebene Fassungen gab, dem Hörensagen verdankt. Ist nun aber auch die Fabel kein Ergebnis eigener Erfindung, so hat sie doch erst er zu einem Kunstwerke gestaltet.

In der ältesten bekannten italienischen Novellensammlung, den Novelle antiche, deren älteste Teile nicht vor dem dreizehnten Jahrhundert entstanden sind, finden sich drei Erzählungen, die als Quellen Boccaccios gelten; eine von diesen dreien sei hier, um das Verhältnis Boccaccios zu seinen sogenannten Quellen zu zeigen, wortgetreu (nach der zuletzt erschienenen Ausgabe) übersetzt.

„Arimini Monte (Remiremont?) ist in Burgund, und dort ist ein Herr, der nennt sich den Herrn von Arimini Monte und der großen Grafschaft. Die Gräfin Antiochia und ihre Kammerfrauen hatten einen Türhüter, der schier ein Tölpel war; er war gar groß von Leibe und hatte den Namen Domenico. Eine von den Kammerfrauen schlief zuerst mit ihm und verriet es dann den anderen; und da es eine der anderen verriet, daß er es in so großem Maße hatte, schliefen alle mit ihm, und die Gräfin nach den anderen. Der Graf kam ihnen dahinter; er ließ ihn töten, und aus seinem Herzen ließ er eine Pastete machen. Die setzte er der Gräfin vor, und (auch) die Kammerfrauen aßen davon. Der Graf ging zu ihnen, um zu scherzen, und sagte: ,Wie war die Pastete?‘ Alle antworteten: ,Gut.‘ Nun antwortete der Graf: ,Das ist kein Wunder, denn Domenico behagte Euch lebendig und hat Euch jetzt als Toter behagt.‘ Die Gräfin und die Frauen verwunderten sich und sahen wohl, daß sie ihre Ehre verloren hatten. Sie wurden Nonnen und machten ein Kloster, das das Kloster von Arimini Monte heißt. Das Kloster wuchs und wurde sehr reich, und das wird als Sage erzählt: wenn dort ein Edelmann mit vielen Sachen vorbeikam, ließen sie ihn zur Herberge einladen und bewirteten ihn trefflich. Die Äbtissin und die Nonnen kamen ihm zum Scherzen entgegen: die Nonne, die am meisten angeblickt wird, die bedient ihn und begleitet ihn zu Tisch und Bett. Am Morgen stand sie auf und holte ihm Wasser und Handtuch, und wenn er gewaschen war, reichte sie ihm eine leere Nadel und einen Seidenfaden, und er mußte, wenn er sich zugürten wollte, selber den Faden ins Nadelöhr bringen: und wenn er ihn auf dreimal nicht hineinbrachte, so nahmen ihm die Frauen all seine Sachen und gaben ihm nichts zurück; und wenn er den Faden in die Nadel brachte, so wurden ihm seine Sachen zurückgegeben und schöne Kleinode geschenkt. Und wer das liest, der lese es für eine Sage, aber nicht für Wahrheit.“

Abgesehen davon, daß die Worte des Grafen: „Das ist kein Wunder usw.“ in der neunten Novelle des vierten Tages, die sonst auf eine französische Quelle zurückgeht, wiederkehren, scheint auch der erste Teil der vorstehenden Novelle den Anlaß zu der Geschichte von dem stummen Gärtner Masetto gegeben zu haben, und dem zweiten Teile schuldet wohl Boccaccio die Anregung, Gräfin und Kammerfrau in Äbtissin und Nonnen zu verwandeln; was aber hat Boccaccio aus seiner Vorlage gemacht? Ein halbes Menschenalter nach dem Pestjahre schrieb ihm sein Freund Petrarca über die Nachahmung und das Plagiat in der Literatur: „Wir müssen darauf sehen, daß, wenn etwas ähnlich ist, vieles unähnlich ist, und daß das Ähnliche verborgen und nicht anders zu erfassen ist, als durch eine stille Nachspürung des Verstandes, so daß die Ähnlichkeit eher gefühlt als ausgesprochen werden kann. Man darf den Geist des anderen gebrauchen, darf seine Farben gebrauchen, muß sich aber seiner Worte enthalten. Jene Ähnlichkeit ist verborgen, diese offenkundig; jene macht Dichter, diese Affen.“ Und wie viel ist nun Boccaccio über die Meinung des von ihm als Meister aner-kannten und als Lehrer verehrten Petrarca hinausgegangen

Die Novelle von dem stummen Gärtner ist eine von den vielen, die Boccaccio den Vorwurf der Ungläubigkeit und Gottlosigkeit eingetragen haben; aber nicht zu seinen Lebzeiten und nicht vor dem Ende des nächsten Jahrhunderts. Gegen den katholischen Glauben richtet sich keine Zeile des Dekamerons, das mit dem Namen Gottes begonnen und beendet wird; was der Verfasser an den Pranger stellt, sind die Auswüchse, die sich allenthalben in der Kirche zeigten. Die einzige Novelle, die etwa von einem zelotischen Ketzerrichter als eine Herabsetzung des Glaubens empfunden werden konnte, die von den drei Ringen, ist schon vor Boccaccio in den Novelle antiche und von dem Freunde Dantes, Busone da Gubbio, erzählt worden. Die so hart getadelte Novelle von dem als Heiligen verehrten Verbrecher Ser Ceparello, die erste des Buches, wird durch einen sicherlich historischen Bericht des Dominikaners Etienne de Bourbon von einem als Heiligen verehrten Hunde überboten, und bei diesem Prediger finden wir ebenso wie bei seinen geistlichen Zeitgenossen Jacques de Vitry und Caesarius von Heisterbach Exempel von einer solchen Schamlosigkeit der Mönche und Nonnen, daß Boccaccios Darstellung eher gemildert als übertrieben erscheint. Wahr ist es freilich, daß Boccaccio, der fröhliche Beschauer und sarkastische Spötter, zu anderen Schlüssen kommt als die predigenden Mönche: die wollten ihre Zuhörer mit den schmutzigen Erzählungen, so seltsam es uns erscheinen mag, erbauen und bessern; der Dichter des Dekamerons begnügt sich damit, den Gegensatz zwischen Lehren und Handlungen in gutmütiger Ironie zu belächeln. Im ganzen betrachtet ist das Dekameron, das auf die grauenhafte Schilderung der von Gott gezüchteten Stadt unmittelbar die kosenden Scherze der jugendprangenden Flüchtlinge folgen läßt, zwar keine Verdammung des positiven Glaubens, wohl aber eine entschlossene Absage an das Asketentum, wie es damals Katharina von Siena verkörperte; es ist der erste Triumph der erneuerten Weltanschauung der Antike.

So ist es leicht zu verstehen, daß das Dekameron zu der Zeit, wo das „fratzenhafte, phantastische Ungeheuer, der Mönch Savonarola, der die in dem mediceischen Hause erbliche Heiterkeit in der Todesstunde pfäffisch getrübt hat“, der wirkliche Herr von Florenz war, bei dem von den Worten des Asketen berauschten florentinischen Volke als ein „Anathema“ gelten konnte und demgemäß ebenso wie Bilder, Würfel und Flittertand den kindlichen Boten Savonarolas für den Scheiterhaufen ausgeliefert wurde. Bei diesen Verbrennungen, die 1496 und 1497 auf dem Platze der Signoria vorgenommen wurden, sind sicherlich viele Exemplare der heute nur noch dreimal vorhandenen, 1482 und 1483 in der Druckerei von S. Jacobo di Ripoli hergestellten Ausgaben vernichtet worden. Die Geschichte der Bücher ist, so wie die allgemeine, reich an Grotesken; was aber da geschehen ist, klingt, als ob es Rabelais ersonnen hätte: diese Druckerei gehörte zu einem Nonnenkloster, und Nonnen waren es gewesen, die die Geschichte vom stummen Gärtner und vom Gottesdienste Alibeks gesetzt hatten; einem glaubenseifrigen Mönche blieb es vorbehalten, das Werk der frommen Hände zu zerstören!

Vor dieser Ausgabe war schon eine Reihe anderer erschienen. Der ersten datierten, Venedig, Valdarfer, 1471, gehen mindestens drei ohne Zeitangabe voraus; die anscheinend älteste ist die nach dem Schlußworte des Druckers Deo gratias genannte. Es folgen Ausgaben von 1472, 1475, 1476 (zwei), 1478, 1481, 1484, 1488, 1492, 1497 und 1498. Die von 1492 ist das berühmte venezianische Holzschnittwerk der Brüder Giovanni und Gregorio de Gregorii. Das Dekameron ist also noch im fünfzehnten Jahrhundert mindestens sechzehnmal gedruckt worden. Das sechzehnte Jahrhundert weist vierundsechzig Drucke auf, das siebzehnte zwölf, das achtzehnte sechsunddreißig; die des neunzehnten und zwanzigsten zu erzählen, wäre ein müßiges Beginnen.

Die älteren Ausgaben des sechzehnten Jahrhunderts sind von geringerer Bedeutung, eine ausgenommen, nämlich die 1527 bei Giunti in Florenz gedruckte, die sogenannte Ventisettana, deren Herausgeber, sieben junge Florentiner, sich die Aufgabe gestellt hatten, den schon arg verstümmelten Text durch Vergleichung mit mehreren Handschriften zu verbessern. Diese Arbeit war um so notwendiger geworden, als Boccaccio, der ja die italienische Kunstprosa ins Leben gerufen hat, schier als einziges Vorbild des guten Geschmacks in der Sprache gepriesen wurde. Zuerst billigte es der Humanismus, daß Boccaccio für die getragenen Episoden des Buches ein gutes Stück der lateinischen Syntax und viele lateinische Wörter übernommen hatte; später konnten es ihm die Mitglieder der Akademien nicht hoch genug anrechnen, daß er in den komischen Novellen die Sprache des niedrigen Volkes und der Bauern angewandt hatte; und von der Formenschönheit des Stils waren die Anhänger der neuen Richtung ebenso entzückt wie die der alten. Das Dekameron war als klassisches Buch anerkannt.

Daß sich die Kirche nicht damit abfinden mochte, ist klar; der Index des Tridentinischen Konzils vermerkt denn auch „Boccatii Decades sive novellaecentum“, allerdings mit dem Zusatz: quamdiu expurgatae non prodierint, solange es keine gereinigte Ausgabe gebe. Das Verbot des Dekamerons war für die sprachgelehrten Toskanas ein harter Schlag; die Akademie, die später den Namen Crusca angenommen hat, wandte sich an den Großherzog Cosimo mit der Bitte um seine Vermittlung beim Heiligen Stuhle. Die Bemühungen des Großherzogs hatten Erfolg: 1571 traf aus Rom in Florenz ein Exemplar des Dekamerons ein, wo alle auszumerzenden oder zu ändernden Stellen angegeben waren, und man machte sich unverzüglich an die Arbeit. Der Großherzog ernannte vier Abgeordnete, Deputati, die die Reinigung vornehmen sollten; das Resultat ist die berühmte Ausgabe Florenz 1573, die textkritisch einwandfrei, sonst aber eine jämmerliche Verunstaltung des Buches ist. Das, was von den Sittlichkeitsheuchlern der Gegenwart für unzüchtig erklärt wird, ist freilich erhalten geblieben; hingegen wurde jede Anspielung auf Priester, Mönche und Nonnen peinlich unterdrückt: den Deputati kostete es keine geringe Mühe, wenigstens den Pfarrer von Varlungo (in der zweiten Novelle des achten Tages) zu erhalten, der schon sprichwörtlich geworden war. Im übrigen wurden die Äbtissinnen in Edeldamen, die Nonnen in Edelfräulein, die ehebrecherischen Pfaffen in Soldaten und Beamte, die betrügerischen Mönche in Zauberer verwandelt, und eine Novelle, die sechste des ersten Tages, fiel überhaupt aus. Von nun an dauerte es fast ein Jahrhundert, bis wieder eine unverstümmelte Ausgabe des Dekamerons erschien.

Nicht geringer als die Zahl der italienischen Ausgaben ist die der Übersetzungen. Nach Sacchetti, dem jüngeren Zeitgenossen Boccaccios, war das Dekameron noch im vierzehnten Jahrhundert ins Französische und ins Englische übertragen worden; diese Bücher sind nicht erhalten. Die älteste noch vorhandene französische Übersetzung stammt aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts und von Laurens du Premierfait, der sie nach einer von einem Franziskaner verfaßten lateinischen Übersetzung verfertigt hat; sie ist zuerst 1485 in Paris gedruckt. 1545 folgt ihr eine von Antoine le Maçon besorgte, die der Königin von Navarra gewidmet ist. Eine vollständige englische Ausgabe ist erst 1615-1620 erschienen; neunzehn Novellen hatte aber schon 1568 William Painter in seinen Palace of Pleasure eingefügt. Die älteste spanische Übertragung ist 1496 in Sevilla gedruckt. Die erste deutsche Übersetzung, die lange fälschlich Heinrich Steinhövel zugeschrieben worden ist, nach den neuesten Untersuchungen aber von dem Nürnberger Pfarrer Heinrich Leubing verfaßt sein dürfte, ist zu Anfang der siebziger Jahre des fünfzehnten Jahrhunderts in Ulm erschienen; sie ist in diesem und dem nächsten Jahrhundert nicht weniger als achtzehnmal nachgedruckt worden.

Aus diesen Übersetzungen und unmittelbar aus dem Originale sind die Stoffe des Dekamerons in die Schwank- und Novellenliteratur in Vers und Prosa fast aller europäischen Völker übergegangen; das Dekameron ist die Wurzel eines Baumes, der noch heute, nach sechshalbhundert Jahren, blüht und Früchte trägt. Die Geschichte dieses biologischen Prozesses steht noch immer aus, wenn auch schon hier und dort Ansätze dazu gemacht worden sind. Einige kurze, nur die wichtigsten der Weltliteratur angehörigen Ableitungen betreffende Angaben findet der Leser in den jedem Bande dieser Übersetzung beigegebenen Anmerkungen.

Die Lieder, die am Schlüsse jedes Tages gesungen werden, habe ich in der Verdeutschung Hermann Kurz’ gegeben und diese nur zuweilen geringfügig geändert; im übrigen habe ich bei der Übertragung alle mir zugänglichen Arbeiten meiner Vorgänger sorgsam verglichen und zu Rate gezogen. Meine Absicht war, dem italienischen Texte so treu wie möglich zu folgen, und ich habe keineswegs Petrarca nachahmen wollen, der die Berechtigung zu einer freiem Übersetzung der Griselda-Novelle aus dem horazischen Verse gefolgert hat:

Nec verbum verbo curabis reddere fidus Interpres.

ES BEGINNT DAS BUCH MIT DEM NAMEN

DEKAMERON

UND DEM BEINAMEN

DER ERZKUPPLER,

DAS HUNDERT GESCHICHTEN IN SICH BEGREIFT,

DIE VON SIEBEN DAMEN

UND DREI JUNGEN MÄNNERN

AN ZEHN TAGEN ERZÄHLT WORDEN SIND.

VORREDE.

I M menschlichen Wesen liegt es, Mitleid mit den Unglücklichen zu haben; und obwohl das jedermann wohl ansteht, so wird es doch sonderlich von denen gefordert, die einmal selbst des Trostes bedurften und ihn bei anderen gefunden haben: wenn ihn aber je Menschen nötig gehabt oder ihn geschätzt oder Freude von ihm empfangen haben, so bin ich einer von ihnen. Denn von meiner ersten Jugend an bin ich bis zu dieser Zeit in einer hohen und adeligen Liebe über die Maßen entbrannt gewesen, mehr vielleicht, als es, wenn ich davon erzählen wollte, meinem niedrigen Stande angemessen schiene; obwohl ich nun deswegen von den verständigen Männern, die davon Kunde bekommen haben, gelobt wurde und in ihrer Achtung um vieles gestiegen bin, habe ich nichtsdestoweniger dieser Liebe halber gar schwere Pein zu erleiden gehabt, wahrlich nicht, weil die geliebte Dame grausam gegen mich gewesen wäre, sondern wegen der übermäßigen, von einer wenig gezügelten Begierde in meinem Herzen entzündeten Glut, die mir, weil sie mich bei keiner ziemlichen Grenze Befriedigung finden ließ, zu often Malen mehr Leid gebracht hat, als nötig gewesen wäre. In diesem Leide haben mir der freundliche Zuspruch manches Freundes und seine liebenswürdigen Tröstungen eine solche Erquickung verschafft, daß ich völlig überzeugt bin, daß sie es gewesen sind, die mein Leben erhalten haben. Weil es aber Dem gefallen hat, der in seiner Unendlichkeit das Gesetz gegeben hat, daß alles Irdische ein Ende nehmen muß, so hat sich meine Liebe, die vor jeder anderen loderte und die weder durch die Kraft eines Vorsatzes oder eines Ratschlags noch durch die offenkundige Schande oder durch eine Gefahr, die daraus hätte erfolgen können, zu brechen oder zu beugen gewesen wäre, im Verlaufe der Zeit durch sich selbst in einer Weise vermindert, daß sie mir derzeit nichts sonst von sich im Herzen zurückgelassen hat als jene Heiterkeit, die die Liebe denen zu bereiten pflegt, die nicht allzu weit in ihre tiefem Meere hinaussteuern; und so fühle ich denn, daß mir von ihr, die mir sonst zu steter Qual gewesen, jetzt, wo alles Ungemach geschwunden ist, ein süßes Behagen geblieben ist. Obgleich aber die Pein gewichen ist, so ist doch nicht auch die Erinnerung an die empfangenen Wohltaten entflohen, die mir von denen gespendet worden sind, die meine Qualen teilnehmend mit mir gelitten haben; und diese Erinnerung wird, glaube ich, nichts verlöschen als der Tod. Und weil unter den Tugenden, wie ich glaube, sonderlichen Preis die Dankbarkeit verdient, während ihr Gegenteil ebenso verwerflich ist, so habe ich mir, um nicht als undankbar dazustehen, bei mir selbst vorgenommen, jetzt, wo ich mich einen freien Mann nennen darf, zur Vergeltung für das, was ich empfangen habe, zwar nicht denen, die mir geholfen haben, weil es die entweder ihrer Klugheit halber oder wegen ihres guten Glückes nicht brauchen, aber wenigstens denen, bei denen es am Platze ist, nach meinen schwachen Kräften einige Linderung bringen zu wollen. Und obwohl meine Hilfe oder mein Trost, wie wir es nennen wollen, für die Bedürftigen gar wenig bedeuten kann und bedeutet, dünkt es mich doch, daß dieser Trost um so eher dargeboten werden soll, je größer die Not ist, sowohl weil er dort mehr Nutzen stiften wird, als auch weil er dort mehr erwünscht sein wird. Und wer wird es leugnen, daß er, wie immer er beschaffen sei, viel mehr den holdseligen Frauen als den Männern gespendet werden soll? Voll Furcht und Scham bergen die Frauen die Liebesflammen in ihrem zarten Busen, und daß die mehr Gewalt haben als die unverhohlenen, das wissen die, die es versucht haben; überdies verbringen sie, gezwungen unter den Willen, das Belieben und die Befehle der Väter, der Mütter, der Brüder und der Gatten, die meiste Zeit abgeschlossen in dem kleinen Umkreise ihrer Gemächer und überlegen, schier müßig sitzend, in ein und demselben Augenblicke widerstreitende Gedanken des Wollens und Nichtwollens, die unmöglich immer heiter sein können. Und wenn etwa auf diese Art, von glühender Sehnsucht erregt, eine Schwermut in ihr Herz kommt, so muß sie, ganz zu geschweigen davon, daß die Frauen viel weniger stark im Dulden sind als die Männer, mit schwerer Pein drinnen bleiben, wenn sie nicht von einer neuen Anregung verscheucht wird. Bei den verliebten Männern trifft das nicht zu, wie wir klärlich sehen können. Die haben, wenn sie von einer Schwermut oder von düsteren Gedanken befallen werden, viele Mittel, sich Erleichterung zu verschaffen oder darüber hinwegzukommen; denn ihnen fehlt es, wenn sie wollen, nie an der Gelegenheit zu lustwandeln, vielerlei zu hören oder zu sehen, die Vogelbeize oder die Jagd zu treiben, zu fischen, zu reiten, zu spielen oder Handelsgeschäften nachzugehen. Jegliches von diesen Mitteln ist imstande, den Geist entweder ganz oder teilweise zu fesseln und ihn von den unangenehmen Gedanken abzulenken, wenigstens auf eine Zeitlang; entweder stellt sich dann auf die eine oder andere Weise Trost ein oder die Unannehmlichkeit läßt nach. Auf daß nun der Fehler des Schicksals, daß es gerade dort, wo die Kräfte geringer sind, wie wir das bei den zarten Frauen sehen, viel geiziger mit den Behelfen gewesen ist, einigermaßen durch mich verbessert werde, gedenke ich zur Hilfe und Zuflucht für die liebenden Damen — für die anderen genügen die Nadel, die Spindel und der Haspel — hundert Geschichten oder Fabeln oder Parabeln oder Historien, wie wir sie nennen wollen, zu erzählen, welche von einer ehrsamen Gesellschaft von sieben Damen und drei jungen Männern, die sich während der unseligen Zeit des vergangenen Sterbens zusammengefunden haben, an zehn Tagen erzählt worden sind, nebst einigen Liedern, die von den besagten Damen zur allgemeinen Lust gesungen worden sind. In diesen Geschichten werden heitere und ernste Liebesbegebenheiten und andere abenteuerliche Ereignisse ersehen werden, die sich sowohl in neuen als auch in alten Zeiten zugetragen haben; aus ihnen werden die genannten Damen, die sie lesen werden, gleicherweise Lust an den darin dargelegten kurzweiligen Dingen schöpfen können wie auch nützlichen Rat und die Erkenntnis, was zu fliehen und was zu suchen ist: und das, glaube ich, kann nicht geschehen, ohne daß der Kummer entschwände. Trifft dies zu — und Gott gebe, daß es zutreffe —, so mögen sie Amor danken, der mir, indem er mich aus seinen Banden gelöst hat, das Vermögen gewährt hat, auf ihr Vergnügen bedacht zu sein.

ES BEGINNT DER

ERSTE TAG DES DEKAMERONS,

WO NACH EINER VOM VERFASSER GEGEBENEN DARLEGUNG, WIESO ES GESCHEHEN IST, DASS SICH DIE SPÄTER AUFTRETENDEN PERSONEN ZUM ERZÄHLEN ZUSAMMENGEFUNDEN HABEN, UNTER DER HERRSCHAFT PAMPINEAS VON DEM GESPROCHEN WIRD, WAS JEDEM BELIEBT.

S OOFT ich, meine holdseligen Damen, sinnend betrachte, wie mitleidig ihr alle von Natur aus seid, erkenne ich, daß das gegenwärtige Buch nach eurem Urteile einen harten und traurigen Anfang haben wird, weil es an seiner Stirn die schmerzliche Erinnerung an das verwichene große Sterben trägt, das allgemein von jedem verflucht wird, der es miterlebt oder davon erfahren hat. Aber ich will nicht, daß ihr euch dadurch vor dem Weiterlesen abschrecken ließet in der Meinung, ihr würdet beim Lesen schier immer durch Seufzer und Tränen wandeln müssen. Dieser schreckliche Anfang soll euch nichts anderes sein, als was den Wanderern ein rauhes und steiles Gebirge ist, hinter dem die schönste und anmutigste Ebene liegt, die sie um so lieblicher dünkt, je beschwerlicher das Erklimmen und Herabsteigen war. Und so wie sich an die äußerste Freude der Schmerz schließt, so wird auch der Jammer von einer hinzutretenden Lust begrenzt. Auf diese kurze Traurigkeit — kurz sage ich, weil sie nur wenige Zeilen einnimmt — folgt alsbald das süße Vergnügen, das ich euch vorhin versprochen habe und das ihr vielleicht bei einem also beschaffenen Eingange ohne ausdrückliche Ankündigung nicht erwartet hättet. Und wahrhaftig, hätte ich euch auf eine anständige Art von einer anderen Seite als über diesen also rauhen Pfad dorthin, wo ich wünsche, führen können, so hätte ich’s gerne getan; weil es aber ohne diese Erinnerung unmöglich wäre, euch den Anlaß darzulegen, warum das, was später zu lesen sein wird, geschehen ist, so gehe ich notgedrungen an diese Beschreibung. Ich sage also, daß seit der heilbringenden Menschwerdung des Gottessohnes eintausenddreihundertachtundvierzig Jahre verstrichen waren, als in die herrliche Stadt Florenz, die alle anderen italischen Städte an Schönheit überragt, die todbringende Pest gekommen ist, die, entweder durch die Einwirkung der Himmelskörper oder wegen unseres schlechten Wandels von dem gerechten Zorne Gottes zu unserer Besserung über die Sterblichen geschickt, einige Jahre vorher in den östlichen Ländern begonnen, diese einer unzähligen Menge von Menschen beraubt und sich, unaufhaltsam von Ort zu Ort vordringend, grausam nach Westen verbreitet hat. Umsonst war da alle Klugheit oder menschliche Vorsicht, mit der die Stadt durch dazu bestellte Beamte von vielen Unsauberkeiten gereinigt und jedem Kranken der Eintritt verwehrt und mancher Rat zur Erhaltung der Gesundheit gegeben wurde, und umsonst waren die demütigen Gebete, die nicht einmal, sondern zu often Malen, sowohl in angeordneten Bittgängen als auch in anderer Weise von den Frommen an den Herrgott gerichtet wurden: etwa zu Frühlingsanfang des genannten Jahres begann sie ihre schmerzensreichen Wirkungen auf eine gräßliche und erstaunliche Art zu zeigen. Und das nicht so, wie sie es im Morgenlande getan hatte, wo es für jeden ein offenbares Zeichen des unvermeidlichen Todes war, wenn ihm Blut aus der Nase drang, sondern es entstanden bei ihrem Beginne, gleicherweise bei Mann und Weib, entweder an den Leisten oder unter den Achseln Geschwülste, die, bei dem einen in größerer, bei dem anderen in geringerer Anzahl, zum Teile die Größe eines gewöhnlichen Apfels, zum Teile die eines Eies erreichten und vom Volke Pestbeulen genannt wurden. Von diesen zwei genannten Stellen aus begannen die besagten todbringenden Beulen unterschiedslos überall am Körper zu entstehen und zum Vorschein zu kommen; und dann begann sich das Bild der besagten Krankheit in schwarze oder blauschwarze Flecken zu verändern, die bei vielen an den Armen und an den Lenden, aber auch an jedem anderen Körperteile auftraten, bei dem einen groß und in geringer Zahl, bei dem anderen klein und zahlreich. Und wie zuerst die Beulen ein sicheres Zeichen des kommenden Todes gewesen waren und noch waren, so waren es nun auch diese Flecken bei jedem, den sie befielen. Zur Heilung dieser Krankheit schien weder ärztlicher Rat noch irgendeine Arznei wirksam zu sein oder zu frommen; ob es nun die Natur der Seuche nicht zuließ, oder ob die Ärzte — deren Zahl außer den studierten Leuten ebenso durch Frauen wie durch Männer, die nie einen Unterricht in der Arzneikunst gehabt hatten, übermäßig groß geworden war — in ihrer Unwissenheit nicht erkannten, woher sie rühre, und folglich nicht die richtigen Mittel anwandten, jedenfalls genasen nur sehr wenige, und schier alle starben binnen drei Tagen von dem Auftreten der obenerwähnten Zeichen, der eine rascher, der andere langsamer und die meisten ohne irgendein Fieber oder einen sonstigen äußeren Anlaß. Und noch schrecklicher war diese Pest dadurch, daß sie von denen, die daran erkrankt waren, durch den Verkehr auf die Gesunden übergriff, nicht anders als wie das Feuer mit trockenen oder fetten Dingen tut, wenn sie in seine nächste Nähe gebracht werden. Aber das war noch nicht das Ärgste; denn nicht nur das Sprechen oder der Umgang mit den Kranken teilte den Gesunden die Krankheit oder den Keim des gemeinsamen Todes mit, sondern es stellte sich auch heraus, daß schon die Berührung der Kleider oder irgendeines anderen Gegenstandes, den die Kranken berührt oder gebraucht hatten, den Berührenden mit dieser Krankheit ansteckte. Wundersam ist zu hören, was ich sagen muß; und wenn es nicht die Augen vieler Leute und auch die meinigen gesehen hätten, würde ich mich kaum getrauen, es zu glauben, geschweige denn es niederzuschreiben, und wäre mein Gewährsmann noch so glaubwürdig gewesen. Ich sage, daß die Eigenschaft der Pest, von dem einen auf den anderen überzuspringen, von einer solchen Kraft war, daß sie sich nicht nur zwischen Mensch und Mensch zeigte, sondern daß sie auch, wie sie es gar oft augenscheinlich tat, eine andere Kreatur, nicht von der Gattung der Menschen, wenn die etwas von einem an der Pest krank Gewesenen oder Verstorbenen berührt hatte, nicht nur mit der Krankheit ansteckte, sondern auch binnen ganz kurzer Zeit tötete. Davon habe ich unter anderen Malen eines Tages mit meinen eigenen Augen, wie ich vorhin gesagt habe, folgendes Beispiel gesehen: man hatte die Lumpen eines armen Mannes, der an der Krankheit verstorben war, auf die offene Straße geworfen, und zwei Schweine, die dazukamen, machten sich zuerst mit dem Rüssel und dann mit den Zähnen darüber und wühlten darin herum; und kaum eine Stunde später fielen sie beide, als ob sie Gift bekommen hätten, nach einigen Zuckungen tot auf die Lumpen hin, die sie zu ihrem Unheil zerzaust hatten. Diese und viele andere oder noch ärgere Vorfälle erzeugten bei denen, die am Leben geblieben waren, mancherlei Angst und Einbildungen, und schier alle strebten dem einen, gar grausamen Ziele zu, die Kranken und deren Sachen zu meiden und zu fliehen; und durch diese Handlungsweise glaubte jedermann seine eigene Rettung zu finden. Und da waren manche, die dachten, daß ein mäßiges Leben, wobei man sich vor aller Üppigkeit hüte, die Widerstandskraft erheblich fördere: sie vereinigten sich zu Gesellschaften und lebten sonst von allen abgesondert; und indem sie sich in Häusern, wo kein Kranker war, versammelten und einschlossen, genossen sie die schmackhaftesten Speisen und den besten Wein, aber mit Maß und auf der Hut vor aller Schwelgerei, und verbrachten ihre Zeit mit Saitenspiel und all den Vergnügungen, die sie sich verschaffen konnten, ohne sich von jemand sprechen zu lassen oder sich um das, was außerhalb ihres Hauses vorging, weder um den Tod noch um die Kranken, zu kümmern. Von einer gegenteiligen Meinung geleitet, behaupteten andere, die sicherste Arznei bei einem solchen Übel sei, reichlich zu trinken, sich gute Tage zu machen, mit Gesang und Scherz umherzuziehen, jeglicher Begierde, wo es nur möglich sei, Genüge zu tun und über das, was kommen werde, zu lachen und zu spotten; und so wie sie sagten, setzten sie es auch nach ihren Kräften ins Werk: bei Tag und Nacht zogen sie, um ohne Maß und Ziel zu trinken, bald in diese, bald in jene Schenke, viel lieber aber noch in fremde Häuser, wenn sie nur dort etwas gemerkt hatten, was ihnen zur Freude und Lust war. Und das konnten sie leichtlich tun, weil jedermann all sein Eigentum geradeso wie sich selber aufgegeben hatte, als ob sein Leben verwirkt gewesen wäre; auf diese Art waren die meisten Häuser Gemeingut geworden, und der Fremde schaltete damit, wenn er nur einmal drinnen war, ebenso wie der eigene Herr getan hätte. Aber samt ihrem viehischen Vorsatze mieden diese Leute die Kranken, soweit sie nur konnten. Und in der also verheerenden Not unserer Stadt war das ehrwürdige Ansehen der Gesetze, der göttlichen wie der menschlichen, schier völlig gesunken und vernichtet, weil ihre Verweser und Vollstrecker so wie die anderen entweder tot oder krank waren oder weil es ihnen so an Gehilfen gebrach, daß sie keine Amtshandlung vornehmen konnten: aus diesem Grunde war jeglichem erlaubt zu tun, was er wollte. Viele andere schlugen zwischen den zwei obengenannten einen Mittelweg ein, indem sie sich weder eine solche Mäßigkeit im Essen wie die ersten auferlegten, noch im Trinken und in den anderen Ausschweifungen so ausarteten wie die zweiten, vielmehr alles reichlich und nach ihrer Lust genossen und sich keineswegs absperrten, sondern umhergingen, wobei der eine Blumen, der andere wohlriechende Kräuter und manche verschiedene Spezereien in den Händen trugen, um sie oft an die Nase zu führen, weil sie meinten, es sei gar gut, das Gehirn mit derartigen Wohlgerüchen zu erquicken, da die ganze Luft von dem Gestank der Leichname und der Krankheit und der Arzneien dumpf und stinkend geworden war. Andere waren eines grausamem Sinnes — obwohl das vielleicht sicherer war — und sagten, gegen die Pest gäbe es keine bessere oder ebenso gute Arznei als die Flucht: und von diesem Grundsatz geleitet, verließen viele Leute, sowohl Männer als auch Frauen, ohne auf etwas anderes als auf sich selber bedacht zu sein, die Vaterstadt, die eigenen Häuser, ihre Würden und ihre Verwandten und ihr Gut und suchten, wenn nicht gar fremde, so doch die eigenen Landsitze auf, als ob sie der zornige Wille Gottes, die Schlechtigkeit der Menschen mit dieser Pest zu strafen, nicht an jeglichem Orte hätte erreichen können, sondern sich, einmal erregt, hätte darauf beschränken müssen, nur die zu vernichten, die sich innerhalb der Mauern ihrer Stadt fänden, oder als ob sie der Meinung gewesen wären, in dieser Stadt solle kein Mensch verbleiben und ihre letzte Stunde sei gekommen. Und obwohl diese Leute mit den also verschiedenen Meinungen nicht allesamt starben, kamen doch auch nicht alle davon: vielmehr erkrankten von einer jeden Richtung viele, und die gingen dann überall, da sie zur Zeit ihrer eigenen Gesundheit denen, die auch jetzt noch gesund geblieben waren, das Beispiel gegeben hatten, von allen verlassen elendiglich zugrunde. Schweigen wollen wir davon, daß ein Bürger dem anderen aus dem Wege ging und daß sich schier niemand um seinen Nachbar kümmerte und daß die Verwandten einander nur zu seltenen Malen oder nie oder nur von weitem sahen, aber diese Heimsuchung hatte in den Herzen der Männer und der Frauen einen solchen Schauder erregt, daß ein Bruder den anderen verließ oder der Oheim den Neffen und die Schwester den Bruder und oft die Frau ihren Gatten; und was gewichtiger und schier unglaublich ist, sogar die Väter und die Mütter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehen und sie zu pflegen, als ob sie nicht die Ihrigen gewesen wären. Aus diesem Grunde blieb der unzähligen Menge derer, die krank wurden, sowohl Männern als auch Frauen, keine andere Hilfe als entweder die Teilnahme der Freunde, und die war selten, oder die Habsucht der Krankenwärter, die sie, durch einen hohen und unverhältnismäßigen Lohn bewogen, pflegten, obwohl sich samt alledem nicht viele dazu hergaben, und die, die es taten, Männer und Frauen von grobem Sinne und zumeist in einer derartigen Dienstleistung unerfahren waren, so daß ihre ganzen Dienste schier darin bestanden, die Sachen zu bringen, die die Kranken verlangten, oder zuzusehen, wenn sie starben; indem sie aber derartige Dienste leisteten, fanden sie oft mit dem Gewinne zugleich den Tod. Und daraus, daß die Kranken von den Nachbarn, den Verwandten und den Freunden verlassen wurden und daß ein Mangel an Krankenwärtern bestand, bürgerte sich etwas bis dahin Unbekanntes ein, daß nämlich keine Dame, wie groß auch ihre Lieblichkeit oder Schönheit oder Anmut war, wenn sie erkrankte, Bedenken trug, sich von einem Manne, ob er nun jung oder alt war, bedienen zu lassen und vor ihm ohne die mindeste Scham, wenn dies nur die Not der Krankheit erheischte, jeden Teil ihres Körpers zu entblößen, nicht anders als sie bei einer Frau getan hätte: das wurde wohl später bei denen, die genasen, zum Anlasse einer geringeren Ehrbarkeit, Überdies starben auch viele, die sich vielleicht, wenn sie betreut worden wären, erholt hätten: daher war die Menge derer, die in der Stadt bei Tag und Nacht, sowohl wegen des Mangels einer gehörigen Pflege als auch wegen der Heftigkeit der Pest starben, so groß, daß es gräßlich war, nur davon zu hören, geschweige denn es mitzuerleben. Auf diese Art entstanden unter den Überlebenden schier mit Notwendigkeit Gebräuche, die den früher von den Bürgern beobachteten entgegengesetzt waren. Vorher war es üblich gewesen — und auch heute noch sehen wir es, daß sich die Nachbarinnen im Hause des Verstorbenen versammelten und dort mit seinen nächsten weiblichen Angehörigen klagten; vor dem Hause wieder versammelten sich die Nachbarn des Toten und viele andere Bürger mit seinen männlichen Verwandten, und dem Stande des Verstorbenen gemäß kam auch die Geistlichkeit dazu, und nun wurde er auf den Schultern von seinesgleichen mit einem Trauergepränge an Wachskerzen und Gesängen in die von ihm vor seinem Tode bestimmte Kirche getragen. Das alles kam, als die Heftigkeit der Pest überhandzunehmen begann, gänzlich oder zum größeren Teile ab, und neue Gebräuche traten an die Stelle der alten. Die Leute starben nämlich, nicht nur ohne daß sie viele Frauen um sich gehabt hätten, sondern es waren auch gar manche, die ohne Zeugen aus diesem Leben schieden, und den wenigsten wurden die mitleidigen Klagen und die bitteren Tränen ihrer Verwandten gewährt; dafür gab es nunmehr meistens Gelächter und Scherze und geselligen Jubel, und in diesen Gebrauch hatten sich die Frauen, die zu einem großen Teile das weibliche Mitleid hintansetzten, der eigenen Gesundheit halber trefflich geschickt. Selten kam es vor, daß eine Leiche von mehr als zehn oder zwölf Nachbarn zur Kirche geleitet wurde, und es waren nicht ehrbare und angesehene Bürger, die die Bahre trugen, sondern eine Art Totengräber, die der Hefe des Volkes entstammten und sich Leichenknechte nennen ließen; und diese Leute, die das nur um Geld taten, trugen den Toten mit hastigen Schritten nicht zu der Kirche, die er vor seinem Tode bestimmt hatte, sondern zur nächstgelegenen, und vier oder sechs Geistliche gingen voraus mit