„Schau zurück und lerne das Leben in Momente zu teilen,
nicht in Jahre“
(Wilfried Owen, 1893–1918, gefallen im Ersten Weltkrieg).
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© 2020 Sabine Wöger
Illustration: Sabine Wöger
Veröffentlichung: Wolfgang Wöger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7519-8857-5
Dieses Buch entstand infolge meiner 20-jährigen Projektarbeit in oberösterreichischen Alten- und Pflegeheimen zum Thema „Hospizliche und palliative Sorge um alte Menschen“. Diese Weiterbildungsmaßnahme wird in Kooperation mit der Altenbetreuungsschule des Landes Oberösterreich durchgeführt. Das ist eine Einrichtung, welche die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegekräften im geriatrischen Langzeitpflegebereich zum Ziel hat. Der Fokus dieses Projektes liegt auf dem Erwerb von Fachwissen über die geriatrische Palliativpflege, auf der Verbesserung der kommunikativen, ethischen Kompetenzen und der interdisziplinären Zusammenarbeit. Überdies wird die Entwicklung einer palliativen Haltung bei den Mitarbeitenden der Einrichtung intendiert.
Altenpflegekräfte arbeiten oft nicht wegen der Strukturen in den Einrichtungen, sondern vielfach trotz der Strukturen, die im Hinblick auf eine würdevolle Sorge- und Pflegekultur alter Menschen mancherorts bedenklich sind oder gar zu entgleisen drohen. Als ursprünglich motivierend für den Dienst in der Altenpflege wird vor allem eine individuelle und bedürfnisgerechte Pflege und Betreuung genannt, auch um einen Beitrag zur Stärkung der Würde alter Menschen, etwa durch Beziehungsarbeit, zu leisten. Doch es mangelt an Zeit, Personal und an den entsprechenden strukturellen Ressourcen, um hospizliche und palliative Konzepte in einer Einrichtung verwirklichen zu können. Stattdessen berichten Pflegepersonen von überbordender Pflegedokumentation und einem fehlgeleiteten Fokus, etwa auf Maßnahmen die Hygiene betreffend, bei gleichzeitig strengen Kontrollmaßnahmen im Hinblick auf die sorgfältige Ausführung solcher Tätigkeiten durch behördliche Kontrollorgane. Angemessen Zeit für das empathische Zuhören und Verweilen bei zuwendungsbedürftigen Bewohnenden aufzubringen und die Pflege Sterbender in Ruhe durchführen zu können, stellt für geriatrisch Pflegende eine Ausnahme dar. Fühlen sich die alten Menschen einsam oder ängstlich, erfahren es Pflegende als frustrierend, kaum oder keine Zeit für die psychosoziale Betreuung zu haben. In vielen österreichischen Alten- und Pflegeheimen sind nachts nur zwei Fachsozialbetreuende für Altenarbeit verfügbar und für die Betreuung und Pflege von durchschnittlich 120 Bewohnenden verantwortlich. Im Zuge der nächtlichen Kontrollgänge können nur die dringlichsten Bedürfnisse erfüllt werden, etwa die Inkontinenzversorgung oder die Entlastung und Pflege von Dekubitus gefährdeter Haut. Zudem verspüren demenzerkrankte Menschen nachts häufig Sehnsucht nach ihren familiären Bezugspersonen, verbunden mit dem Drang, nach Hause gehen zu müssen. Laut Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) ist es den Ausführenden von Pflegeassistenzberufen nicht erlaubt, Analgetika subkutan zu verabreichen (GuKG, 1997, § 83, Abs. 4). Nur Insuline und blutgerinnungshemmende Arzneimittel dürfen unter die Haut injiziert werden (ebd., Pkt. 2). Ungeachtet dessen haben alte Menschen auch nachts Schmerzen und benötigen die Fortführung einer medikamentösen Therapie.
Es besteht die Gefahr, dass die Werte, die der palliativen Betreuung und Pflege alter Menschen und deren Familien zugrunde liegen, den Standardisierungstendenzen, die längst auch die palliative Pflege alter Menschen erreicht haben, mehr und mehr zum Opfer fallen. Ist beispielsweise die Flüssigkeitsbilanz einer demenzerkrankten Person nach 24 Stunden nicht ausgewogen, wird häufig eine parenterale und subkutane Verabreichung in Erwägung gezogen. Das Trinkverhalten dieser Patient(innen)-Gruppe unterliegt natürlichen Schwankungen, die jedoch meistens über mehrere Tage hinweg und durch die Betroffenen selbst wieder ausgeglichen werden. Das Pflegepersonal benötigt vor allem für sterbende Menschen mehr Zeit. Die Pflegemaßnahmen müssen langsamer durchgeführt werden, weil ansonsten körperliches bzw. psychisches Unbehagen auftritt wie Schwindel oder Angst.
Dieses Buch soll den Lesenden eine hilfreiche Handreichung für die palliative Altenpflege sein. Es soll dazu beitragen, dass die Pflegekräfte fachliche Sicherheit gewinnen, dort wo Informationslücken bestehen oder ein fehlerhaftes Wissen vorliegt. Ich möchte die in der Altenpflege Tätigen dazu ermutigen, ihrer Berufung treu zu bleiben. Das Bewusstsein von Pflegenden für inhumanes Vorgehen soll geschärft werden, sodass sie dagegen, falls nötig, fachlich und nicht nur intuitiv argumentieren können. Sie sollen dazu ermutigt werden, alle denkbaren Möglichkeiten für die palliative Pflege der Bewohnenden und für eine respektvolle Begleitung der Angehörigen auszuschöpfen, allen Hindernissen zum Trotz. Ferner soll die Bedeutung des reflektierten pflegerischen Tuns bzw. Unterlassens, des Zusammenhalts im Team und die Sorge um die eigene Psychohygiene gestärkt werden.
Die Buchkapitel orientieren sich an häufig gestellten Fragen von geriatrisch Pflegenden zu den Grundlagen von Palliative Care.
In besonderer Weise gilt mein Dank dem pflegenden Personal in den geriatrischen Langzeitpflegeeinrichtungen. Sie pflegen mit den Bewohnenden herzliche Beziehungen und geben ihnen dadurch das Gefühl, wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft zu sein. Auch den Leitungskräften der Altenpflegeeinrichtungen danke ich für ihr Engagement bei der Implementierung von Hospiz- und Palliativkultur. Ich danke Frau Michaela Amerstorfer. Sie ist mit der Budgetierung und Organisation der Fort- und Weiterbildungen an der Altenbetreuungsschule des Landes Oberösterreich betraut. Seit vielen Jahren erlebe ich eine wertschätzende, konstruktive Zusammenarbeit, bei der Planung von Bildungsangeboten stets die aktuellen Herausforderungen und Entwicklungen in der Altenpflege berücksichtigend. Meinem Mann Wolfgang danke ich für die Sensibilität, mit der er sich auf meine Gedanken einlässt und mich bei der Realisierung der Buchprojekte unterstützt.
Die im Buch vorgestellten Personen und ihre Lebenssituationen werden in anonymisierter Form dargelegt. Weil sie „per Sie“ und mit dem Vornamen angesprochen werden wollten, ist von „Sanida“, „Heinz“ usw. die Rede. Selbstverständlich liegt dieser Form der Anrede eine von Respekt und Wertschätzung durchdrungene Haltung zugrunde.
Die Inhalte dieses Buches repräsentieren den Wissensstand von Juni 2020. Bitte bedenken sie, dass sich die Gesetzesquellen und -inhalte mittlerweile geändert haben könnten.
Das erste Kapitel informiert über das oö. Projekt „Hospizliche und palliative Sorge um alte Menschen“. Die Kapitel in diesem Buch entstanden auf Basis von Fragen, welche die Teilnehmenden dieses Projektes häufig stellten sowie diskutieren und vertiefen wollten.
Eine defizitäre interdisziplinäre palliative Betreuung
Den Ausgangspunkt für dieses Projekt bildete eine unbefriedigende, unkoordinierte, fachlich wie kommunikativ defizitäre interdisziplinäre Betreuung und Pflege von alten, vor allem schwerkranken und sterbenden Heimbewohnenden und von deren An- und Zugehörigen1. Pflegekräfte berichteten, dass die Schmerztherapie oftmals zu spät eingeleitet bzw. ungenügend oder nicht an die individuellen Bedürfnisse der Bewohnenden angepasst wurde. Die interdisziplinäre Kommunikation und Zusammenarbeit mit manchen Medizinerinnen und Medizinern wurde seitens der Pflegenden oftmals als „hierarchiebetont“ und „unbefriedigend“ erfahren. Die Pflegenden ihrerseits informierten die Ärztinnen und Ärzte nur lückenhaft über wichtige Belange, beispielsweise über die Wirkung von Schmerzmittel. Die Tätigkeit der Ärzteschaft war zudem dadurch erschwert, dass sie keine deklarierten Ansprechpersonen in den jeweiligen Wohnbereichen der Einrichtungen hatten, welche über die einzelnen Bewohnenden detaillierte Auskunft geben konnten.
Für die Implementierung von Palliativkultur ist die Weiterbildung einzelner Mitarbeitenden nicht ausreichend
Die Erfahrung zeigt, dass die Fort- und Weiterbildung einzelner Mitarbeitenden in der Regel die Ansprüche zur Implementierung von Palliativkultur in einem Alten- und Pflegeheim nicht erfüllen kann. Seit mehreren Jahren leite ich eine einjährige Weiterbildung in Palliativpflege am Berufsförderungsinstitut Linz. Die gesetzliche Grundlage zu dieser Weiterbildung ist bei Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (1997, § 63, Abs. 1), ebenso bei jenen, die einen Pflegeassistenzberuf ausüben (GuKG, 1997, § 104c, Abs. 1). Die Lehrgangsteilnehmenden berichteten mir wiederholt, dass sie seitens der Leitenden der Altenpflegeeinrichtungen damit beauftragt wurden, nach Absolvierung der Weiterbildung das Pflege- und Betreuungskonzept Palliative Care in der Einrichtung zu implementieren und die Verantwortung für die Umsetzung zu übernehmen. Doch ist es einzelnen Pflegepersonen nicht möglich, diesen Auftrag zu erfüllen, weil alle anderen Mitarbeitenden den Prozess der tief gehenden Auseinandersetzung mit der Thematik, insbesondere die Entwicklung einer palliativen Haltung, nicht erfahren haben. Erfahrungsgemäß bringen die Absolvierenden der Weiterbildung das Gelernte im Praxisfeld engagiert ein. Sie stoßen jedoch auf Widerstand bzw. auf die mangelnde Bereitschaft der Kolleg*innen, sich auf neue Sichtweisen einzulassen. Nicht selten führt dies dazu, dass geschulte Einzelpersonen früher oder später ihre Tätigkeit in der Einrichtung beenden, ganz im negativen Wortsinn von „Fort-Bildung“. Sie wollen ihre Kräfte nicht dafür verbrauchen, beim pflegenden Personal die Bereitschaft zur Reflexion von Einstellungen und Handlungsabläufen erst fördern zu müssen, ehe sie Palliative Care überhaupt in Ansätzen verwirklichen können.
Projektförmig angelegte Bildungsmaßnahmen mit allen Pflegepersonen einer Eirichtung erweisen sich als effektiv
Hingegen schafft ein projektförmig angelegter Lernprozess, unter Einbindung der gesamten Organisation, eine gemeinsame und nachhaltig tragfähige Basis an Wissen und Haltung. Das Bewusstsein für die Bedeutung einer wertschätzenden interdisziplinären Kommunikation wird zudem gestärkt. Eine Annahme mancher Pflegekräfte lautet, Palliativpflege sei „reine Gefühlssache“. Diese „besondere Begabung“, so ihre Einschätzung, hätten ohnehin nur einige wenige Personen. Ferner sei kein spezielles Wissen für die Pflege Sterbender erforderlich. Die Implementierung von Hospiz- und Palliativkultur erfolge zudem durch „To-do-Listen“ zu bestimmten Abläufen, etwa „Checklisten zur Versorgung Verstorbener“, so die Ansicht einiger Leitungs- und Pflegepersonen.
Eintägige Basisschulung für alle Mitarbeitenden einer Alten- und Pflegeeinrichtung
Alle Pflegepersonen einer Einrichtung absolvieren eine eintägige Basisschulung im Umfang von acht Seminareinheiten zu je 45 Minuten. Mitarbeitende aus den Wirtschafts- und Funktionsbereichen der Einrichtung erhalten ebenfalls eine Einführung in zentrale Projektinhalte. Die Pflegeeinrichtungen, die sich für dieses Projekt entscheiden, erhalten seitens der Altenbetreuungsschule des Landes Oberösterreich eine finanzielle Unterstützung.
Arbeitsgruppe „Palliative Care“
Nachdem alle Pflegepersonen in einem Alten- und Pflegeheim eine Basisschulung absolviert haben, erarbeitet die „Arbeitsgruppe Palliative Care“ (ARGE) jene Themenfelder vertiefend, die für die Betreuungs- und Pflegeeinrichtung besonders bedeutsam sind.
An der ARGE nehmen die pflegedienstleitende Person der Einrichtung, die mit der Leitung der einzelnen Wohnbereiche beauftragten Pflegekräfte sowie jeweils zwei Mitglieder des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege und der Pflegeassistenzberufe teil. Die ARGE trifft sich etwa fünf bis sieben Mal für jeweils drei Stunden. Zwischenzeitlich führen die Mitglieder der ARGE diverse Aufgaben durch, beispielsweise die Zusammenstellung eines Sets für die palliative Mundpflege oder die Gestaltung und Bestückung eines „Angehörigenwagens2“. Hausärztinnen und Hausärzte, Seelsorgende und ehrenamtliche Mitarbeitende werden dann in das Projekt eingebunden, wenn Besprechungsthemen ihren Tätigkeitsbereich bzw. die interdisziplinäre Zusammenarbeit betreffen. Dies ist bei der Ärzteschaft beispielsweise dann der Fall, wenn der Einsatz von Schmerzerfassungsinstrumenten für an Demenz erkrankte Personen evaluiert wird. Seelsorgende wirken bei der Entwicklung und Umsetzung einer würdevollen Trauer- und Abschiedskultur, etwa bei der Planung und Durchführung von Ritualen, mit.
Zwei Projektpräsentationen: für alle Mitarbeitenden und für An- und Zugehörige
Nachdem die Ergebnisse der ARGE in einem Handbuch zusammengefasst wurden, werden in der Einrichtung zwei Projektpräsentationen durchgeführt. Zuerst werden die Projektergebnisse allen Mitarbeitenden des Hauses und ebenso den regionalen und sozialen Kooperationspartnerinnen und -partnern wie dem Mobilen Palliativ- und Hospizteam oder dem pfarrlichen Besuchsdienst vorgestellt. Ein weiteres Mal werden die An- und Zugehörigen der Heimbewohnenden eingeladen, sich im Rahmen der Projektpräsentation über die palliative Betreuung und Pflege zu informieren.
Palliativmedizinischer Vortrag
Der Vortrag einer Palliativmedizinerin/eines Palliativmediziners der regional nächst gelegenen Palliativstation zum Thema „Symptomlinderung bei alten, multimorbiden und/oder demenzerkrankten Heimbewohnenden“ beendet diese erste Phase des Projektes. Zu diesem Vortrag ist jene Ärzteschaft eingeladen, die Bewohnende im Alten- und Pflegeheim behandelt.
Vertiefungsworkshops
Nach etwa sechs Monaten beginnt die zweite Phase. Ich vereinbare in meiner Rolle als Projektleiterin einen weiteren Termin mit der ARGE zu einem vertiefenden Workshop. Ein solcher wird in Abständen von etwa zwei Monaten abgehalten. Die Mitglieder der ARGE fungieren im Altenheim als Ansprechpersonen für Fragen zu Palliative Care und als Multiplikator*innen. Je nach Bedarf und Interesse trifft sich die ARGE auch über mehrere Jahre hinweg. Idealerweise absolvieren zwischenzeitlich eine Person oder zwei Mitglieder der ARGE die einjährige Weiterbildung Palliativpflege gemäß GuKG (1997, § 64). Danach übernehmen diese speziell geschulten Personen die Leitung der ARGE. In der Folge wird nur noch punktuell, etwa im Falle spezifischer Fragen, eine Expertin oder ein Experte von außerhalb der Einrichtung beigezogen.
Schulung neuer Mitarbeitenden
Etwa drei Jahre nach Projektabschluss wird den neuen Mitarbeitenden der Einrichtungen erneut eine Basisschulung angeboten. Zusätzlich werden zu verschiedenen Fachthemen Workshops angedient, beispielsweise zur „Planung und Durchführung von Ritualen“, über „palliatives Wundmanagement“ oder zur „Gesprächsführung mit Angehörigen“.
1 Die Begrifflichkeiten „Angehörige“ und „(emotional) Zugehörige“ werden im Kapitel „Angehörigenbegleitung“ differenziert dargelegt.
2 Im Kapitel „Angehörigenbegleitung“ finden Sie Informationen über den „Angehörigenwagen“.
Inhalte
Im Rahmen der eintägigen Basisschulung werden Grundhaltungen, Ziele und Werte des Pflege- und Betreuungskonzeptes Palliative Care, zentrale Ziele der Pionierin der Hospizbewegung Dr.in Cicely Saunders, die Organisationsstrukturen von Palliative Care und Möglichkeiten der organisationsübergreifenden Zusammenarbeit vermittelt. Schwerpunkte bilden zudem die Pflege Sterbender, der Transfer von palliativpflegerischem Fachwissen, beispielsweise im Hinblick auf Schmerzerfassung bei nicht kommunikationsfähigen und/oder an Demenz erkrankten Menschen, palliativpflegerische Symptomlinderung bei terminaler Rasselatmung, Mundtrockenheit, Obstipation, Dyspnoe und/oder Angst. Entwickelt wird eine Sprache für das reflektierte Tun und Unterlassen, etwa in Bezug auf die Gabe von Flüssigkeit und/oder Nahrung. Fragen, wie jene nach der Sinnhaftigkeit der Anlage einer künstlichen Ernährungssonde bei fortgeschrittener Demenz und/oder wenn eine Person vorab keine Willenserklärung verfasst hat, werden aus pflegerischer und rechtlich-ethischer Sicht diskutiert und beantwortet. Herausfordernd wird mitunter die Begleitung der An- und Zugehörigen erlebt, ein Themenbereich, an dem die Notwendigkeit und Herausforderung der Entwicklung einer palliativen Haltung besonders deutlich sichtbar wird. Weitere Themenfelder bilden „die Formen der Sterbebegleitung“, „die Bedeutung der interdisziplinären Kommunikation“ und „die Gestaltung einer würdevollen Trauer- und Abschiedskultur“, um einige zu nennen.
Ziele
Durch dieses Projekt soll ein Verständnis für die Notwendigkeit der Änderung von einer kurativen zu einer palliativen Zielsetzung, insbesondere bei jenen Bewohnenden, welche an einer degenerativen Demenz erkrankt sind, vertieft werden. Ebenso soll eine Bewusstmachung dahingehend erfolgen, dass Personen mit dem Krankheitsbild einer degenerativen Demenz gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2002, o. S.) dem Profil von Palliativpatient*innen entsprechen und eines ganzheitlichen Betreuungsansatzes bedürfen.
Der Begriff „Hospiz“ leitet sich vom Lateinischen „hospitium“ ab und bedeutet ursprünglich „Herberge“ (DUDEN, o. J.a, o. S.). Es handelt sich dabei um eine stationäre Organisationsstruktur, in der Palliativpatient*innen in der letzten Phase ihres Lebens betreut werden. Die Betroffenen weisen in der Regel eine komplexe pflegerische, psychosoziale und/oder medizinische Symptomatik auf und benötigen ein hohes Maß an Betreuung und Pflege durch ein interdisziplinäres Team, weshalb eine Betreuung zu Hause oder in einem nicht spezialisierten Pflegeheim nicht möglich ist. Die Begrifflichkeit „palliativ“ hat ihren Ursprung im lateinischen Wort „pallium“, d. h. „Mantel“, „Umhang“, „Hülle“, beziehungsweise „palliare“, d. h. „mit einem Mantel bekleiden“ (Niederau, o. J., o. S.). Der Begriff verweist auf einen ganzheitlichen Zugang im Umgang mit schwerkranken und sterbenden Menschen, dem eine palliative Haltung der Mitwirkenden eines interdisziplinären Teams zugrunde liegt.
„Palliative Care“ wurde von der Weltgesundheitsorganisation erstmals 1990 definiert und 2002 in einer weiterentwickelten Fassung vorgelegt:
WHO-Definition „Palliative Care“ von 1990
In englischer Sprache
Palliative care is the active total care of patients whose disease is not responsive to curative treatment. Control of pain, of other symptoms, and of psychological, social and spiritual problems is paramount. The goal of palliative care is achievement of the best possible quality of life for patients and their families […].
Palliative Care:
Deutsche Übersetzung von Sabine Wöger
Palliative Care konzentriert sich auf jene Patient*innen, deren Erkrankung(en) nicht heilbar sind. Das vorrangige Ziel liegt in der Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen, in psychischer, sozialer und spiritueller Hinsicht, und somit im Erreichen einer bestmöglichen Lebensqualität für Patient*innen und deren Familien […]. Palliative Care:
WHO-Definition „Palliative Care“ von 2002
In englischer Sprache
Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual. Palliative care:
Deutschsprachige Übersetzung von Sabine Wöger
Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patient*innen und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art. Palliative Care:
All jene Menschen, die die Kriterien für Palliative Care gemäß WHO (2002, o. S.) erfüllen, sind palliativ betreuungsbedürftig. Der Pflege- und Betreuungsansatz ist laut WHO nicht auf Krebserkrankungen beschränkt. Beispielsweise werden auch Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen des Nervensystems bzw. der inneren Organe palliativ betreut, ebenso jene, die an Acquired Immunodeficiency Syndrome (AIDS), an Morbus Parkinson, an Chorea Huntington oder an einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) leiden. Aus der Definition geht hervor, dass ebenso an Demenz erkrankte und/oder multimoribunde Patient*innen einer palliativen Versorgung bedürfen, weil sie schwer und unheilbar erkrankt sind. Ausschlaggebend für den Beginn einer palliativen Betreuung bei Demenz ist nicht erst das schwere Krankheitsstadium oder die Todesnähe, wenn sich auch die Bemühungen aller in den letzten Tagen und Stunden des Lebens intensivieren. Palliativbegleitung beginnt bereits bei der Diagnosestellung und begleitet den gesamten Krankheitsprozess.
Ziele von Palliative Care – kurzgefasst
Alle Maßnahmen im Kontext von Palliative Care haben die Verbesserung und die möglichst langfristige Erhaltung der Lebensqualität der Erkrankten durch umfassende Symptomkontrolle zum Ziel. Die interdisziplinären Unterstützungsmaßnahmen dienen der Linderung von belastenden oder gar quälenden körperlichen, psychosozialen und spirituellen Beschwerden und der Intensivierung des Gefühls des Getragen- und Begleitetseins, sowohl bei den Erkrankten als auch bei den An- und Zugehörigen.
Was Palliative Care nicht bedeutet
Palliative Care bedeutet keinesfalls, dass therapeutisch nichts mehr getan wird. Ausdruck dieser irrtümlichen Ansicht ist beispielsweise die Annahme, dass bei Palliativpatient*innen keine Medikamente mehr verordnet werden. Ebenso unwahr ist, dass Schwerkranke und Hochbetagte, deren Lebenszeit begrenzt ist, keine kostenintensiven Therapien mehr erhalten. Stattdessen gilt, abzuwägen, welche Maßnahmen die subjektiv empfundene Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen und welche diese heben.
Die Weltgesundheitsorganisation erachtet Lebensqualität als ein zentrales und multidimensionales Konzept, das soziale, geistigspirituelle, körperliche und psychische Komponenten einschließt:
Lebensqualität ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Maßstäbe und Anliegen. Es handelt sich um ein breites Konzept, das in komplexer Weise beeinflusst wird durch die körperliche Gesundheit einer Person, den psychischen Zustand, die sozialen Beziehungen, die persönlichen Überzeugungen und ihre Stellung zu den hervorstechenden Eigenschaften der Umwelt. (WHO, 1997, S. 1)
Während „Autonomie“ die Fähigkeit bezeichnet, das Leben nach eigenen Wertvorstellungen zu gestalten, beschreibt „Selbstbestimmung“ den aktuellen Ausprägungsgrad der Autonomie. Demnach kann eine Person auch dann autonom sein, wenn ihre aktuelle Fähigkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkt ist, wie dies im Falle schwerer Erkrankungen der Fall ist. Autonomie und Selbstbestimmung stehen bisweilen in einem Spannungsverhältnis zueinander: Erkrankte brauchen die Balance zwischen der Fürsorge der Betreuenden einerseits und dem Respekt vor ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung andererseits. Mit dem Krankheitsfortschritt verstärkt sich zumeist die Gewichtung in Richtung Fürsorge (Borasio, 2015, S. 23).
Auf die Frage, welche Personen mit welchen Krankheiten palliativ betreuungsbedürftig sind, antworten Seminarteilnehmende oftmals: „Wenn jemand aus-therapiert ist!“ Doch impliziert der Begriff „aus-therapiert“ Hoffnungslosigkeit und die triste Aussicht, „für mich kann niemand mehr etwas Hilfreiches tun!“ oder „auf mich wartet nur noch ein qualvoller Sterbeprozess und der Tod.“ Eine Patientin erzählte mir, wie sie sich an dem Tag, an dem ihr gesagt wurde, dass sie „aus-therapiert“ sei, fühlte: „Das war wie eine Zensur, eine Art Untergang. Ich spürte, das ist jetzt mein Todesurteil.“
Dieser Begriff schürt unnötigerweise Ängste und zerstört jegliche Perspektiven und Hoffnungen, die trotz schwerster Krankheit immer noch vorhanden sein können. Die real verfügbaren Möglichkeiten der Palliativmedizin zur Symptomlinderung werden im Zuge dieser Aussage ausgeblendet. Problematisch erweist sich zudem der Umstand, dass diese negativ konnotierte Begrifflichkeit den Fokus der Betreuenden primär auf die Defizite und auf diverse mit einer Erkrankung einhergehende Reduktionen lenkt und nur sekundär, wenn überhaupt (!), auf die verfügbaren und noch zu mobilisierenden Ressourcen der Erkrankten. Der Begriff „aus-therapiert“ ist nicht nur gegenüber den Patient*innen, sondern auch im Gespräch mit An- und Zugehörigen zu vermeiden, denn diese wollen den schwerkranken Menschen ihre Liebe zeigen. Und dies geschieht häufig über ein konkretes Tun für die geliebte Person, beispielsweise indem eine Lieblingsspeise für sie zubereitet oder mit ihr gemeinsam der Sonnenaufgang beobachtet wird. Wie müssen sich besorgte An- und Zugehörige fühlen, würde ihnen nur gesagt wird, was alles nicht mehr möglich ist, ohne dabei darauf hinzuweisen, was stattdessen in anderer Weise, vielleicht in kleineren Schritten, dennoch möglich ist? Nachstehend einige negative Beispiele:
„Bitte bringen Sie nichts mehr zum Essen mit! Ihre Mutter verspürt keinen Hunger.“
„Die Mutter kann jetzt nicht mehr trinken und würde die Flüssigkeit aspirieren.“
„Wir können Ihre Mutter nicht mehr in den Lehnstuhl mobilisieren, weil sie zu schwach ist.“
Selbstverständlich ist die Befindlichkeit der Erkrankten wahrhaftig und einfühlsam gegenüber den An- und Zugehörigen zu kommunizieren, jedoch und unbedingt auch das noch Mögliche! Nachstehend einige positive Beispiele:
„Wenn Ihre Mutter auch nur ein paar Teelöffel Fruchtmus zu sich nimmt, kann sie dennoch den köstlichen Geschmack wahrnehmen.“
„Damit sich Ihre Schwester beim Trinken nicht verschluckt, können wohlschmeckende Flüssigkeiten auch mit einem Mikrozerstäuber verabreicht werden.“
„Um Überanstrengung durch zu langes Sitzen im Lehnstuhl zu vermeiden, gibt es auch die Möglichkeit der angenehmen Positionierung im Bett. Dann hat Ihre Mutter auch genügend Kraft, sodass sie Ihren Erzählungen auch folgen kann.“