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© 2020 Christian Salvesen

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9-783-7526-15654

Inhalt

Einleitung

Wenn ich Musik höre, scheinen mich die Klänge schon bald in eine andere Welt zu ziehen. In der Musik sind die lästigen Termine und Probleme vorübergehend verschwunden. Zeit und Raum haben eine andere Qualität. Es fühlt sich an, als würde ich ganz eintauchen und mitströmen in einem Fluss, der mich der Welt mit ihren Sorgen und Problemen enthebt. In diesem Sinne verstand der Philosoph Arthur Schopenhauer das Wesen von Musik:

"Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, dass sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual." 1

Darin mag einer der Gründe liegen, warum Musik – und vor allem die dafür geeignete Musik – nachweislich entspannt, Stress reduziert, das Immunsystem stärkt und insgesamt seelisch, mental und körperlich aufbaut. Welche Musik auf welche Weise heilend in einem ganzheitlichen Sinne wirkt, das ist ein Hauptthema dieses Buches bzw. der drei zusammengehörenden Bände.

Schopenhauer bringt in seiner Musikphilosophie einen weiteren Gedanken ein, den ich aufgreifen und in eine bestimmte spirituelle Richtung weiterführen möchte. Zu seiner Zeit, im 19. Jahrhundert, war die Musik noch tonal und harmonisch. Meist waren vier Stimmen vorgegeben, nämlich Sopran, Alt, Tenor und Bass. Dabei war die oberste Melodiestimme in der Regel schneller und beweglicher als der relativ schwerfällige Bass. Diese vier Stimmlagen repräsentieren laut Schopenhauer die vier Ebenen oder Entwicklungsstufen in der Natur: Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Melodie der obersten Stimme entspricht dem Willen und Streben der menschlichen Seele.

Schopenhauer hat die indischen Veden studiert und möglicherweise auch von den sieben Energiezentren (Chakras) gewusst, die im Yoga alle Ebenen des Seins repräsentieren. Etliche CDs der letzten Jahrzehnte bieten Musik, die in Resonanz zu den Energiezentren sein und so eine Reinigung, Lösung von Blockaden oder eben Harmonisierung bewirken sollen. In einigen Produktionen wird ein bestimmter Grundton einem entsprechenden Chakra zugeordnet. In anderen beziehen sich tiefe Töne auf die unteren, höhere auf die oberen Chakren. Komplexer sind solche Zusammenstellungen, wo den Chakren unterschiedliche Arten von Musik entsprechen sollen: Stark rhythmisch, bassbetont für den unteren Energiebereich (Überleben, Sex, Power), melodisch-harmonische Stücke für den Herz- und Kehlkopfbereich und schließlich sphärische Klänge und Obertöne für Stirn- und Scheitelchakra.

Die Dreiteilung in Band 1 = Rhythmus-Körper-Erde, Band 2 = Melodie-Herz-Himmel und Band 3 =Obertöne-Bewusstheit-Kosmos folgt dem Chakra-Modell. Dabei sind die Grenzen fließend. Eine Musik, bei der vor allem der Rhythmus wichtig ist, kann ja durchaus melodisch sein und dazu noch obertonreiche Instrumente wie die indische Tambura einsetzen.

Dieser erste Band der Reihe „Leben wie Musik“ widmet sich also vornehmlich dem Rhythmus. Das ist ein unglaublich vielschichtiges und grundlegendes Phänomen, das in allen Bereichen des Lebens eine zentrale Rolle spielt.

Zu Beginn stelle ich einleitend einige Bereiche vor. Wie wirkt sich der Rhythmus von Gedichten auf uns aus? Wie hängen Rhythmus und Frequenz zusammen? Was hat es mit den Zyklen in der Natur und in jedem Körper auf sich? Damit befassen sich zum Beispiel die jungen Forschungszweige der Chronobiologie und Chronomedizin.

Im kurzen ersten Teil befasse ich mich mit einem besonderen Aspekt, nämlich dem sprachlichen Rhythmus in Reimen und Beschwörungsformeln. Der zweite Teil ist dem Tanz und der Trommel gewidmet, und zwar unter dem Aspekt der ganzheitlichen Heilung. Tanz allgemein ist ein viel weiteres Feld. Der dritte Teil geht auf die Musik als Vermittlerin von Mensch und Natur ein. Wir lauschen den Stimmen in einem Wald oder dem Gesang der Wale. In etlichen Musikproduktionen, die zur Meditation gedacht sind, spielen Musiker ihre Instrumente unmittelbar zu den Stimmen der Tiere. Hier gehen wir bereits über in die nächste Ebene, die der Melodie und des Herzens.

Im vierten Teil geht es um die weibliche Energie, die innere Göttin in jedem von uns. Entsprechend sind es vor allem Frauen, deren Musik und Gesang vorgestellt wird. Im fünften und letzten Teil dieses Bandes steht das Feiern in der Gemeinschaft im Mittelpunkt. World Musik – Weltmusik – soll das alle Kulturen verbindende Medium sein.

Bei den hier vorgestellten unterschiedlichen Arten von Musik bzw. Klängen – also z.B. Trommeln, Naturgeräusche, Mantras, rituelle Gesänge, Welt- oder Meditationsmusik – gibt es verschiedene Arten des Hörens, des Zugangs oder Umgangs mit dem Hörobjekt. Ich nenne das den „Schlüssel“. Solche Schlüssel sind tanzen, lauschen, das Ritual oder feiern („Celebration“).

Die meisten der hier vorgestellten MusikerInnen lassen sich sehr vereinfacht unter dem Dach von „New Age“ und Weltmusik unterbringen. Nach meiner Einschätzung war der Höhepunkt ihrer Musik in den 80er und 90er Jahren. Die CDs sind überwiegend aus dieser Zeit.

Ich habe in den 90ern alljährlich Kurzrezensionen für die Kataloge „CD-Visionen“ (Aquarius) verfasst und so über 3.000 CDs kennengelernt. Ich schöpfe u.a. aus diesem Fundus. Die CDs bzw. die Musik darauf ist keinesfalls überholt. Fast alle Titel können heute aus dem Internet heruntergeladen bzw. auf YouTube angehört werden. So kann sich jeder anhand meiner Tipps und Anleitungen das für ihn interessante Stück besorgen, sei es zum Meditieren, Tanzen, für ein Ritual oder als Workshopleiter für bestimmte Übungen wie Innere Reisen.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und vor allem beim Hören.


1 Arthur Schopenhauer, die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, S. 285

Was ist Rhythmus?

Psalm

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,

niemand bespricht unseren Staub.

Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.

Dir zulieb wollen

wir blühn.

Dir

entgegen.2

In diesen Versen von Paul Célan schwingt Rhythmus. Wir spüren ihn, noch bevor wir den Sinn der Zeilen erfassen. Das Gehirn hat bereits (um-)geschaltet. Wir erleben anders. Akzente, Betonungen entstehen, ein innerer Tanz.

Gedichte, Musik und Tanz weisen uns auf ein Prinzip, das in der gesamten Natur und Existenz herrscht. Alles, vom Elektron bis zur Galaxie, bewegt sich in einem eigenen Rhythmus und schwingt zugleich mit unzähligen anderen Rhythmen. Und alle beeinflussen sich gegenseitig. Resonanz, glaubt der Molekularbiologe und Philosoph Friedrich Cramer, ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält. 3

Wir wollen den Herzschlag des Lebens erforschen und in ihm tanzen, wollen mitschwingen, bewusst, zu unserem und aller Segen. Wenn wir uns unwohl, gestresst oder schwach fühlen, ist irgendetwas aus dem Takt geraten. Vorher, als es uns gut ging, schien unser Leben wie eine gemütlich unterhaltsame Kanufahrt auf einem gleichmäßig dahin strömenden Fluss. Nun bemerken wir Hindernisse, Strudel und Engpässe, fühlen uns überfordert oder gar ausgeliefert und hilflos.

Wiederum sind es Poesie, Musik und Tanz, die uns in solchen schwierigen Situationen helfen können. Sie lassen uns verstehen, dass wir ja immer bereits getragen sind von den Rhythmen des Lebens, von den Jahreszeiten, dem Wechsel von Wachsein und Schlafen, dem Pulsieren des Blutkreislaufs und dem Aus- und Einatmen. Und sie geleiten uns mit ihrem Rhythmus heilsam zurück in die Harmonie mit uns selbst und dem Ganzen.

Im ersten Teil dieses Buches vertiefen wir ganz praktisch die rhythmische Erfahrung, die wir gerade zu Beginn durch die Lyrik gemacht haben. Worte können verletzen oder heilen, aufregen oder beruhigen, verwirren oder klären. In einem Reim mit rhythmischen Akzenten wirken sie aber darüber hinaus unmittelbar auf Atem, Herz- und Kreislauf, das Nervensystem und andere meist unbewusste Vorgänge im Körper. Deutlicher und stärker spürbar geschieht das natürlich im Tanz. Das älteste und wichtigste Instrument für musikalischen Rhythmus ist die Trommel. Sie leitet den Schamanen der Urvölker ebenso wie den heutigen Tanztherapeuten und seine „Patienten“. Wir erfahren mehr über und sogar direkt beim Lesen die heilende Kraft des Rhythmus.

Alles im Leben geschieht in einem Rhythmus. Rhythmus: Das ist Musik und Tanzen. Wir klatschen in die Hände. Wir lachen uns an. Das kennen wir alle gut. An dieser Erfahrung wollen wir uns auch in diesem Buch immer wieder orientieren. Das ist unser Ausgangspunkt, unser Grundmodell. Rhythmus reicht natürlich viel weiter. Wir sprechen vom Herz- und Atemrhythmus, vom Tag- und Nachtrhythmus, vom Rhythmus der Jahreszeiten. Oder vom „Rhythmus der Großstadt“. „Rhythmos“ ist Griechisch. Darin steckt als Wurzel „ziehen“ und „fließen“. („pantha rhei“ = alles fließt, Heraklit) Rhythmus zieht und fließt. Genau wie beim Tanzen.

Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen Rhythmus befassen, wollen zunächst einmal wissen und messen, wie oft sich ein Ereignis in einer bestimmten Zeit wiederholt. Rhythmus wird zur „Frequenz“. Mit den enormen technischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte können Ereignisse, die sich Millionen Mal in einer Sekunde wiederholen, genau registriert werden. Einen solchen superschnellen Rhythmus, zum Beispiel von elektrischen Nervenimpulsen im Gehirn, erleben wir nicht bewusst. Aber das geschieht im Körper und beeinflusst unser Fühlen und Denken. Wir sind also unmittelbar davon betroffen.

Unsere Sinnesorgane verarbeiten ebenfalls Schwingungen, Wellen, Rhythmen, die sehr schnell aufeinander folgen. Hörbare Töne und Geräusche liegen zwischen etwa 20 und 20.000 Hertz. Farben schwingen noch sehr viel schneller. Die Maßeinheit für Schwingungen pro Sekunde wurde nach dem deutschen Physiker Heinrich Hertz (1857-1894) benannt.

Bei den Tönen einer Melodie können wir nicht die einzelnen Schwingungen pro Sekunde unterscheiden, aber wir nehmen sie zusammengenommen als eine besondere Eigenschaft wahr, nämlich als Tonhöhe. Und aus aufeinander folgenden Tönen entsteht wiederum das, was wir ursprünglich als Rhythmus kennen. Einen musikalischen Rhythmus erleben wir als Einheit. Psychologen und Gehirnforscher sprechen vom Gegenwartsbewusstsein. Es umfasst 3-4 Sekunden. Das genügt, um den Rhythmus zu erfassen und zu jeder beliebigen Musik mitzutanzen.

Was länger zurückliegt, zehn Sekunden, eine Minute, eine Stunde, einen Tag etc. ist „Erinnerung“. Eine Rekonstruktion des Geschehenen. Dabei arbeitet das Gehirn ganz anders als beim unmittelbar Erlebten. Wir kennen das: „Die Erinnerung verblasst“. Was vor einigen Minuten geschah, ist nicht mehr so präsent, ganz zu schweigen von dem, was wir gestern oder vor einem Jahr erlebten.

Doch wir wissen – aufgrund unseres Gedächtnisses – dass sich gewisse Ereignisse über einen längeren Zeitraum wiederholen. Damit steigen wir auf eine dritte Ebene von Rhythmus. Die Zyklen der Natur gehören dazu: Der Wechsel von Tag- und Nacht, der Monatszyklus, die Jahreszeiten. Und – noch abstrakter, wiederum erst durch die Wissenschaft unserer Zeit ins Spiel gebracht: Die Zyklen von Eiszeiten, großen Naturkatastrophen, Geburt und Tod von Sonnen. Gedacht wurden solche Zyklen, die sich über Millionen von Jahren erstrecken, nicht erst in unserer Zeit. In den indischen Veden wurde bereits vor über 3000 Jahren folgender Vergleich aufgestellt: So wie wir in wenigen Sekunden ein- und ausatmen, so atmet der Schöpfergott ein Universum aus- und ein, in Milliarden von Jahren. Zeit ist wahrlich ein Mysterium.

Mittlerweile befassen sich viele Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen „Abteilungen“ mit Rhythmus: Astrophysiker, Biologen, Chemiker, Elektroniker, Friedensforscher, Geologen, Historiker, Klangforscher, Literatur- und Musikwissenschaftler, Mediziner, Neurologen, Psychologen, Soziologen etc. Wir werden einige ihrer Forschungsergebnisse kennen lernen. Doch zunächst möchte ich kurz einen jungen Zweig vorstellen, der sich als besonders wichtig erweisen wird: Die Chronobiologie. Eine Art Biologie der Zeit (chronos). Sie fragt – zusammen mit der verwandten Chronomedizin: Wie wirken die verschiedenen Rhythmen auf unser Befinden, unsere Gesundheit bzw. Krankheit?

Zu den Pionieren dieser neuen Wissenschaft gehören Prof. Dr. Franz Halberg in den USA (1919-2013) und Prof. Dr. Gunther Hildebrand (1924-1999), ehemaliger Leiter des Marburger Instituts für Arbeitsphysiologie und Rehabilitationsforschung und Gründungspräsident der European Society for Chronobiology. Es hat sich sehr bald gezeigt, dass jede Zelle, jedes Organ, jeder Stoffwechsel, jeder Gehirnimpuls in ein komplexes Gesamtsystem von Rhythmen eingebunden ist. Alles läuft in Zyklen und in einem Takt ab, gesteuert von einer Art inneren Uhr.

Die Chronobiologie unterscheidet zwischen kurzen, mittleren und langen Wellen. Die kurzen Wellen, wie zum Beispiel Nervenimpulse, können nur von feinsten elektronischen Geräten registriert werden. Die mittleren können wir direkt wahrnehmen: Herz- und Pulsschlag, Atemrhythmus, Rhythmen eines Musikstücks. Sie liegen im Bereich des Gegenwartsbewusstseins. Die langen Wellen reichen über das Gegenwartsbewusstsein hinaus: Minuten-, Stunden-, Tag- und Nachtzyklen, Monats- und Jahreszyklen. Alle drei Wellenlängen sind für unsere Gesundheit wichtig. Doch wir wollen mit dem beginnen, was wir direkt erfahren.


2 Célan, Paul: Psalm aus: Die Niemandsrose. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1976

3 Cramer, Friedrich: Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie. Insel TB, Frankfurt a. M. und Leipzig, 1998

TEIL 1 HEILENDE REIME – VERTRAUEN UND INSPIRATION

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

Merken Sie etwas? Beim Lesen der Zahlen geschieht eine Art innere Umstellung. Sie schalten von Inhalt und Bedeutung um auf Rhythmus. Das passiert automatisch. Es braucht vielleicht etwas Zeit, um diese Umstellung bewusst wahrzunehmen. Deshalb schlage ich vor, Sie lesen die Zahlen noch einmal, ja mehrmals, und am besten laut.

Wenn Sie mitmachen, sind Sie in einem Rhythmus. Sie fühlen das. Sie können sich da geradezu reinsteigern. Sie können die 1 und die 3 betonen, oder die 1 und die 4. Der Kopf beginnt leicht mitzunicken, oder ein Finger tippt den Rhythmus auf dem Schreibtisch. Das Bein wippt. Kaum merklich ist ein Tanz entstanden. Erkennen Sie den Unterschied zum Lesen dieses Textes – jetzt gerade-, der nicht auf Rhythmus bedacht ist?

Können wir das Phänomen Rhythmus direkt in diesem Medium der Schrift, der gedruckten Sprache erleben? Ich glaube ja. Und damit hätten wir den ersten Schlüssel dafür, das, was in diesem Buch über Selbstheilung durch Rhythmus gesagt wird, zu verstehen und anzuwenden.

Seit Jahrtausenden haben Menschen versucht, Worte so zu arrangieren, dass sie wie Musik in einem bestimmten Rhythmus fließen. So erreichen sie den Hörer oder Leser tiefer und nachhaltiger. Warum das so ist, werden wir noch erfahren. Lesen wir zunächst einige Beispiele – und hören wir dabei innerlich auf den Rhythmus.

Wie Homer seine „Odyssee“ beginnt

Andra moi ennepe musa politropon…“

„Den Mann mir nenne, Muse, den Vielgewandten…“

So begann der blinde griechische Dichter Homer vor fast 3000 Jahren seine „Odyssee“, die berühmte Geschichte von der Irrfahrt des Odysseus. Das Versmaß im Altgriechischen heißt Hexameter (Sechs-Maß). Schon die erste Zeile schwingt in einem 6/8 Takt, wenn wir die fettgedruckten Silben betonen. Und in diesem Walzerrhythmus tanzen die vielen tausend Strophen des ganzen epischen Gedichts. In der deutschen Übersetzung klappt das nicht so gut. Da müsste man schon arg zurechtrücken:

„Muse, den Mann nenne mir, vielgewandt …“ (oder so ähnlich)

In der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß lauten die ersten 10 Zeilen so:

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet

Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft. Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte, Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben: Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft, Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.“ 4

Homer gilt als Vater unserer abendländischen Dichtkunst. Seine Epen im Original zu kennen gehört bis heute zur klassischen Bildung. Der klare Rhythmus hilft beim Auswendiglernen und verstärkt zugleich die Wirkung des Vortrags. Inhaltlich ändert sich allerdings nichts, wenn man die Geschichte nicht in „Lyrik“ (Gedichtform) sondern in „Prosa“ (Erzählform) wiedergibt.

Doch Forscher fanden in Studien heraus, dass die Rezitation von Hexametern gesünder ist. Dirk Cysarz, Mitglied der Forschergruppe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medizintheorie und Komplementärmedizin an der Universität Witten/Herdecke kommentiert das Studienergebnis wie folgt: "Während der Rezitation der antiken Verse war eine deutliche Synchronisation von Herzschlag und Atemfrequenz zu beobachten. Die durch den Hexameter-Rhythmus bedingten langsamen Atemschwingungen erzeugten eine harmonische und regelmäßige Herzschlagfolge. Offensichtlich hilft der Hexameter dem Körper, seinen eigenen, guten Rhythmus zu finden." Natürlich ersetzten Gedichte keine medikamentöse Therapie bei Herzpatienten, fügt Cysarz hinzu. Sie seien nur als eine begleitende Maßnahme anzusehen. Großer Vorteil der Methode sei allerdings, dass sie absolut nebenwirkungsfrei ist und dass man gleichzeitig noch etwas für die Bildung tut. 5

Ursprünglich ging es um eine Studie, um Unfälle an einer Wiener Großbaustelle zu reduzieren. Die Bauarbeiter konnten sich durch Hexameter oder die anthroposophische Eurhythmie zu mehr Aufmerksamkeit am Arbeitsplatz inspirieren lassen. Der Unfallquotient lag tatsächlich deutlich unter dem Schnitt. Geleitet wurde das Experiment von dem Chronomediziner Prof. Dr. Max Moser, Institut für Nichtinvasive Diagnostik, Weiz und Medizinische Uni Graz sowie Dr. Hendrik Bettermann von der Uni Witten/Herdecke.

Dietrich von Bonin vom Medizinisch-künstlerischen Therapeutikum Bern bestätigt – in Zusammenarbeit mit dem Institut für Nichtinvasive Diagnostik (NID), Graz: Das Rezitieren von Hexametern löst im Vegetativum hochsynchrone Schwingungsverhältnisse aus, die als ein Klang mit Grund- und Teiltönen hörbar gemacht werden können. 6

Das hört sich erstmal kompliziert an. Doch wir werden es schon bald besser verstehen.

Vom Kinderreim bis Rilke

Im Laufe der Zeit haben Dichter aller Kulturen mit unterschiedlichen Rhythmen und Formen experimentiert. Die uns geläufigste ist der Endreim, wobei zugleich ein bestimmter Rhythmus eingehalten wird. Das kennen wir von Kindheit an und klingt sehr vertraut:

Abzählreim (Vierertakt)

„Ele mele mu (Pause)

Raus bist du!“ (Pause)

Gebet:

„Ich bin klein,

mein Herz mach’ rein,

soll niemand drin wohnen

als Jesus allein“

Heilreim/Lied:

„Heile, heile Segen!

Morgen gibt es Regen,

Übermorgen Schnee,

Und jetzt tut's nimmer weh.“

Im Unterschied zu diesen einfachen, beruhigenden Versen für Kinder brachten große Dichter wie Schiller und Goethe, die sich auch an den griechischen Dichtern orientierten, dramatische Inhalte in eine Form, die rhythmisch genau passte:

Zu Dionys dem Tyrannen schlich

Damon, den Dolch im Gewande

Ihn schlugen die Häscher in Bande

„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“

entgegnet ihm finster der Wüterich.

„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“

„Das sollst du am Kreuze bereuen“

(Friedrich Schiller, Die Bürgschaft, 1. Strophe)

Dieser Rhythmus ist sicher anspruchsvoller als der eines Schlaflieds. Er soll ja auch aufrütteln, packen. Und zugleich ist da dieses fast hypnotisierende Fließen, das in den Bann zieht und sich einprägt. Ich konnte zumindest diese erste von über 20 Strophen der Ballade nach über 40 Jahren noch auswendig. Mir macht es Spaß, solche Gedichte laut zu lesen. Wir werden noch erleben: Auch das „Dramatische“ kann heilsam sein.

Shakespeares bevorzugte Versform, der jambische Pentameter, soll laut Alex Jack, Professor für holistische Hygiene am Kushi Institute in Becket, Massachusetts, den Herzschlag heilsam beeinflussen: „Diese abwechselnde Betonung imitiert den Herzschlag, den Rhythmus von Systole (Ausdehnung) und Diastole (Zusammenziehung). Beim Vorlesen jambischer Pentameter entsteht eine rhythmische Parallele zum Herzschlag …von 65 bis 75 Schlägen pro Minute …zum Beispiel als ihn seine Mutter für verrückt erklärt, antwortet Hamlet auf eine Weise, in der Inhalt und Form eine vollkommene Einheit bilden:

‚Mein Puls wie Eurer schlägt gemessenen Takt/Musik, gesund wie Eure’ 7

Etliche Gedichte thematisieren Krankheit, Heilung, Gesundheit. Johann Wolfgang von Goethe gab im „Diwan“ Tipps zu Heilpflanzen wie den Blättern des Gingko-Baums, die in der heutigen westlichen Medizin unter anderem bei Konzentrations- und Gedächtnisschwäche verschrieben werden.

Dieses Baums Blatt, der von Osten

Meinem Garten anvertraut,

Gibt geheimen Sinn zu kosten,

Wie's den Wissenden erbaut. 8

Goethes allgemeiner Ratschlag:

Suche nicht vergebne Heilung!

Unsrer Krankheit schweres Geheimnis

Schwankt zwischen Übereilung

Und zwischen Versäumnis 9

Viele Gedichte bedeutender deutscher Dichter sollen Trost spenden, bei Depression und Krankheiten helfen. Ja, wir können sie geradezu als Anleitung zur Meditation lesen. In diesem Sinne versteht der

Benediktiner und Zenlehrer Willigis Jäger das folgende Gedicht von Rainer Maria Rilke aus dem „Stundenbuch“:

"Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.

Wenn das Zufällige und Ungefähre

Verstummte und das nachbarliche Lachen,

wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,

mich nicht so sehr verhinderte am Wachen - ..." 10

Natürlich überschreiten wir mit Gedichten das rein Rhythmische. Vom Abzähl- und Kinderreim bis zu Rilke spannt sich ein weiter Bogen. Doch immer geht es darum, über den Rhythmus noch eine andere Ebene zu erreichen als nur die des intellektuellen Verstehens.

Die besondere Art, wie die Mutter ihr Baby anspricht, ist ein Beispiel dafür. Die kanadische Psychologin Sandra Trehub erforscht seit 25 Jahren die Kommunikation zwischen Eltern und Kind und hat die Reaktionen von Säuglingen und Kleinkindern auf Sprache und Musik genau studiert. Sie zeigen sich viel aufmerksamer, wenn sie langsam und rhythmisch akzentuiert, in einer Art Singsang angesprochen werden.

Die Veden

Das Prinzip der bewussten Rhythmisierung von Sprache ist fast allen Kulturen gemein. Einige Jahrhunderte vor Homer entstanden in Nordindien die vedischen Gesänge. Sie wurden nur mündlich weitergegeben und auswendig gelernt. Die Sprache, Sanskrit, gilt als Mutter aller indogermanischen, das heißt fast aller heute in Europa, Amerika und Australien gesprochenen Sprachen. Auch hier ging es um Versmaß und Rhythmus. Götter und Menschen sollten beschworen, gleichsam hypnotisiert werden.

Bestimmte Silben wie das heilige OM wurden stets wiederholt. Dieser Klang hatte wohl zunächst kaum mehr Bedeutung als unser „Oh!“ oder „Ah!“ Doch schon bald wurden ihm ganz besondere magische und spirituelle Eigenschaften zugesprochen. Und tatsächlich weisen heutige Studien nach, dass dieser Klang mehr harmonische Schwingungsverhältnisse im Organismus auslöst als etwa die ähnlich klingenden Silben am, em, im oder um. 11

Zwischen die OMs wurde dann ein Wunsch, eine Lobpreisung, eine Segnung eingeschoben. So entstanden die Mantras, magische Formeln, um Gesundheit, Glück, Erfolg und Erkenntnis herbei zu zaubern.

Für den Wunsch nach Erkenntnis steht zum Beispiel das Mantra „Om namo bhagavate vasudevaya“

„Om ist der Name für das in mir, was sich der Einheit aller Dinge bewusst ist.“ 12

Im Atharva-Veda, eine der frühen Überlieferungen des Ayurveda, heißt es:

„O Sonne, mach uns frei von Krankheit, geboren aus den Drei Säften (tridosha, d.h. kapha, vata und pitta)…O Sonne, lass diesen Menschen frei sein von Kopfschmerz und anderen Leiden, die mit Kapha verbunden sind; eingedrungen sind sie in jeden Teil seines Körpers. Befreie ihn von Kapha, welcher entstammt dem Regen und dem Wasser, befreie ihn von Vata, welcher entstammt der Luft, und befreie ihn vom Fieber, welches verursacht wurde durch eine Missbildung von Pitta. Mögen alle Leiden diesen Menschen verlassen und in die Wälder und einsamen Berge ziehen.“ 13

Sicher, es wäre schön, nicht nur die „unmusikalische“ deutsche Übersetzung zu lesen, sondern auch etwas vom Rhythmus des ursprünglichen Sanskrittextes mitzubekommen. Nehmen wir als Ersatz-Beispiel die berühmte Definition des Ayurveda von Charaka:

„hitahitam sukham duhkham-ayustasya hitahitam

manam ca tacca yatroktam ayurvedam sa ucyate“ 14

“Ayurveda befasst sich mit den guten und schlechten, glücklichen und unglücklichen Aspekten des Lebens, mit dem, was das Leben fördert und dem, was es nicht fördert, und der Beschaffenheit und Größe (dieser Aspekte).“ 15

Mit etwas Phantasie können wir uns vorstellen, wie die sich wiederholenden Endsilben „tam“, „dam“, „nam“ und „ham“ in einem

Rhythmus schwingen. Selbst ein so komplexes, über 2000 Seiten umfassendes medizinisches Werk wie die Charaka Samhita war in Versen abgefasst. Es hatte einen eingängigen, ja fast tanzbaren Rhythmus. Geist und Körper strömten mit, wurden bei der Rezitation in Schwingung versetzt. Natürlich unterschied man schon im alten Indien ästhetische Qualitäten. Solche Qualitäten erscheinen als überregional und geradezu zeitlos. Der Sprachforscher Johann Gottfried Herder zum Beispiel empfand ein ganz besonderes Werk der klassischen indischen Literatur, die Bhagavadgita, schon vor 200 Jahren als eines der schönsten Gedichte aller Zeiten.

Für medizinische Sanskrit-Mantras hat sich später der tibetische Buddhismus stark gemacht. Das bekannteste Mantra ist das des Medizin-Buddhas:

„Teyata om bekanze

bekanze maha bekanze

radza samudgate soha“

„Du, Medizin-Buddha, bist der König und höchste Heiler.

Bitte nimm die Krankheit, die Krankheit und die große Krankheit weg. Das ist mein Gebet.“ 16

Bemerkenswert ist auch das Mantra „Namu myoho renge kyo“ 'Verehrung dem Lotos des wunderbaren Gesetzes.' In diesem Anfang von Buddhas Lotus-Sutra sah Nichiren (13. Jahrhundert), Begründer des volkstümlichen Nichirin-Buddhismus in Japan, die Essenz der Lehre. Wer es ständig rezitiert, erlangt Glück, Weisheit und Befreiung. Auch viele Westler, darunter Musikstars wie Tina Turner oder der Komponist Phil Sawyer finden in diesem Mantra eine wunderbare Quelle der Inspiration und Konzentration. (siehe Teil 5)

Die Beschwörungsformeln des Heilens reichen wohl etliche Zehntausend Jahre in die Vorgeschichte der Menschheit zurück. Sie werden zum Teil heute noch von Schamanen in der Mongolei, in den Urwäldern des Amazonas oder von indianischen Medizinmännern in Nordamerika angewandt. Die Heiler murmeln oder singen immer wieder dieselben Worte und Silben, meist zur gleichmäßig geschlagenen Trommel. Das löst offensichtlich im „Patienten“ eine Art Trance aus. (Mehr dazu im 2. Und 3. Teil dieses Buches)

Synchronizität

Zwischen Sprechen und Singen gibt es fließende Übergänge. Jeder gesprochene Satz hat einen bestimmten Rhythmus und eine Art Melodie. Beim Rezitieren von Gedichten treten diese Qualitäten deutlicher hervor. Deshalb werden Gedichte oft zu Liedern. Doch selbst beim stillen Lesen machen sich Rhythmus und sogar Melodik zumindest im Keim bemerkbar. Nur wenige Leser erfassen einen fortlaufenden Text wie diesen rein visuell, also wie ein Bild, wo alle Elemente gleichzeitig aufgenommen werden. Texte haben wie Melodien oder Trommelrhythmen in sich eine Zeitstruktur. Immerhin braucht es eine gewisse Zeit, eine Seite zu lesen. Was genau geschieht in dieser Zeit?

Ich möchte Sie zum Anfang dieses Kapitels zurückführen, zu der simplen Zählübung. Bitte lesen Sie noch einmal, erst laut, dann still, die Zeilen:

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4,

Während Sie lesen, laut oder innerlich, geschieht sehr vieles. Da sind Geräusche. Vielleicht hören Sie gerade Musik? Dann wird der Rhythmus des Zählens mit Sicherheit beeinflusst.

Ich möchte Sie bitten, eine Minute mit dem Daumen Ihren Puls zu fühlen und sich auf diesen Rhythmus innerlich einzustimmen. Und wenn Sie nun die Zahlen lesen, während Sie noch beim Puls sind – was geschieht? Sie lesen die Zahlen im Rhythmus des Pulsschlags. Oder?

Wie fühlt es sich an, gegen den Puls zu lesen – schneller…, langsamer? Es dürfte schwierig sein, fast unangenehm. Was wir hier erfahren, ist für das Verständnis des ganzen Buches enorm wichtig. Die verschiedenen Rhythmen des Lebens, in der Natur, im Körper und im Geist, scheinen sich gegenseitig zu beeinflussen. Worauf das zurückzuführen ist, dieser Frage widmen sich zahlreiche wissenschaftlicher Studien und Untersuchungen. Sie ist noch nicht abschließend beantwortet. Die hier wichtigen Fachbegriffe sind „Synchronizität“, „Resonanz“ und „Entrainment“. Wir werden darauf immer wieder zurückkommen.

Dieses Kapitel ist mit „Synchronizität“ überschrieben. Von den drei genannten Grundbegriffen ist Synchronizität wohl der mysteriöseste. Geprägt wurde der Begriff von dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung. Er verstand darunter eine Beziehung zwischen einem „inneren“ und einem „äußeren“ Ereignis. Die Ereignisse finden (meist) gleichzeitig statt, stehen aber in keinem (erklärbaren) kausalen Verhältnis zueinander. Ihre Verbindung ist allerdings auch nicht rein zufällig, sondern in gewisser Weise sinnvoll: „Wenn ein Flugzeug vor mir abstürzt, wenn ich gerade die Nase putze, so ist das eine Koinzidenz ohne Sinn. Wenn ich aber in einem Laden ein blaues Kleid bestelle, und man irrtümlich ein schwarzes schickt, gerade an dem Tage, an dem ein naher Verwandter stirbt, so berührt mich das als ‚sinnvoller’ Zufall.“ 17

C.G. Jung hat über das Thema Synchronizität einen regen und sehr aufschlussreichen Briefwechsel mit dem Physiker Wolfgang Pauli geführt. 18