Aus dem Amerikanischen von Philipp Seedorf
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Slowly We Rot
erschien 2015 im Verlag Bitter Ale Press.
Copyright © 2015 by Bryan Smith
Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Stefan Gesell – www.fotosym.de
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-549-9
www.Festa-Verlag.de
Gewidmet Lashon Miller
Teil 1: AUF DEM BERG
1
Das tote Geschöpf kam so langsam den Hang hinauf, dass es fast aussah, als bewege es sich gar nicht. Jeder schlurfende, wacklige Schritt, den es tat, brachte es der Hütte nur wenige Zentimeter näher. Der vertrocknete, nackte Körper war an vielen Stellen fast bis auf die Knochen verrottet. So gebrechlich, wie seine Bewegungen waren, wirkte es für Noah wie ein Greis, auch wenn sein wirkliches Alter im Moment seines lange zurückliegenden Todes unmöglich zu bestimmen war. Der Zombie war mit ziemlicher Sicherheit ein Mann gewesen, als er noch lebte. Das war trotz der fehlenden Genitalien, die möglicherweise von einem Tier oder einem anderen der toten Dinger abgerissen worden waren, offensichtlich. Obwohl in schlechtem Zustand, war der wandelnde Leichnam groß und breitschultrig. Vor einiger Zeit war er wohl ein Mensch von beträchtlicher Größe und Kraft gewesen. Aber das war vorbei. Jetzt sah das Ding so schwach aus, als könne es von einem starken Windstoß umgeworfen werden.
Noah saß auf der obersten Verandastufe seiner Waldhütte und kaute abwesend auf einem Stück Trockenfleisch. Er genoss den salzigen Geschmack und sein Blick wanderte von dem Zombie weg, um die Aussicht auf das Tal und die Bergreihen auf der anderen Seite des Flussarmes zu genießen, wo er oft angelte. Der Winter war vorbei, aber einige der höchsten Gipfel waren immer noch schneebedeckt.
Noahs Hütte lag so niedrig, dass der letzte Schnee schon vor Wochen geschmolzen war. Nachts war es jedoch so kalt, dass man Feuer machen musste. Das würde wohl noch eine oder zwei Wochen so bleiben, vermutete er. Aber jetzt, mitten am Nachmittag, war es warm genug, um in T-Shirt und Jeans draußen zu sitzen.
Bis gerade eben war es ein sehr schöner Tag gewesen. Aber mittlerweile hatte das unbestimmte Hochgefühl, mit dem er heute Morgen erwacht war, der Dunkelheit Platz gemacht, die für gewöhnlich seine Gedanken und Gefühle beherrschte. Irgendetwas wirklich zu genießen war für ihn so selten geworden, dass es ihn leicht verbitterte, dieser guten Stimmung getraut zu haben.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Zombie zu, der es geschafft hatte, den Hang noch ein paar Schritte weiter hinaufzuschlurfen. Noah biss noch einmal von dem Fleisch ab und kaute langsam, während er zusah, wie die Kreatur schleichend, aber unerbittlich näher kam. Er konnte das Knirschen der brüchigen Knochen hören. Die Chancen standen vermutlich fifty-fifty, dass das Ding überhaupt den restlichen Hang hinaufkam. Eines seiner Schienbeine oder ein Oberschenkelknochen konnte jederzeit bei einem seiner zögerlichen Schritte brechen und es würde wieder den Abhang hinabrollen und nie wieder aufstehen. Aber es würde weiterkriechen. Natürlich würde es das. So war das mit diesen toten Dingern. Sie waren Sklaven ihrer Instinkte. Solange noch ein Funken der unnatürlichen Lebenskraft, die es antrieb, in ihm steckte, würde es nicht nachlassen.
Noah fühlte Mitleid. Man konnte einem Zombie nicht vorwerfen, ein Zombie zu sein, genauso wenig, wie man einem Hai vorwerfen konnte, ein Hai zu sein. Es lag in seiner Natur und der Trieb, der es dazu brachte, immer weiterzulaufen, würde ihm keine Ruhe lassen. Er fragte sich, wie lange die Kreatur wohl schon vergeblich auf der Suche nach warmem Menschenfleisch durch die Wildnis gewandert war. Wie es aussah, eine sehr lange Zeit. Der Mann, der es mal gewesen war, war mindestens ein Jahr tot, vielleicht doppelt so lange. Die Fetzen lederartigen Fleisches, die noch an seinen Knochen hingen, waren so verrottet, wie er es vorher noch selten gesehen hatte, aber das hatte nicht viel zu sagen.
Dank der Vorbereitungen seines Vaters waren Noah und seine Familie sicher hier oben in den Bergen, als der Rest der Welt vor die Hunde ging. Sie hatten zwar das schlimmste Chaos nicht erleben müssen, aber furchtbare Verluste waren auch ihnen nicht erspart geblieben. Nicht lange, nachdem sie in der Hütte angekommen waren, war ihre Mutter von dem Virus überwältigt worden. Bis dahin hatte niemand gewusst, dass sie infiziert gewesen war. Sie hatte es vor ihnen verborgen. Noah konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Nachdem die Seuche ausgebrochen war, wusste man eine Zeit lang nicht genau, ob der scheinbar lebendige Zustand, der auf den Tod folgte, nicht irgendwie rückgängig gemacht werden konnte.
Doch dem war nicht so.
Es waren schon fast sechs Jahre vergangen, aber die Erinnerung an das, was aus seiner Mutter geworden war, nur wenige Augenblicke, nachdem der letzte Lebensfunke in ihren Augen erloschen war, verfolgte Noah immer noch in seinen Träumen. Er hatte ihre Hand gehalten und versucht, mit ihr zu sprechen, als sie wieder erwachte. Und er hatte es immer noch versucht, als sie ihm schon an die Kehle sprang. Wenn sein Vater auch nur eine Sekunde gezögert hätte, wäre Noahs Leben an diesem Tag ebenfalls zu Ende gewesen. Der laute Knall der Waffe und der Anblick der Schädeldecke seiner Mutter, die von dem Geschoss zerfetzt wurde, war zwei der vielen anderen Dinge, die ihn ebenfalls bis in seine Träume verfolgten.
Der Zombie kam näher. Als er die Spitze des Hügels erreichte, hatte Noah gerade das Stück Trockenfleisch aufgegessen. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, stand auf und sah die herannahende Kreatur grübelnd an. Sie bewegte sich schneller, als sie ebenen Grund erreichte. Er hatte gehofft, sie würde den Hang hinabstürzen, aber jetzt war der Punkt erreicht, an dem er sich darum kümmern musste.
Er ging in die Hütte und ließ die Tür hinter sich offen. Die Behausung war klein und hatte eine Kochnische, zwei enge Schlafzimmer, einen Keller und einen Wohnbereich, der den meisten Platz beanspruchte. In der Kochnische schnappte er sich die Feldflasche vom Tisch, die er heute Morgen dort abgestellt hatte. Er nahm einen großen Schluck warmes Wasser und schraubte den Deckel seufzend wieder zu. Dann ging er zurück nach draußen.
Der Zombie hatte mittlerweile die Lichtung halb überquert. Seine Augen starrten tot aus den Höhlen, genauso verrottet wie der Rest seines Körpers, aber sie schienen Noah trotzdem dabei zu verfolgen, wie er die Verandastufen hinunter und zur Seite der Hütte ging.
In dem alten Baumstumpf, den er als Hackklotz nutzte, steckte eine Axt. Noah stellte einen Stiefel auf die Kante des Stumpfes, fasste den Stiel und befreite sie aus dem Holz. Den Axtstiel über die Schulter gelegt, kehrte er zur Lichtung zurück und sah, dass der Zombie fast die Hütte erreicht hatte.
Mit einem weiteren Seufzer hob Noah die Axt von der Schulter und näherte sich dem Zombie, um die richtige Position für einen Hieb einzunehmen. Die Kreatur drehte sich zu ihm und fletschte die schwarzen Zähne. Ein übler Geruch entströmte ihrem Mund. Das war eines der zahlreichen Details, die Noah an diesen Kreaturen verwunderten. Ihre Herzen schlugen nicht mehr, aber ihre Lunge hörte nicht auf, aus- und einzuatmen. Wie schon so oft in den vergangenen Jahren fragte er sich, ob ein Wissenschaftler, irgendwo versteckt in einem sicheren Labor, jemals eines der vielen Geheimnisse des Virus gelüftet hatte. Das könnte doch möglich sein. Nicht dass es noch irgendeine Rolle spielte. Die Welt war tot. Niemand hätte mehr von diesem Wissen profitieren können.
Der Zombie war nur noch wenige Meter entfernt.
Noah packte den Stiel der Axt und schwang sie, so fest er konnte. Die Schneide der Axt drang in den verwesten Schädel der Kreatur und tötete sie sofort.
Es war der erste Zombie, den er seit über einem Jahr gesehen hatte.
Und es war fast doppelt so lange her, dass er einen getötet hatte.
2
Noah brachte die Axt wieder zum Hackstock zurück und schlug sie tief ins Holz. Er musste den toten Körper loswerden. Aber anders als in den frühen Tagen der Seuche bestand keine Eile. Damals folgte auf den ersten Zombie oft kurz darauf ein zweiter und man musste eine Zeit lang besonders wachsam sein. Aber jetzt gab es sehr viel weniger Menschen auf der Erde, tot oder lebendig, und die Chancen, dass bald noch ein weiterer wandelnder Leichnam auftauchen würde, waren gering.
Statt also sofort den Leichnam loszuwerden, ging er zurück in die Hütte und setzte sich eine Weile an den kleinen Tisch in der Kochnische. Er nahm noch ein paar große Schlucke aus der Feldflasche, aß ein weiteres Stück Trockenfleisch, sah zur Tür hinaus und dachte an früher.
Während des ersten Jahres nach dem Ausbruch hatte Noah häufig die Überreste der toten Dinger entsorgen müssen. Viele Menschen, die genauso vorausgeplant hatten wie sein Vater, waren auf entlegene Grundstücke in die Smoky Mountains geflohen. Nicht wenige waren jedoch bereits infiziert, als sie in ihren Verstecken in den Bergen ankamen. Sie fielen früher oder später alle dem Virus zum Opfer und etliche davon erwachten und machten sich auf die Suche nach Nahrung. Es war unvermeidlich, dass einige auch auf das Grundstück seines Vaters kamen. Ein paar davon hatte Noah sogar gekannt, als sie noch lebten. Es waren Bekannte seines Vaters, Arbeitskollegen, die Grundstücke in der Gegend besaßen.
Sein Vater hatte sie ohne große Gefühlsregung erledigt, so als wäre das nur eine weitere lästige Arbeit, die eben getan werden musste. Als Noah daran zurückdachte, fragte er sich, wie viel davon ihm sein Vater nur vorgespielt hatte. Hatte er wirklich nichts empfunden, wenn er auf die Körper seiner früheren Geschäftspartner schoss oder diese zerstückelte? Mit diesen Männern hatte er gegessen und getrunken, bevor die Welt zum Stillstand kam. Er musste doch etwas empfunden haben. Sein Vater war kein gefühlloser Roboter. Er war ein liebender Familienmensch.
Er hatte sich auch nie vor den unangenehmen Dingen des Lebens gedrückt. Noah vermutete, dass er häufig seine wahren Gefühle verborgen hatte. Er hatte es getan, um seine Kinder abzuhärten, besonders Noah, der als junger Mann darauf vorbereitet werden musste, zu der Jäger-und-Sammler-Lebensweise seiner Vorfahren zurückzukehren.
Zumindest damit war sein Vater erfolgreich gewesen. Der Mann war vermutlich schon seit Jahren tot und während dieser Zeit hatte Noah all die Lektionen, die er von ihm gelernt hatte, sinnvoll in die Praxis umsetzen können. Er konnte sich selbst versorgen und brauchte keine Hilfe von anderen. Er war ein geschickter Jäger und Angler geworden. Der Flussarm und die ihn umgebende Wildnis waren gute Nahrungsquellen. Zum Glück schienen Fische und Wildtiere gegen den Virus immun zu sein, der den Großteil der Weltbevölkerung ausgelöscht hatte.
Noah ging wieder nach draußen, packte das Ding an den Handgelenken und zog es in den Wald. Es war mit der Zeit so dürr geworden, dass ihn das kaum anstrengte. Ohne große Mühe zog er es etwa 50 Meter in den Wald hinein, das schien ihm weit genug. Er ließ die Handgelenke des Dinges los und wollte zur Hütte zurückkehren, doch dann blieb er nach ein paar Metern wie angewurzelt stehen.
Er drehte sich um, näherte sich der toten Kreatur erneut und starrte das hohlwangige Gesicht an. Die ledrige Haut war so vergammelt, dass er nicht sagen konnte, wie der Mann wohl ausgesehen haben mochte, als er noch am Leben war, ob er hässlich oder hübsch gewesen war, helle Haut oder dunkle gehabt hatte. Es war nichts mehr vorhanden, woran man hätte sehen können, was er für eine Person gewesen war. Vielleicht war er ein netter, humorvoller Mann gewesen, mit vielen Freunden und Menschen, die ihn liebten. Oder er war ein einsamer Bergbewohner, ein Survival-Typ, der die Zivilisation schon vor ihrem Untergang verabscheut hatte. Er war ein unbeschriebenes Blatt. Ein totes Etwas. Mehr nicht.
Nur dass das nicht ganz stimmte. Die verwitterte, tote Haut war nur eine Maske, die verbarg, dass es einst ein Mensch gewesen war, der gelebt, gelacht und geliebt hatte wie alle anderen. Es war kein Zombie mehr. Die Axt im Schädel hatte dafür gesorgt. Worauf er blickte, waren die Überreste eines Menschen, nicht die eines Monsters. Plötzlich musste er an seine Mutter denken, an den Augenblick, kurz bevor und nachdem sie wieder erwacht war. Auch sie war kein Monster gewesen. Sie war genau wie dieser Mann nur ein weiteres unschuldiges Opfer, des Lebens und der Menschlichkeit durch einen gottverdammten Virus beraubt.
Tränen stiegen Noah in die Augen.
Er wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal geweint hatte. Die Tränen liefen seine Wangen hinab. Er blieb still, wurde nicht hysterisch. Dazu war er gar nicht mehr fähig, erst recht nicht wegen eines Mannes, den er gar nicht gekannt hatte. Dafür war er zu abgehärtet. Dennoch trauerte er wirklich um diesen Toten. Das war er ihm schuldig. Es war schließlich niemand sonst da, der ihn betrauern konnte.
Nach einer Weile wischte sich Noah die Tränen ab und verließ den Wald, aber er war noch nicht ganz fertig. Er holte eine Schaufel aus dem Schuppen hinter der Hütte und lief zurück bis zur Stelle, an der er den Leichnam liegen gelassen hatte. Er fand ihn genauso vor, wie er ihn verlassen hatte. Nicht dass er etwas anderes erwartet hatte. Die Fetzen Fleisch, die noch an den Knochen hingen, waren zu verwest, um Wildtiere anzulocken.
Er rammte die Schaufel tief in den Boden und hebelte sie vor und zurück, bis er die feuchte Erde aufgelockert hatte. Es hatte kürzlich geregnet, was ihm die Arbeit erleichterte. Das Loch im Boden wurde schnell größer, genau wie der Haufen Erde neben ihm. Die Arbeit war so anstrengend, dass er ins Schwitzen kam, und er musste ein paarmal pausieren, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Wäre jemand anders in der Nähe gewesen, hätte der vielleicht gefragt, wieso er sich die Mühe machte, für diesen Fremden ein Grab auszuheben. So etwas hatte er für die anderen toten Dinger schließlich auch nicht getan. Etwas in ihm wollte diesem toten Ding ein wenig Würde zurückgeben. Aber zum größten Teil tat er es, weil er sowieso nichts Besseres zu tun hatte. Zumindest eine Weile konnte er sich fühlen, als hätte er neben seiner blanken Existenz noch einen weiteren Lebenszweck.
Das Grab war noch nicht die üblichen sechs Fuß tief, trotzdem hörte Noah auf zu graben. Das musste reichen. Er stieg heraus und rollte den Leichnam hinein. Nachdem er das Loch gefüllt und die Erde mit der Schaufel platt geklopft hatte, ging er in die Hütte zurück und machte den Abwasch. Durch die Arbeit war er hungrig geworden, also feuerte er den Holzherd in der Kochnische an und kochte sich etwas. Als es fertig war, nahm er den Teller voll Fleisch und Gemüse mit auf die Veranda. Dort setzte er sich auf die oberste Stufe und aß in bedächtiger Stille, während er auf das Tal und die fernen Berggipfel blickte.
Wie so oft fragte er sich, was wohl in der Welt außerhalb der Smoky Mountains vorging. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl jetzt aussah, und nicht, in welchem Zustand sie damals war, vor Jahren, als man das letzte Mal Bilder von Chaos und Zerstörung im Fernsehen sah. Er hätte sie sich gerne als verjüngt vorgestellt. Er wollte glauben, dass die Menschheit es überstanden, sich zusammengerauft und über das Böse triumphiert hatte.
Als er mit dem Essen fertig war, stellte er den Teller neben sich auf die Veranda und starrte in den leeren Himmel. Seit Jahren hatte er nichts mehr über den Himmel fliegen sehen, das von Menschen gemacht war.
Er starrte eine lange Zeit nach oben.
Der Himmel blieb leer.
3
Der Zusammenstoß mit dem Zombie hatte in Noah eine gewisse Unruhe ausgelöst, die den Rest des Tages anhielt. Er fühlte sich rastloser als sonst und auf unbestimmte Weise ängstlich. Das war keine verspätete Angstreaktion auf das unerwartete Eindringen des toten Dings in sein Territorium. Es hatte keine wirkliche Bedrohung dargestellt, dafür war es zu gebrechlich und verwest gewesen.
Nein, es war eher die unerwartete Unterbrechung einer langen und eintönigen Routine. Seit einer Ewigkeit war ein Tag wie der andere gewesen. Er verbrachte die Zeit in völliger Isolation. Nie passierte etwas Bemerkenswertes. Das war keine gesunde Art der Existenz. Menschen waren soziale Lebewesen. Sie brauchten Gesellschaft und Anregung.
Noah bildete da keine Ausnahme. Die lange Isolation hatte ihn häufig an den Rand der Verzweiflung gebracht. Mehrmals hatte er daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Er hatte den Lauf seines Gewehrs schon so oft unter sein Kinn gehalten, es war fast zu einer Art Ritual geworden, aber er hatte nie den letzten Schritt gewagt und den Abzug durchgezogen. Irgendetwas in ihm ließ es einfach nicht zu, obwohl ihm kein wirklich überzeugender Grund einfiel, wieso es sich lohnen würde weiterzuleben.
Er hatte mit diesem Ritual aufgehört, als ihm klar wurde, dass er es wahrscheinlich nie zu Ende bringen würde, zumindest so, wie die Dinge jetzt lagen. Möglicherweise würde einst der Tag kommen, wieder darüber nachzudenken. Angenommen, er würde den Rest seiner Tage hier auf dem Berg verbringen, dann würde ihn das Alter oder eine Krankheit eventuell dazu bringen, es doch zu tun. Es gab keine Chance, eine chronische und möglicherweise tödlich verlaufende Krankheit zu heilen. Sollte dieses Szenario eintreten, wäre es das einzig Vernünftige, sich eine großkalibrige Kugel durch den Schädel zu feuern.
Bis es so weit war, war er allerdings dazu verurteilt, seine ereignislosen Tage einfach einen nach dem anderen hinter sich zu bringen. Die tägliche Routine hatte sich gut eingeschliffen, obwohl er manchmal davon abwich, um nicht vollends durchzudrehen.
Zu dieser Tageszeit – es war später Nachmittag – saß er normalerweise bis Sonnenuntergang im Schaukelstuhl auf der Veranda. Oft las er ein Buch. Manchmal stopfte er sich auch ein kleines Pfeifchen und verbrachte die Zeit in einem angenehmen Marihuana-Rausch. Manchmal las er auch, während er high war.
Seine Bibliothek bestand größtenteils aus Büchern, die er aus anderen Hütten in der Gegend mitgenommen hatte. Er hatte viel freie Zeit und war nicht besonders wählerisch, was das Lesematerial anging. Diese kleinen Beutetouren hatten ihm eine Auswahl an Bestsellern vergangener Tage eingebracht, aber auch verschiedene Biografien, Liebesromane und Lebenshilferatgeber. Angesichts des Zustands der Welt fand er besonders die Bücher der letzten Kategorie auf eine trostlose Weise komisch.
Seinen wertvollsten literarischen Fund hatte er im Keller einer Hütte gemacht, die in der Nähe eines benachbarten Gipfels gelegen war – ein Dutzend Kisten voll mit alten Westernromanen. Um sie zu seiner Hütte zu transportieren, bedurfte es mehrerer Ausflüge im Verlauf von zwei Wochen, aber es war die Mühe wert gewesen. Er hatte genug Lesestoff, um für geraume Zeit nichts zweimal lesen zu müssen.
Auch seinen Vorrat an Gras verdankte er einer seiner Sammeltouren. Er hatte Dutzende Pflanzen in der Nähe einer benachbarten Hütte gefunden. Unter den momentanen Umständen schien es für Noah ein lässliches Laster, ständig high zu sein. So hatte er wenigstens einen Zeitvertreib. Und es machte die Einsamkeit etwas erträglicher. Die Pflanzen zu hegen, half ihm außerdem, sich die Zeit zu vertreiben. Es war einfache Arbeit, aber es lag eine gewisse Befriedigung darin.
Doch heute war er nicht in der Stimmung, seinen alltäglichen Verrichtungen nachzugehen. Vor allem hatte er keine Lust zu kiffen. Das High würde das vage Unbehagen vertreiben, das er empfand. Und aus Gründen, die in seiner Vergangenheit begraben lagen, erschien es ihm von immenser Wichtigkeit, auf die künstliche Erleichterung zu verzichten, die das Gras ihm bieten würde. Die Unruhe, die er empfand, fühlte sich auf eine schwer zu beschreibende Art anders an als die Langeweile, die ihn für gewöhnlich umgab.
Er wollte ihr Raum geben, sich zu entwickeln, um zu sehen, ob sie seinen Gedankenstrom in neue, unerwartete Richtungen lenken würde.
Die Chancen waren allerdings hoch, dass nichts dergleichen passieren würde. Vermutlich würde er des Versuchs, eine tiefere Wahrheit oder Einsicht zutage zu fördern, bald überdrüssig werden und schließlich doch noch der Verlockung des Marihuanas nachgeben, sobald er feststellte, dass ihn weder heute noch an irgendeinem anderen Tag eine solche Offenbarung erwartete. In Wahrheit war seine Langeweile schlicht und ergreifend so groß, dass er jede Abweichung von der Norm gerne mit tieferer Bedeutung versehen hätte, als sie wirklich besaß.
Aber Noah war noch nicht bereit, das Ganze aufzugeben.
Statt auf der Terrasse zu sitzen, bis die Sonne ihren langsamen Lauf in Richtung des Horizonts vollendet hatte, ging er zurück in die Hütte, setzte sich auf das Sofa im Wohnbereich und beäugte kritisch den großen Fernseher an der gegenüberliegenden Wand. Einst ein Wunderwerk der modernen Technik mit einem beeindruckenden HD-Bildschirm, war das Gerät jetzt ein nutzloses schwarzes Nichts, das grundlos an der Wand hing. Die Stromversorgung in der Gegend war schon lange zusammengebrochen. Zum Glück hatte die Hütte einen leistungsfähigen Generator. Aber es gab seit Jahren keinen Treibstoff mehr, um das Teil zu betreiben, obwohl Noahs Vater zu Beginn der Seuche einen großen Vorrat angelegt hatte.
In den ersten Monaten auf dem Berg wurde es durch diese alternative Stromquelle möglich, wenigstens gelegentlich die Illusion der Normalität aufrechtzuerhalten. Da er wohl vorausgeahnt hatte, wie wichtig Ablenkung werden würde, hatte Noahs Dad eine große Sammlung an Filmen auf Blu-ray mitgenommen. Nachdem ihre Mutter gestorben war, hatten Noah und seine Schwester eine Menge Zeit auf dem Sofa verbracht und diese Filme angesehen. Sie hatten es größtenteils vermieden, Nachrichten zu gucken, nachdem die Ereignisse da draußen in der Welt immer apokalyptischere Züge angenommen hatten. Die Zivilisation war verloren und die bruchstückhafte Dokumentation ihres Niedergangs zu verfolgen war zu deprimierend gewesen. Hier oben in den Bergen war es fast möglich, so zu tun, als sei nichts davon je passiert.
Aber dann änderte sich die Lage.
Die Treibstoffreserven gingen zur Neige. Sie machten eine Beutetour, um mehr zu besorgen. Das reichte eine Weile, aber es war nicht genug. Es wäre niemals genug gewesen. Und dann ging ihnen endgültig der Brennstoff aus, bis auf den im Tank des SUV, und der musste gespart werden.
Dann wurde seine Schwester krank.
Es fing mit Hustenanfällen an, die immer schlimmer wurden. Noah erinnerte sich an die Angst, die er empfunden hatte, als er das erste Mal Blut auf Aubreys Lippen gesehen hatte. Blut bedeutete, dass es was Schlimmes war. Es war nicht der Zombie-Virus. Sie waren schon seit Monaten in den Bergen und Aubrey hatte die ganze Zeit keinen Kontakt mit den toten Dingern gehabt. Aber Blut war schlimm. Und es wurde schlimmer. Jedes Mal, wenn er Blut aus ihrem Mund tropfen sah, ergriff Noah ein tiefes Entsetzen. Das Bild einer hoffnungslosen Zukunft begann sich in seinem Kopf abzuzeichnen, eine Zukunft, die auf eine grimmige und nicht zu leugnende Art unabwendbar erschien.
Er wusste, was passieren würde, noch bevor es geschah. Seine Schwester würde kränker werden. Ihre Krankheit, was immer es auch war, würde auf keine Behandlung mit Hausmitteln ansprechen. Ihr Vater würde eine Verzweiflungstat unternehmen und alles würde sich für immer verändern.
Noah hatte mit allem recht.
Sein Vater packte die todkranke Aubrey in den SUV und fuhr hinunter ins Tal, um ein noch funktionierendes Krankenhaus oder einen Arzt zu finden. Noah wollte mit ihnen gehen, aber sein Vater hatte darauf bestanden, dass er zurückblieb. Er hatte mit Aubrey genug zu tun und konnte sie nicht beide beschützen. Noah war kein Kind mehr. Er war ein junger Erwachsener, der bereits einen katastrophalen College-Aufenthalt nach der High School hinter sich hatte. Er erinnerte seinen Vater daran und wies darauf hin, dass sie sich in eine sehr gefährliche und unsichere Situation begaben und dass er verdammt noch mal Hilfe gebrauchen konnte. Aber der emotionale Ausbruch bestärkte den Vater nur in seiner Entscheidung. Also ließen sie Noah allein in den Bergen zurück.
Er sah beide niemals wieder.
Das war jetzt über fünf Jahre her.
Noah erhob sich vom Sofa, ging auf die Veranda und stopfte seine Pfeife. Das Verlangen, seiner Angst nach der Zombieattacke einen tieferen Sinn abzuringen, war gewichen, zumindest im Moment. Das Einzige, was ihn im Augenblick interessierte, war, die schmerzenden Erinnerungen zu vertreiben. Mit diesem Ziel vor Augen setzte er sich in den Schaukelstuhl und rauchte, bis er so high war wie schon lange nicht mehr.
4
Als Noahs Augen sich Stunden später langsam öffneten, war es bereits Nacht. Er saß immer noch im Schaukelstuhl auf der Veranda. Er wusste nicht mehr genau, wann er weggedriftet war. Die Glaspfeife war ihm aus den Fingern geglitten, als er einschlief. Er streckte sich ein wenig und hob die Pfeife auf. Es war noch ein bisschen Gras am Grund des Kopfes und er überlegte kurz, ob er es zu Ende rauchen sollte. Doch dann steckte er die Pfeife in seine Hemdtasche und blickte stirnrunzelnd auf die dunkle Lichtung.
Meist vermied Noah es, länger im Freien zu schlafen. Sein Vater hatte ihm eingeimpft, sich in einer Welt, in der die alten Regeln nicht mehr galten, keine Blöße zu geben, denn das würde ihn natürlich in Gefahr bringen, von Zombies oder wilden Tieren angegriffen zu werden. Sein Vater hatte ihn auch davor gewarnt, lebenden Menschen allzu sehr zu vertrauen, da sie eine fast noch größere Bedrohung darstellten. Es gab keine Gesetze mehr. Jeder konnte einen ausrauben oder töten, ohne Angst vor dem Gefängnis oder der Todesstrafe haben zu müssen.
Das war jedoch sehr unwahrscheinlich – Noah hatte schon seit Jahren keinen lebenden Menschen mehr gesehen. In den frühen Tagen seiner Einsamkeit hatte er den Anbruch der Nacht gefürchtet, denn die Dunkelheit hatte das Gefühl bedrückender Isolation noch verstärkt. Er konnte damals immer schlecht einschlafen und erschrak bei jedem kleinsten Geräusch in der Hütte. Sein Geist spielte ihm Streiche und jedes harmlose herumschnüffelnde Tierchen wurde in seiner Einbildung zu einem Banditen, der ihm seine Sachen stehlen wollte. Die Paranoia ließ erst nach, als er ein ganzes Jahr alleine in den Bergen zugebracht hatte. Obwohl sie schließlich tatsächlich nachließ, blieb er misstrauisch.
Deswegen hatte er fast immer sein Gewehr dabei, wenn er nachts draußen saß. Als er aus seinem ungeplanten, langen Nickerchen erwachte, war er jedoch unbewaffnet. Er überlegte, das Gewehr aus dem Haus zu holen, stand aber nicht sofort auf. Seine Gedanken kreisten noch um den Zombie von heute Nachmittag. Auch ein Teil der Unruhe, die er empfunden hatte, kehrte zurück.
Diesmal wusste er jedoch, woher das Gefühl kam. Es kam nicht von der minimalen Bedrohung durch den Zombie. Es ging mehr um die Zerstörung einer Illusion. Ähnlich dem, was er und seine Familie erlebt hatten, als der Treibstoff für den Generator ausging. Die Verschiebung in seiner Wahrnehmung war aber nicht so extrem wie damals. Diesmal war die Illusion subtiler gewesen.
Er war schon so lange hier oben auf dem Berg, dass das Leben vor dem Untergang ihm vorkam wie ein Traum oder etwas, das er sich ausgedacht hatte, um die Langeweile oder Isolation erträglicher zu machen. Objektiv betrachtet wusste er, dass das nicht stimmte, aber der Gedanke besaß eine gewisse Verführungskraft – so als könnte er wahr sein. Seine Erinnerungen an die alte Welt erschienen wie Lügen oder Märchen, die über Generationen hinweg durch mündliche Weitergabe bis zur Unkenntlichkeit verändert worden waren. Die Bilder, die er aus dieser Zeit im Kopf hatte, waren wie Filmschnipsel aus einer fremden Welt. Bis zu diesem Tag hatte er sich noch vorstellen können, dass der Tag vielleicht gar nicht so fern lag, an dem sein erschöpfter Geist es ihm gestattete, zu glauben, dass er schon immer hier oben auf dem Berg gelebt hatte. Dass es die alte Welt niemals gegeben hatte.
Der Zombie hatte das geändert.
Das tote Ding war nicht nur eine Erinnerung an die unbestreitbare Existenz der alten Welt, sondern auch an ihren katastrophalen Untergang. Und da war noch etwas. Die Zivilisation mochte untergegangen sein, aber ihr Leichnam war immer noch da draußen. Vor seinem geistigen Auge sah er die Ruinen menschenleerer Städte, dunkle Wolkenkratzer mit kaputten Fenstern, Straßen, die durch die verfaulenden Überreste der zahllosen Toten verstopft waren.
Noah erhob sich abrupt aus dem Stuhl, er brauchte jetzt dringend etwas, um sich von diesen dunklen Gedanken abzulenken. Schon wieder zu kiffen, nachdem er gerade erst auf der Veranda weggedämmert war, erschien ihm nicht so attraktiv, also beschloss er, den Rest der Nacht damit zu verbringen, beim Schein der Öllampe in seinem Vorrat an Westernromanen zu lesen.
Gerade wollte er in die Hütte gehen, als er ein Geräusch hörte. Für einen kurzen Moment setzte sein Herz aus. Er musste sich mit der Hand am Türrahmen abstützen, um nicht hinzufallen.
Der Schrecken, den er empfand, übertraf so ziemlich alles, was er in den letzten paar Jahren gespürt hatte. Aber nicht durch die Angst gelähmt zu werden, war eine weitere Lektion, die ihm sein Vater wieder und wieder eingebläut hatte.
Noah entfernte sich von der Tür, drehte sich um und starrte in den dunklen Wald. Einige Momente der Stille vergingen, während er da stand, angestrengt in die Dunkelheit starrte und darauf wartete, dass sich das Geräusch wiederholte.
Ich kann das nicht wirklich gehört haben, dachte er. Mein Hirn spielt mir einen Streich. Einen noch übleren als sonst.
Verdammt, wahrscheinlich stimmte das sogar, denn Noah glaubte – oder bildete sich ein – ein kurzes Lachen gehört zu haben.
Es hatte trällernd und melodisch geklungen, wie das Lachen einer Frau. Zumindest dachte er das. Aber je länger die Stille anhielt, desto mehr war er davon überzeugt, dass es nur ein Tierlaut gewesen war, den seine Ohren falsch interpretiert hatten. Das klang logisch. Wieso sollte auch plötzlich ein Mädchen oder eine junge Frau vor seiner Berghütte auftauchen, Jahre nachdem er den letzten Menschen gesehen hatte? Und wieso zum Teufel sollte sie lachen? Die Situation und die Umstände waren nicht gerade zum Lachen. Außer vielleicht für jemanden, der schwer gestört war.
Noah erschauderte.
Na, das ist doch ein tröstlicher Gedanke.
Noah war beileibe kein Experte, was Geisteskrankheiten betraf, aber jeder, der nachts alleine im Wald lachte, hatte wohl mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr alle Tassen im Schrank. Vielleicht gab es sogar eine noch schlimmere Erklärung. Vielleicht war es ein Zeichen dafür, dass er langsam durchdrehte. Er wollte die Idee als lächerlich verwerfen, aber das war nicht so leicht.
Da hörte er das Geräusch erneut.
Noah lief in die Hütte und schloss die Tür hinter sich zu. Er eilte im Inneren der Hütte hin und her und stieß mehrmals im Dunkeln irgendwo an beim Versuch, alle Fenster zu verrammeln und die Jalousien zu schließen. Dann holte er eine der Öllampen, entzündete sie und ging zum Kamin, wo er den Rest der Nacht zu bleiben gedachte. Dort hätte er die beste Position, um sich gegen jemanden zu verteidigen, der in die Hütte eindringen wollte. Er stellte die Öllampe ab, holte das Gewehr aus der Küche und zog einen Stuhl vom Esstisch zum Kamin.
Er setzte sich und legte das Gewehr über seine Beine.
Das Geräusch kam ihm beim zweiten Mal eindeutiger vor. Und näher. Es war auf jeden Fall das Lachen eines Mädchens oder einer jungen Frau gewesen.
Und es hatte definitiv neckisch geklungen.
Noah starrte auf die Tür und wartete, dass etwas passierte.
5
Nichts passierte.
Noah wurde unruhig, nachdem er weit über eine Stunde so still wie möglich gesessen hatte. Ihn beschlichen Zweifel darüber, was er wirklich gehört hatte, während die Minuten qualvoll langsam verstrichen. Er spielte mit dem Gedanken, noch mal nach draußen zu spähen, nur würde er diesmal seine Waffe mitnehmen.
Wenn da wirklich jemand war, würde der vielleicht zweimal darüber nachdenken, ihn zu belästigen, wenn er die Waffe sah. Trotz seiner Angst hatte die Idee einen gewissen Reiz. Langsam reichte es ihm, hier im Dunkeln herumzusitzen.
Aber dann blieb er doch, wo er war.
Er saß da und dachte intensiv über die Situation nach, wobei seine neuen Zweifel immer größer wurden, je länger die Stille andauerte.
Bevor er sich in der Hütte eingeschlossen hatte, war er in Bezug auf die Natur des Geräusches sicher gewesen, aber jetzt begann er wieder mit dem Gedanken zu spielen, ob es nicht doch von einem Tier, vielleicht sogar irgendeinem Insekt stammte. Vermutlich war seine Wahrnehmung noch ein wenig gestört, weil er vor seinem langen Nickerchen so viel Gras geraucht hatte. An diese Idee klammerte er sich nun verzweifelt, sie erschien ihm sehr viel tröstlicher als die Vorstellung, dass er von irgendeiner mysteriösen Person vom Wald aus beobachtet wurde, möglicherweise schon, bevor er wieder zu sich gekommen war.
So ganz überzeugte ihn diese Theorie dennoch nicht. Das Gras war zwar stark, aber das High konnte unmöglich so lange nach dem letzten Zug noch andauern. Er musste sich zähneknirschend eingestehen, dass das Geräusch keine auditive Halluzination gewesen sein konnte. Doch die Idee, er könnte einen Tierlaut falsch interpretiert haben, wollte er nicht so leicht aufgeben. Es gab Tiere, die menschliche Laute nachahmen konnten. Verdammt, es hätte sogar ein Wellensittich sein können, der vor Jahren, als alles vor die Hunde ging, aus seinem Käfig entkommen war und es eben erst bis in Noahs Gegend geschafft hatte.
Noah nickte.
Das war tatsächlich eine plausible Erklärung für das, was er gehört hatte. Es erschien zumindest vernünftiger, als zu glauben, dass da draußen im Wald eine Verrückte war. Da gab es nur ein Problem – Noah glaubte weder einen Wellensittich noch irgendein anderes Tier gehört zu haben.
Da draußen im Wald war ein Mädchen.
Ein lachendes, geistig verwirrtes Mädchen. Wie oder warum sie dort hingekommen war, war egal. Und seine Angst war sicher gerechtfertigt. Keine normale Person würde sich auf diese Art ankündigen. Jahre nach dem Ende der Welt war ›normal‹ zwar, noch mehr als früher, eine Sache der Definition, aber keinesfalls konnte dieses neckische Lachen von jemandem gekommen sein, der nicht irgendeinen geistigen Schaden hatte. Das Mädchen mochte vielleicht tatsächlich harmlos sein, aber Noah hielt es für weise, das Gegenteil anzunehmen, bis bewiesen war, dass er falschlag.
Noch mehr Zeit verstrich, vielleicht eine ganze Stunde, und es blieb absolut still.
Noah wurde immer unruhiger.
Schließlich hielt er es nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Er streifte seine Stiefel ab, erhob sich und schlich langsam über den Holzboden bis zum Fenster neben der Tür. Falls die Person vor seiner Hütte näher gekommen war, wollte Noah vermeiden, dass sie seine Schritte hörte. Er atmete aus, griff zwischen die Lamellen der Jalousie und zog sie weit genug auseinander, um hindurchsehen zu können.
Auf der Veranda war niemand und das Mondlicht war hell genug, um zu erkennen, dass die Lichtung ebenfalls leer war. Er drehte den Kopf zur Seite und versuchte, so viel wie möglich von der Umgebung zu sehen. Das Gewehr in der Hand, lief er durch die ganze Hütte und linste durch jedes Fenster, bis er sicher war, dass der ungebetene Besucher nicht aus dem Wald gekommen war. Im Garten hinter dem Haus war keiner und auch in der Nähe des Brunnens oder des Holzstapels war niemand zu sehen. Hinter dem Stapel hätte jemand kauern können, aber er hatte nicht vor, das zu überprüfen. In der Umgebung war keine Bedrohung erkennbar. Das war ihm im Moment gut genug.
Er kehrte zum Stuhl vor dem Kamin zurück und setzte sich.
Nach einer Weile wurden seine Augenlider schwer. Er kämpfte noch etwas gegen die Müdigkeit an, aber dann kapitulierte er, legte sich auf den Boden und schlief mit einer Hand am Gewehrkolben ein.
Verwundert schlug Noah die Augen auf. Er hatte die ganze Nacht geschlafen. Die Öllampe war erloschen. Fahles Morgenlicht fiel durch die Jalousien und vertrieb das Halbdunkel im Wohnbereich der Hütte. Er lag auf der Seite und starrte ein paar Momente verschlafen auf die Tür.
Er fühlte sich benommen und sein Mund war trocken. Als ihm klar wurde, wie viele Stunden er geschlafen hatte, schnellte er hoch, schnappte sich das Gewehr und sah sich kurz in der gesamten Hütte um. Erleichtert stellte er fest, dass niemand in der Nacht hereingekommen war.
Sein Herz raste noch und er setzte sich hin, um seine Stiefel anzuziehen.
Dann ging er nach draußen.
Das lachende Mädchen erwartete ihn auf der Veranda.
6
Noah war schon durch die Tür, bevor er das Mädchen im Schaukelstuhl bemerkte. Er verfluchte sich sofort, weil er so dumm und kurzsichtig gewesen war. Er hatte es versäumt, die Gegend noch einmal durchs Fenster zu checken, bevor er nach draußen gegangen war. So ein dummer Fehler hätte ihn das Leben kosten können.
Allerdings schien das Mädchen keine Waffe zu haben, außer sie hatte irgendwo eine versteckt. Und so klein und schlank, wie sie war, stellte sie offenbar auch keine Bedrohung dar. Ein flüchtiger Blick über die Lichtung schien zu bestätigen, dass sie alleine war. Das alles war keine Entschuldigung für seinen Leichtsinn, doch der Schock, plötzlich einer anderen lebenden Person gegenüberzustehen, ließ ihn diese Unachtsamkeit schnell vergessen.
Das Mädchen hatte den Schaukelstuhl an den Rand der Veranda geschoben und schaukelte sehr langsam vor und zurück. Obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte, hatte er den Eindruck, dass sie nicht sehr alt war. Ihr Haar war lang und schwarz ohne das geringste Weiß darin. Es fiel ganz glatt über ihre schmalen Schultern nach unten. Sie schaukelte vor und zurück, während weitere Augenblicke verstrichen, und schien ihn nicht bemerkt zu haben, obwohl sie das Quietschen der Tür gehört haben musste, genauso wie die schweren Schritte seiner Stiefel.
Selbst nachdem er sie mehrere Minuten still betrachtet hatte, verebbte der Schock, sie dort zu sehen, immer noch nicht. Es fiel ihm schwer, sich davon zu überzeugen, dass sie real war, und er rechnete damit, dass sie jeden Moment verschwand, sich wie ein Geist in einem alten Film langsam in Luft auflöste. Aber das passierte nicht. Etwas beunruhigte ihn, etwas, das er nicht genau dingfest machen konnte.
Plötzlich riss er die Augen weit auf.
Diese Haare … sie schienen ihm merkwürdig vertraut.
Er schüttelte den Kopf.
Nein. Das kann nicht sein.
Er schluckte schwer und musste darum kämpfen, einen Ton herauszukriegen. Ein einzelnes Wort entrang sich seinen Lippen, fast unhörbar: »Aubrey?«
Ein kurzes Lachen war die einzige Antwort. Dasselbe Lachen, das er letzte Nacht gehört hatte.
Er nahm allen Mut zusammen, ging von der Tür weg und stellte sich neben sie an den Rand der Veranda. Er stand ein wenig rechts von ihr und sah in ihr Gesicht. Sein Herz hämmerte wild. Er hatte recht gehabt.
Seine Schwester war endlich nach Hause gekommen.
»Aubrey … ich …«
Sie schüttelte den Kopf und sah weiter geradeaus, anscheinend nicht geneigt, ihrem Bruder ins Gesicht zu sehen.
»Ja, ich bin’s, deine süße Schwester. Überrascht?«
Noah erschien das wie eine gewaltige Untertreibung. Er wusste nicht, was er sagen sollte, wahrscheinlich war es sowieso eine rhetorische Frage.
»Du fragst dich sicher, wo ich die ganze Zeit gewesen bin und was ich gemacht habe.«
Wieder bekam Noah keine Antwort heraus. Er hatte seine Gefühle kaum unter Kontrolle. Nachdem er so lange geglaubt hatte, sie sei tot, sollte er nun vermutlich glücklich sein – ja, außer sich vor Freude, dass sie so unerwartet wieder vereint waren. Er hätte sie in den Arm nehmen und so fest drücken sollen, dass sie keine Luft mehr bekam. Tatsächlich hatte er nur Angst und keinerlei Verlangen, sie auch nur zu berühren.
Sie lachte wieder. Diesmal lag ein gemeiner Unterton darin. »Du hast nie nach Daddy und mir gesucht.«
»Das ist nicht fair, Aubrey. Ich hatte ja keine Ahnung, wo ich hätte suchen sollen. Keinen Schimmer, wo Dad dich hingebracht hatte. Bis gerade eben war ich sicher, dass ihr beide tot seid.«
Sie schnaubte verächtlich. »Das redest du dir ein, damit du nachts schlafen kannst.«
Endlich sah sie ihn an. Ihre blassblauen Augen wirkten eingefallen und die ungesunde Blässe wies darauf hin, dass sie lange kein Sonnenlicht gesehen hatte. Sie trug ein schwarzes Kleid und ein Paar dreckige alte Joggingschuhe. Das Kleid hatte seine besten Tage lange hinter sich. Es war ziemlich abgetragen und an den Nähten hingen Fäden raus.
»Ist mir egal, ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten. Ich bin gekommen, weil ich wissen wollte, ob du noch da bist, denn wenn du gestorben wärst oder so, dann hätte ich dir vergeben können. Aber du siehst recht gesund und munter aus, Noah.«
Noah spürte, wie ihm eine Träne die Wange hinabkullerte.
»Aubrey …«
»Wein mir keine Träne nach, Bruder. Jetzt, wo ich weiß, dass du am Leben bist, werde ich mich wieder vom Acker machen. Vielleicht sehen wir uns wieder, vielleicht nicht.« Ihr Blick wanderte über die leere Lichtung. »Wahrscheinlich nicht.«
»Du solltest hier bei mir bleiben.«
Aubrey schüttelte den Kopf. »Nein. Du willst mich hier nicht, glaub mir. Ich würde dich wahrscheinlich irgendwann im Schlaf töten.«
Mehrere Minuten sagte keiner von ihnen ein Wort. Sie sahen beide zu, wie das Licht der aufgehenden Sonne das Tal erfüllte. Aubrey blieb auf dem Stuhl sitzen, obwohl sie gesagt hatte, sie wolle wieder gehen. Die ganze Pracht der Natur machte diesen Morgen keinen Eindruck auf Noah. Die bitteren Worte seiner Schwester hatten seine vorherige Angst verdrängt. Die Tränen flossen weiter, alte Gefühle wurden wach und zerrissen ihm fast das Herz.
»Es tut mir leid. Du hast recht. Ich hätte nach dir suchen sollen.«
Sie nickte. »Ja, das hättest du.«
»Sag mir wenigstens, was passiert ist. Ist Dad …«
Er verstummte, unfähig, es auszusprechen.
»Ja, ist er. Er war schon knapp eine Stunde, nachdem du ihn das letzte Mal gesehen hast, tot.«
Sie sagte es mit dumpfer, emotionsloser Stimme. Ihre Augen blickten ins Leere, als wäre sie mit den Gedanken ganz weit weg. Zum ersten Mal hatte Noah das Bedürfnis, sie zu berühren, sie irgendwie zu trösten. Aber er bewegte sich nicht. Er wusste, dass die Geste nicht willkommen war.
»Wir sind schnell aus den Bergen rausgekommen. Die Straße war leer und Dad fuhr wie ein Irrer. Auf dem Highway nach Knoxville sah es aber anders aus. Das reinste Chaos. Überall liegen gebliebene und kaputte Autos. Und Horden dieser verfluchten toten Dinger.«
Noah schüttelte den Kopf und versuchte es sich auszumalen. Es war anscheinend so gewesen, wie er es sich immer vorgestellt hatte.
»Ihr hättet zurückkommen sollen.«
»Wir hätten gar nicht erst losfahren sollen, aber Daddy hatte es sich in den Kopf gesetzt. Er hätte alles getan, damit es mir wieder besser geht.« Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen und verschwand wieder. »Wir hatten es ein paar Meilen durch dieses Chaos geschafft, bevor ein Mann in einem Polizeiauto uns den Weg versperrte. Ich dachte, er wollte uns helfen, aber er wollte nur an mich ran.«
Noah wurde von einem tiefen Grauen erfasst. »Du musst nicht darüber reden.«
»Ich will aber darüber reden. Ich will, dass du weißt, was mir passiert ist, während du all die Jahre hier oben ein angenehmes Leben geführt hast.«
Als er an all die Jahre erdrückender Einsamkeit dachte, konnte er gerade noch ein bitteres Lachen unterdrücken. Er fragte sich, was Aubrey wohl denken würde, wenn er ihr von seinem deprimierenden, einsamen Leben erzählen würde. Würde sie endlich etwas anderes für ihn empfinden als nur Wut und Hass? Was, wenn er ihr erzählte, wie oft er schon kurz davor gewesen war, sich das Leben zu nehmen? Vielleicht hätte sie dann wenigstens ein wenig Mitgefühl. Aber Noah widerstand dem Impuls, sich mit ihr zu streiten. Ihm war klar, dass ihre Verbitterung so tief ging, dass man ihr nicht mehr mit rationalen Argumenten zu kommen brauchte.
Er wartete darauf, dass sie fortfuhr, aber sie war verstummt. Erwartungsvoll sah sie zu ihm auf, als hoffte sie auf einen Streit, den er jedoch nicht vom Zaun brechen wollte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde hart, als ihre Augen sich trafen. »Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?«
»Ich könnte eine Menge sagen, aber du würdest es nicht hören wollen.«
»Da hast du recht. Deine Geschichte interessiert mich einen Dreck. Jahrelang wurde ich von einem Perversen in einem Keller gefangen gehalten.«
Noah sah auf die Lichtung. Er konnte sie nicht länger ansehen und Tränen füllten erneut seine Augen.
»Besser so, schau weg. Wenn du noch einen Rest an Gewissen hast, solltest du mich nicht ansehen. Der Perversling war früher ein Cop gewesen, deswegen konnte er Daddy überzeugen, den SUV zu verlassen. Das kranke Schwein trug seine Uniform und tat so, als wäre es immer noch im Dienst. Er tötete Daddy und hat mich geschnappt. Ich war zu schwach, um Widerstand zu leisten. Sobald er mich in seinem Keller hatte, hat er mir Antibiotika gegeben und es ging mir wieder besser. Hat aber nicht lange gedauert, bis ich mir gewünscht habe, er hätte mich einfach sterben lassen.«
Noah atmete aus und sagte fast unhörbar: »Es tut mir leid.«
Aubrey schnaubte. »Entschuldigung nicht angenommen. Er hat mich vergewaltigt, öfter als ich zählen konnte. Ich wurde schwanger. Bekam das Baby. Er hat es getötet, nur Augenblicke, nachdem es auf die Welt gekommen war, während ich auf dem verdreckten Boden lag und darum bettelte, das verdammte Ergebnis seiner Vergewaltigungen im Arm zu halten, weil es sich richtig anfühlte. Er lachte über meine Tränen und warf es in den Wald.«
Noah verzog das Gesicht. »Herr im Himmel.«
»Der hat damit nicht das Geringste zu tun.«
Aubrey erhob sich aus dem Schaukelstuhl und stellte sich mit den Händen in den Hüften vor Noah. »Die ganze Zeit hatte ich nur eine Hoffnung, eine Vorstellung, die gerade so ausreichte, nicht verrückt zu werden. Das war der Glaube, dass du irgendwo da draußen wärst und nach mir suchen würdest. Dass du mich eines Tages finden und befreien würdest.«
Sie verzog das Gesicht und man konnte ihr die tiefe Verbitterung an den Augen ablesen. »Aber du hast natürlich nichts dergleichen getan, stimmt’s?«