"Denn das Schöne, das uns beim Kunstwerk

ins Auge fällt, ist nur die Oberfläche

und folgt anderen Gesetzen als das, was darunter ist...

Von nun an galt es also, den Wegen und Irrwegen

Menschlichen Verhaltens nachzuforschen

und in den Werken nach Spuren

der für ihren Schöpfer erträglichen oder

unerträglichen, den verschuldeten und

den unverschuldeten Lebensumständen

zu suchen; ein Aufspüren des Tabu,

seiner Quelle in der Seele und seiner

Rechtfertigung in der Kunst."

Marbot

edition de l`ϓl

Frankfurt am Main 2017

Impressum:

© Hans-Jürgen Döpp / edition de l`œil

Frankfurt am Main, 2017

www.aspasia.de

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7448-2447-7

In memoriam

Heinrich von Sydow

lNHALT

  1. Annäherung
    • 1.1 Assoziative Annäherung an ein Blatt aus Bellmers Mappe " á Sade "
    • 1.2 Methodische Vorüberlegungen
  2. Analytische Betrachtungen zu den Bildinhalten
    • 2.1 Die phallischen Mädchen
    • 2.2 Im Zwielicht der Unbestimmtheit
    • 2.3 Das Salz der Deformation
  3. Une Promesse de Bonheur?
  4. "Souterrain Baroque"
  5. Wunsch und kreative Wunscherfüllung
    • 5.1 Bellmers Hand
    • 5.2 Das Werk als Partner
    • 5.3 Skandal und Preziosität
    • 5.4 Kreativität als intermediärer Spielplatz
  6. Schematische Zusammenfassung

H.Bellmer,

à Sade

1. Annäherung

1.1 Assoziative Annäherung an ein Blatt aus Bellmers Mappe "á Sade"

- Protokoll eines Seminargesprächs1- Abkürzungen:

F - Frau

M - Mann

L - Leiter des Seminars

F: Ich habe Schwierigkeiten zu identifizieren, was dargestellt ist. Ist es ein lesbisches Paar?

F: Beide Frauen sind unbeteiligt...ja, gleichgültig...auch ist nicht zu sehen, wem die Zunge gehört...die Körper verschwimmen...eine Hand ist da, wo ein Fuß sein müsste.

F: Die sehen aus wie Tbc-krank...als ob sie total fertig wären. Die Schraffuren im Gesicht...ja, beinahe misshandelt, geschunden. Und dann fällt mir auf, dass das nur ein Mann gezeichnet haben kann, denn Männer können sich nicht vorstellen, dass, wenn zwei Frauen zusammen sind, es auch ohne Gedanken an den Schwanz geht.

M: (abwehrend) Andere Sachen reizen mich mehr! Zeichnungen, die einen erotischen oder ästhetischen Reiz haben. Aber das hier - was soll das eigentlich?! Das anzugucken oder überhaupt zu zeichnen?!

F: Beide Frauen sehen gleich aus: die Frisur...der Ausdruck des Gesichtes

F: Außerdem ist der Penis recht groß! Wie Morcheln, Pilze …

F: Die rechte Frau ist eigentlich recht männlich dargestellt, ...der knochige Oberkörper

F: Eine gewisse Schönheit, die da sein könnte, wird genommen durch die Darstellung der Brüste... die anatomische Darstellung

F: Außerdem ist mir die Position nicht klar: ob die eine sitzt, die andere steht...

M:Das geht an mir vorbei wie das CDU-Parteiprogramm! Da ist nichts, was man für sich herausziehen kann! Ich sehe auch kein Mittel zum Zweck... da wüsste ich auch nicht, wozu!

M: Eigentlich verstehe ich die Bezeichnung "Lesbisches Paar" nicht. Ich sehe hier eine Person dargestellt, mit der absoluten Möglichkeit der Eigenliebe!

F: Die gleichgeschlechtliche Liebe ist ja eine Form der Eigenliebe.

F: Es sind aber eindeutig zwei Geschlechtsmerkmale!

M: Es ist nicht eindeutig, ob ein Mann oder eine Frau dargestellt ist. Man könnte das Bild als Ausdruck der Bisexualität jedes Menschen sehen.

F: Mir ist unklar, ob hier ein Gefühlszustand dargestellt ist - oder eine gelebte Sexualität.

M: Wir sollten das Bild doch erst einmal als das Produkt einer Phantasie verstehen!

F: Ich finde, dass die Zeichnung von dem abweicht, wie man normalerweise Sexualität erfährt: etwas, das mit Schönheit und ästhetischem Reiz zu tun hat. Das alles fällt - mitsamt der Kleidung - weg. Nur das Anatomische! Die Zeichnung drückt nur eine Seite aus: das Tierische, das Animalische und Hässliche! - Wir sind gewohnt, es anders zu empfinden.

F: Ich finde, das Bild ist viel zu schön gezeichnet – zu ästhetisch! Das stimmt nicht mit dem überein, was es darstellt. Dieses Schöne wirkt zugleich kühl, ja kalt. "De Sade": da müsste es doch viel sadistischer gezeichnet sein!

F: Da ist eine bestimmte Gleichgültigkeit...

M: Auf mich wirkt das Bild wie ein chirurgischer Eingriff: der Unterleib aufgeklappt, zerrissen - etwas Gewaltsames!

F: wie umgestülpt!

M: Komisch, dass prägnant nur die Köpfe und...nein, auch im Schwanz ist auch eine Möse zu sehen... so dass nur die beiden Köpfe klar erkennbar sind...

M: Mir geht es auch so. Darum sehe ich hier die optimale Eigenliebe! Es ist alles enthalten, was es gibt: Homosexualität, Bi- und Heterosexualität; alle Möglichkeiten der Liebe!

F: Was mich geärgert hat, ist, dass er doch nur Frauen gezeichnet hat. Das sind so abgefuckte Männerphantasien!

F: Vielleicht beneidet er die Frauen, und er möchte sich selber in sie einbringen.

F: Ich sehe eine onanierende Frau, die ihre Grenzen nicht mehr wahrnimmt. Darum diese grenzenlose Flatterhaftigkeit in den Linien. Der Typ, der das zeichnete, will dazukriechen darum der Phallus…

M: Er kann sie nicht unabhängig vom eigenen Trieb darstellen.

F: Vielleicht wünscht die Frau sich, einen Penis zu haben; sie will etwas Penisähnliches benutzen.

F: Man könnte in dem Penis auch eine vergrößerte Klitoris sehen!

L: Nun, Bellmer will gewiss keine Frauenphantasien darstellen!

F: Aber er beneidet die Frau: Die Frau kann ein männliches Organ simulieren. Aber der Mann kann kein weibliches Organ simulieren!

F: Ich würde gar nicht sagen, dass das Frauen sind! Da sind weibliche und männliche Elemente da! Es ist nicht eindeutig, dass es Frauen sind.

M: Kann es nicht sein, dass er im anderen, das heißt in der Frau, nur sich selber sucht?

M: Umgekehrt! Ich wurde sagen, dass er in sich selbst den anderen sucht!

L: Wir sind jetzt soweit, dass wir eine gewagte These aufstellen können: nicht zwei Frauen sind dargestellt - sondern nur eine. Und: nicht eine Frau ist dargestellt - sondern ein Mann! Also: die Frau aus der Perspektive des männlichen Begehrens - wobei dieses Begehren darauf gerichtet ist, im anderen sich selbst wiederzufinden. Dies erklärt uns vielleicht diese deutliche Präsentation des Penis und den hermaphroditischen Charakter von Bellmers Figuren.

F: Wenn er in der Frau sich sucht, dann ist es für ihn ja erst einmal eine schockhafte Feststellung, dass sie keinen Penis hat. Darum muss man ihr einen andichten! Und ich frage mich, ob es ihm um "die Frau" geht - oder nicht viel mehr um die Mutter! Die Auflösung der Symbiose ist ja eine Aufgabe, die sich dem Kind aus der Mutter-Kind-Einheit heraus stellt. Er hat die Abgrenzung von der Mutter nicht geschafft, der arme Kerl! (Lachen)

F: Wie das Bild gezeichnet ist, sind die Grenzen ja nicht klar...Das fließt so heraus. Das würde zum Narzisstischen passen...

M: Die Figuren sind sehr ineinander verwoben - das ist doch ein Ausdruck der Verschmelzung.

F: Der Beischlaf ist ja auch eine Verschmelzung der beiden Geschlechter! - Was mich verwirrt, ist, dass man in die Leiber reingucken kann - wie mit einem Röntgenblick!

M: Die Gemeinsamkeit in der Symbiose...in der körperlichen Vereinigung, das kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt doch noch eine andere Ebene! Wenn ich mit einer Frau etwas Gemeinsames suche, dann ist es eher im Platonischen, im Geistigen! - Auf dieser Ebene muss ich ihr nicht einen Pimmel "andichten"!

L: Dennoch...kann es nicht auch hier eine Beziehung zur körperlichen Ebene geben - wenn auch nur als geleugnete?

Diese Beziehung könnte darin liegen, gerade die "schockhafte" Erfahrung der Differenz zu umgehen...

F: Mir scheint, Bellmers Ziel ist die größtmögliche Geborgenheit: Fingerspitzen, die sich in die Kniekehlen begeben...

F: Das ist ein Verwirrspiel: die Hand ist zugleich ein Fuß. Nichts ist festgelegt, alles ist, was es in dem Moment gerade ist.

M: Außerdem vermisse ich in seinen Bildern seine politischen Erfahrungen. Hier steht doch wenig von seinen Lebenserfahrungen drin...

L: Du hättest - nach seinen biographischen Daten – eine deutliche politische Stellungnahme erwartet?

M: Ja. Und das vermisse ich hier.

L: Bellmer bezeichnete einmal "die ganze Welt" als "einen einzigen Skandal". Seine Zeichnungen lassen sich durchaus als Reaktion auf diesen Befund verstehen. In welcher Form, das hätten wir noch zu untersuchen.

M: Aber wir suchen jetzt, was nicht mehr im Bild ist!

M: Daß dieses Bild unsere Phantasie derart anregt, zeigt doch, dass mehr in ihm ist, als wir auf ihm sehen!

M: Ich sehe es so, dass Bellmer nicht mehr in der Lage war, sich mit dem Männlichen zu identifizieren - wir hörten von seinem gefürchteten, strengen Vater. So musste er was Neues suchen. Auch die 68er-Generation konnte sich nicht mehr mit den Vätern identifizieren, mit dem männlichen Prinzip.

Das erklärt die Versuche der Verweiblichung! Also nicht, dass er Frauen Schwänze gezeichnet hat - sondern: er hat Männer verweiblicht!

F: Umgekehrt: dass er Frauen vermännlicht!

F: Eigentlich finde ich diese Zeichnung ganz schön provozierend! Dass er so Suchspiele da eingebaut hat - das find ich ganz lustig!

F: "Männer mit Mösen"? Nein! So etwas hat er nicht gezeichnet. Er hat das weibliche Prinzip zunichte gemacht durch den Penis!

M: Ich empfinde es anders: als Verweiblichung des Mannes!

F: Nein! Das Typische am Mann ist doch sein Pimmel!

L: Ja, das fällt auf: bei aller Weiblichkeit geht es ihm stets darum, den Pimmel zu retten. -Der Hinweis auf die 68er-Generation erklärt natürlich ein Stück Rezeptionsgeschichte: es ist nicht zufällig, dass Bellmer bei uns erst in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre bekannt wurde. Dabei griff man sich aus seinem Werk die Momente heraus, die der Verunsicherung der eigenen Identität und den Bemühungen um ihre Neuformulierung entgegenkamen. Doch wir merken, dass die Zeichnungen sich nicht zu einer Eindeutigkeit bringen lassen.

F: Ich finde die Zeichnung schön: die Luft hat Schwingungen, das Bild ist luftig, ätherisch. Je länger ich es betrachte: es verliert seinen brutalen Charakter.

M: Bei aller Schönheit: das Bild macht mir Angst!

1.2 Methodische Vorbemerkungen

Von den Erzählungen des Träumers, den manifesten Inhalten des Traumes ausgehend deckt die Traumdeutung für Freud den Sinn des Traumes auf, wie er sich im latenten Inhalt ausdrückt.

Letztlich gilt die Absicht der Deutung dem unbewussten Wunsch und der Phantasie, in die dieser sich kleidet.

Auch Bellmers erotisches Werk, das wir in Analogie zu den manifesten Inhalten des Traumes setzen, geht aus einem verborgenen infantilen Wunsch hervor, den aufzuspüren unsere Absicht ist. Bellmers Zeichnungen sind Erinnerungsbilder, die auf einen frühen Wunsch verweisen und diesen zugleich in der Phantasie erfüllen.

Doch ergeben sich bei der Analyse von Bellmers Zeichnungen grundsätzliche Schwierigkeiten.

Eher noch als in der Literatur stößt das psychoanalytische Interesse am Ästhetischen in der bildenden Kunst an Grenzen. Der künstlerische Ausdruck folgt hier nicht den diskursiv geordneten Zeichen der Sprache; gleichwohl drückt sich in ihm "Sinn" aus, der vom Künstler in Gestalten und Formen artikuliert wird. In den präsentativen Symbolen der Kunst äußert sich eine Ganzheit in ihrer sinnlichen Fülle, um den Preis, dass das Erfahrene sich sprachlich gegliederten Bewusstseinsakten entzieht.

Bellmers Zeichnungen erinnerten ihn an Partituren, bemerkte ein Freund. Umso mehr gilt, was Hassler in seiner psychoanalytischen Untersuchung musikalischer Kreativität feststellt: "Die Psychoanalyse steht bei der Musik vor der gleiche Schwierigkeit wie bei den anderen Künsten, das Wesen und die Eigenarten des Ästhetischen mit den ihr eigenen Mitteln noch nicht ausreichend verstehen und formulieren zu können" (Haesler,1982,S.9o8 f.).

Doch soll uns auch Freuds Feststellung, dass "das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist" (Freud,191o,S.2o9), nicht vom Versuch einer analytischen Annäherung an Bellmers Werk abhalten. -

Bellmers Zeichnungen sind Wunsch- und Angststätten zugleich.