Miša, Rita und Slavka sind Freundinnen, seit sie denken können. Sie wohnen in einem Haus in der slowakischen Stadt Žilina: Ich-Erzählerin Miša in der Mitte, Rita in der Wohnung darüber, Slavka in der Wohnung darunter. Sie vertrauen sich Geheimnisse an, sprechen über ihre ersten Liebschaften. Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Rita ist überzeugte Pionierin, umso unerhörter scheint es, dass gerade Ritas Eltern heimlich über eine Flucht nach Österreich sprechen. Slavka, deren Vater sich bereits nach Schweden abgesetzt hat, interessiert sich wenig für Politik, dafür umso mehr für den jungen Geschichtslehrer und für die Gymnastik, ihre große Leidenschaft. Miša ist die Sensibelste der drei, ihre vorerst einzige Liebe gilt der Literatur. Das Leben könnte immer so weitergehen – doch das Gegenteil ist der Fall.

Opportunismus oder Rebellion, Anpassung oder Auflehnung – gemeinsam, und doch jeder für sich erleben die drei Freundinnen und ihre Familien das Jahr vor dem Untergang des sozialistischen Regimes. Einfühlsam, in einer klaren, eleganten Sprache lässt Susanne Gregor große Umwälzungen anhand von kleinen Verschiebungen greifbar werden und führt den Leser an sicherer Hand durch die Jahreszeiten des Jahres 1989: »Das letzte rote Jahr«.

 

 

Inhalt

Prolog

1989

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

 

Für Vater

 

Als ich Rita im Fernsehen sah, blieb mir die Luft weg. Ich war gerade von der Bibliothek nach Hause gekommen, einen Stapel Bücher in der Hand, und hatte automatisch den Fernseher eingeschaltet, dann das Fenster geöffnet. Meine Füße taten weh, den halben Tag hatte ich damit verbracht, in einem Wiener Café Touristen zu bedienen, und während ich mich bückte, um mir die Schuhe auszuziehen, hörte ich ihre Stimme, unverkennbar. Doch als ich mich aufrichtete, war sie nicht im Bild. Es war eine billige, schlecht gemachte Seifenoper über ein paar junge Leute in Berlin, die sich ständig stritten und gelegentlich ohrfeigten oder entführt wurden. Ich sah zwei junge Frauen in einer Bar über einen Mann sprechen, einen Freddy oder Ferdy, der Sinn entging mir, als ich im Hintergrund Rita entdeckte, mit einer schiefen Kurzhaarfrisur, die Fläche über ihrem linken Ohr kahl rasiert. Sie trug eine schwarze Bluse und polierte mit einem weißen Geschirrtuch ein Weinglas, bevor die Kamera eine andere Einstellung übernahm und sie aus dem Bild verschwand. Ich setzte mich langsam auf das Bett, ohne meine Winterjacke auszuziehen, und drehte lauter. Einmal kam sie noch zu Wort, als sie sich in das Gespräch der jungen Frauen mischte, mit dem Satz Das geht aufs Haus und einem halben Lächeln, bevor die Frauen die Bar verließen und eine neue Szene in den Straßen Berlins begann. Ich blieb mit dem Bild einer erwachsenen Rita zurück und ihren mühelos auf Deutsch gesprochenen Worten: Das geht aufs Haus. Ich versuchte, sie mir wieder vorzustellen, ihr kurzes schwarzes Haar, das ihr über ein Auge fiel, die violett geschminkten Lippen, die schwarze Bluse, leicht aufgeknöpft, ihre Bewegungen so selbstverständlich wie früher, als gehöre sie immer genau dorthin, wo sie gerade war. Die Erinnerung an sie irritierte mich, wühlte etwas in mir auf, ich ärgerte mich über sie, ohne genau zu wissen, warum. Natürlich war sie im Fernsehen, dachte ich, und natürlich war ich die echte Kellnerin, während sie bloß eine spielte. Ich sah die ganze Folge zu Ende, ohne dass Rita noch einmal darin vorkam, und suchte sie dann im Internet, machte sie auf der Setliste der Seifenoper ausfindig, unter einem neuen Familiennamen: Milo, statt Horváthova. Mehr fand ich nicht. Ich rief Alan an, der wie üblich nicht abhob. Als er Tage später zurückrief, hatte ich fast vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. Sobald ich Rita erwähnte, schlug seine Stimme sofort um und er wurde zu dem aufgebrachten Teenager von früher. Aufgeregt wiederholte er die alte Leier: der polnische Hippie, den sie ihm plötzlich vorgezogen hatte, ein Kiffer mit verfilzten Haaren, verstehst du, ein kompletter Loser, der nicht einmal Deutsch sprach. Seine Stimme schwoll an und senkte sich immer noch unkontrolliert, sobald ihr Name fiel, besonders, wenn er mit mir sprach, als könnte ich in seinem Namen für Gerechtigkeit sorgen, sollte ich Rita eines Tages wiedersehen. Heute ist sie im Fernsehen, na und, sagte er, morgen heiratet sie oder besteigt den Mount Everest, und nichts davon würde ihr etwas bedeuten, von ihm aus könne sie machen, was sie wolle. Ich legte auf und rief Vater an, der keine Ahnung hatte, wohin Ritas Familie gezogen war. Kurz wandte er sich vom Hörer ab und fragte Mutter, die im Hintergrund mit Geschirr hantierte. Wir wissen nichts, sagte er schließlich, du weißt doch, wie chaotisch am Ende alles war. Auch in Žilina wusste niemand mehr etwas über sie, die wenigen Male, die ich in den letzten Jahren dort gewesen war, hatte ich bloß Gerüchte gehört. Die einen sagten, Ritas Eltern seien in der Schweiz, die anderen korrigierten, sie wüssten sie in Spanien, jemand sprach sogar von Südafrika.

Ich fand sie erst, als ich aufhörte, sie zu suchen, Jahre später auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung meines Verlages in Wien, zu der ich mich übertrieben leger gekleidet hatte, in schwarzer Hose und schwarzem Top, der einzige Schmuck, zu dem ich mich hatte hinreißen lassen, war eine lange Bernsteinkette. Mit Hose und Kurzhaarfrisur fühlte ich mich zwischen den Cocktailkleidern der übrigen Frauen besonders unkonventionell, während ich mit Kolleginnen an der Bar Wodka Orange trank, als ich sie an einem der weiß gedeckten Tische sitzen sah, in tiefschwarzem Abendkleid und mit eleganter Hochsteckfrisur. Sie sah mich im gleichen Augenblick, in dem ich sie erkannte, und ich weiß nicht, was mich in dem Moment mehr erschreckte: wie wenig sich ihr Gesicht verändert hatte, wie verloren sie an dem leeren Tisch aussah oder der immer gleiche, ernste Blick, der schnell über meinen Körper flog. Und obwohl Jahre vergangen waren, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, kehrte das alte Gefühl sofort zurück: dass sie niemand wirklich kannte, dass niemand wusste, wer sie war, nur ich.

 

1989