Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Einleitung

Beobachtungen und Fragen

Links und Rechts in der Tierwelt

Nachforschungen und Hypothesen

Linksbetonte Bewegungsabläufe beim Menschen

Ein Dokumentarfilm und sein jähes Ende

Funktionale Asymmetrien des Gehirns

Erste Laborexperimente und überraschende Entdeckungen

Chiralität in der Pflanzenwelt

Geheimnisvolle Eingriffe

Das Rechts-Links-Verständnis in der Kulturgeschichte

Tierversuche und Krebstherapie

Drehungen bei organischen Grundbausteinen

Mögliche Anwendungen und dubiose Partner

Physikalisch-technische Aspekte des Rechts-Links-Problems

Fehlende Unterstützung und ein Hinweis

Paritätsverletzung in der Atomphysik

Das vorläufige Ende der Arbeiten und die Herausforderung an die Zukunft

Exkurs

Links = weiblich? Gedanken zu einem Mythos

Was ist Links? Eine Begriffsbestimmung

Nachlese

Anhang

Verwendete und weiterführende Literatur

Angaben zu den Autoren

Andrej Jendrusch / Manfred Ritschel
Siegfried Wachtel

Das Linksphänomen

Die eigenwillige Prägung des Lebens

Ch. Links Verlag, Berlin

»Das Linksphänomen – Eine Entdeckung und ihr Schicksal« war der erste Titel unseres 1989 gegründeten Verlages. Das Buch erscheint zum 20. Jubiläum 2009 in einer aktualisierten und erweiterten Neuausgabe.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, Juni 2012 (entspricht der 2. Druck-Auflage von September 2009)

© Christoph Links Verlag GmbH, 1990

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 30-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung einer Abbildung der

linksdrehenden DNS-Doppelhelix

eISBN: 978-3-86284-178-3

Vorwort zur Neuausgabe

1990 erschien im gerade gegründeten Verlag von Christoph Links ein Buch mit dem beziehungsreichen Namen »Das Linksphänomen«. Ich hatte Siegfried Wachtel, dem das Werk Inspiration, Titel und den autobiographischen Teil verdankt, durch die gemeinsame Arbeit am Institut für Tropen- und Infektionskrankheiten in Berlin-Buch kennengelernt und ihn an den Jungverleger vermittelt. Dieser ließ sich von der Begeisterung des promovierten Arztes und Mikrobiologen anstecken, bat ihn um 180 Seiten, setzte das Erscheinen des geplanten Werkes zur Frankfurter Buchmesse fest und harrte mit sanfter Ungeduld der Dinge. Der schließlich gelieferte Text fiel indes kürzer aus als erwartet.

Da der Starttermin nunmehr ernsthaft gefährdet schien, wurde ich durch freundlichen Druck von Herrn Links (sein Verlag hieß schließlich damals noch LinksDruck) zum Koautor ernannt, der in den verbleibenden Wochen eine Einleitung und zehn populärwissenschaftliche Kapitel beisteuern durfte. (Sie unterscheiden sich durch eine andere Schrift vom Text Siegfried Wachtels.) Eine tour de force durch Kulturgeschichte und Atomphysik, optische Isomere, Chiralität (Händigkeit) in der Pflanzenwelt und funktionale Asymmetrien des Menschen. (Und das für jemanden, der seit seiner Kindheit mit den Händen wedeln muss, um überhaupt zu wissen, wo rechts und links ist ... Am Ende des Buches findet sich daher noch mal eine klare Begriffsbestimmung, was eigentlich Links ist.)

»Das Linksphänomen«, das die bevorzugte Wachstums- und Bewegungsrichtung in der Natur behandelt – anschauliche Beispiele sind Schneckenhäuser, Händigkeit, Drehungen –, wurde erfreulich positiv aufgenommen. Der Deutsche Taschenbuchverlag übernahm eine Lizenzausgabe, die 1993 unter dem Titel »Der Linksdrall in der Natur« erschien und 1994 noch eine Nachauflage erlebte. Seither tauchte das Thema immer wieder in Presse, Rundfunk und Fernsehen auf. Der »Spiegel« veröffentlichte beispielsweise 2007 einen Beitrag unter dem Titel »Überleben mit Links«. Hier sei nur auf einige neue Aspekte verwiesen.

Der Grund, warum das menschliche Herz (und das vieler Tiere) auf der linken Seite sitzt, hängt nach Erklärung eines internationalen Teams unter A. Raya vom Salk Institute in Kalifornien offenbar mit der Konzentration von Kalzium zusammen. Die Forscher stießen auf eine Signalkette, die Schwankungen der Ionenkonzentration in genetische Mechanismen übersetzt, welche schon wenige Stunden nach der Befruchtung im Embryo die Körpersymmetrie teilweise aufheben. Dabei führt ein Ungleichgewicht von Kalziumionen außerhalb der Keimzellen zur Produktion eines spezifischen Proteins, das Linkslastigkeit molekular fixiert. Für N. Monk von der Universität Sheffield ist dies der erste entwicklungsbiologische Nachweis dafür, wie sich nichtgenetische Einflüsse in genetischen Mustern manifestieren.

Bochumer Forscher wiederum wiesen an pickenden Hühnern und Tauben nach, dass sich diese bei gleichmäßig gestreuten Körnern häufiger für die zu ihrer Linken entschieden und die zu ihrer Rechten übersahen. (Beim Menschen ist der Hang, die Aufmerksamkeit eher nach links zu richten, schon länger bekannt, was bei der Produktpräsentation im Eingangsbereich großer Warenhäuser Berücksichtigung findet.) Da beide Vogelarten nicht über die bislang für dieses Phänomen verantwortlich gemachte Hirnstruktur verfügen, kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Bevorzugung der linken Seite wohl schon vorhanden sein musste, ehe sich Vögel und Säugetiere auseinanderentwickelten.

Der nach wie vor interessanteste und zukunftsträchtigste Aspekt aber bleiben Chiralitäten im molekularen Bereich, auch wenn die Vorgänge dort nicht immer leicht verständlich sind. Tunnelmikroskopie-Untersuchungen der Selbstanordnung von Festkörperoberflächen ermöglichten hier aber überraschende Einblicke in die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen. Mittels gezielter Verfahren lassen sich etwa schraubenförmige Polymere gleichförmig ausrichten.

Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen auch Flüssigkristalle an Bedeutung. Besitzen diese geeignete Moleküle, entsteht auch hier unter bestimmten Bedingungen eine übergeordnete Chiralität – die Moleküle jeder Schicht weisen dann eine Vorzugsrichtung auf. Beim Übergang von einer Schicht zur nächsten dreht sich diese Vorzugsrichtung, wodurch eine helikale Struktur aufgebaut wird, also eine Links- oder eine Rechtsspirale entsteht.

Diese Resultate sind auch deshalb bedeutsam, weil sie zu neuen Auffassungen über den Ursprung und die Linksprägung des Le-bens führen. Dem sogenannten Ursuppen-Experiment, das unter Laborbedingungen einfache organische Verbindungen, aber auch Aminosäuren entstehen ließ, wird mittlerweile oft vorgeworfen, dass dies im Kleinen funktionieren mag. Unter den Bedingungen der Urozeane aber hätte die geringe Konzentration der beteiligten Stoffe nie ausgereicht, um längerkettige Biomoleküle zu erzeugen, geschweige denn, stabil zu halten.

So geht die aktuelle Oberflächen- oder Biofilm-Theorie davon aus, dass wohl kristalline Materialien, wie Pyrit oder Molybdänit, als Katalysatoren und Schablonen für die Entstehung von Lebensbausteinen gedient haben. Um so mehr, als Versuche zeigten, dass sich auf diese Weise in der Tat Polypeptide, aber auch längerkettige Zucker, als Vorläufer der Nukleinsäuren, erzeugen lassen.

Bei ihrer Suche nach der begrenzenden, schützenden Vorstufe der Zellen stießen Forscher der Universität Glasgow auf hydrothermale Quellen am Meeresgrund. Diese lagern Pyrit als poröse Struktur ab. Dessen winzige Hohlräume fungieren als eine mineralische Membran. In deren Hülle könnten sich aus dem einströmenden, mit anorganischen Substanzen angereicherten Wasser über Zucker, Aminosäuren und Basen erste Enzyme und später RNA und DNA gebildet haben.

Der Biochemiker R. Ghadiri vom amerikanischen Scripps-Institut schließlich wies nach, dass schon einfache, sich selbst kopierende Polypeptide in einer Art chiraler Selektion nur diejenigen Aminosäuren eines Rechts-Links-Gemisches benutzen, die die richtige Händigkeit aufweisen. (Auch in dem 1969 in Australien niedergegangenen Murchison-Meteoriten, mit 4,5 Milliarden Jahren ebenso alt wie die Erde, entdeckten Wissenschaftler mehr als 70 Aminosäuren, unter denen die linksdrehenden um ein Drittel überwogen.)

Siegfried Wachtel habilitierte sich zusammen mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Physiker Manfred Ritschel, 1990 zum Dr. sc. phil. an der Humboldt-Universität zu Berlin durch eine Schrift mit dem Titel »Information und Evolution in der Einheit von Mensch und Natur – Ein interdisziplinärer Beitrag zum Raum-Zeit-Problem«. Später waren beide noch mehrfach am Forschungsinstitut Göttingen zu Gast bei Prof. Manfred Eigen, der für seine Arbeiten zur Selbstorganisation der Materie den Nobelpreis erhalten hatte. 1991 wurde ihr Antrag auf Forschungsförderung beim Kernforschungszentrum Jülich zwar positiv beschieden, zugleich aber an seinen Ausgangspunkt, das Institut für Molekularbiologie Jena zur weiteren Forschung zurückverwiesen. Jülich wollte sich der Sache nicht annehmen. Für Siegfried Wachtel stellte dies eine herbe Enttäuschung dar, hatte er doch schon eine Odyssee durch mehrere Forschungsinstitute hinter sich. Mit der Berentung folgte sein Rückzug ins Private, das zunehmende Interesse an Familie, Haus und Boot. Mit Öffnung der Archive stellte sich dann auch heraus, warum die Wissenschaftler in ihren Forschungen zu DDR-Zeiten derart behindert worden waren. Es handelte sich vor allem um militärische Gründe. Zum einen gab es streng abgeschirmte parallele Kosmoslabor-Experimente, zum anderen befürchtete man juristische Komplikationen wegen gesundheitlicher Spätfolgen bei Radartechnikern, wenn die Forschungsergebnisse öffentlich würden. Mitte 1998 ereilte den starken Raucher und Kaffeetrinker Siegfried Wachtel, dem bereits ein Bypass implantiert worden war, ein doppelter Schlaganfall. Bis zu seinem Tod am Heiligabend des gleichen Jahres blieb er halbseitig gelähmt und konnte nur noch die Gliedmaßen seiner linken Körperhälfte benutzen.

Manfred Ritschel hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten die wissenschaftliche Arbeit am »Linksphänomen« fortgesetzt. Von ihm stammt die »Nachlese« am Ende des Buches, in der die jüngsten Forschungsergebnisse komprimiert dargestellt werden.

Berlin, im Sommer 2009

Andrej Jendrusch

Einleitung

Das vorliegende Buch trägt seinen leicht metaphysisch anmutenden Titel »Das Linksphänomen« aus zweierlei Gründen. Es beschäftigt sich einerseits mit verschiedenen Aspekten des Rechts-Links-Problems oder der Chiralität (Händigkeit) unserer Welt und macht dabei deutlich, daß Rechts und Links innerhalb der belebten Materie einen weitreichenden Informationsgehalt besitzen. Andererseits wird die Hypothese aufgestellt, dass die Fülle linksbetonter Wachstumsformen und Bewegungsabläufe in der Natur einer gewissen Systematik folgt, in die sich selbst Körperasymmetrien einordnen. So hat sich die vorherrschende Rechtshändigkeit des Menschen möglicherweise auch deshalb herausgebildet, weil er, ebenso wie viele Tierarten, Dreh- und Wendebewegungen in jene Richtung bevorzugt, in die auch die Mehrzahl der Schnecken, Windepflanzen und Schraubenbakterien wachsen und in die sich nicht zuletzt die unseren genetischen Code tragende DNS-Spirale dreht – nach links!

Wie und warum solche Asymmetrien auftreten, kann im Einzelnen oft nicht befriedigend geklärt werden. Wichtig scheint indes, dass es sie gibt und sich eine, offenbar durch bestimmte physikalische Faktoren beeinflussbare, Verschiebung zugunsten der linken (oder rechten) Seite nicht, wie bislang angenommen, auf den Elementarteilchenbereich beschränkt. (Bekanntlich gelang der amerikanischen Forscherin C. Wu 1957 an Kobalt-60-Isotopen der experimentelle Nachweis, dass von radioaktiven Kernen ausgestrahlte Beta-Teilchen eine chirale Asymmetrie aufweisen: So entstehen beim Beta-Zerfall etwa 30 Prozent mehr links- als rechtshändige Elektronen. Für die theoretische Physik, die bis dahin von einem grundsätzlichen Richtungsgleichgewicht auch im Bereich der schwachen Wechselwirkungen ausgegangen war, Rechts und Links mithin als beliebig austauschbar erachtet hatte, bedeutete dies eine Wissenschaftssensation allerersten Ranges. Die von T. D. Lee und C. N. Yang vorausgesagte Entdeckung hieß fortan Sturz der Parität.)

Die folgenden Seiten beginnen dort, wo die meisten Abhandlungen zur Asymmetrie enden – bei Bewegungsformen. An ihnen soll veranschaulicht werden, wie ein Phänomen, das die Menschheit seit ihrer Entstehung begleitet und weite Bereiche der Kulturgeschichte und Philosophie, vor allem aber der Naturwissenschaften, durchzieht, nicht nur übergreifend wahrzunehmen, sondern auch zu nutzen ist. (Zu den im Text verwendeten Arbeitsdefinitionen, insbesondere zu Kurven und Spiralbewegungen, siehe Anhang.)

Rechts und Links waren in der Phantasie vieler Völker schon sehr frühzeitig von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Auch wirkt es erstaunlich, in welcher Übereinstimmung die zahlreichen Rechts-Links-Mythen mit der Entstehung der Welt in Zusammenhang gebracht werden. Geradezu schockierend aber ist es, wie unglaublich modern viele von ihnen dem Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts erscheinen müssen. So werden die Geschwistergatten Fu-Hsi und Nü-Kua, das altchinesische Urpaar, meist mit verschlungenen Beinen als Rechts- bzw. Linkshänder dargestellt. Wie wir heute wissen, kommen bei Zwillingen in der Tat häufig unterschiedliche Händigkeiten, bei siamesischen Zwillingen gar Inversionen der inneren Organe vor, das heißt, ein Organismus hat das Herz auf der rechten und die Leber auf der linken Seite! In alten indischen und jüdischen Schriften ordnete man der linken bzw. rechten Seite rationale und emotionale Kategorien in einer Weise zu, wie sie europäische und amerikanische Hirnforscher erst in den letzten Jahren vorzunehmen begannen! Jahrtausendealte Bestattungsriten indonesischer Reisbauern gehen von einem Totenreich aus, dessen Bewohner alle Verrichtungen der Lebenden vollführen – nur tun sie dies spiegelverkehrt. Sie essen mit der linken Hand, bestellen ihre Felder mit seitenvertauschtem Ackergerät und laufen am linken Wegrand, um den Lebenden nicht zu begegnen, da ein solches Zusammentreffen für beide Seiten fatale Folgen hätte. Eine geniale Metapher für die physikalische Antiwelt!

Unten und Oben lassen sich vom Masseschwerpunkt des Planeten ausgehend definieren, Vorn und Hinten von der Laufrichtung des Betrachters. Rechts und Links jedoch galten lange Zeit als störrisches Paar, das sich jeder wissenschaftlichen Einordnung erfolgreich widersetzt. Eine Übermittlung dieser Richtungszuweisungen an Bewohner einer unbekannten Galaxis bezeichneten Techniker und Naturwissenschaftler gleichermaßen als unmöglich (Ozma-Problem). Als Geographen erstmals die leicht birnenförmige Erdgestalt mit ihrem geringfügig abgeplatteten Südpol nachwiesen, schien es machbar, zunächst Nord und Süd und anschließend, mit Hilfe eines stromdurchflossenen Leiters und einer Magnetnadel (s. Kapitel: Physikalisch-technische Aspekte), Links und Rechts zu bestimmen. Dieses Verfahren jedoch setzt voraus, daß sich die astronomischen, geographischen und nicht zuletzt elektromagnetischen Verhältnisse unserer Welt (später kamen noch andere Faktoren hinzu) exakt auf die Heimat unserer Gesprächspartner übertragen lassen. Andererseits wären wir ohne eindeutige Zuweisungen von Rechts und Links noch nicht einmal in der Lage, die Umlaufrichtung unseres Planeten mitzuteilen – mit einem Wort, man war so klug wie zuvor.

Die Schwierigkeit, den Termini Links und Rechts bleibende Allgemeingültigkeit zu verleihen, sie womöglich als mess- und berechenbare Vektoren zu gebrauchen, beschäftigte die bedeutendsten Denker von der Antike bis zur Gegenwart. Entsprechende Fragestellungen fanden im letzten Jahrhundert zunehmend Eingang in die Naturwissenschaft, um sich nun erneut in die Philosophie zu verlagern. Nahmen Platon und Aristoteles, Newton, Leibniz und Kant entweder eine göttliche Festschreibung oder beliebige Austauschbarkeit beider Begriffe an, die in jedem Fall ihres Inhalts beraubt wurden, so scheint nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der Atomphysik das Ungleichgewicht zwischen Links und Rechts so ziemlich die einzige Klammer zu sein, die unsere Welt definitiv mit anderen Welten verbindet. Diese absurd wirkende Behauptung stützt sich auf die erwähnte Paritätsverletzung beim Beta-Zerfall und die erst unlängst erkannte starke Einbindung des Rechts-Links-Problems in Ladungs- und Materieverhältnisse. Der bereits erwähnte Kernphysiker und Nobelpreisträger C. N. Yang formulierte vor gut 30 Jahren, bezogen auf das Elektron und sein Antiteilchen, das Positron: »Wenn wir Spiegelreflexion definieren als Vertauschung von rechts und links plus Umkehrung der Ladungen, dann bleibt die Symmetrie erhalten.« Heute müssten wir mindestens eine weitere Größe hinzufügen: die Richtung der Zeit. (Seit 1964 werden beim unregelmäßigen Mesonenzerfall Erscheinungen beobachtet, die auf eine Verletzung der Zeitumkehr schließen lassen.)

Über die Zusammenhänge zwischen der Rechts-Links-Problematik und elektrischen Ladungen (auch im Atomkern) wird noch an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen sein. Wie es beim Aufeinanderprallen spiegelbildlicher Bestandteile von Materie und Antimaterie zur vollständigen Zerstrahlung kommt, lernen unsere Kinder heute bereits in der Schule. Die Auswirkungen einer rückwärts ablaufenden Zeit hingegen, also eines notwendig folgerichtigen Prozesses, in dem uns vertraute Ursachen aus uns vertrauten Wirkungen resultieren, lässt sich am Atommodell (ein häufig strapaziertes Beispiel ist der Zusammenstoß zweier Billardkugeln) noch einigermaßen plausibel durchspielen. Im Großen jedoch wirkt es wenig einleuchtend, dass sich Scherben mit heftigem Klirren zu einem unversehrten Teller zusammenfügen sollen, um uns dank eines mächtigen Energieimpulses vom Küchenboden her in die ungeschickte Hand zu schnellen. Man fragt sich, wie das Wasser vom Leib des Turmspringers so abrupt abperlen mag, damit er, nach graziösem Rückwärtsschwung, auf dem zehn Meter hohen Podest trocken zum Stehen kommt. Schüttelt schließlich ungläubig den Kopf über eine verendete Wildente, die taumelnd in die Lüfte steigen soll und – nachdem sich die Bleikügelchen aus ihrer Brust mit den übrigen zu einer Schrotladung vereinigt haben, die dem Jäger treffsicher in die Mündung seiner Flinte saust – unversehrt und fröhlich schnatternd, rückwärtsgewandt davonfliegt.

Diese Beispiele wirken paradox, weil in unserem Alltag Porzellanscherben oder Wasser, tote Enten oder Schrotkugeln über entschieden andere Eigenschaften verfügen, weil wir an derart komplexen und zielgerichteten Reaktionen den Zufall vermissen und mit unserem sogenannten gesunden Menschenverstand die bekannten Naturgesetze außer Kraft gesetzt sehen. Letzteres ist nicht der Fall, obwohl anzunehmen bleibt, daß eine Welt mit rückwärtsgewandter Zeit (der Begriff steht letztlich für nichts weiter als eine der möglichen Spiegelungen und macht ja nur von unserer Weltsicht aus gebraucht einen Sinn) anders und vielleicht viel simpler funktionieren würde. Und verglichen mit der vollständigen Regenerierung unseres zerschlagenen Tellers, ist es kaum weniger wunderbar, sich vorzustellen, wie unter steter Energiezufuhr von Vulkanismus und gewaltigen elektrischen Entladungen in den Urmeeren aus einzelnen Kohlenwasserstoffmolekülen allmählich Aminosäuren entstanden, welche jene hochkomplizierten linksgedrehten Proteine und Nukleinsäuregemische bildeten, die wir mit dem vertrautesten, zärtlichsten und geheimnisvollsten aller Namen belegen: Leben.

Beobachtungen und Fragen

Als ich zehn Jahre alt war, zogen meine Eltern von Wernitzgrün nach Markneukirchen, um mir den Besuch der Oberschule zu ermöglichen. Das stark bewaldete Vogtland, Westausläufer des Erzgebirges und südlichster Zipfel Sachsens, ist im Winter meist tief verschneit. Die Ortsansässigen sind schon von Kindesbeinen an mit dem Skifahren vertraut, und auch ich begann bald Gefallen an dem schönen Sport zu finden. Gute Voraussetzungen für den Abfahrtslaufenden fanden sich unweit unseres Hauses an einem der gegenüberliegenden Hänge, dem Kreilberg. Das Tal wurde von einem schmalen Rinnsal durchschnitten, einem schnellfließenden Bach, der auch bei klirrender Kälte nicht gefror. Diese Besonderheit der Piste zwang die Skienthusiasten, ihre Fahrt entweder vorzeitig abzubrechen oder dem Wasserlauf auszuweichen. Für den geübten Läufer erhielt die Strecke dadurch einen zusätzlichen Reiz. Meine Spielgefährten und ich stapften also schwitzend unseren Berg hoch und fuhren ihn dann, je nach Erfahrung, mit mehr oder weniger Geschick wieder hinunter. Woche für Woche.

Eines Tages stand ich oben auf dem Berg und bereitete mich wie gewohnt auf die Abfahrt vor, kontrollierte die Bindungen, steckte die Hände in die Schlaufen meiner Skistöcke und blickte nach unten. Dabei fiel mir auf, dass ich dem Bach stets nach links ausgewichen war. Diesmal beschloss ich, eine Rechtskurve zu fahren. Gesagt, getan. Ich stieß mich elegant ab, schoss den Berg hinab, bog nach rechts ab – und steckte mit dem Kopf im Schnee. Natürlich glaubte ich an einen Zufall und wiederholte mein Vorhaben. Mit exakt demselben Resultat. Nun fühlte ich mich doch ein wenig in meiner Ehre getroffen und fing an, Rechtskurven zu üben, bis ich endlich, wenngleich noch auf recht wackligen Beinen, unbeschadet am Fuß des Hanges zum Stehen kam. Während dieser Übungen bemerkte ich, dass meine Bewegungen eckig und ungelenk waren und ich bei dem Ganzen auch ein recht flaues Gefühl im Magen hatte. So etwas war mir bei Linkskurven nie aufgefallen. Ich fuhr nun absichtlich mehrere Male nach links und nach rechts, um beide Varianten besser miteinander vergleichen zu können. Doch sowohl die motorischen Schwächen als auch das diffuse Unwohlsein bei den Rechtskurven blieben unverändert erhalten, sodass ich meine Ungeschicklichkeit bald nicht mehr allein mit fehlender Gewöhnung zu erklären vermochte. Merklich verunsichert stand ich da und sah prüfend an mir herab: zwei Arme, zwei Hände, zwei Beine, zwei Füße, eine scheinbar vollkommene Symmetrie und trotzdem dieser vertrackte Unterschied zwischen Rechts und Links. Ob es daran lag, dass ich Rechtshänder war? Allerdings leuchtete mir der Zusammenhang nicht sonderlich ein. Immerhin führte mich dieser Gedanke gleich zur nächsten Frage: Warum ist Linkshändigkeit Ausnahme und Rechtshändigkeit Regel?

In solcherlei Betrachtungen versunken, schaute ich meinen Skifreunden zu. Auch sie wichen dem Bach aus. Und zwar ausnahmslos in einer Linkskurve! Rasch war ich bei ihnen und fragte, warum sie nur in diese Richtung fahren würden. Die Angesprochenen wirkten zunächst selbst verblüfft, ihre unterschiedlichen Antworten liefen jedoch im Kern immer wieder auf dasselbe hinaus: »Wenn man rechtsherum fährt, fällt man hin.«

Wir versuchten nun gemeinsam, diesem Phänomen beizukommen, aber keiner wusste es sich zu erklären. Andererseits maßen wir der Angelegenheit auch keine übergroße Bedeutung bei, und schon ein paar Tage darauf hatten wir alles wieder vergessen.

Sieben Jahre älter geworden, hatte ich andere Interessen und andere Freunde. Auch die Freizeitvergnügen sahen inzwischen anders aus. Eines Abends lud uns ein Bekannter, ein junger Malermeister, der bereits zu einigem Wohlstand gekommen war, zu einer Party ein. Wir folgten seiner Einladung gern, denn neben dem für die damalige Zeit (unmittelbar nach Kriegsende) ungeheuerlichen Luxus eines französischen Kamins und einer wohlausgestatteten Hausbar, besaß er noch diverse andere Annehmlichkeiten, die einem die Zeit wie im Fluge vergehen ließen. Wir tanzten also, rauchten, plauderten und kamen dabei bald vom Hundertsten ins Tausendste. Bei dieser Gelegenheit fiel mir auch die halbvergessene Episode vom Skihang wieder ein. Ich staunte nicht schlecht, als meine Freunde die Beobachtung nicht nur für den Skilauf bestätigten, sondern sie sogar noch auf das Schlittschuhlaufen und Fahrradfahren ausdehnten und unser Gastgeber mit brillant beiläufiger Geste auf das Autofahren verwies. Nun besitzen Autos durch ihre Links- bzw. Rechtslenkung eine vorgegebene Asymmetrie, aber dieses Moment kam bei den anderen Beispielen nicht zum Tragen. Da das Linksphänomen, so hatten wir es kurzerhand getauft, nur als solches zu bezeichnen ist, wenn sich das Individuum zwischen Rechts und Links unbeeinflusst entscheiden kann, kramten wir aus unseren Köpfen, was wir noch von der Schule her über Magnetismus, Erdanziehung und Fliehkraft wußten. Zur Demonstration des Corioliseffekts (der Trägheitskraft, die auf jeden rotierenden Körper wirkt) holte jemand sogar einen Globus und ließ ihn vor unseren Augen rotieren. Doch je länger wir über das Problem nachgrübelten, desto deutlicher wurde, dass keiner von uns eine auch nur halbwegs brauchbare Erklärung anzubieten hatte. Wir gaben unser fruchtloses Bemühen schließlich auf – nicht zuletzt deshalb, weil jeder von uns wohl insgeheim an seine eigene mangelnde Sachkenntnis dachte.

Erneut waren mehrere Jahre vergangen. Ich hatte inzwischen in verschiedenen Kliniken als Krankenpfleger, Laborassistent und Arzthelfer gearbeitet und studierte nun an der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Meine Frau und ich lebten in einem winzigen, noch dazu ungeheizten Kämmerchen in Lehnitz, nördlich von Berlin. Das Zimmer wurde uns bald zu klein, und so machten wir uns auf die Suche nach einer Wohnung. Nach mehreren Tagen hatten wir etwas Vielversprechendes gefunden: ein kleines, ziegelgedecktes Häuschen mit Ofenheizung und elektrischer Freileitung. Zwischen den Gehwegplatten wucherte Gras und auch das verrostete Schlüsselloch der Gartenpforte zeugte davon, dass das Anwesen seit längerem nicht mehr betreten worden war. Wir erkundigten uns bei den Grundstücksnachbarn und erhielten die Adresse der Besitzerin. Nach kurzen Verhandlungen wurde ein Vertrag aufgesetzt, und fortan wohnten meine Frau und ich in »unserem« Haus am Adlerweg.

Vor Einbruch des Winters baute ich ein Vogelhäuschen und stellte es auf einem Pfahl vor dem Küchenfenster auf. Der Winter kam und mit ihm die ersten hungrigen Gäste. Futter hatte ich reichlich gestreut, und der Andrang der Meisen, Rotkehlchen und Spatzen war groß. Hinter dem Futterhäuschen saßen die Vögel auf der Gartenhecke, zwitscherten, zausten sich und warteten, bis die Luft »rein« war. Dann schwirrten sie in weitem Bogen zu den ausgelegten Körnern, taten sich daran gütlich und flogen zurück zu ihrer Hecke. Als ich eines schönen Tages wie gewohnt am Fenster saß und dem munteren Treiben zusah, stutzte ich: Die Vögel flogen durchweg in einer Linkskurve ins Futterhäuschen und sie verließen es auch wieder in einer Linkskurve! Ich rief meine Frau ans Fenster. Wir hatten bereits über das Phänomen gesprochen, und sie wusste sogleich, worauf ich hinauswollte.

In Berlin ergab sich die Möglichkeit, weitere Beispiele zusammenzutragen. Da ich einen übergreifenden Charakter des Bewegungsphänomens annahm, nutzte ich manche Stunde neben dem Medizinstudium für Beobachtungen im Westberliner Zoologischen Garten. Bald wurde ich fündig. Ich entdeckte einen künstlich angelegten Felsen neben einem halbrunden Wasserbecken, in dem sich Robben tummelten. Unweit des Geheges standen, ein wenig erhöht, mehrere Bänke, auf die man sich setzen konnte, um das Spiel der Robben zu verfolgen. Diese hechteten mit einem prächtigen Kopfsprung vom Felsen ins Wasser und schwammen auf den Beckenrand zu. Ich achtete streng darauf, nur jene zu bewerten, die im rechten Winkel auf die Wand zusteuerten. Und wieder sah ich, dass sie der Mauer in einem Linksbogen auswichen.

Meine Eindrücke vervollständigten sich bei einem Frühlingsspaziergang in den Wäldern von Lehnitz. Hier stieß ich auf einen Bienenschwarm, der traubenförmig an einem kleinen Strauch hing. Mein erster Gedanke galt dem Honig, eine für die damalige Zeit keineswegs zu verachtende Köstlichkeit, zumal für jemanden, der nur ein geringes Stipendium erhielt. Doch wie sollte ich die Bienen nach Hause bringen und wo konnte ich sie aufbewahren? Die Bewohner eines nahegelegenen Gehöftes kamen mir zu Hilfe. Sie statteten mich mit einem Wäschekorb aus Strohgeflecht und einem Paar Lederhandschuhen aus. Die Krönung aber war eine große Käseglocke aus Fliegengaze, die ich mir mit einem Schal vor das Gesicht band. So gelang es tatsächlich, die Bienen mit mehreren Zweigen vorsichtig in den Korb zu verfrachten. Daheim angekommen, lieh ich mir von einem befreundeten Imker eine Originalbehausung, spritzte sie nach seinem fachmännischen Rat mit Zuckerwasser aus und lockte die Bienen hinein. Als ich am nächsten Morgen hinaus in den Garten trat, waren die Bienen bereits unterwegs. Erst abends kehrten sie wieder zurück.

Unser Garten war von hohen Birken umgeben. Da Bienen nicht gern durch Baumkronen fliegen, mussten sie zunächst einmal an Höhe gewinnen, bevor sie zum Honigsammeln ausschwärmen konnten. So beschrieb der Schwarm in der ersten Flugphase stets Spiralen von fünf bis sieben Metern Durchmesser. Und mein inzwischen geübtes Auge bemerkte sofort die Linksdrehung. Keine einzige Biene, die ausscherte und eine Rechtsspirale flog.

Kurze Zeit später entdeckte ich beim Heimweg auf einem kleinen Trampelpfad, der entlang des Bahndammes durch ein Birkenwäldchen führte, eine junge Nebelkrähe. Sie war offenbar aus dem Nest gefallen und lag nun hilf los flatternd am Wegrand. Da weder Nest noch Altvögel zu entdecken waren, beschloss ich, das schon stark geschwächte Vögelchen mit nach Hause zu nehmen. Ich taufte es Joko und widmete mich fortan seiner Aufzucht, was, wie sich bald herausstellte, gar nicht so einfach war. Bald hatte der Vogel das Nötigste gelernt, um sein beschauliches Gartendasein zu fristen, allerdings haperte es entschieden mit dem Fliegen. Wann immer ich ihn hoch in die Luft warf und dazu animierend mit den Armen ruderte, zwinkerte mir Joko fröhlich aus seinen blanken Äuglein zu, rümpfte den Schnabel – und ich musste mich sputen, um ihn an der voraussichtlichen Absturzstelle wieder aufzufangen. Die umherstreunenden Katzen hatten entweder Respekt vor Jokos gewaltigem Schnabel, oder sie bezweifelten, dass der inzwischen halbwüchsige Vogel tatsächlich nicht flugfähig war. Jedenfalls ließen sie ihn ungeschoren.

Eines Tages nun sah ich Joko reglos im Garten stehen. Er hatte den Kopf nach links gewandt und blickte mit dem rechten Auge starr auf die Erde. Da er sonst bei seiner Futtersuche schon nach kurzem Blick zuzupicken pflegte, kniete ich mich neben ihn und suchte nach dem Gegenstand seines Interesses. Ich konnte indes nichts Auffälliges bemerken. Schließlich fiel mir ein, Joko könnte ja auch statt nach unten nach oben schauen. Ich sah also zum Himmel und entdeckte sofort den Grund seines merkwürdigen Gebarens. Über uns kreiste völlig lautlos ein riesiger Krähenschwarm. (Übrigens entgegen dem Uhrzeigersinn, also in einer Linkskurve). In der Annahme, die Krähen könnten meinem Schützling ein Leid zufügen, nahm ich ihn auf die Arme und suchte Zuflucht in der Küche. Sofort stießen die schwarzen Vögel herab und flogen unter lautem Gekreisch mehrmals um unser Haus. Ein erfahrener Jäger erklärte mir später, dass dieses Verhalten für Rabenvögel durchaus typisch sei und zur sogenannten Hüttenjagd genutzt werde, um starke Krähenplagen zu bekämpfen. Dazu wird eine Krähe getötet und weithin sichtbar auf eine Wiese gelegt. Dicht daneben wird ein Falke angepflockt, dem man zuvor eine feste Lederhaube über den Kopf gestülpt hat. Eine zufällig vorbeifliegende Krähe alarmiert ihre Artgenossen, und schon bald beginnt ein mächtiger Schwarm über dem vermeintlichen Mörder zu kreisen. Ist eine bestimmte Mindestanzahl erreicht, stoßen die erbitterten Vögel einzeln herab, suchen mit ihren Schnäbeln nach dem Kopf des Falken zu hacken und fallen dabei den Gewehrkugeln der im Unterholz oder in einer Hütte verborgenen Jäger zum Opfer. Je mehr tote Krähen am Boden liegen, desto aufgebrachter wird der kreisende Schwarm, immer neue Krähen der Umgebung fliegen hinzu – und werden abgeschossen. Und sowohl beim Kreisflug als auch beim Zustoßen sollen die Krähen Linkskurven bevorzugen.