Das Buch
Als Turk Findley die Augen öffnet, kann er es nicht glauben: Er befindet sich tausende von Jahren in der Zukunft. Alles ist anders in dieser Zeit – nur eines ist gleich geblieben: Noch immer versuchen die Menschen verzweifelt mit den »Hypothetischen« Kontakt aufzunehmen, jenen geheimnisvollen Wesen, die die Erde mit anderen Welten verbunden haben …So jedenfalls steht es in einem Text, den die Psychologin Sandra Cole liest und der angeblich von einem ihrer Patienten geschrieben wurde. Aber wie kann das sein? Stammt ihr Patient vielleicht selbst aus dieser weit entfernten Zukunft? Haben ihn die Hypothetischen geschickt, um den Menschen der Gegenwart eine Nachricht zukommen zu lassen? Und wenn ja, wie können sie diese Nachricht entschlüsseln?
Mit »Vortex« schließt Robert Charles Wilson das große Abenteuer ab, das mit »Spin« begann und mit »Axis« weitergeführt wurde – ein Abenteuer, das in der Science Fiction seinesgleichen sucht.
Der Autor
Robert Charles Wilson, geboren 1953 in Kalifornien, wuchs in Kanada auf und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Toronto. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren der modernen Science Fiction und wurde mehrfach für seine Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hugo Award für sein Meisterwerk »Spin«. Mehr zu Autor und Werk unter:
www.robertcharleswilson.com
Robert Charles Wilson
VORTEX
Roman
Aus dem kanadischen Englisch von
Marianne und P. H. Linckens
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
VORTEX
Deutsche Erstausgabe 08/2012
Redaktion: Alexander Martin
Copyright © 2011 by Robert Charles Wilson
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-07393-0
www.heyne-magische-bestseller.de
1
SANDRA UND BOSE
Nie wieder, dachte Sandra Cole, als sie in ihrem schwülheißen Apartment aufwachte. Heute würde sie zum letzten Mal zur Arbeit fahren, um den Tag mit ausgemergelten Prostituierten zu verbringen, mit Suchtkranken in den ersten schweißtreibenden Stadien des Entzugs, mit notorischen Lügnern und Kriminellen. Ja, heute würde sie ihre Kündigung einreichen.
Sie wachte jeden Morgen mit diesem Gedanken auf. Gestern hatte sie nicht gekündigt. Und heute würde sie es auch nicht tun. Aber irgendwann … Nie wieder. Beim Duschen und Anziehen kostete sie die Vorstellung aus. Auch noch, als sie den ersten Kaffee trank und das rasche Frühstück aus Joghurt, Toast und Butter aß. Dann war sie so weit, dem ungeschminkten Tag ins Gesicht zu sehen. Der Tatsache, dass alles beim Alten blieb.
Gerade als sie den Aufnahmebereich der State Care passierte, meldete ein Polizist den Jungen zur Beurteilung an.
Die ganze nächste Woche über sollte der Junge in ihrer Obhut bleiben: Man hatte die Formulare bereits an die Liste ihrer morgendlichen Fälle geheftet. Er hieß Orrin Mather und war angeblich nicht gewalttätig. Tatsächlich wirkte er verängstigt: Die Augen waren geweitet und feucht, der Kopf ruckte nach links und rechts wie bei einem Vogel, der das Terrain sichert.
Sandra konnte sich nicht an den Polizisten erinnern – ein neues Gesicht offenbar. Was an sich nichts Ungewöhnliches war, denn bei der Polizei von Houston riss man sich nicht darum, Kleinkriminelle der texanischen Fürsorge zu überstellen. Dieser Beamte allerdings schien persönlich engagiert: Der Junge ging nicht auf Abstand, sondern auf Tuchfühlung, als suche er Schutz. Der Polizist ließ die Hand auf der Schulter des Jungen und sagte etwas, das Sandra nicht hören konnte, den Jungen aber sichtlich beruhigte.
Die beiden hätten kaum gegensätzlicher sein können. Der Polizist war groß, von kräftiger Statur, aber nicht dick, hatte dunkle Haut, dunkles Haar und dunkle Augen. Der Junge war deutlich kleiner und so dünn, dass er sich in dem Gefängnis-Overall verlor. Und er war bleich wie jemand, der die letzten sechs Monate in einer Höhle gehaust hatte.
Der Diensthabende an der State-Care-Aufnahme war Jack Geddes, der, wie gemunkelt wurde, nebenher noch als Rausschmeißer in einer Bar jobbte. Geddes ging nicht selten grob mit Patienten um – zu grob, fand Sandra. Als er Orrin Mathers Unruhe bemerkte, ging er, gefolgt von der diensthabenden, mit Sedativa und Spritzen bewaffneten Schwester, sofort auf den Jungen zu.
Der Polizist – und das war sehr ungewöhnlich – stellte sich unmissverständlich vor Orrin. »Das ist nicht nötig«, sagte er; seine Stimme hatte einen leichten ausländischen Akzent. »Ich kann Mr. Mather begleiten, wo immer er hinsoll.«
Sandra trat vor, ein wenig verlegen, weil sie erst jetzt das Wort ergriff. Sie stellte sich vor und sagte: »Zuerst müssen wir ein Aufnahmegespräch führen, Mr. Mather. Dazu gehen wir den Flur hinunter in ein bestimmtes Zimmer. Ich stelle Ihnen ein paar Fragen und mache mir Notizen. Dann weisen wir Ihnen ein eigenes Zimmer zu. Haben Sie das verstanden?«
Orrin Mather atmete vorsichtig aus und nickte. Geddes schien ziemlich verärgert, aber er zog sich wieder hinter den Schalter zurück.
Der Polizist bedachte Sandra mit einem taxierenden Blick. »Ich bin Officer Bose«, sagte er. »Ich würde gern mit Ihnen reden, wenn Orrin versorgt ist, Dr. Cole.«
»Das kann etwas dauern.«
»Ich kann warten«, sagte Bose. »Wenn es Ihnen recht ist.«
Und das war das Ungewöhnlichste von allem.
Seit zehn Tagen schon kletterten die Temperaturen in der Stadt tagsüber über 38 Grad Celsius. Die Diagnoseabteilung der State Care war klimatisiert, oft bis zur Absurdität (Sandra hatte im Büro einen Pullover liegen), doch hier fand lediglich ein kühles Rinnsal seinen Weg durch das Deckengitter. Orrin Mather schwitzte bereits, als Sandra sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. »Guten Morgen, Mr. Mather«, sagte sie.
Beim Klang ihrer Stimme entspannte er sich ein wenig. »Sie können ruhig Orrin sagen, Ma’am.« Er hatte blaue Augen, und die Wimpern schienen etwas zu lang für das knochige Gesicht. Ein Riss in der rechten Wange verheilte gerade und hinterließ eine Narbe. »Das tun fast alle.«
»Danke, Orrin. Ich bin Dr. Cole, und wir werden uns in den nächsten Tagen unterhalten.«
»Sie entscheiden, wer mich behält?«
»Kann man so sagen. Ich erstelle das psychiatrische Gutachten. Aber ich bin nicht hier, um über dich zu urteilen, verstehst du? Ich bin hier, um herauszufinden, wer dir am besten helfen kann.«
Orrin nickte kurz. »Sie entscheiden, ob ich in ein State-Care-Camp komme.«
»Nicht nur ich. Alle Mitarbeiter sind beteiligt, mal mehr, mal weniger.«
»Aber wir beide unterhalten uns?«
»Vorerst, ja.«
»Okay. Ich verstehe.«
Von oben blickten vier Sicherheitskameras in den Raum, aus jeder Ecke eine. Sandra hatte Aufnahmen von ihren eigenen und von anderen Sitzungen gesehen und wusste, wie sie auf den Monitoren im angrenzenden Raum wirkte: perspektivisch verkürzt, streng in ihrer blauen Bluse und dem gleichfarbigen Rock, die Kennmarke vom Hals baumelnd, wenn sie sich über den Kiefernholztisch lehnte. Die Alchemie der Überwachungsanlage würde den Jungen auf einen anonymen Befragten reduzieren … Allerdings sollte sie aufhören, ihn als Jungen zu bezeichnen, nur weil er so jung wirkte. Der Akte nach war er neunzehn. Alt genug, um es besser zu wissen, wie Sandras Mutter immer sagte. »Du stammst aus North Carolina, Orrin, richtig?«
»So steht es vermutlich in den Papieren da.«
»Und? Haben die Papiere recht?«
»Geboren in Raleigh und dort gelebt, ja, Ma’am, mein Leben lang, bis ich nach Texas kam.«
»Darüber reden wir noch. Erst sollten wir ein paar grundlegende Dinge klären. Weißt du, warum die Polizei dich mitgenommen hat?«
Orrin senkte den Blick. »Ja.«
»Geht es etwas ausführlicher?«
»Vagabundieren.«
»So sagt es das Gesetz. Wie würdest du es nennen?«
»Weiß nicht. In einer Gasse pennen vielleicht? Und von diesen Männern verprügelt werden.«
»Verprügelt zu werden ist kein Verbrechen. Die Polizei hat dich zu deinem eigenen Schutz in Gewahrsam genommen, richtig?«
»So wird es gewesen sein. Ich habe ziemlich geblutet, als sie mich fanden. Ich habe nichts getan, um die Kerle zu provozieren. Sie waren betrunken und sind einfach über mich hergefallen. Sie wollten mir die Tasche wegnehmen, aber ich hab nicht losgelassen. Ich wünschte, die Polizei wäre ein bisschen früher aufgetaucht.«
Die Streife hatte Orrin Mather halb bewusstlos und blutend auf einem Bürgersteig im Südwesten von Houston gefunden. Keine Adresse, keine Papiere und offenbar kein Auskommen. Wegen »Vagabundierens« – man bezog sich auf Vorschriften, die in den Wirren nach dem Spin erlassen worden waren – hatte man Orrin festgenommen, um ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Seine physischen Verletzungen waren leicht zu behandeln, aber sein Geisteszustand war eine offene Frage, der Sandra im Laufe der nächsten sieben Tage auf den Grund gehen sollte. »Du hast Familie, Orrin?«
»Nur meine Schwester Ariel. In Raleigh.«
»Und die Polizei hat sie verständigt?«
»Angeblich ja, Ma’am. Officer Bose meint, dass sie mit dem Bus unterwegs ist, um mich zu holen. Aber die dauert lange, diese Busfahrt. Ziemlich heiß um diese Jahreszeit, glaube ich. Ariel mag keine Hitze.«
Das musste sie mit Bose klären. Normalerweise, wenn ein Familienmitglied bereit war, die Verantwortung zu übernehmen, brauchte man wegen Vagabundierens die State Care nicht einzuschalten. Orrins Protokoll erwähnte keinerlei Gewalttätigkeiten seinerseits, er war sich augenscheinlich völlig im Klaren über seine Situation, und es gab keinerlei Hinweise auf irgendwelche Wahnvorstellungen – im Moment jedenfalls nicht. Obwohl er Sandra tatsächlich nicht ganz geheuer war. (Ein ziemlich unprofessioneller Gedanke, den sie für sich behalten würde.)
Sie begann mit dem Standard-Interview. Datum, Wochentag, etc. Er antwortete schnell und korrekt. Erst als sie ihn fragte, ob er Stimmen höre, zögerte Orrin. »Ich denke nein«, sagte er schließlich.
»Bist du sicher? Es ist okay, darüber zu reden. Wenn es damit ein Problem gibt, dann möchten wir dir helfen.«
Er nickte ernst. »Ich weiß. Eine schwere Frage. Ich höre keine Stimmen, Ma’am, nein, das nicht … aber ich schreibe manchmal Sachen.«
»Was für Sachen?«
»Sachen, die ich nicht immer verstehe.«
Das war der Einstieg.
Mögl. Wahnvorstellungen, geschriebene, notierte Sandra. Dann – weil es ihm sichtlich zusetzte – lächelte sie und sagte: »Gut, lassen wir’s genug sein.« Eine halbe Stunde war vergangen. »Fortsetzung folgt. Jetzt lernst du erst mal das Zimmer kennen, in dem du die nächsten Tage wohnen wirst.«
»Es ist bestimmt sehr schön.«
Verglichen mit den Seitengassen der Stadt Houston mochte das wohl stimmen. »Der erste Tag in der State Care fällt vielen schwer, aber glaub mir, es ist halb so schlimm. Abendessen um sechs in der Kantine.«
Orrin wirkte leicht verunsichert. »Ist das eine Art Cafeteria?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, ob es da laut ist? Ich mag keinen Lärm beim Essen.«
Laut? Die Patientenkantine war ein Zoo und im Allgemeinen auch entsprechend laut, obwohl das Personal für Sicherheit sorgte. Lärmempfindlich, notierte Sandra. »Es kann da ein bisschen laut werden, ja. Meinst du, du kommst klar damit?«
Orrin wirkte niedergeschlagen, nickte aber. »Ich glaube schon. Danke für Ihre Offenheit, ich weiß das zu schätzen.«
Noch eine verlorene Seele – nur zerbrechlicher und weniger aggressiv als die meisten. Sandra hoffte inständig, dass ihm die Woche hier mehr nutzen als schaden würde. Aber darauf wetten wollte sie nicht.
Zu ihrer Überraschung wartete draußen vor dem Zimmer der Officer, der Orrin gebracht hatte. Normalerweise lieferten sie jemanden ab und gingen wieder. Die State Care war eingerichtet worden, um in den schlimmsten Jahren des Spins die überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Und obwohl sich die Lage vor einem Vierteljahrhundert entspannt hatte, diente die Institution immer noch als Auffangbecken für Kleinkriminelle mit psychischen Auffälligkeiten. Praktisch für die Polizei – aber nicht für den überforderten und unterbezahlten Mitarbeiterstab der State Care. Nur selten wurde noch einmal nachgefasst; soweit es die Polizei betraf, war eine Überstellung gleichbedeutend mit dem Schließen der Akte – oder mit dem Betätigen der Wasserspülung.
Boses Uniform sah wie frisch gebügelt aus, und das bei der Hitze. Er wollte wissen, welchen Eindruck sie von Orrin Mather gewonnen hatte, und weil die Mittagspause schon begonnen hatte und Sandras Nachmittag ausgebucht war, lud sie ihn ein, mit in die Kantine zu kommen – die Personal-, nicht die Patientenkantine, die Orrin ganz sicher nicht gefallen würde.
Sandra nahm wie immer ihre Montagssuppe und einen Salat und wartete auf Bose, der es ihr gleichtat. So spät, wie sie waren, hatten sie kein Problem, einen freien Tisch zu finden. »Ich möchte Orrin nicht aus den Augen verlieren«, sagte Bose.
»Höre ich da richtig?«
»Was meinen Sie?«
»Die Polizei von Houston ist im Allgemeinen nicht so anhänglich.«
»Vermutlich nicht. Aber in Orrins Fall gibt es ein paar offene Fragen.«
Ihr fiel auf, dass er »Orrin« sagte und nicht »der Häftling« oder »der Patient«; offenbar hatte Officer Bose ein persönliches Interesse an dem Fall. »Ich sehe nichts Ungewöhnliches in der Akte.«
»Sein Name taucht im Zusammenhang mit einem anderen Fall auf. Ich darf nicht ins Detail gehen, aber … hat er seine Schreiberei erwähnt?«
Sandra hob eine Augenbraue. »Ganz kurz, ja.«
»Als man ihn festnahm, hatte Orrin eine Ledertasche mit einem Dutzend linierter Hefte dabei, alle vollgeschrieben. Die hat er verteidigt, als er angegriffen wurde. Orrin ist im Grunde ein kooperativer Bursche, aber wir hatten alle Mühe, ihm die Hefte abzunehmen. Wir mussten ihm versprechen, darauf aufzupassen – er wollte sie unbedingt zurückhaben, sobald sein Fall geklärt sei.«
»Und? Hat er sie zurück?«
»Noch nicht, nein.«
»Wenn ihm die Hefte so viel bedeuten, könnten sie für meine Beurteilung aufschlussreich sein.«
»Das leuchtet mir ein, Dr. Cole. Darum unser Gespräch. Die Sache ist die: Der Inhalt dieser Hefte hängt mit einem anderen Fall zusammen, den wir bearbeiten. Ich lasse sie gerade abschreiben, aber das ist ein mühseliger Prozess – Orrins Handschrift ist nicht leicht zu entziffern.«
»Kann ich die Abschriften sehen?«
»Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen. Aber ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Solange Sie nicht den gesamten Text kennen, darf die Sache nicht aktenkundig werden. Okay?«
Das war ein seltsames Ersuchen, und Sandra antwortete nur zögernd. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie unter aktenkundig verstehen. Jede wichtige Erkenntnis fließt mit in die Diagnose ein. Das ist nicht verhandelbar.«
»Sie können jede Erkenntnis berücksichtigen, solange Sie keine Textstellen kopieren oder zitieren. Nicht, bevor wir bestimmte Dinge geklärt haben.«
»Officer Bose, Orrin ist ganze sieben Tage in meiner Obhut. Dann muss ich eine Empfehlung aussprechen.« Sandra fügte nicht hinzu, dass diese Empfehlung Orrin Mathers Leben drastisch verändern würde.
»Schon verstanden, und ich will mich auch nicht einmischen. Was mich interessiert, ist Ihre Bewertung. Ich wüsste gerne – inoffiziell, versteht sich –, was Sie von dem Text halten. Wie … verlässlich er ist.«
Langsam dämmerte es Sandra. Etwas von dem, was Orrin aufgeschrieben hatte, war möglicherweise von entscheidender Bedeutung für ein anhängiges Verfahren, und Bose musste wissen, wie glaubwürdig es (oder sein Autor) war. »Falls Sie mich als Zeugin in einem Prozess …«
»Nein, nichts dergleichen. Nur eine Rückversicherung. Alles, was nicht die Intimsphäre des Patienten verletzt oder auf andere professionelle Bedenken stößt.«
»Ich weiß nicht, was Sie …«
»Vielleicht verstehen Sie es ein bisschen besser, wenn Sie das Dokument gelesen haben.«
Es war Boses ernster Gesichtsausdruck, der sie schließlich umstimmte. Sie war natürlich neugierig auf die Hefte und warum sie so wichtig waren für Orrin. Sollte sie allerdings etwas klinisch Relevantes entdecken, würde sie keine Skrupel haben, das Versprechen, das sie Bose gegeben hatte, zu ignorieren. Und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar – ihre Loyalität galt in erster Linie dem Patienten.
Er war ohne Wenn und Aber einverstanden. Als er aufstand, hatte er noch nicht aufgegessen; zurück blieb ein grünes Salatbett, aus dem er systematisch alle Kirschtomaten herausgepickt hatte. »Danke, Dr. Cole. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen. Sie bekommen die ersten Seiten heute Abend per E-Mail.«
Er gab ihr seine Karte vom Houston Police Department mit Telefonnummer, E-Mail-Adresse und seinem vollen Namen: Jefferson Amrit Bose. Sie murmelte den Namen vor sich hin, während sie zusah, wie er in einem Schwarm weiß gekleideter Schwestern verschwand.
Nach einem Tag voller Routine-Konsultationen fuhr Sandra unter dem flach einfallenden Licht der Sonne nach Hause.
Der Sonnenuntergang ließ sie oft an den Spin denken. Die Sonne war in den drastisch verkürzten Jahren des Spins gealtert und angeschwollen, und wenn sie am westlichen Himmel jetzt so normal aussah, war das eine ziemlich gut gemachte Illusion. Die echte Sonne war ein greises, aufgeblähtes Monster, das im Zentrum des Systems seinen Todeskampf focht – und was man am Horizont sah, war das, was die Hypothetischen aus der tödlichen Strahlung gemacht hatten. Seit Jahren – seit Sandra erwachsen war – war die Menschheit auf die geheimnisvolle Technik dieser fremden und stummen Wesen angewiesen.
Das harte Blau des Himmels wurde im Südosten von Wolken verdüstert, die an gläserne Korallenbänke erinnerten. 40,5 Grad Celsius in der Stadtmitte von Houston, wenn man dem Wetterbericht glaubte – nicht anders als gestern und vorgestern. In den Nachrichten ging es ausschließlich um die laufenden Starts in White Sands: Raketen impften die obere Atmosphäre mit Schwefelaerosolen, um die globale Erwärmung zu verlangsamen. Gegen diese drohende Apokalypse, für die sie nichts konnten, hatten die Hypothetischen keine Hilfe angeboten. Sie nahmen die Erde vor der expandierenden Sonne in Schutz, aber der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre schien sie nichts anzugehen; das war Sache der Menschen. Und dennoch krochen die Öltanker den Houston Ship Channel herauf, zumal das Rohöl inzwischen reichlich und billig aus der neuen Welt jenseits des Torbogens floss. Fossiler Brennstoff von zwei Planeten, um uns gar zu kochen, dachte Sandra. Das angestrengte Rauschen der Klimaanlage unterstrich ihre Heuchelei, aber sie konnte auf den kühlen Luftstrom nicht verzichten.
Seit sie ihr Medizinpraktikum an der UCSF beendet und bei der State Care angefangen hatte, hatte Sandra ihre Zeit damit verbracht, psychisch auffällige Menschen einem Test zu unterziehen, der von den meisten »normalen« Erwachsenen mühelos bestanden wurde. Kann sich der Betreffende in Zeit und Raum orientieren? Begreift der Betreffende die Folgen seines Tuns? Aber würde sie die ganze Menschheit diesem Test unterziehen, dachte Sandra, wäre das Ergebnis ziemlich ungewiss. Der Betreffende ist verwirrt und häufig selbstzerstörerisch. Er verfolgt kurzfristige Befriedigung auf Kosten seiner Gesundheit.
Als sie ihr Apartment in Clear Lake erreichte, war es bereits dunkel und die Temperatur um ein, zwei Grad gefallen. Sie schob ihr Abendessen in die Mikrowelle, öffnete eine Flasche Rotwein und sah nach, ob Bose inzwischen die E-Mail geschickt hatte.
Er hatte. Ein paar Seiten. Seiten, die Orrin Mather angeblich geschrieben hatte. Sie sah aber sofort, wie unwahrscheinlich das war.
Sie druckte die Seiten aus und machte es sich bequem.
Mein Name ist Turk Findley, begann das Dokument.