Buch
Savannah 1995: Jennifer Wyatt kehrt vom College nach Casa D’Or zurück – die verwunschene Südstaatenplantage am Sunset Lake, die seit über fünfzig Jahren im Besitz ihrer Familie ist. Herrliche, sorglose Monate am See liegen vor Jennifer, doch als der Sommer sich dem Ende zuneigt, ist nichts mehr so, wie es einmal war …
Zwanzig Jahre später ist Casa D’Or verlassen, und Jennifer hat die Tür zu ihrer Vergangenheit fest verschlossen, als plötzlich Jim wieder in ihr Leben tritt – der Mann, dem sie damals in dem magischen Sommer ihr Herz schenkte. Jim, heute erfolgreicher Hotelier, will Casa D’Or wieder im alten Glanz erstrahlen lassen. Doch dafür braucht er die Zustimmung der Frau, die vor zwanzig Jahren sein Herz brach und die er seither nie vergessen konnte: Jennifer Wyatt …
Autorin
Tasmina Perry studierte Jura und arbeitete in einer großen Kanzlei, bevor sie ihre Anwaltskarriere über Bord schmiss und zu schreiben begann. Als Journalistin arbeitete sie für zahlreiche Frauenmagazine wie Elle, Glamour und Marie Claire, war Herausgeberin der InStyle und wurde für ihre Artikel vielfach ausgezeichnet. Seit sie mit ihrem Debütroman die Herzen der Leser eroberte, sind ihre Romane von den englischen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Tasmina Perry lebt mit ihrem Mann, ihrem Sohn und viel zu vielen Schuhen in London.
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Tasmina Perry
Das Haus
am
Sunset Lake
Roman
Deutsch von Babette Schröder
Dieses Buch ist
meinem Vater gewidmet.
Prolog
Wer jemals einen Sommer in der Casa D’Or verbracht hat, wird ihn nie vergessen, die Erinnerung bleibt für immer lebendig. Um sich den warmen Wind ins Gedächtnis zu rufen, den Duft der Azaleen und die feuchtwarme Luft, die auf der sonnenverwöhnten Haut haftet, braucht man noch nicht einmal die Augen zu schließen.
Die Leute fragen sich, warum wir bleiben, wenn von Juni bis September eine unerträglich feuchte, drückende Hitze herrscht. Wenn die nachmittäglichen Stürme den Himmel schwarz wie die Flügel eines Stars färben und der Regen im Nu das Haus unter Wasser setzt. Man fragt uns, warum wir nicht an die kühleren Strände im Norden ziehen oder in eine der europäischen Metropolen – Paris, London, Rom. Die uns das fragen, kennen die Casa D’Or nicht; sie haben niemals ihren Zauber erlebt.
Wenn auch jeder Sommer in der Casa D’Or etwas Besonderes ist, so gibt es doch einige, die stärker herausstechen als andere. An jene ist die Erinnerung noch einen Hauch lebendiger. Wie an den Sommer, in dem wir die Schaukel am Sunset Lake aufbauten, den ganzen Juli über Pfirsicheistee tranken und immer wieder ins Wasser sprangen. Oder als wir in der Dämmerung den Moon River hinuntersegelten und der Sonnenuntergang um uns herum wie Feuer loderte.
Doch schon jetzt weiß ich, dass der diesjährige Sommer sie alle übertreffen wird. Denn dies ist der Sommer, in dem ich dir begegnet bin. Es ist der Sommer, in dem ich mich lebendig fühlte, weil ich endlich verstand, was es heißt, jemanden zu lieben: Man ist glücklich, berauscht und hat nur noch Augen für den anderen. Wie könnte ich jemals vergessen, wie du mich am See geküsst hast oder das erste Mal meine Hand in deine nahmst und sie perfekt hineinzupassen schien.
Mir geht ein Song durch den Kopf – ein Song über den Summer of Love. Ob sie sich damals so gefühlt haben, 1967 in San Francisco? Trunken von etwas Neuem, berauscht von Sex und Freiheit?
Nur, dass ich kein Hippie-Mädchen bin, ich kiffe nicht mal. Ich kann meine Gefühle nicht auf einem Plakat am Rathaus kundtun. Denn dies ist nicht nur ein Sommer der besonderen Erinnerungen, es ist auch ein Sommer der Geheimnisse. Was ihm ein gewisses gefährliches Prickeln verleiht.
Tief im Inneren weiß ich, dass es nicht gut ausgehen wird. Irgendwann kippt die Sahne und wird sauer, irgendwann geht unweigerlich die Sonne unter.
Ich spüre ein Gewitter nahen, über dem See ziehen dunkle Wolken auf. In deinem Zimmer brennt noch Licht – ich sehe es auf der anderen Seite des Wassers funkeln, und wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich deine Umrisse erkennen, die mich mit ihren verbotenen Verheißungen locken. Ich will dich sehen, bevor der Regen kommt.
1. Kapitel
Im schottischen Hochland, Silvester
In der Menschenmenge, die sich auf den Burgmauern versammelt hatte, entstand ein Moment der Stille. Die Unterhaltungen verstummten, man senkte die Köpfe und hielt den Atem an. Und dann war es so weit: Ein zartes Glockenspiel erklang, und die Kirchturmuhr im Dorf Munroe schlug zwölf.
Zisch!
Die erste Rakete sauste in den Himmel, gefolgt von Beifall und begeisterten Jubelrufen. Dunkelrote Funken explodierten am schwarzen Himmel, und glitzernde Ranken ergossen sich zu den Klängen von Auld Lang Syne, das aus Lautsprechern tönte, auf die Erde. Das neue Jahr war da.
Überall auf dem Burgwall wurde sich umarmt und geküsst, jeder teilte diesen Augenblick mit einem geliebten Menschen oder mit einem Fremden, der gerade zur Stelle war. Alle tauschten leise Neujahrswünsche und drückten ihre Hoffnung für die Zukunft aus. Alle außer Jim Johnson. Er blickte auf seine Armbanduhr, dann hinauf zum Himmel. Achtzehneinhalb Minuten sollte das Feuerwerk dauern, bis dahin musste sich die Band im Festsaal warmgespielt haben.
»Hey, Jim, tolle Party.«
Er blickte auf und schüttelte die dargebotene Hand. Douglas Strand, eine große Nummer im Öl- und Gasgeschäft und in der schottischen Politik. Die Tatsache, dass Strand hier Silvester feierte und nicht auf einem Balkon mit Blick auf die Princes Street, entlockte Jim ein Lächeln.
»Danke, Doug«, erwiderte er und klopfte Strand auf den Rücken. »Erzählen Sie’s weiter.«
Strand deutete mit seinem Glas auf die Ansammlung mächtiger und einflussreicher Personen, die auf den Burgmauern johlten und lachten. »Ich bezweifle, dass das nach heute Abend noch nötig sein wird«, sagte er. »Ich glaube, jeder, der es wissen sollte, ist schon hier.«
Jim schüttelte weitere Hände und ließ sich von angeheiterten Gästen umarmen, während er die Treppe hinunter in die große Halle ging – Munroes ganzer Stolz. Bis vor wenigen Wochen war hier noch der kopfsteingepflasterte Burghof gewesen. Nun hatte sich dieser in die elegante Eingangshalle des Hotels verwandelt, das Kopfsteinpflaster war unter Eichenbohlen und Teppichen verschwunden, der alte Burgwall durch Wandbehänge, Kunst und indirekte Beleuchtung luxuriös gestaltet. Es war ein atemberaubender Empfang, den Europas neues In-Hotel seinen Gästen bereitete – Jim hatte die Wirkung beim Eintreffen in ihren Gesichtern beobachtet. Die Einweihung war in jeder Hinsicht ein voller Erfolg.
Jedenfalls bislang, dachte er, ließ den Kopf kreisen und spürte, wie die Anspannung in seinem Nacken ein wenig nachließ.
»Celine«, sagte er, als er an der Bar eine Frau in einem roten Abendkleid entdeckte. »Wie schön, dass Sie gekommen sind.«
Als die eindrucksvolle Brünette ihn zur Begrüßung auf die Wange küsste, flogen ihnen die Blicke der Gästeschar zu. Celine Wood ging auf die vierzig zu, zählte aber noch immer zu den begehrtesten Models der Welt. Dass er sie zur Eröffnung nach Schottland hatte locken können, war ein echter Coup.
»Frohes neues Jahr. Wollen Sie sich nicht draußen das Feuerwerk ansehen?«
»Ich wollte mir nur etwas zu trinken holen. Hier, nehmen Sie das, Sie können es vermutlich vertragen«, sagte sie und reichte ihm eine Champagnerflöte.
»Prost«, entgegnete er und trank einen kleinen Schluck. »Ich habe achtundvierzig Stunden nicht geschlafen.«
»Sie sehen trotzdem wie immer blendend aus«, gab sie zurück und wischte ihm etwas von ihrem Lippenstift aus dem Mundwinkel. »Sogar noch blendender als Munroe.«
Jim lächelte unsicher und fragte sich, ob Celine Wood ihn gerade anmachte. Sie waren sich schon einmal begegnet und hatten möglicherweise auch miteinander geflirtet, aber Jim war sich bei Leuten aus diesen Kreisen nie sicher, was zur Show gehörte und was mehr bedeutete. Ganz sicher wollte er sich nicht zum Narren machen, indem er es heute Abend herauszufinden versuchte.
»Mr. Johnson, könnte ich Sie kurz sprechen?«
Skeptisch musterte er den heraneilenden Portier.
»Am Eingang herrscht etwas Aufruhr.«
»Aufruhr?« Rasch stellte er sein Glas ab.
Celine ließ ihn nicht aus den Augen.
»Eine Sicherheitsangelegenheit, Sir. Ich glaube, Sie sollten sich persönlich darum kümmern.«
Jim blickte zu Celine, die bedauernd die berühmten sinnlichen Lippen verzog. »Ich muss gehen«, erklärte er und legte ihr flüchtig die Hand auf die Schulter.
»Vielleicht können Sie das später noch gebrauchen«, raunte sie ihm zu, während sie ihm etwas in die Hosentasche schob. »Wenn ja, sagen Sie mir Bescheid.«
Mit einem Nicken knöpfte er die Jacke seines Smokings zu und folgte dem Portier durch die Halle in das Büro des Hoteldirektors, wobei er sich noch einmal kurz nach Celine umblickte. Sie hatte ihren Platz an der Bar bereits verlassen. Auch gut.
»Was ist los?«, fragte er mit Blick auf das flackernde Schwarz-Weiß-Bild des Überwachungsmonitors.
»Ein Problem am Eingangstor«, erklärte der Sicherheitschef. »Dieser Herr ist überaus gereizt, wenn mir die Bemerkung erlaubt ist. Er behauptet, sein Name wäre Lord Brodie, und er will reinkommen.«
»Du liebe Güte«, murmelte Jim und betrachtete den Bildschirm mit mulmigem Gefühl.
»Kennen Sie ihn?«, erkundigte sich der Portier.
»Ja.«
»Sollen wir ihn reinlassen?«
»Nicht in diesem Zustand.«
»Was sollen wir also tun?«
Jim hatte die letzten achtundvierzig Stunden mit Leuten verbracht, die Entscheidungen von ihm erwarteten. Der neue Geschäftsführer, die PR-Firma, der Marketingleiter, die Kommunikationsabteilung und der CEO von Omari Hotels, seine Angestellten – jeder wollte ein kleines Stück von ihm. Und nachdem er seit seiner Ankunft in Schottland vor zwei Tagen kaum zum Schlafen gekommen war, hatte er das Gefühl, gleich durchzudrehen.
»Rufen Sie ihm ein Taxi, dann gehen Sie zum Tor und sorgen dafür, dass ihn der Wagen bringt, wohin er will«, sagte er und fügte hinzu: »Nur nicht hier hoch.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr, durchquerte den Festsaal und überprüfte das Buffet. Es war aufgefüllt worden – Ente, Wildbret und Forelle glänzten im Kerzenschein. Gut.
Eigentlich sollte er nach dem Dudelsackspieler sehen, der auf der Burgmauer spielen würde, sobald die Gäste diese verlassen hatten, aber nein, das konnte ein paar Minuten warten.
Er nahm eine offene Champagnerflasche, ging einen schmalen Gang entlang bis zu dem schmiedeeisernen Tor, das in den von der Burgmauer umgebenen Garten führte. Er stieß es auf, trat hinaus und stellte dankbar fest, dass er allein war.
»Frohes neues Jahr, Jim«, murmelte er vor sich hin, ließ sich auf einer kalten Steinbank nieder und prostete mit der Flasche dem Feuerwerk zu, bevor er einen Schluck trank. Die meisten Leute, die er kannte, hätten es vermieden, an Silvester zu arbeiten, doch Jim tat es gern. Natürlich war die Burg Munroe der Star des Abends, aber auch er hatte Aufmerksamkeit bekommen, bewundernde Blicke, anerkennendes Rückenklopfen.
Schließlich hatte er diesen Ort erst vor achtzehn Monaten entdeckt. Auf dem Weg zu einer Moorhuhnjagd war er falsch abgebogen und auf den baufälligen Gebäudekomplex gestoßen, der einem älteren Herrn gehörte. Als Hotelinvestor mit mehr als fünfzehn Jahren Erfahrung hatte er Munroes Potenzial sofort erkannt – die bildschöne Lage, gleich bei einem in eine Heidelandschaft eingebetteten See. Daraufhin hatte er keine Zeit verloren, mit Brodie Kontakt aufzunehmen, um zu fragen, ob er es ihm verkaufen würde. Zunächst hatte der alte Mann abgelehnt, doch schließlich konnte Jim ihn von seinem Vorhaben überzeugen. Und jetzt, nur ein Jahr später, war es so weit: Das attraktivste neue Resort in ganz Europa war fertig, die Krönung unter den Hotels des Unternehmens.
Während er aus der halbleeren Flasche Champagner trank, überkam ihn auf einmal ein schlechtes Gewissen, dass er Richard Brodie nicht auf die Party gelassen hatte. Er beschloss, ihn morgen anzurufen und ihn einzuladen, auf seine Kosten einen Abend in Munroe zu verbringen. Da er das Gefühl nicht loswurde, sich nicht ganz korrekt verhalten zu haben, würde er ihm sogar eine Runde Golf spendieren.
Er schob eine Hand in die Hosentasche, um nachzusehen, was Celine Wood dort vor wenigen Minuten deponiert hatte. Irgendwie erwartete er, ihre Telefonnummer zu finden, ein bisschen hoffte er es sogar – wenn er es sich recht überlegte, war die Art, wie sie ihre Lippenstiftspuren aus seinem Mundwinkel entfernt hatte, schon sehr aufreizend gewesen. Als er die Hand wieder hervorzog und öffnete, sah er auf seinem Handteller jedoch ein Päckchen Kokain.
Einen Moment reizte es ihn, doch dann schnaubte er leise und besann sich eines Besseren. Teure Drogen waren nicht die Antwort.
»Habe ich es mir doch gedacht, dass Sie das waren, der sich da von der Meute abgesetzt hat«, sagte eine tiefe Stimme mit einem starken Akzent.
»Simon.« Als Jim seinen Boss entdeckte, stand er auf und schob das Päckchen flugs zurück in die Hosentasche. »Tut mir leid, ich wollte nur einen Augenblick Luft schnappen.«
»Setzen Sie sich wieder«, erwiderte Simon Desai und wedelte ungeduldig mit der Hand.
Der Vorsitzende des von Mumbai aus weltweit agierenden Konzerns, zu dem die Omari Hotels gehörten, öffnete den Knopf seiner Smoking-Jacke und ließ sich neben Jim auf der Bank nieder. Jim konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Hier saß er und plauderte am Silvesterabend mit einem der reichsten Männer der Welt. Zugegeben, er war nur dessen Angestellter, aber er würde dieses Jahr vierzig werden und fand, dass seine Position alles andere als schlecht war.
»Sie haben es also geschafft«, stellte Simon schließlich fest.
»Wir haben es geschafft. Ohne Ihr Engagement würden wir immer noch den Burggraben auspumpen.« Obwohl er beinahe jede wache Stunde mit der Renovierung von Munroe verbracht hatte, war Jim klar, dass er dieses perfekte Luxushotel nur hatte erschaffen können, weil Simon bereit gewesen war, üppig in das Projekt zu investieren.
Er fragte sich oft, warum Simon sich überhaupt mit Boutique Hotels abgab. Sein Imperium war riesig und umfasste jede Branche, von Stahl bis hin zu kohlensäurehaltigen Getränken. Ganz sicher arbeitete jede einzelne seiner Firmen profitabler und barg weniger Risiken als Omari. Als sich jedoch ein goldener Regen schillernd über den schwarzen Himmel ergoss, die letzten Ausläufer des Feuerwerks, und dazu im Hintergrund Lachen hörbar war, wusste Jim genau, warum er das tat.
»Hotels haben etwas Magisches an sich, Jim«, sagte Simon, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Als Kind habe ich mit meinen beiden Brüdern auf einer Matratze auf dem Boden geschlafen. In unserem Haus gab es kein fließendes Wasser, in den Fenstern waren keine Scheiben. Aber die Aussicht – die hätten Sie sehen sollen.« Er seufzte leise. »Von unserer Vordertreppe aus konnte man die Türme des Jaipur Palace sehen, des schönsten Hotels der Gegend. Jede Nacht fragte ich mich, wie es wohl wäre, es zu betreten, wie weich die Betten wären, was man dort zu Abend aß. Doch nach einer Weile genügte es mir nicht mehr, darüber zu sinnieren. Ich beschloss, es herauszufinden, und arbeitete zwei Jahre, um mir eine Nacht im kleinsten Zimmer leisten zu können.«
»Und, war es so, wie Sie es sich erhofft hatten?« Jim lächelte.
»Ja. Ich kam mir wie ein König vor. Ich dachte: ›Was, wenn das jeder haben könnte? Was, wenn jeder wie ein König leben könnte, und sei es nur für eine Nacht?‹ So hat alles angefangen. Zehn Jahre später kaufte ich das Jaipur Palace.«
»Sie sind vielleicht ein Romantiker.« Jim grinste und trank den letzten Rest Champagner.
»Ich war ein raffinierter Geschäftsmann.« Simon zuckte wehmütig die Schultern. »Und? Was machen wir als Nächstes?«, fragte er ein wenig forscher.
Jim räusperte sich. »Nun ja, in Hvar kommt eine hervorragende Immobilie auf den Markt. Meiner Ansicht nach ist es das neue Saint-Tropez. Ein fünfundzwanzig Morgen großes Anwesen am Strand …«
Simon schüttelte den Kopf. »Wir besitzen vier der besten Resorts in Europa, Jim, alle nur zwei Stunden voneinander entfernt. Wir sollten nach Nordamerika expandieren.«
»Der Markt in Amerika ist gesättigt.«
»So sagt man«, erwiderte Simon, »aber es ist noch immer der größte Reisemarkt der Welt.«
»Woran haben Sie gedacht?«
»An einen Ort, an dem es das ganze Jahr über warm ist. Wir suchen einen Ort, an den die Menschen aus New York und Washington fliehen können, ohne einen Daunenanorak tragen zu müssen, wenn am Hudson minus fünfzehn Grad herrschen.«
»Florida?«, schlug Jim vor. »Wobei die meisten interessanten Grundstücke in Miami bereits verkauft sind, und für jedes Stückchen Küste dürften wir Höchstpreise zahlen.«
Simon legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Diese Strandburgen interessieren mich nicht. Sehen Sie sich das hier an«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Burgwall. »Die Gebäude von Omari besitzen eine Geschichte. Es sind Orte, die eine Bedeutung haben. Ich habe an die Südstaaten gedacht«, fuhr er nach einem Augenblick fort. »Weite Terrassen, Eistee und Leinenanzüge. Davon habe ich als Kind geträumt.«
Jim strich sich übers Kinn, als eine unangenehme Erinnerung in ihm erwachte, doch Simon war noch nicht fertig.
»Ich stelle mir eine große Südstaatenplantage vor, mit einer unendlich langen, von Bäumen gesäumten Auffahrt, an den Bäumen ranken sich diese Pflanzen hinunter. Die wie Spinnweben aussehen.«
»Dschungelmoos«, sagte Jim und blickte ihn an.
»Damit Sie genau wissen, nach welcher Art von Anwesen ich suche.« Simon holte sein Telefon aus der Tasche.
Das brachte Jim jetzt wirklich aus dem Konzept.
»Simon, das Feuerwerk ist zu Ende. Ich muss nach der Bar sehen, und ich habe den Dudelsackspieler verloren …«
»So etwas stelle ich mir vor«, fuhr Simon unbeirrt fort und tippte auf das Display.
Irritiert betrachtete Jim das Bild, das Simon aufgerufen hatte. »Das ist Tara. Das Haus aus Vom Winde verweht«, stellte Jim fest, als er das markante Haus wiedererkannte.
»Erzählen Sie mir, was Sie über diese Art von Häusern wissen«, forderte Simon ihn auf.
Jim erschauderte in der kühlen schottischen Nachtluft. »Den Stil bezeichnet man als Greek Revival. Frühes neunzehntes Jahrhundert. Elegante, gleichmäßige Formen mit niedrigem Giebel. Sie entstanden als Gegenreaktion zum britischen Stil. Daher die Säulen, eine Verneigung vor der klassischen Architektur Griechenlands. Solche Häuser waren bei Geschäftsleuten im reichen Süden beliebt, bei Baumwollfarmern. Deshalb sind sie auch als Plantagenhäuser bekannt. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man oft die dunkle Seite dieser Anwesen – Sklavenhütten und so weiter.«
»Sie kennen sich gut aus.«
»Ich habe einen Sommer direkt neben einem verbracht.«
Simon blickte ihn interessiert an. »Wo war das?«
»Ganz in der Nähe von Savannah. Georgia«, antwortete Jim, der hin- und hergerissen war zwischen seinem Unbehagen und dem Wunsch, Simon zu beeindrucken.
»Gehörte es Ihrer Familie?«
»Wohl kaum.« Er lachte verlegen.
»Ist Ihr Vater nicht ein berühmter Schriftsteller?«, fragte Simon. Drei Jahre arbeiteten sie nun schon zusammen, doch es war das erste Mal, dass er sich nach Jims Privatleben erkundigte.
»Schriftsteller können sich im Allgemeinen keine Häuser wie die Casa D’Or leisten«, erwiderte Jim und blickte auf die kühlen Steine zu seinen Füßen.
»Casa D’Or«, wiederholte Simon. »Was für ein schöner Name. Was bedeutet er?«
»Das Haus aus Gold.«
Simon gab etwas in sein Smartphone ein, ein anderes Bild erschien, und Jims Kehle brannte. »Ist es das?«, fragte Simon. Ohne Jims Antwort abzuwarten, zeigte er auf die Webseite, die er aufgerufen hatte. »›Die Casa D’Or war der Wintersitz von David Darling, dem amerikanischen Eisenbahnindustriellen und Kunstsammler‹«, las er laut vor. »›Neben Hearst Castle und Biltmore galt es als eines der bedeutenden Häuser der Gesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert. In den 1940er-Jahren wurde es an die Familie Wyatt verkauft, der es bis heute gehört.‹« Er blickte auf, sein Gesicht leuchtete im Licht des Displays. Diesen Blick kannte Jim bei ihm: Verlangen. »Gehört es noch diesen Wyatts?«
»Soweit ich weiß. Es ist allerdings schon eine Weile her, dass ich dort war.«
»Aber Sie kennen diese Leute? Die Wyatts?«
Jim zögerte und holte Luft. »Ich kannte sie«, antwortete er und versteifte sich.
»Meinen Sie, die würden es verkaufen?«
»Simon, das ist ihr Familiensitz. Sie wissen, wie sentimental die Leute sind, wenn es um ihre Häuser geht.«
Simon blickte ihn unbeeindruckt an. »Und ich habe auch erlebt, wie schnell die Sentimentalität verfliegt, wenn man ein Scheckbuch zückt.«
»Ja, aber …«
»Aber was, Jim?«, unterbracht ihn Simon. »Gibt es etwas an diesem Anwesen, das Sie mir verheimlichen?«
Du hast ja keine Ahnung, dachte Jim und stand auf. »Ich meine nur, wir sollten nichts überstürzen. Die Casa D’Or ist nicht das einzige Haus in den Südstaaten. Ich strecke meine Fühler aus und höre mich um, was es sonst noch gibt. Die Immobilien für Omari müssen zur absoluten Spitzenkategorie gehören.«
»Genau«, stimmte Simon ihm zu und steckte das Smartphone zurück in seine Tasche. »Zur Spitzenkategorie, und wenn die Casa D’Or in einem Atemzug mit Hearst Castle und Biltmore genannt wird, reizt mich das.«
Jim spürte, dass ihm die Sache entglitt. »Hören Sie, dieser Ort hat eine Geschichte«, sagte er vorsichtig. »Dort hat sich einst ein Unfall ereignet. Jemand ist gestorben …«
Simons Blick drückte aus, dass ihn Jims Bedenken wenig interessierten, er wollte einzig und allein seinen Willen durchsetzen.
»Wo sehen Sie Ihre Zukunft im Unternehmen?«, fragte er neutral. Vordergründig war es eine ganz normale Frage, hinter der sich jedoch wesentlich mehr verbarg. Simon war ein fairer Arbeitgeber, aber ohne eine gewisse Skrupellosigkeit gelangte kein Milliardär an die Spitze der goldenen Pyramide. Und Jim mochte sich zwar eine Nische im Portfolio von Omari erobert haben, die erste Geschäftsregel lautete jedoch: Jeder ist ersetzbar.
»Ich arbeite für mein Leben gern für Omari«, sagte er nach einem Moment. »Es ist mein Leben.«
Simon nickte. »Sie waren von Anfang an dabei, haben Omari mitaufgebaut. Und ich möchte Sie für Ihre Weitsicht und Ihre Loyalität belohnen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, aber …«, begann Jim.
»Kein Aber. Ich möchte das beste Hotel im Deep South eröffnen, und ich will, dass dieses Hotel die Casa D’Or wird. Sorgen Sie dafür, dann mache ich Sie zum CEO von Omari Hotels.«
Jims Augen weiteten sich. »CEO?«
Simon musterte ihn mit durchdringendem Blick, zweifellos konnte er das Verlangen in Jims Blick sehen. Dann ertönte auf der Terrasse Jauchzen und Jubeln, und der Moment war vorbei. Simon lächelte und hob sein Glas.
»Ich glaube, Sie sollten sich jetzt um den Dudelsackspieler kümmern.«
2. Kapitel
Er brauchte neue Vorhänge, war sein erster Gedanke. Das Sonnenlicht floss oberhalb der Gardinenstange herein, direkt auf sein Kopfkissen, und weckte ihn deutlich früher als geplant. Schalte das Telefon aus, sein zweiter. Jim kroch zu dem Handy, das auf seinem Nachttisch vibrierte. »M« stand auf dem Display. »Nicht jetzt«, stöhnte er, schaltete es aus und schob es unter das Kopfkissen. Er zog sich die Decke über den Kopf, aber es war zu spät – er war wach. So viel zu der Idee, bis zum Mittag zu schlafen, die Zeitung zu lesen – endlich ein paar Stunden auszuspannen.
Brrring.
Das war die Türklingel.
Er rollte sich aus dem Bett, schnappte sich seinen Bademantel, schlurfte zur Haustür und betätigte die Gegensprechanlage.
»Was ist?«, knurrte er, noch heiser vom Schlaf.
Eine ungeduldige, gereizte Stimme meldete sich. »Jim, ich bin’s. Lass mich rein.«
Mist. Melissa. Er blickte auf die Uhr über dem Herd in der offenen Küche und rieb sich die Augen. Fünf Uhr? War es tatsächlich schon so spät?
»Mist«, brummte er und drückte den Türöffner. An Silvester zu arbeiten war eine Sache, aber noch im Bett zu liegen, wenn die Freundin vorbeikam? Jim war kein Beziehungsexperte, aber selbst er wusste, dass das ein Tabu war.
Schritte kamen die Treppe herauf. Keine Zeit, sich eine Ausrede zu überlegen.
»Gehst du eigentlich nie an dein Handy?«, fragte Melissa, als sie in die Wohnung trat.
»Ich bin gestern mit dem späten Flieger aus Inverness gekommen«, erwiderte Jim und unterdrückte ein Gähnen. »Ich war erst um eins zu Hause und konnte nicht schlafen.«
»Wirklich? Du hättest mich auch betrügen können.«
»Ich bin total kaputt, Melissa. Die Eröffnung …«
»Das war anstrengend, schon klar.«
Der Sarkasmus in ihrer Stimme entging ihm nicht.
»Frohes neues Jahr«, sagte er, zog sie an sich und küsste sie zärtlich auf die Lippen. Zunächst spürte er Widerstand, dann gab sie nach.
»Du hast mir gefehlt«, sagte sie schlicht, als er mit der Nase über ihren Hals strich.
Ihr Haar roch frisch, sauber, köstlich. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte er sie nach Munroe einladen sollen. Andererseits hatte er von vornherein klargestellt, dass seine Arbeit Priorität hatte. Außerdem würde er sie heute Abend mit zum siebzigsten Geburtstag seines Vaters nehmen. Das war doch schließlich auch etwas, oder nicht?
»Du siehst toll aus«, stellte er fest und trat zurück, um sie zu betrachten. Ihr hellgrünes Kleid war auf Figur geschnitten und reichte bis zum Knie. Ihr blondes Haar wippte auf ihren Schultern. Ganz offenbar wollte sie seine Eltern beeindrucken, aber sie sah trotzdem unglaublich sexy aus.
»Findest du? Ich wusste nicht, wie förmlich die Feier wird.«
»Die Intellektuellen von Hampstead sind nicht gerade für ihren guten Geschmack bekannt.« Er lächelte. »Meist tragen sie Fliege oder mottenzerfressene Strickjacken.«
Sie schien verunsichert. »Meinst du, ich bin overdressed?«
»Ich finde, du siehst perfekt aus«, gab Jim zurück, zog sie an sich und flüsterte: »Obwohl ich es kaum erwarten kann, dich nachher underdressed zu sehen.«
Sie öffnete seinen Bademantel und drängte sich grinsend an seine nackte Brust.
»Warum erst nachher?«
Es war schon fast halb acht, als das Taxi in Hampstead vor dem Haus von Jims Eltern hielt, und die Feier schien bereits in vollem Gang zu sein. Alle Lampen brannten, und hinter jedem Fenster erkannten sie im goldenen Lichtschein die Silhouetten der Gäste. An der glänzenden schwarzen Haustür hing ein besonders ordentlicher Stechpalmenkranz, und mit dem Licht der unechten Gaslampen, das sich auf dem eisbedeckten Pflaster spiegelte, wirkte die Szenerie wie auf einer der Weihnachtskarten, die noch auf Jims Kaminsims standen.
»Kannst du das mal kurz halten?« Jim reichte Melissa die Flasche Scotch, das Geburtstagsgeschenk für seinen Vater, und beugte sich vor, um den Fahrer zu bezahlen. Als er sich wieder nach ihr umdrehte, stand sie bereits auf der Straße und betrachtete das Haus.
»Hübsch. Wann haben sie es gekauft?«, fragte sie, als Jim die Tür des Taxis zuschlug.
»Als man noch nicht zweihundertfünfzig Jahre arbeiten musste, um sich auch nur die Anzahlung leisten zu können. Übrigens entschuldige ich mich jetzt schon dafür, dass mein Vater versuchen wird, dich abzuknutschen.«
»Ich kenne ihn doch schon.«
»Ja, aber du hast noch nie erlebt, wie peinlich er ist, wenn er was getrunken hat und in seiner heimischen Umgebung so richtig aufdreht.« Jim lächelte, während er den großen Messingklopfer an die Tür schlug.
»Liebling! Ich freu mich ja so, dass du es geschafft hast.« Jims Mutter trat vor, gab ihm einen Luftkuss und hüllte ihn in eine Chanel-Wolke. Elizabeth Johnson war dünner als das letzte Mal, das er sie gesehen hatte. Vielleicht wirkte sie auch ein wenig abgespannt, aber das wusste sie mit guter Laune, einem perlenbesetzten Cocktailkleid und klirrenden Armreifen zu überspielen, die sie stets um die Handgelenke trug. »Und Melissa, wie schön, Sie wiederzusehen. Kommt rein«, rief sie ihnen fröhlich über ihre Schulter hinweg zu und gab sich, als würde sie sie in ein unbekanntes neues Gebäude führen und nicht in das Haus, in dem Jim aufgewachsen war. »Tony und Claire kennst du ja, und die Gillans sind da.«
Jim hatte keine Ahnung, von wem sie redete, aber daran war er gewöhnt. Die Literatur- und Kunstkreise, in denen Elizabeth und Bryn Johnson verkehrten, unterlagen einem permanenten Wandel. Ein Hauptakteur oder heißgehandelter Name wich dem nächsten. Nur sein Vater blieb der Fixpunkt, um den sich alles drehte.
Und da stand er, genau dort, wo Jim es erwartet hatte: Einen Ellbogen auf den marmornen Kaminsims gestützt, in der freien Hand ein halbvolles Glas, mit dem er wild gestikulierte, um ihn eine Gruppe bewundernder Zuhörer.
»Jimmy!«, rief er und brach mitten in einer Anekdote ab. »Komm her, mein Junge.« Er umarmte Jim herzlich und klopfte ihm auf den Rücken. »Willst du etwas trinken?«
»Was feiern wir?«, fragte Jim lächelnd.
Bryn Johnson sah ihn eine Sekunde verständnislos an, dann brach er in Lachen aus. »Ein Johnson kommt immer gleich zum Punkt. Alle anderen tänzeln um das eigentliche Thema herum und erzählen mir stattdessen irgendeinen Quatsch von wegen mir würde ein goldener Lebensabschnitt bevorstehen und wie gut ich aussehe.«
»Du siehst gut aus.«
»In Anbetracht der Tatsache, dass ich gerade geschlachtet wurde. Für eine wandelnde Leiche ganz gut, ja.«
Er war polemisch, das war normal für ihn. Eigentlich sah er gut aus, obwohl er vor vier Monaten einen Herzinfarkt erlitten hatte. Wenn Jim sich an das Bild seines Vaters in diesem Krankenhausbett erinnerte, die Haut aschgrau, Schläuche in Nase und Brust, schien es kaum derselbe Mann zu sein. Er war immer kräftig gewesen, wie ein Bulle – sowohl vom Körperbau als auch von der Lebenseinstellung her. Ihn so schwach und verletzlich zu sehen hatte Jim mehr aufgewühlt, als er zugeben mochte.
»Dad, Melissa kennst du ja.«
»Natürlich. Wir waren doch alle zusammen zum Mittagessen. Die Ente war sehr gut, wenn ich mich recht entsinne.«
Als er vortrat, um sie zu küssen, errötete Melissa. Bryn Johnsons überaus gutes Aussehen hatte im Laufe der Jahre häufig für Aufsehen gesorgt: seine erstaunlichen blauen Augen, das pechschwarze Haar. Sogar mit siebzig hatte er noch eine Wirkung auf Frauen.
»Für Sie«, sagte Melissa und reichte ihm die Flasche Scotch, die Bryn sorgfältig untersuchte.
»Fünfundzwanzig Jahre alter Talisker Single Malt. Sehr schön. Ich muss wohl Geburtstag haben.« Er blickte zu Jim. »Und von dir kriege ich nichts?«
»Der ist von uns beiden«, erklärte Jim und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Der Sommelier auf Munroe hat ihn mir besorgt. Der ist hervorragend. Ein guter Jahrgang. Nur einige Tausend Flaschen wurden eingelagert«, sagte Jim, doch sein Vater hatte den Scotch schon auf den Kaminsims gestellt.
»Francis, Edward, Peter. Kommt her. Ich glaube, ihr kennt James Johnson noch nicht. Die Frucht meiner Lenden. Sieht er nicht toll aus?« Eifrig stellte er die drei Männer vor: ein Verleger, ein Bildhauer und ein Dramatiker.
»Sind Sie ebenfalls Schriftsteller?«, erkundigte sich Edward, der Bildhauer mit dem drahtigen weißen Haar.
Jim schüttelte den Kopf. »Ich arbeite für eine Immobiliengesellschaft.«
»Immobilien?«
»Auf der Uni hat er enormes literarisches Talent bewiesen«, schaltete sich Bryn ein. »Saul, mein amerikanischer Agent, wollte ihn schon unter Vertrag nehmen, aber Jimmy hat das nicht interessiert.«
»Das ist lange her, Dad.«
»Stattdessen ist er Lohnsklave geworden. Ein Skandal, nicht wahr?«, sagte er und stieß ein lautes, heiseres Lachen aus.
Jim war sich nicht sicher, ob sein Vater ihn absichtlich verletzen wollte. Wenn er düsterer Stimmung war, konnte Bryn Johnson schonungslos sein, gnadenlos, dann stichelte er so lange, bis man sich völlig wertlos vorkam. Andererseits konnte er einen mit wenigen großzügigen Worten derart aufbauen, dass man zu schweben glaubte. Seine ganze Kindheit über hatte Jim zwischen diesen beiden Extremen gependelt, heute verletzte ihn jedoch am meisten, dass sein Vater seiner Karriere, für die Jim so hart gearbeitet hatte, derart kritisch gegenüberstand.
»Ziemlich viele Leute«, lenkte Jim vom Thema ab.
»Es ist mein Siebzigster«, erwiderte Bryn.
»Kommt Ian auch?«
Ian McConnelly war Jims Patenonkel, ein Freund von Bryn aus ihrer Zeit in Cambridge. Er hatte enormen Erfolg mit einer Reihe skurriler Kurzgeschichten gehabt, die als literarischer Nachfolger von P. G. Wodehouse’ Geschichten über Jeeves galten, von Bryn allerdings als »populistischer Mist« abgetan wurden.
»Ich muss ihm zum Ritterschlag gratulieren. Das ist einfach wunderbar«, sagte Jim, der die Neuigkeit von seinem Patenonkel per SMS erfahren und sich riesig für ihn gefreut hatte.
»Vermutlich hatte jemand im Palast Mitleid mit ihm«, sagte Bryn.
»Ach, wieso?«
»Naja, Alzheimer eben.«
»Ian hat Alzheimer?«, fragte der Bildhauer, der sich bei dem Stichwort umdrehte und wieder ins Gespräch einschaltete.
»Wehe ihm, wenn er die Feier heute Abend vergessen hat«, sagte Bryn düster.
»Dad …«
»Na, was meint ihr? Wer bekommt dieses Jahr den Nobelpreis?«, sagte Bryn fröhlich und widmete sich wieder seinen Freunden.
Jim schüttelte den Kopf und zupfte Melissa am Ärmel. »Komm, besorgen wir uns was zu trinken.«
»Wie wäre es, wenn du mir das Haus zeigst?«, erwiderte sie und hakte sich bei ihm ein. »Ich möchte dein Kinderzimmer sehen.«
Jim war einige Monate nicht bei seinen Eltern gewesen, aber es sah genauso aus wie immer. Im Arbeitszimmer seines Vaters roch es schwach nach Zigarrenrauch. In den Fluren hing der leicht moderige Geruch von alten Büchern. Sein altes Zimmer war ebenfalls unberührt. Unter dem Fenster stapelweise Schallplatten, alle in einwandfreiem Zustand, wie er feststellte. An den blauen Wänden hingen noch immer die alten Poster – eine düstere Schwarz-Weiß-Grafik von einem Joy Division Cover, ein psychedelisches Porträt von Hendrix –, sowie eine Pinnwand voll mit Eintrittskarten aus dem Mud Club, dem Camden Palace und Wembley. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal auf einem Konzert gewesen war. Vor ein paar Monaten hatte er einige Kunden zum Abendessen ins Ronnie Scott’s ausgeführt, aber er war sich nicht sicher, ob das zählte.
Während Melissa zur Toilette ging, füllte Jim in der Küche ihre Gläser nach. Seine Mutter stand an der Kücheninsel und füllte Cashewnüsse in eine Glasschale. Überraschenderweise waren sie allein.
»Geht es dir gut?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
Sie bestellte niemals einen Catering-Service, das sei Geldverschwendung, fand sie. Als Tochter eines Offiziers besaß sie von jeher eine praktische, zupackende Seite, auch wenn ihr Mann verlangte, dass sie eine Show abzogen.
»Dad scheint sich zu amüsieren.«
»Er ist immer am glücklichsten, wenn er von Leuten umgeben ist.«
Jim suchte im Kühlschrank nach kaltem Bier. »Traurige Nachricht, das mit Ian.«
»Ja. Aber er freut sich über seinen Ritterschlag. Erwähn das nur nicht deinem Vater gegenüber.«
»Schon passiert. Er wirkte etwas gereizt.«
»Gereizt? Seit es bekannt ist, ist er total übellaunig.«
»Aber Ivan ist doch sein Freund. Er sollte sich für ihn freuen.«
»Theoretisch ja«, gab seine Mutter sanft zurück.
»Mach dir keine Sorgen, Melissa wird seinem Ego schmeicheln.« Zischend öffnete er die Dose und trank einen großen, wohltuenden Schluck.
»Hübsches, kleines Ding.«
Jim blickte auf und sah den hämischen Ausdruck im Gesicht seiner Mutter. »Hast du vor, sie zu einer ehrbaren Frau zu machen? Oder ist sie nur eine deiner Eroberungen?«
»Mum«, sagte er.
»Ich verstehe nicht, warum diese Frage nicht erlaubt ist. Du wirst dieses Jahr vierzig, und du bist immer noch kein Stück weiter. Du machst keine Anstalten, dich zu binden.«
»Das ist doch kein Wettrennen.«
»Im Grunde schon.«
Er dachte an seine flüchtige Begegnung mit Celine Wood auf der Party. Was hätte er getan, wenn sie ihm ihre Nummer zugesteckt hätte?
Elizabeth nahm eine Flasche Wein und schenkte sich ein Glas ein. »Wie alt ist sie, Jim? Vier-, fünfunddreißig?«
»Wir sind erst ein Jahr zusammen, Mum. Von Heiraten oder Kindern war noch nicht die Rede.«
Seine Mutter lachte. »Das heißt doch nicht, dass sie nicht daran denkt.«
Bei dem Gedanken war ihm nicht wohl. Nicht dass er per se etwas gegen eine Ehefrau und eine Familie einzuwenden hatte. Bis vor kurzem hatte er seine Freunde zwar bedauert, die im Familienleben untergingen. Die Jungs, mit denen er getrunken und Fußball gespielt hatte, mit denen er Ski gelaufen und Wildwasserkanu gefahren war, sah er jetzt bei merkwürdigen Vormittagsbuffets in Cafés mit Spielecken. Wenn er sich zehn Minuten ungestört mit seinen Kumpels unterhalten konnte, ohne dass eines der Kinder verrücktspielte, konnte er froh sein. Doch neuerdings sorgte er sich, dass er am Ende allein sein würde. Die Arbeit erfüllte ihn, aber nicht gänzlich, und abgesehen von Melissa traf er in seiner Freizeit immer weniger Leute. Aber wollte er sich fest an sie binden? Er war sich unsicher.
»Ehrlich gesagt, scheint sie sehr nett zu sein«, fuhr seine Mutter fort. »Sie ist doch auch Anwältin. Warum zögert ihr?«
»Vielleicht, weil sehr nett nicht alles ist, was ich mir von einer Frau wünsche.«
Elizabeth nippte an ihrem Wein und musterte ihn missbilligend über den Rand ihres Glases hinweg.
»Was?«, fragte Jim und fühlte sich nicht wohl unter ihrem prüfenden Blick.
»Du hängst doch nicht etwa immer noch an diesem Mädchen?«
»Welchem Mädchen?«, fragte Jim unschuldig zurück, obwohl er genau wusste, von wem sie sprach.
»Jim, du bist ein ganz schwerer Fall von rosaroter Brille.«
»Erklär mir nicht, was ich empfunden habe«, sagte er abwehrend.
Elizabeth verdrehte die Augen. »Du hast ein Mädchen kennengelernt. Es hat nicht funktioniert. Ganz einfach. Außerdem wart ihr noch Kinder, das ist doch eine Ewigkeit her.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Dass du seit zwanzig Jahren jede Frau mit ihr vergleichst.«
Gereizt schüttelte Jim den Kopf und wollte gerade eine gepfefferte Antwort hervorstoßen, da strich ihm Elizabeth mit dem Handrücken über die Wange. Es war eine so ungewöhnlich zärtliche Geste, dass Jim verdutzt innehielt.
»Ach, Liebling«, sagte sie. »Ich will nicht, dass du dir durch eine idealisierte Vorstellung von etwas, das so nie stattgefunden hat, dein Glück verbaust.«
»Das tue ich nicht.« Er sah erst sie an, dann hinunter auf die Weinflasche. »Aber apropos, man hat mich gebeten, zur Casa D’Or zu fahren.«
Das war der eigentliche Grund für seine Schlaflosigkeit in der vergangenen Nacht. Überwältigt von den Gedanken an das Haus, von seinen Erinnerungen an sie, hatte er sich im Bett von einer Seite auf die andere gewälzt.
»Warum um alles in der Welt?«
»Simon Desai will eine geschichtsträchtige Immobilie in den Südstaaten erwerben. Ich habe ihm von dem Haus erzählt, und jetzt will er, dass ich es kaufe. Er hat mir quasi einen Blankoscheck ausgestellt.«
Elizabeth führte ihr Glas an die Lippen. »Es könnte tatsächlich zum Verkauf stehen.«
»Ach ja?«
»Hast du gehört, dass David Wyatt kürzlich gestorben ist?«
»Nein, das wusste ich nicht«, erwiderte er überrascht.
Woher hätte er das auch wissen sollen? Wyatt war ein wohlhabender, in seinen Kreisen geschätzter Mann, aber er war nicht berühmt und für die Klatschspalten nördlich von Georgia nicht von Interesse. Zudem hatte Jim so hart an Munroe gearbeitet, dass er ohnehin nichts mitbekommen hatte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeiner aus der Familie es behalten will«, fügte Elizabeth hinzu und nahm sich eine Cashewnuss. »Nicht nach allem, was dort geschehen ist.«
Jims Herz hämmerte. »Was meinst du, wem er das Haus vermacht hat?«
Elizabeth zuckte mit der Schulter. »Der Ehefrau?«
Es folgte ein Augenblick Stille.
»Du weißt doch, dass Jennifer verheiratet ist.«
Jennifer. Seit jenem weit zurückliegenden Sommer hatte er niemanden – und schon gar nicht seine Mutter – ihren Namen aussprechen hören. Es erstaunte ihn, wie sehr ihn das verwirrte, sogar jetzt noch.
Natürlich wusste er, dass sie verheiratet war. Alle paar Monate googelte er nach Jennifer Wyatt-Gilbert, normalerweise tauchte dann ein Bild von ihr auf irgendeinem Benefizessen oder bei einer Party auf. Darum wusste er, dass sie Connor Gilbert geheiratet hatte, ihre Liebe aus Kindertagen, und dass die beiden in New York lebten. Es machte ihm nichts mehr aus … na ja, zumindest nicht mehr so viel. Ganz offensichtlich führte Jennifer das Leben, das ihr bestimmt war, und in diesem Leben war er nicht vorgesehen.
»Ja«, sagte er. »Ich weiß.«
»Dann schau nach vorn, James.« Als Melissa zu ihnen in die Küche trat, zog Elizabeth bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. »Es ist höchste Zeit, findest du nicht?«