Eriksson
Oktobermeer
Erik Eriksson
Oktobermeer
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Else Ebel
© 2010 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Originaltitel: Oktoberhavet
Satz: Linna Grage
Umschlag: Tom van Endert
unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.de/JokeyEye
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-941895-02-7
DER SOHN
Es hatte die ganze Woche über geregnet, es war nicht besonders kalt, hinten auf dem Hügel am Hafen, dort wo die Campingwagen parkten, trugen die Eichen noch ihr grünes Laub. Einige Touristen waren noch da, aber die Imbissbuden waren geschlossen, die Saison war zu Ende. Tagsüber war ich mit Schreiben beschäftigt, abends saß ich am Kaminfeuer und las; ich hatte im Frühsommer einige große Kiefern fällen lassen und heizte jetzt mit deren Holz.
Eines Abends wurde ich recht spät von einem unbekannten jüngeren Mann angerufen, er sprach englisch mit einem Akzent, er entschuldigte sich, nahm an, dass er störe. Ich sagte, dass ich für gewöhnlich lange auf sei, und dass es deshalb nichts ausmache.
Der Regen hatte während des Gesprächs an Stärke zugenommen, es pladderte laut auf das Dach des Gewächshauses draußen vor dem Wohnzimmer, in dem ich saß. Natürlich war es reiner Zufall, dass der Unbekannte gerade an diesem Abend angerufen hatte, die ganze Woche hatte es geregnet. Es sollte sich jedoch zeigen, dass das Wetter für ihn von großer Bedeutung war. Der Herbstregen war wichtig.
Der Unbekannte kannte meinen Namen, er nannte mich Sir, Mister, er war auf eine altmodische Art sehr höflich. Vielleicht war er ein wenig nervös, er hatte vergessen, sich selbst vorzustellen. Ich fragte ihn nach seinem Namen.
»Anton, ich bitte um Entschuldigung, ich heiße Anton, ich komme aus Sankt Petersburg.«
»Ah, ja?«
»Ich glaube, Sie haben meinen Vater gekannt, er hat sich eine Zeitlang in Schweden aufgehalten.«
»Ah, ja?«
»Er ist im Herbst 1977 hier gewesen, auch einige Zeit im darauf folgenden Jahr, er ist von einem russischen Schiff gekommen, ja, unser Land hieß ja damals Sowjetunion, deshalb muss man wohl sagen, dass das Schiff sowjetisch war, es war ein sowjetisches Lastschiff.«
»Wie hieß Ihr Vater denn?«
»Michail Stein.«
Ich glaube, ich habe eine ganze Weile schweigend dagesessen, ich hörte, wie der Mann atmete, ich überlegte, ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Ich kannte Michail Stein, aber wie konnte diese unbekannte Person denn wissen, dass ich das alles durch einen reinen Zufall erfahren hatte? Dieser Unbekannte kam außerdem offenbar aus diesem chaotischen Russland, ich fühlte eine leise Unruhe in mir aufsteigen.
»Warum rufen Sie mich eigentlich an«, sagte ich schließlich und versuchte nicht, meine Zweifel zu verbergen.
»Ich weiß, dass ich Sie belästige«, antwortete der Mann, der sich Anton nannte, »mir ist klar, dass ich aufdringlich bin, das hier ist jedoch sehr wichtig für mich. Sie hatten Kontakt mit den Verwandten der Frau, die mein Vater hier in Schweden kennen gelernt hat.«
»Und wenn das so sein sollte?«
»Sie können mir helfen, ich bitte Sie darum, Sie könnten mir die allergrößte Hilfe sein.«
Er sprach ein gutes, allerdings etwas kompliziertes Englisch von einer Art, die wahrscheinlich in alten Übungsbüchern vorkam, er entschuldigte sich ständig, benutzte so altertümliche Wendungen wie: Could be of the greatest assistance, I urge, I would like to apologize. Ich nahm an, dass er gebildet war, er hatte eine gute Aussprache, wie sie gebildete Russen oft haben, wenn sie fremde Sprachen sprechen.
»Und was für eine Art von Hilfe, glauben Sie, kann ich Ihnen anbieten?«
»Wir könnten uns treffen, so dass ich mein Anliegen näher erläutern könnte.«
»Jetzt telefonieren wir miteinander, reicht das nicht?«
»Ich bitte Sie sehr, das hier ist von größter Bedeutung für mich, es betrifft mein weiteres Leben, es kann gar nicht überschätzt werden.«
Er wiederholte die alten englischen Wendungen, und jetzt betonte er die Wörter auf eine Art und Weise, die nicht britisch war, ich glaube sogar, dass er einmal etwas schluchzte. Ich ließ mich also überzeugen, denn ich begann zu begreifen, dass es ihm ernst war, er war vielleicht auf der Suche nach entscheidenden Fakten hinsichtlich seines Lebens. Ich wusste ja einiges darüber, was sein Vater durchgemacht und was er anderen Menschen zugefügt hatte.
»Und wenn wir uns treffen sollten, wie bald soll das sein?«
»So bald wie möglich, wenn es für Sie ginge, für meinen Teil würde ich ein sofortiges Treffen vorziehen.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»In einem Hotel in Grisslehamn.«
»Also befinden Sie sich schon hier am Ort?«
»Ich habe ein Zimmer im Hotel »Havsbadet« gemietet.«
»Dann können wir uns dort vielleicht morgen Vormittag treffen.«
»Oh, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Ich werde gegen elf dort sein, wir können eine Tasse Kaffee zusammen trinken und uns eine Weile unterhalten, Sie haben mir jedoch Ihren Nachnamen noch nicht genannt.«
»Muratov.«
»Sie tragen nicht den Namen Ihres Vaters?«
»Nein, das ist eine etwas umständliche Geschichte, die mit dem Verschwinden meines Vaters zusammenhängt.«
Ich war früh dran, spazierte durch den Hafen, betrachtete die Fischerboote, die am Kai vertäut lagen. Ein einzelner Platz war leer, ein Boot war draußen auf dem Meer. Die Fischerei lag danieder, viele schoben den Mangel an Dorsch auf die Robben, aber es gab auch eine andere Erklärung dafür: die große Ausfischung, die das Meer zerstört hatte, alle diese gigantischen schwimmenden Mähmaschinen in den Händen von habgierigen Menschen.
Die armen Fischer der Ostküste besaßen nur ihre kleinen Boote, sie kamen gegen die Konkurrenz nicht an, sie wurden aus dem Feld geschlagen. Fünf unbedeutende, lecke Kähne lagen an diesem Morgen an der Brücke, ein einziger befand sich auf dem Weg zurück vom Meer, wie immer, ohne einen Fang gemacht zu haben.
Niemand wartete am Kai, hielt den Kaffee im Bootshaus warm, schliff die Filetmesser, hoffte, niemand.
Das Hotel ist groß, es liegt am Nordabhang, hat eine schöne Aussicht über die Felsen, die Hafeneinfahrt und die roten Hütten. Es ist ein Konferenzhotel, die Büroleute kommen mit Bussen aus der Stadt, bleiben ein paar Tage, halten eine Tagung ab, essen gut, machen Spaziergänge, baden in der Sauna, trinken, klopfen vorsichtig an die Tür des Nachbarn, wachen mit Kopfschmerzen auf, tagen weiter, fahren nach Hause.
Ich ging den Pfad hinauf, schnappte nach Luft, ging das letzte Stück langsamer, nickte der Frau am Eingang zu, ich kannte sie, sie wohnt auf Fogdö. Ich sagte, dass ich jemanden treffen wolle, wurde um diese Zeit noch Kaffee serviert?
Ja, natürlich, im Speisesaal, sie würde Bescheid sagen.
Ich ging weiter durch die Hotelhalle und dachte, dass der Mann, den ich treffen wollte, vermutlich schon da sein und warten würde, da er es ja so eilig gehabt hatte.
Der Speisesaal war leer, eine Kellnerin war dabei, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen, eine Möwe flog am Fenster vorbei, drehte um, schnappte nach irgendetwas in der Luft, verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen war. Anton Muratov war noch nicht da, der Mann, den ich suchte, war noch nicht gekommen. Ich sah auf die Uhr, es war noch nicht ganz elf, ich war derjenige, der zu früh gekommen war.
Es kam mir in den Sinn, dass dieses Treffen für mich vielleicht ebenso wichtig sein könne wie für Anton. Den ganzen Vormittag über war ich recht gespannt gewesen, das merkte ich jetzt erst. Als ich den leeren Saal und die abgeräumten Tische betrachtete, fühlte ich mich richtig einsam. Ich glaube, all das Weiß hatte dieses Gefühl ausgelöst: Die Tischtücher ohne Teller und Besteck, das Licht, das durch die großen Fenster hereinfiel, die sauberen Wände. Dazu kam der noch nicht ausgelüftete Geruch der Menschen, die bis vorhin hier noch gefrühstückt hatten.
Die Kellnerin war mit einem Tablett voller Geschirr hinausgegangen. Jetzt kam sie zurück, ich hatte mich an einem Tisch am Fenster niedergelassen, sie sagte, dass sie gehört habe, dass ich Kaffee bestellen wolle.
»Wir sind zwei, ich warte auf einen Gast, der hier wohnt, er kommt jeden Augenblick.«
»Zwei Kaffee also?«
»Ja, zwei Kaffee und ein bisschen Gebäck vielleicht.«
»Gut, das geht in Ordnung.«
Sie hatte hellrote Haare. Ich folgte ihr mit den Blicken, als sie ging. Im selben Augenblick, in dem sie durch die Tür in Richtung Küche verschwand, vernahm ich Schritte vom anderen Ende des Raumes her. Ich wandte mich um und sah einen kleinen Mann auf mich zukommen, er trug einen hellen Sommeranzug, er lächelte und streckte mir beide Hände mit nach oben gerichteten, leicht gebogenen Handflächen entgegen. Ich erhob mich und ergriff eine der ausgestreckten Hände. Der Mann in dem Sommeranzug legte seine freie Hand darauf. Er schüttelte unsere drei Hände und lächelte.
»Sir, ich bin so glücklich.«
»Danke, Anton, wir können wohl unsere Vornamen gebrauchen.«
»Ich bin so glücklich, wirklich, wirklich glücklich.«
Ich machte meine Hand frei, setzte mich wieder hin, er blieb stehen und sah tatsächlich glücklich aus, ich glaube, er hatte Tränen in den Augen. Ich nahm an, dass das wahrscheinlich ein Ausdruck russischer Empfindsamkeit war; Tränen scheinen ja oft zu ihren Empfindungen zu gehören.
Wir tranken unseren Kaffee, zunächst schweigend. Anton lächelte die ganze Zeit über, dann begann er, über sich selbst zu sprechen: Er war Ingenieur, Chemiker mit Hochschulabschluss, er war verheiratet, seine Frau war Lehrerin, sie hatten zwei Kinder, Alexander und Sonia.
Ich sagte, dass ich Schriftsteller sei, Anton sagte, dass er das wisse, ich fragte, wie er das wissen könne.
»Leute, bei denen ich mich erkundigt habe, kennen Sie, und dann habe ich mich durchgefragt.«
»Aber eigentlich suchen Sie Ihren Vater?«
»Ja, das ist mein Vater, Michail Stein.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Vielleicht lebt er noch, aber ich glaube es nicht, ich hoffe es natürlich, aber ich weiß es nicht.«
»Wann haben Sie denn zuletzt etwas von ihm gehört?«
»Das ist schon lange her, er war keiner, der oft geschrieben hat.«
»Aber wie lange ist das denn her?«
»Viele Jahre sind seitdem vergangen.«
Er sah betrübt aus. Die Freude, die er gezeigt hatte, als er mich begrüßte, war verschwunden, ich meinte, wieder Tränen in seinen Augen erkennen zu können. Er nickte langsam, vielleicht um zu betonen, dass so viele Jahre vergangen waren.
Aber dann lächelte er wieder, breitete die Arme aus und hielt die leicht angewinkelten Handflächen eine Weile nach oben. Ich nahm an, dass diese Geste etwas Wichtiges unterstreichen sollte: Die angewinkelten Handflächen, ein Lächeln, ein kurzes Schweigen, eine neue Behauptung, eine Frage.
»Ich habe mit einer Dame gesprochen, mit Mrs. Bergman, sie kennt Sie, nicht wahr, Anna Bergman?«
»Ich kenne eine Dame, die so heißt, das stimmt.«
»Sie ist eine entfernte Verwandte von Mrs. Andersson, der Frau, die mein Vater in Schweden kennen gelernt hat.«
»Ja, das ist richtig, Sie sind gut informiert.«
»Ich habe lange gesucht, da das für mich wichtig ist.«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass Mrs. Andersson, Helena, keine Erben hatte, Anna musste sich um die Dinge kümmern, die nicht von ökonomischem Wert waren, unter anderem um die Tagebücher, der Hof ist laut Testament einer Stiftung zugefallen.«
»Das weiß ich nicht, aber Mrs. Bergman hat mir gesagt, dass Sie die Tagebücher jetzt haben, Sir.«
»Mir ist bestimmtes Material zugänglich gemacht worden, das ist so.«
»Haben Sie die Tagebücher gelesen?«
Er senkte die Stimme, er klang sehr ernst, als er über die Tagebücher sprach, so als ob er an ein Geheimnis rühre, und er nannte mich wieder Sir. Antons Ernst berührte mich, und ich glaube, dass auch ich meine Stimme ein wenig senkte, als ich ihm antwortete.
»Ja, ich habe die Tagebücher durchgesehen.«
»Gibt es darin eine Erklärung für das, was meinem Vater passiert ist?«
»Es ist ja Helena, die über ihr Leben geschrieben hat, aber sie hatte eine Zeitlang ein Verhältnis mit Ihrem Vater, und darüber schreibt sie auch, sogar ganz ausführlich, glaube ich. Ich habe jedoch noch nicht die Zeit gefunden, die Tagebücher genauer zu lesen.«
»Aber steht dort irgendetwas darüber, woraus hervorgeht, wohin mein Vater gegangen ist?«
»Darüber schreibt Helena sehr wenig, ich habe den Eindruck, dass sie nicht wusste, was mit Michail Stein geschehen ist.«
Anton saß schweigend da, er nickte leicht, sah betrübt aus, seine Hände lagen auf dem Tisch, er senkte den Blick, saß eine halbe Minute ganz still da.
»Sehen Sie Ihrem Vater ähnlich?«, fragte ich.
»Er war größer und kräftiger, er war stark, so habe ich ihn in Erinnerung, ich war vierzehn Jahre alt, als er verschwand. Jedoch weder ich selbst noch mein eigener Sohn sehen meinem Vater ähnlich.«
Er holte seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein kleines Foto von seinem Sohn, einem blonden Fünfjährigen in einem blauen Anzug und einem weißen Hemd mit Krawatte. Auf demselben Bild waren auch eine junge Frau und ein kleines Mädchen zu sehen.
»Ihre Frau und Ihre Kinder?«
»Ja, meine eigene Familie. Das Mädchen sieht meiner eigenen Mutter ähnlich, als sie ein Kind war. Meine Mutter hat sich wiederverheiratet, deshalb trage ich einen anderen Namen, sie hätte es nicht tun sollen, sie hätte auf meinen Vater warten sollen.«
Dann seufzte Anton tief, lächelte mich wieder an, ich hatte den Eindruck, dass er aufbrechen oder auf jeden Fall das Gesprächsthema wechseln wollte. Ich machte eine Geste des Einverständnisses: ein Nicken, ein Lächeln, eine unausgesprochene Frage: Sollen wir vielleicht gehen?
»Ist es weit bis zu dem Ort, an dem sie gewohnt haben«, fragte Anton.
»Nein, nicht besonders, ich habe ein Auto, wir können hinfahren.«
»Und die Stelle, an der mein Vater an Land gekommen ist?«
»Ja, dieser Strand befindet sich auch dort in der Nähe.«
Nach dem Mittagessen lugte die Sonne hervor. Anton sagte, dass er Regen und einen grauen Himmel vorziehen würde, zumindest im Augenblick würde er das tun, da er recht sicher sei, dass das Wetter stürmisch gewesen sei, als sein Vater an die schwedische Küste kam.
Er wiederholte den Ausdruck die schwedische Küste, denn dorthin sei sein Vater gekommen, an die steinige Küste der kleinen Inseln. Wie das Wetter damals während dieser Tage im Oktober 1977 gewesen war, wusste er, denn seine Mutter hatte es ihm erzählt. Sie hatte erfahren, an welchem Tag ihr Mann von dem Schiff, auf dem er gearbeitet hatte, verschwunden war, das Wetter war zu der Zeit im Åländischen Meer nicht anders gewesen als in der Gegend um das damalige Leningrad herum.
»Das Wetter ist in beiden Regionen oft gleich«, sagte Anton, »es war regnerisch und kalt, und es wehte ein starker Wind.«
»Als Ihr Vater verschwunden ist?«
»Oder als mein Vater sich entschloss zu verschwinden.«
»Wissen Sie denn, ob er es selbst gewollt hat?«
»Ich glaube, dass ich es weiß.«
»Wie können Sie das denn wissen?«
»Ich fühle es, denn er war mein Vater, ich trage ihn in mir. In diesem Punkt weiß ich das so sicher, wie ein Sohn es wissen kann, was sein Vater vor langer Zeit gefühlt hat.« Die Sonne wurde von Wolken verdeckt, das Wetter war jedoch ziemlich ruhig, ein schwacher Wind wehte, und auf dem Meer waren nur kleine Wellen zu sehen; als wir über die lange Brücke hinüber nach Fogdö fuhren, es regnete nicht.
Anton saß schweigend da, ich merkte, dass er sich konzentrierte, er betrachtete alles mit gespanntem Blick, ich fuhr langsam, er kurbelte die Scheibe herunter, holte tief Atem, ich sagte nichts, er war unterwegs zu einem Ort, an den er wahrscheinlich lange Zeit oft gedacht hat. Ich hatte den Eindruck, als ob der Ort, den wir jetzt aufsuchen wollten, für Anton vielleicht dieselbe Bedeutung haben könne wie ein Grab für einen Trauernden.
Am Weg war ein kleines handgeschriebenes Schild angebracht: Vävargården.
Ich wusste, dass dieses Anwesen am Meer kürzlich den Eigentümer gewechselt hatte, es wurde jetzt von einem Stockholmer Unternehmer als Sommerhaus genutzt. Ich nahm an, dass sich im Augenblick niemand dort aufhalten würde. Wenn wir trotzdem Menschen antrafen, konnten wir uns ja entschuldigen und um das Anwesen herum hinunter zum Strand gehen.
Ich konnte keine Reifenspuren erkennen, ich parkte auf einer Lichtung, langsam gingen wir das letzte Stück bis zum Tor, das ein großes Schild mit der Aufschrift Privat trug. Es waren keine Menschen zu sehen. Wir überquerten den Hofplatz, ich hatte mir ein paar Entschuldigungen zurechtgelegt, aber die benötigte ich nicht, an diesem Tag im Oktober befanden sich nur Anton und ich auf dem Vävargård.
»Hier haben sie gewohnt.«
»Mein Vater und Helena?«
»Und Helenas Mann, es waren die ganze Zeit über drei Personen.«
»Die anderen interessieren mich eigentlich nicht besonders, ich möchte nur wissen, warum mein Vater uns verlassen hat.«
»Und wo er an Land gekommen ist?«
Anton nickte, sagte jedoch nichts. Er sah auf das Meer hinaus, es rauschte recht stark, der Wind heulte in dem Kiefernwäldchen zwischen dem Haus und dem Strand. Vielleicht begann er jetzt aufzufrischen.
Wir begannen, in Richtung Wasser zu gehen. Ein kleiner Felsen mit Wacholderbüschen versperrte die Sicht, ein natürlicher Windschutz vor dem Wohnhaus, aber auch eine Behinderung der freien Aussicht. Vielleicht konnte man das Meer vom Obergeschoss aus sehen, das nahm ich an, das Haus war breit, aus Holz, rot gestrichen mit schwarzen Hausecken, Sprossenfenstern, Veranda, Mansarden, gebaut um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ein Schifferhof, an den später eine kleine Webstube angebaut worden war.
Als wir den Gipfel des kleinen Felsens erreichten, traf uns der Wind mit ziemlicher Stärke. Er hatte wirklich aufgefrischt, die Wellen, die an Land schlugen, hatten weiße Kronen.
Anton war stehen geblieben, er stand da mit halboffenem Mund, ließ den Wind Kehle und Lungen füllen. Dann streckte er die Arme aus, stand da mit gespreizten Fingern, mit auseinander gestellten Beinen, zurückgebogenem Hals und Kopf, er starrte direkt in den Himmel. Etwa zehn Sekunden stand er so da, ehe er die Arme senkte und begann, zum Wasser hinunterzugehen.
Der Strand war steinig, flach und nicht sehr gastfreundlich. Anton ging langsam auf die Wellen zu, das Wasser spritzte über seine Schuhe, er ging weiter, wurde nass, sogar die Hosen wurden nass.
Ich war etwas weiter oben stehen geblieben. Jetzt ging auch ich hinunter zum Wasser, aber ich machte ein Stück hinter Anton halt. Er wendete sich zu mir um.
»Hier ist es gewesen«, sagte er.
»Ja, wahrscheinlich hier irgendwo.«
»Nein, genau hier, ich fühle, dass er hier an Land getrieben wurde, oder schwamm, ich weiß nicht wie, aber es war hier.«
Wir blieben noch eine Weile dort stehen, ohne etwas zu sagen. Anton beugte sich hinunter, berührte das Wasser mit den Fingern, die Wellen schwappten über seine Ärmel.
Während ich Anton zurück ins Hotel brachte, wurde nicht viel geredet. Er musste sich etwas Trockenes anziehen, etwas Warmes trinken, vielleicht sich auch etwas ausruhen. Ich selbst konnte ebenfalls etwas Warmes vertragen. Ich war zwar trocken geblieben, aber ich fror, der Wind am Meer war recht durchdringend gewesen.
Ehe wir uns voneinander verabschiedeten, fragte ich Anton nach seinen Plänen für die nächste Zeit. Wenn er noch hier bliebe, könnten wir uns ja noch einmal treffen. Er antwortete, dass er bald nach Sankt Petersburg zurückkehren müsse. Ich sagte, dass es nicht unmöglich sei, dass ich Helena Anderssons Tagebücher für meine Arbeit nutzen würde.
»In einem Buch?«
»Ja, vielleicht in einem Roman.«
»Die Tagebücher haben ja nicht meinem Vater gehört, ich kann nicht verlangen, dass ich sie bekomme, das müssen Sie entscheiden. Aber wenn Sie etwas schreiben, werden Sie in diesem Fall ja auch wohl über meinen Vater schreiben? »Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen, da er offenbar einen entscheidenden Einfluss auf Helenas Leben und das ihres Mannes hatte.«
»Wenn ich etwas dazu sagen darf, dann möchte ich Sie um etwas bitten. Suchen Sie nach etwas, das das Motiv meines Vaters erklären könnte, Sie können mir vielleicht helfen zu verstehen, warum er uns verlassen hat.«
»Es kann schwer werden, Einfluss auf eine Geschichte zu nehmen. Wenn sie begonnen hat, lebt sie manchmal ihr eigenes Leben, die Gefühle und Gedanken der Figuren lassen auch oft denjenigen, der schreibt, erstaunen. Und es kann auch vorkommen, dass das Privatleben des Verfassers sich in die Geschichte einschleicht.«
»Ich weiß nicht, ob ich das verstehe, aber wenn Sie über meinen Vater schreiben, dann denken Sie daran, dass er ein sehr freiheitsliebender Mensch gewesen ist, das weiß ich mit Sicherheit. Machen Sie ihn nicht zu Ihrem eigenen Abbild.«
»Ich werde es zu vermeiden suchen, meinen eigenen Spuren nachzugehen.«
»Ich nehme an, das ist eine ganz andere Geschichte?«
»Vielleicht, aber dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Ich habe die Tagebücher zwar nur sehr flüchtig gelesen, aber ich meine trotzdem, etwas erkennen zu können, das mich an Dinge erinnert, die ich selbst erlebt habe.«
»Können Sie mir sagen, worum es sich dabei handelt?«
»Ich glaube, es hat mit einer Flucht vor der Liebe zu tun. Hier gibt es etwas, was ich noch nicht verstanden habe.«
Ich rief Anton am selben Abend im Hotel an, ich hatte mit einem weiteren Treffen gerechnet. Ich hatte noch Fragen. Er jedoch hatte sich entschlossen, früh am folgenden Tag nach Sankt Petersburg zurückzukehren. Er hinterließ mir seine Adresse, bat mich, ihn zu benachrichtigen, wenn ich irgendetwas über das Schicksal seines Vaters erfahren sollte.
In den nun folgenden Monaten habe ich Helenas Tagebücher mehrere Male gelesen, auch die Briefe und Aufzeichnungen, die sie hinterlassen hatte. Ich habe Fotos gefunden, ich bin den drei Menschen nähergekommen. Dann habe ich angefangen, ihre Geschichte aufzuschreiben.
Anton jedoch habe ich nur ein einziges Mal getroffen. Damals waren zwanzig Jahre vergangen, seit sein Vater Michail Stein an dem flachen und steinigen Strand am Åländischen Meer an Land gekommen war.
DAS TREFFEN
Wie ein fliehender Vogel
Im Laufe des Nachmittags war der steife Wind etwas abgeflaut, und Michail war klar geworden, dass er das, was er vorhatte, bald ausführen musste, in den nächsten Stunden schon. Auf jeden Fall vor Mitternacht.
Obwohl das Schiff wegen des schlechten Wetters in Landnähe vor Anker lag, waren die Wellen noch hoch. Es waren kurze Wellen mit weißen Kronen, und wenn sie gegen die rostige Schiffsseite schlugen, klang es laut und durchdringend. Michail beugte sich über die Reling, blickte hinunter auf das Wasser und horchte. Er mochte die scharfen Laute nicht, er konnte sie nicht richtig wiedererkennen, und genau das schien ihm ein wenig Unheil verkündend. Vieles von dem, auf das er sich jetzt einlassen würde, war unbekannt, die Wellen jedoch sollten ihm nicht fremd sein.
Das Meer war dunkelgrau, ein leichter Nebel lag über den Inseln und Schären, die Schiffsseiten waren braungefleckt durch Rost und darauf gekleisterte Farbe, das Wasser vom Deck war von vorn nach achtern gelaufen und bildete ein Muster von verschwommenen Linien gegen eine Hintergrundfarbe, die einmal hellgrau gewesen war.
Das ganze Schiff war hässlich, heruntergekommen, wenn es einer skandinavischen Reederei gehört hätte, wäre es vermutlich ausgemustert und verschrottet worden. Die Maschine war schlecht, viel zu schwach für die Ostsee. Eigentlich war sie ein Binnenschiff, die Volgobalt Nr. 143, gebaut 1952 in Leningrad, der Geburtsstadt Michails.
Ihm war klar, dass er diese Stadt wahrscheinlich lange nicht wiedersehen würde. Aber er hatte seinen Entschluss gefasst, er wartete auf die Dunkelheit und auf die Stunde, wo er allein an Deck sein würde. Er hatte Wache zwischen acht und zwölf Uhr, er arbeitete als Matrose.
Er war angespannt, nicht direkt ängstlich, aber sehr konzentriert. Er blieb noch eine Weile dort stehen, an die Reling gelehnt, er versuchte zu spucken, aber sein Mund war zu trocken. Er räusperte sich ein paar Mal, es gelang ihm, genügend Spucke zu sammeln, um ein wenig Schleim herauszubekommen. Er folgte dem weißen Klumpen mit den Blicken, sah, wie er sich im Wind auflöste, ehe er das Wasser erreichte.
Aber die Wellen waren vermutlich nicht das größte Problem. Die Kälte könnte schlimmer sein, die niedrige Wassertemperatur. Man befand sich in der zweiten Oktoberwoche, das Schiff lag vor der schwedischen Küste, im Åländischen Meer, zweihundert Meter vom Land entfernt, zwischen Fogdö und Singö.
Die Volgobalt Nr. 143 war mit Holz für die Herstellung von Zellstoff auf dem Weg nach Norden gewesen. Die Besatzung hatte diese Reise schon oft gemacht, von Ladoga aus zu einer der Papierfabriken an der schwedischen Norrlandküste. Dieses Mal hatten sie schon im Finnischen Meerbusen starken Gegenwind bekommen, aber da es Nordwind gewesen war, waren sie vorangekommen und in Landnähe auf der finnischen Seite gefahren. Als sie hinaus auf das Åländische Meer gelangten, wurde es schlimmer. Dort hatte der Wind an Stärke zugenommen und war auf West gedreht, als sie den Understen-Leuchtturm sahen, hatte er Sturmstärke erreicht. Das war für die Volgobalt Nr. 143 zu viel gewesen. Der Bordfunker war vom Kapitän angewiesen worden, von der schwedischen Küstenwache die Erlaubnis einzuholen, im Windschutz in Landnähe vor Anker gehen zu dürfen.
Es war ihnen ein Platz angewiesen worden. Sie waren sicher, dass sie von der schwedischen Radarüberwachung beobachtet wurden, vielleicht auch von einer Wachmannschaft an Land.
Daran hatte Michail schon gedacht. Er nahm jedoch an, dass der Radar ihn nicht entdecken könne, da er hinter den Wellenkämmen verborgen sein müsste. Und wenn er dann erst an Land gelangt war, würde er den Wachen schon entgehen können. Kein vernünftiger Mensch versuchte, in dem kalten Wasser an Land zu schwimmen, bei dem Wellengang, so spät am Abend. Die Wachen, sofern es welche gab, erwarteten keinen schwimmenden Menschen, ihre Wachsamkeit war sicher nicht besonders groß.
Er argumentierte auf diese Weise mit sich selbst, ging die Risiken noch einmal durch. Ihm war bewusst, dass er seinen Plan auf Vermutungen aufgebaut hatte, er kannte die Küste kaum, zu der er bald auf dem Weg sein würde. Aber das waren nun einmal die Voraussetzungen: unangemeldet anzukommen, unter großen Strapazen, um der Glaubwürdigkeit willen.
Es war halb fünf, er hatte Kaffee getrunken, ein Stück trockenes Brot gegessen. Um acht sollte er seine Spätwache antreten. Die erste Stunde hatte er unter Deck zu arbeiten, ihm war aufgetragen worden, Öl mit einer Handpumpe aus einem feststehenden Tank in einen Bottich zu pumpen, aber ab neun Uhr sollte er sich oben an Deck aufhalten und Ausschau halten, der Kapitän hatte es so haben wollen.
Zwischen neun und zehn sollte es also geschehen. Jetzt konnte er nur warten, die Wellen und den Wind beobachten, lauschen, sich vor der Besatzung wie immer verhalten, die alte Ausgabe einer Zeitung lesen, versuchen sich ein wenig auszuruhen.
Es war kurz nach sieben, als er die Regentropfen an den Scheiben der Achtermesse bemerkte.
Es war ein leichter Regen, trotzdem prasselten die Tropfen gegen die Fenster, denn es war recht windig. Zuerst konnte er nicht einschätzen, ob der Regen gut für ihn war.
Vielleicht gehen die Wachen nicht nach draußen, dachte er dann, falls es überhaupt Wachen gibt. Und es wird schwieriger für sie, mich zu sehen, wenn es welche gibt und wenn sie hinausgehen. Vielleicht ließen sie bei diesem Wetter noch nicht einmal die Hunde nach draußen. Er entschied sich dafür, dass er den Regen auf seiner Seite hatte.
Das Schiff lag mit dem Steven zum Land hin, die Ankerkette war fest gespannt. Nachdem die Volgobalt Nr. 143 vor Anker gegangen war, hatte sie in der ersten halben Stunde ziemlich geschaukelt, da der Anker nicht richtig Halt gefunden hatte, denn der Boden bestand laut Seekarte aus Lehm und Sand. Michail hatte die Bewegungen des Schiffes bemerkt. Er wusste, dass das geringfügige Abtreiben eine längere Schwimmstrecke für ihn bedeutete. Er hatte zwei Leuchten an Land gesehen, von Häusern oder vielleicht von einer Brückenbeleuchtung, er war nicht ganz sicher. Er beobachtete die Lichter und den Winkel zwischen ihnen und dem Schiff, sah die Bewegung vom Land weg, dachte, dass der Abstand bald zu groß sein würde.
Dann jedoch hatte der Anker Grund gefunden, die Landlichter blieben in ihrer Stellung, die Volgobalt lag mit ihrem dunklen Schiffskörper fest in Windrichtung, während sich das Abenddunkel über das Åländische Meer legte.
Michail befand sich allein an Deck. Er legte die blaue wattierte Winterjacke ab, ließ sie an der Steuerbordseite außen hinunterfallen, der Wind ergriff sie, er konnte die flatternden Ärmel noch erkennen, ehe die Dunkelheit und die Wellen die Jacke verschluckten. Die Wollmütze und der Pullover folgten nach.
Jetzt war er noch mit einem blau karierten Baumwollhemd bekleidet, mit grauen Arbeitshosen und dünnen Lederschuhen.
Dann stieg er über die Reling, hielt sich mit einer Hand fest, hockte sich hin, um den Abstand zum Wasser zu verringern, es waren vielleicht vier Meter. Er ließ los, streckte die Beine.
Die Kälte des Wassers umfing ihn unmittelbar: der Griff um den Brustkorb, um den Magen, der Schmerz an den Wangen, eine kurze Verzweiflung, schnelle Armbewegungen nach oben, das rostbraune Schiffsblech direkt vor dem Gesicht. Er stieß sich ab, gewann etwas Platz, begann, am Steven vorbei zu schwimmen, gegen die Wellen, hin zum Land.
Er konnte jedoch den Strand nicht sehen. Das war allerdings keine Überraschung, er hatte mit schlechter Sicht gerechnet. Trotzdem war das Gefühl des Ausgestoßenseins mächtig, die Wellen waren stärker, als er sich hatte vorstellen können, der Widerstand, der Wind, das kalte Wasser, das über seinem Gesicht zusammenschlug.
Er war jetzt an der Ankerkette vorbeigeschwommen, und er blickte nicht zurück. Wenn ihn jemand beobachtet hätte, dann hätte er jetzt Stimmen und Kommandorufe hören müssen, ein Scheinwerfer wäre angemacht worden. Er konnte die Topplaternen des Schiffes erkennen, man hätte ihn jedoch nicht länger sehen können, im Fall, dass man etwas bemerkt hätte. Er war im Dunkeln verborgen. In dem einsamen, lähmenden Wasserdunkel, in der furchtbaren kalten Nacht, auf dem Weg hin zu einem Strand, den er nicht sehen konnte, weg von dem Schiff, das er verlassen hatte.
Er versuchte mit langen, ruhigen Zügen zu schwimmen, rhythmisch zu atmen. Die Wellen kamen ihm jedoch entgegen, sie schlugen über ihm zusammen, und das eiskalte, peitschende Wasser klatschte ihm die ganze Zeit über gegen das Gesicht. Seine Wangen waren taub von der Kälte, er merkte, wie sich sein Hals zusammenzog, er befürchtete, dass er einen Krampf bekam.
Dann versuchte er sich mit gesenktem Kopf auszustrecken. Er atmete ein, schwamm mit kräftigem Beinschlag, lag ein paar Sekunden gestreckt da, atmete unter Wasser aus, ließ die Wellen über dem Nacken zusammenschlagen, hob schnell den Kopf und holte wieder Luft.
Er wandte sich nicht um. Er sah nach vorne, versuchte, das Land zu erkennen.
Er glaubte etwas Neues zu vernehmen, ein anderes Geräusch als das Klatschen der Wellen gegen seinen Kopf. Ein zischendes abgelegenes Geräusch von Brandung. Dieses neue Geräusch verschwand jedoch wieder.
Er drehte sich um, versuchte, eine Weile auf dem Rücken zu schwimmen.
Das neue Geräusch war wieder da. Jetzt war er sich ganz sicher, es klang wie ein Wasserfall, Gischt, Wirbel, Wellenschlagen gegen Land. Ja, das mussten die Wellen sein, die auf den Strand schlugen.
Aber er war zu eifrig geworden. Er hatte den Hals ausgestreckt, um sehen zu können, und eine große Welle über den Kopf bekommen, er hatte Wasser geschluckt, hatte zu husten angefangen, den Rhythmus verloren und war zurückgetrieben worden.
Dieser Fehler hatte Kräfte gekostet. Er vermochte nicht mehr länger ausgestreckt zu liegen und unter Wasser auszuatmen, er brauchte mehr Luft, streckte wieder den Hals nach oben und bekam erneut eiskalte Wellen gegen Kopf und Gesicht.
Er sank zurück unter die Wasseroberfläche, aber der brennende Druck auf der Brust, die Angst, die vom Luftmangel herrührte, zwangen ihn wieder nach oben. Er schlug mit den Armen aus, in einem verzweifelten Versuch, an Höhe zu gewinnen, nach oben zu kommen und Luft zu bekommen, die Lunge zu füllen. Aber er bekam hauptsächlich Schaum und Wasser ins Gesicht. Wieder versank er, noch einmal zwang er sich, nach oben zu kommen, atmete mit einem Ruck ein, versuchte, zu dem langsamen Schwimmen zurückzukehren.
Jetzt jedoch begannen seine Kräfte abzunehmen. Er konnte nur noch ein paar Schwimmzüge machen, ehe er wieder versank, hinuntergepresst von den Wellen.
Ihm wurde schwindlig, er sah nur noch eine von Blitzen durchzuckte Dunkelheit, lag nicht länger ausgestreckt im Wasser, die Beine sanken ab, die Arme waren ausgestreckt, aber er vermochte seinen Körper nicht mehr in eine liegende Stellung zu bringen.
Michail war nicht länger imstande zu schwimmen. Er war dabei zu versinken, er fühlte die eisige Kälte und die Verzweiflung.
Sein Fuß war gegen irgendetwas gestoßen. Er hatte es nicht gemerkt. Dann schlug auch das Schienbein gegen etwas Hartes, ebenso das Knie, eine scheuernde Bewegung gegen eine Felskante, dann noch ein Schlag.
Als er unbewusst das Bein anzog, schlug er mit dem anderen Fuß gegen das Harte. Er war allzu benommen, um etwas zu begreifen. Sein Bein bewegte sich, er trat im Wasser, sein Körper kämpfte, aber sein Kopf wusste nicht, was die Beine taten. Er schluckte Wasser, er erlebte das Dunkel und Todesangst, seine Füße jedoch und seine Beine hatten festen Halt gefunden, eine Klippe, einen Fels.
Die Wellen wurden zurückgesogen, die Bewegung des Wassers drehte sich, eine seichte Stelle vor dem Land hatte Strudel verursacht. Michail wurde hinausgezogen, dann wieder zurück auf die seichte Stelle zu. Er konnte knien, er strauchelte, konnte sich mit seinen ausgestreckten Armen abstützen.
Er keuchte, spuckte Wasser aus, wurde von einem krampfartigen Husten geschüttelt, spuckte Schleim aus, fühlte, wie das schneidend kalte Wasser aus seiner Nase spritzte, atmete stoßweise, schmerzhaft, fiel hin, als eine Welle ihm die Arme wegschlug, erhob sich jedoch wieder und begriff, dass er es geschafft hatte.
Er wusste, dass er nahe daran gewesen war, im Wasser zu bleiben. Er war noch nicht auf dem Strand, er war sehr müde, fühlte keine Freude, aber er wusste doch, dass er es geschafft hatte.
Jetzt stand er auf. Das Wasser stand ihm fast bis an die Hüfte. Er konnte den Strand erkennen und begann, langsam in die Richtung zu gehen.
Aber das Wasser wurde wieder tiefer. Er stand auf einem Felsen, der vor dem Strand lag. Er musste noch durch tiefes Wasser hindurch, ruhiges Wasser zwar, aber er würde wieder gezwungen sein zu schwimmen. Er merkte, dass er zitterte. Nachdem er noch ein paar Schritte in Richtung auf das tiefe Wasser hin gemacht hatte, zögerte er, sich in die Kälte zu begeben.
Er machte ein paar Schwimmzüge. Er war schwach, begann wieder zu husten. Jeder Schwimmzug bedeutete eine große Anstrengung, er zwang sich, den Kopf über Wasser zu halten, er konnte schlecht sehen, irgendetwas Graues trübte ihm den Blick, irgendetwas Graues, Dunkles, das in Schwarz überging.
Michail wusste, dass der Strand nahe war, trotzdem hatte er das Gefühl, als ob ein Meer vor ihm lag. Und er versank immer tiefer in dem Dunkel, hinein in eine betäubende Kraftlosigkeit, in der sein eigener Wille nicht länger irgendeine Bedeutung hatte.
Als er mit den Knien auf dem steinigen Untergrund aufschlug, merkte er es nicht. Als er sich die Ellenbogen an den scharfen Kanten blutig schlug, fühlte er nichts.
Die Wellen, die an der Stelle, an der Michail an Land gekommen war, den Strand erreichten, waren schwach, die seichte Stelle draußen hatte als Wellenbrecher gedient. Michail blieb vorne am Strand liegen. Er hatte Schürfwunden auf den Wangen, hatte einen Arm unter den Kopf gelegt, sein Mund befand sich über der Wasseroberfläche. Irgendwann während der Nacht war er ein paar Meter hinauf auf die am Strand wachsenden Büsche gekrochen. Dort war er recht lange liegen geblieben. Als es hell wurde, kroch er noch ein Stück weiter nach oben, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
Es regnete die ganze Zeit über, und auch der Wind war nicht abgeflaut.
Ein schlecht eingehaktes Fenster klapperte im Wind, die Gardine war vom Regen nass geworden, ein Buch war auf den Boden geworfen worden und war dort mit aufgeschlagenen Seiten liegen geblieben. Als Helena aufwachte, brauchte sie einen Augenblick, um das Geräusch einordnen zu können, nicht das Pladdern des Regens auf das Fensterblech, das war ihr vertraut, sondern das Flattern der Buchblätter auf dem Boden. Das ängstigte sie.
Einige Sekunden lang, dann hatte sie begriffen, sie stand auf, schloss das Fenster, stellte das Buch zurück. Die Unruhe jedoch war geblieben. Sie lag wach, lauschte dem Regen, der an Stärke zunahm. Sie drückte auf die Leuchttaste des Weckers: zwanzig nach eins.
Ein Zweig schlug gegen das Fenster im Erdgeschoss. Sie wusste, dass es die Eberesche war, dachte, dass die Zweige geschnitten werden müssten. Auch die Eiche draußen vor der Veranda hatte zu lange Äste, einige waren außerdem trocken. Sie nahm sich vor, möglichst bald etwas dagegen zu unternehmen.
Dann fiel ihr ein, dass sie einen fast freien Tag vor sich hatte, eine späte Unterrichtsstunde nur, mehr ein Gespräch, zwischen drei und vier. Sie konnte also im Bett bleiben, Rolf anrufen, sich Kaffee und ein Butterbrot holen, liegen bleiben und lesen.
Die Unruhe war verflogen. Sie schlief wieder ein, der Regen trommelte weiter auf das Hausdach und gegen die Fenster, die Windböen schüttelten die nassen Bäume, die um das Anwesen am Meer standen.
Sie wurde durch das Klingeln des Telefons geweckt. Im Raum war es nicht mehr ganz dunkel, und ehe sie abnehmen konnte, glaubte sie, dass sie verschlafen hatte. Im nächsten Moment jedoch fiel ihr ein, dass sie ausschlafen konnte, und sie merkte auch, dass sie den Wecker abgestellt hatte, als sie nachts den Lichtschalter gedrückt hatte. Die Uhr stand immer auf zehn nach sieben, aber manchmal rief Rolf früh an, ehe er zur Arbeit ging, in den Wochen, in denen sie getrennt voneinander lebten.
Das war jetzt eine solche Woche.
Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab, nannte seinen Namen, ehe er überhaupt etwas hatte sagen können. Vielleicht tat sie das, damit er wissen sollte, dass sie kein anderes Gespräch erwartete.
»Du hast geschlafen«, sagte er.
»Ich war gerade dabei aufzuwachen«, antwortete sie.
»Ist alles in Ordnung? Ich weiß, dass es sehr windig ist, im Radio wurde gesagt, dass bei Understen Windstärke acht herrscht.«
»Ja, es ist alles in Ordnung, das Haus steht noch, ich stehe gleich auf, und vielleicht nehme ich den Wagen hinauf zum Briefkasten, hole die Zeitungen, lege mich wieder hin und lese.«
»Hast du heute frei?«
»Fast frei.«
»Ich habe Unterricht und nach dem Mittagessen einen Vortrag vor dem Forschungsrat, aber das klappt sicher alles.«
»Du weißt, dass es klappt.«
»Ich komme am Samstagnachmittag.«
»Vorher hören wir noch voneinander.«
»Ja, mach‘s gut.«
»Du auch, und fahr vorsichtig.«
Sie blieb noch ein paar Minuten liegen, dachte an Rolfs Gesundheit, seine Abneigung, über einen Arztbesuch zu sprechen. Er hatte jedoch unbeschwert und jung geklungen, auf die Art und Weise, wie sie ihn haben wollte, und sie verspürte ein wenig Sehnsucht nach ihrem Mann.
Dann stand sie auf, zog ein Paar Wollsocken über, stopfte die Hosenbeine ihres Schlafanzugs in die Strümpfe, zog eine Jeans und eine Strickjacke an, ging hinunter in die Küche. Dort füllte sie einen Topf mit Wasser, setzte ihn auf, stellte den Herd auf die kleinste Stufe, zog eine Jacke über und schlüpfte in ihre Stiefel.
Der weiße Opel ließ sich schlecht starten, sie vermutete, dass das am Regen lag und war nahe daran aufzugeben, als er dann doch ansprang. Sie fuhr langsam den lehmigen Waldweg bis an die Kreuzung hinauf, zog die Zeitungen aus dem Kasten ohne auszusteigen, warf einen Blick auf die erste Seite der Norrtelje Tidning: Die Inselbewohner fordern eine Brücke.
Sie dachte, dass sie selbst einer der Inselbewohner der Gemeinde sei, dass sie jedoch in der Brückenfrage keine Stellung bezogen hatte. Abgesehen davon gab es in der Richtung, in die sie normalerweise fuhr, Brücken, außerdem lebte sie im Winter nicht auf Fogdö, sondern dann zog sie mit Rolf in das Reihenhaus auf Lidingö, ungerne zwar, aber sie fuhr jeden Tag mit dem Auto in die Volkshochschule auf Väddö, wo sie arbeitete.
Ginge es nach Helena, würden sie das ganze Jahr über auf Fogdö wohnen, im Vävargård, dem Ort am Meer, den sie liebte und als ihr richtiges Zuhause empfand.
Als sie in die Küche zurückkam, hatte das Wasser auf dem Herd gerade begonnen zu kochen.
Die Wohnzimmeruhr im Erdgeschoss schlug neun. Helena lag noch im Bett; sie hatte die Lokalzeitung ausgelesen, sah die Anzeigen in Dagens Nyheter durch, sie suchte ein älteres Nachschlagewerk, bemerkte ein Angebot einer frühen Ausgabe von Nordisk Familjebok, unterstrich die Telefonnummer und nahm sich vor, später anzurufen. Als sie ins Badezimmer ging, warf sie einen kurzen Blick durch das Fenster im Treppenhaus. Weit draußen in der Bucht konnte sie ein vor Anker liegendes Schiff erkennen. Es kam gelegentlich vor, dass sie bei schlechtem Wetter einen Tag lang dort draußen lagen.
Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, trank sie eine zweite Tasse Kaffee in der Küche. Es regnete nicht mehr so stark, und der Wind hatte abgenommen. Sie dachte über das Gespräch nach, das sie später am Tage mit einigen Schülern führen sollte. Sie wollten sich um Praktikantenplätze bei verschiedenen Redaktionen in Roslagen bewerben, sie unterstützte sie mit Ratschlägen, das gehörte zwar nicht zu ihren Pflichten als Lehrerin für Schwedisch an der Volkshochschule, doch sie half einem Kollegen des Medien-Zweiges und freute sich darauf.