Perry Schmidt-Leukel
Buddhismus verstehen
Geschichte und Ideenwelt
einer ungewöhnlichen Religion
Aus dem Englischen übersetzt
von Hans-Georg Türstig
Vom Verfasser bearbeitete, erweiterte
und autorisierte Ausgabe
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Titel der Originalausgabe:
Perry Schmidt-Leukel: Understanding Buddhism
© Perry Schmidt-Leukel 2006
Die deutschsprachige Übersetzung wird mit freundlicher Genehmigung
von Dunedin Academic Press Limited, Edinburgh, United Kingdom, veröffentlicht.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See
Umschlagmotiv: Mandala/Indien, © Katyau / shutterstock.com
ISBN 978-3-641-19393-5
V005
www.gtvh.de
Für Edda Brouwers
und Kim Lan Thai Thi,
die mich als Erste an die
Schätze des Buddhismus heranführten.
INHALT
Verzeichnis der Abbildungen
Liste der Abkürzungen
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vorwort zur englischen Ausgabe
Einführung
1. Buddhismus: Ein kurzer Überblick
2. Der religiöse Kontext des frühen Buddhismus
3. Siddhārtha Gautama, der Buddha
4. Der »eine Geschmack«: Befreiung
5. Viele Leben und letzte Glückseligkeit
6. Buddhistische Meditation
7. Buddhistische Ethik
8. Die Buddhistische Gemeinschaft
9. Buddhismus und Politik
10. Das Bodhisattva-Ideal
11. Das neue Verständnis des Buddhas
12. Begriff, Sprache und Wirklichkeit
13. Tantrischer Buddhismus
14. Buddhismus in China und Japan
15. Buddhismus und Moderne
Literatur
Glossar
Register
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1:
Ausbreitung des Buddhismus in Asien
Abbildung 2:
Wichtigste Schulen und ihre Hauptverbreitungsgebiete
Abbildung 3:
Der Buddha sitzt in Meditation, Symbol für seine vollendete Weisheit
Abbildung 4:
Der Buddha schreitet in die Welt, Symbol für sein vollendetes Mitleid
Abbildung 5:
Der Edle Achtfache Pfad
Abbildung 6:
Das Rad des Werdens
Abbildung 7:
Hass, Gier und Verblendung (Detail aus Abb. 6)
Abbildung 8:
Die sechs Vollkommenheiten in Beziehung zum Edlen Achtfachen Pfad
Abbildung 9:
Die Drei Buddha-Körper (trikāya)
Abbildung 10:
Die Vereinigung von Weisheit und Mitleid
Quellen
Abb. 1:
Nach microsoft® encarta® Premium Suite 2005 © 1993–2004 microsoft Corporation; Zeichnung der Karte: © Peter Palm, Berlin
Abb. 3:
Gandhara (Pakistan), 3.–5. Jh. CE, in: Jeannine Auboyer, Jean-Louis nou: Buddha. Der Weg der Erleuchtung, Freiburg-Basel-Wien: Herder 1982, no. 49.
Abb. 4:
Gandhara (Pakistan), 3.–4. Jh. CE, in: ebd. no. 78.
Abb. 6 und 7:
Buddhistische Bilderwelt von Hans Wolfgang Schumann, erschienen bei Diederichs 1986, in: Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München.
Abb. 10:
Gemälde (Ausschnitt) aus dem Pemayangste Kloster (Sikkim); Foto: Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Joachim Chwaszcza (www.editionsummit.de).
Liste der Abkürzungen
AN: Aṅguttara Nikāya
AP: Aṣṭasāhasrikā Prajñāpāramitā Sūtra
BCA: Bodhicaryāvatāra
Cv: Cullavagga des Vinayapiṭakas
CT: Caṇḍamahāroṣaṇa Tantra
Dhp: Dhammapada
DN: Dīgha Nikāya
HT: Hevajra Tantra
Itv: Itivuttaka
Jat: Jātaka
Kv: Kathāvatthu
Lv: Lalitavistara
Mhv: Mahāvaṃsa
MMK: Mūlamadhyamakakārikā
MN: Majjhima Nikāya
Mph: Milindapañha
Ms: Mahāyānasaṃgraha
Mv: Mahāvagga des Vinayapiṭakas
Ndk: Nidānakathā
NP: Netti Pakaraṇa
SN: Saṃyutta Nikāya
Sn: Sutta Nipāta
SpS: Saddharmapuṇḍarīka Sūtra (= Lotos-Sūtra)
SS: Śikṣāsamuccaya
SVV: Sukhāvatīvūha Sūtra
Thag: Theragāthā
Thig: Therīgāthā
Ud: Udāna
Vism: Visuddhimagga
Vn: Vimalakīrtinirdeśa Sūtra
(Sind sie mit einem »S.« versehen, so verweisen die neben den Abkürzungen stehenden Zahlen auf Seitenzahlen; ansonsten beziehen sich die Zahlen auf die jeweiligen Sūtren und ihre Abschnitte und Unterabschnitte.)
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
In den letzten Jahrzehnten habe ich wiederholt erfahren, dass meine auf Englisch verfassten und publizierten Arbeiten – zum Buddhismus, zum Religionsvergleich, zur interreligiösen Theologie und zu den interreligiösen Beziehungen – in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben sind. Umso mehr freue ich mich, dass das vor zehn Jahren erschienene Buch »Understanding Buddhism« nun auch einem deutschen Leserkreis zugänglich gemacht wird. Mein Dank gilt hierfür insbesondere Herrn Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, der dieses Projekt von Anfang an energisch unterstützt hat. Ebenso danke ich Herrn Dr. Hans-Georg Türstig, der mit großer Sorgfalt die Übersetzung in seine sachkundigen Hände genommen hat. Nach nochmaliger Durchsicht wurde seine Übersetzung von mir in die vorliegende, autorisierte Endfassung gebracht.
Für die deutsche Ausgabe wurde dem Titel ein neuer Untertitel hinzugefügt, der die Schwerpunkte der vorliegenden Einführung verdeutlicht. Als eine »ungewöhnliche« Religion erscheint der Buddhismus dann, wenn man »Religion«, wie in den abrahamitischen Religionen, eng mit dem Glauben an einen personalen Schöpfergott verknüpft. Denn in dieser Form findet sich ein solcher Glaube im Buddhismus nicht. Doch kennt der Buddhismus durchaus eine Schöpfungsvorstellung (die Erschaffung sukzessiver Welten durch kollektives Karma) sowie den Glauben an eine transzendente und unbedingte letzte Wirklichkeit. Den Buddhismus allein auf seine philosophischen, ethischen und psychologischen Aspekte zu reduzieren, würde weder seiner ursprünglichen Gestalt, noch den meisten seiner asiatischen Weiterentwicklungen gerecht. Daher möchte diese Einführung einen Sinn für den Buddhismus als Religion wecken, aber eben als einer aus der Perspektive der monotheistischen Religionen zunächst als »ungewöhnlich« erscheinenden Religion.
Buddhismus verstehen, das heißt unter anderem: nachvollziehbar machen, warum der Buddhismus für so viele Menschen in Asien und inzwischen auch im Westen attraktiv ist. Meines Erachtens ist dies primär auf die Stärken der buddhistischen Interpretation des Lebens und den Reichtum an praktischer Erfahrung zurückzuführen und nicht etwa auf irgendwelche Faktoren, die mit dem Buddhismus selber nichts zu tun haben. Verstehen heißt aber auch, einen Sinn für die eher problematischen Aspekte zu wecken, die – wie so oft – auch im Fall des Buddhismus eng mit seinen Stärken zusammenhängen und quasi deren Kehrseite bilden. Beiden Aspekten versucht diese Einführung Rechnung zu tragen.
Gegenüber dem englischen Original wurden einige kleinere Korrekturen vorgenommen, gelegentlich kurze Verdeutlichungen hinzugefügt sowie einige Literaturhinweise ergänzt. Diese Änderungen sind so geringfügig, dass sie nicht eigens vermerkt wurden. Auf drei Änderungen möchte ich jedoch hinweisen. Die erste ist formaler Natur und betrifft die Schreibweise der chinesischen Termini, die nun, im Unterschied zur englischen Ausgabe, durchgängig der Pinyin Umschrift folgt. Zweitens wurde am Ende des dritten Kapitels ein neuer Absatz über die Verehrung des Buddhas in der Form des Bilder- und Reliquienkults eingefügt, einer Praxis, der die englische Ausgabe zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die dritte Änderung betrifft schließlich die Deutung der bildlichen Darstellung des »Rad des Werdens« (siehe Abb. 6). Die spätere buddhistische Tradition hat das in der Radnabe dargestellte Federtier, das Symbol der Gier (Abb. 7), meist als einen Hahn und damit als ein männliches Wesen identifiziert. Dieser Interpretation folgt auch die englische Ausgabe dieses Buchs. Wie mein geschätzter indologischer Lehrer Dieter Schlingloff inzwischen jedoch klar gezeigt hat (Schlingloff, Zin, 2007), war hierbei ursprünglich an eine Turteltaube gedacht. Dies wirft eine interessante Frage auf: Werden Gier und Begehren hier besonders dem Weiblichen als Eigenschaft zugeschrieben, wie dies im alten indischen Erzählgut oft der Fall ist? Oder ist eher daran gedacht, dass das verlockende Gurren der Turteltaube das Begehren des Täuberichs weckt und somit die Frau auch hier als Versucherin des Mannes beziehungsweise des Mönchs erscheint? Und noch ein weiteres Detail ist erwähnenswert: Wie Schlingloff ebenfalls gut belegt, steht der weiße Kreis, auf den die Buddhafigur in der oberen rechten Ecke der Abbildung zeigt, ursprünglich nicht etwa für den Mond – wie es spätere buddhistische Darstellungen durch Einzeichnung des Mondhasen deuten –, sondern für das Nirvāṇa. Damit verweist diese in ihrer Grundstruktur sehr alte bildliche Darstellung der buddhistischen Lehre auf eine außerhalb des Wiedergeburtenkreislaufs liegende, transzendente Wirklichkeit, deren Existenz nach buddhistischer Überzeugung die Voraussetzung dafür darstellt, dass es aus dem Kreislauf der Wiedergeburten überhaupt eine Befreiung geben kann.
Perry Schmidt-Leukel
Münster, Dezember 2016
VORWORT ZUR ENGLISCHEN AUSGABE
Ohne das sanfte, aber unwiderstehliche Überredungstalent von Frank Whaling wäre dieses Buch nie geschrieben worden. Der Grund für mein ursprüngliches Zögern war, dass es bereits so viele Einführungen in den Buddhismus gibt. Doch vielleicht ist es ja berechtigt, diesen noch eine solche hinzuzufügen, die die religiösen Aspekte des Buddhismus hervorhebt und versucht, diese als eine echte und wesentliche Dimension des Buddhismus verstehbar zu machen.
Neben Frank gilt meine Dankbarkeit einer ganzen Reihe von Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise ihren Beitrag zum Entstehen dieses Buches geleistet haben. An erster Stelle möchte ich meine Studenten nennen. Ihre Fragen lehren uns Lehrer manchmal mehr als unsere eigenen Erklärungen – zumindest aber liegt es auch an ihren Fragen, wenn wir als Lehrer (hoffentlich) ebenfalls einige Fortschritte machen. Meine herausragenden Kollegen Ernst Steinkellner und Lambert Schmithausen haben ihr hervorragendes Fachwissen immer großzügig mit mir geteilt, wenn ich ihren philologischen Rat benötigte. Ich hoffe, dass dieses kleine Buch aus ihrer Perspektive nicht allzu viele Fehler enthält, für die ich natürlich ganz alleine verantwortlich bin. Auch Carolina Weening bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie scheute keine Anstrengung, das teutonische Englisch meines ersten Entwurfs in einen lesbaren Text zu verwandeln. Alles, was dieses Buch an stilistischer Stärke enthält, ist ihr Verdienst. Wenn sich in ihm immer noch einige ungeschickte Formulierungen finden, dann nur deshalb, weil ich auf sie bestanden habe. Schließlich, aber nicht weniger nachdrücklich, gilt mein Dank auch Anthony Kinahan vom Dunedin-Verlag, der mir, während er auf das endgültige Manuskript warten musste, sehr viel Geduld, eine wichtige Bodhisattva-Tugend, entgegenbrachte.
Bei der Umschrift buddhistischer und anderer Termini bin ich zumeist dem Oxford Dictionary of World Religions gefolgt, und wenn ich zwischen Pāli- und Sanskritformen wählen musste, habe ich in der Regel die letzteren bevorzugt.
Vor etwa dreißig Jahren brachten mir zwei außergewöhnliche Frauen, eine Buddhistin und eine Christin, zum ersten Mal den Buddhismus nahe. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Perry Schmidt-Leukel
Glasgow, Mai 2006
EINFÜHRUNG
»Glauben verstehen«, »Buddhismus verstehen« – ist das überhaupt möglich? Und wenn ja, wie? Was würde es bedeuten, den Buddhismus zu verstehen? Müsste man dazu ein Buddhist sein (oder werden)? Und von welcher Art Buddhismus sprechen wir eigentlich? Gibt es nicht viel zu viele unterschiedliche Arten von Buddhismus? Ist er nicht eine extrem vielgestaltige Religion, die in Thailand oder Sri Lanka ganz anders aussieht als etwa in Japan, Korea oder Tibet – ganz zu schweigen von Europa oder Amerika? Ist diese Vielfalt nicht viel zu groß, als dass man sie »verstehen« könnte? Und ist der Buddhismus heute nicht ganz anders, als er es zu Anfang vor ungefähr 2500 Jahren war? Wie viel müssen wir über die Geschichte dieser facettenreichen Religion wissen, um sagen zu können, dass wir zu einem gewissen Verständnis gelangt sind?
Solche Fragen sind völlig berechtigt, und es ist wichtig, sich ihnen von Anfang an zu stellen, um sich unmissverständlich darüber im Klaren zu sein, dass wir niemals so etwas wie ein allumfassendes Verständnis des Buddhismus erreichen können (auch nicht die fachkundigsten Experten). Außerdem sollten wir uns dessen bewusst sein, dass der Buddhismus (und in einem ähnlichen Sinn jede Religion) aus zwei grundlegenden Komponenten besteht. Zum einen sind dies die Buddhisten: die wirklichen, konkreten Menschen. Sie lebten und leben unter dem Einfluss und mit der Inspiration der zweiten Komponente, der buddhistischen Tradition. Wilfred Cantwell Smith (1916-2000) betonte, dass das, was wir gewöhnlich als »eine Religion« bezeichnen, im Wesentlichen aus diesen beiden Elementen besteht: der »kumulativen Tradition« und dem »persönlichen Glauben« all jener, die in der jeweiligen Tradition leben (siehe Smith, 1978). Der Begriff »Tradition« umfasst hier die Schriften, Lehren, Glaubenssätze, Philosophien, Regeln, Vorschriften, Institutionen, Gebäude, Rituale, Gesänge, Gebete, Gewohnheiten, Kunstwerke usw. – also alles, was man als Gegenstand der Geschichte beobachten und untersuchen kann. Demgegenüber bezeichnet »Glaube« das, was die Tradition den einzelnen Personen jeweils bedeutet, oder besser noch: was ihnen das Leben selbst im Licht der jeweiligen Tradition bedeutet. Durch ihren persönlichen, existenziellen Glauben stellen Menschen eine Beziehung zwischen sich und dem her, was sie als Realität wahrnehmen und was sie als letzte, transzendente Wirklichkeit akzeptieren. Glaube und Tradition sind wechselseitig voneinander abhängig. Der Glaube drückt sich in einer konkreten religiösen Tradition aus. Deswegen verändert und transformiert sich die Tradition ständig, mit jeder neuen Generation, die in diese Tradition eintritt, und mit jeder neuen Umgebung, in die die Tradition vordringt. Ohne den Glauben würde die Tradition sterben. Umgekehrt prägt und nährt die Tradition jedoch auch den Glauben. Ohne die Inspiration einer lebendigen Tradition wäre der Glaube von seinen wichtigsten Ressourcen abgeschnitten: den Erfahrungen und Gedanken ganzer Generationen von Menschen, die in der Tradition aufbewahrt und verdichtet wurden und die deshalb dazu dienen können, andere Menschen mit derselben letzten Wirklichkeit in Kontakt zu bringen, auf die jene früheren Generationen ihr Leben ausgerichtet haben.
Das, woraus eine religiöse Tradition besteht, lässt sich unmittelbar beobachten und studieren. Glaube hingegen kann auf diese Weise nicht untersucht werden. Und doch ist es unerlässlich, den Glauben zu verstehen, wenn wir die entsprechende Tradition verstehen wollen. Denn andernfalls verfehlen wir das eigentliche Herz der Tradition. Wir müssen verstehen, was die Tradition den wirklichen Menschen, die ihr folgen, bedeutete und immer noch bedeutet. Es geht also darum, Menschen zu verstehen. Aber um die Menschen zu verstehen, müssen wir sie so verstehen, wie sie sich selber verstehen. Andernfalls haben wir nicht sie verstanden. Heißt das, dass wir ihren Glauben teilen müssten, um sie verstehen zu können? Einige Religionswissenschaftler, wie zum Beispiel Raimon Panikkar (1978, S. 9f.), haben tatsächlich darauf bestanden, dass wir nur dann den Glauben anderer so verstehen können wie sie selbst, wenn wir von der Wahrheit ihres Glaubens überzeugt sind. Ich halte diese Auffassung für übertrieben, denn sie würde bedeuten, dass es unmöglich ist, den Glauben eines anderen zu verstehen und ihn doch gleichzeitig als falsch abzulehnen. Nach Panikkar wäre jede Ablehnung eines Glaubens darauf zurückzuführen, dass man ihn nicht versteht. Doch diese Konsequenz ist eindeutig absurd, denn sie lässt keinen Raum für eine Ablehnung, die zugleich sachkundig und berechtigt ist. Allerdings betont Panikkar zu Recht, wie wichtig es ist, die Dinge aus der Perspektive des Insiders, mit dessen Augen, zu betrachten. Um Wilfred Cantwell Smith zu zitieren (1997, S. 132f.):
... will man den Glauben der Buddhisten verstehen, so darf man nicht auf das blicken, was »Buddhismus« genannt wird. Vielmehr sollte man, soweit wie möglich, auf die Welt blicken, und zwar mit buddhistischen Augen. Um das zu können, muss man die Einzelheiten dessen kennen, was ich die buddhistische Tradition genannt habe ...
Diese Behauptung beruht auf zwei sehr wichtigen Prämissen. Zum einen müssen wir uns die buddhistische Tradition ansehen, um durch sie hindurch sehen zu können. Wir müssen verstehen, wie diese Tradition Buddhisten quasi als jene Brille diente, durch die sie ihr Leben und ihre Welt betrachteten. Zum anderen, wie Smith an anderer Stelle (1979, S. 137) sagte, sind irgendwelche Wahrheiten, die sich dabei vielleicht finden lassen, streng genommen, keine buddhistischen, sondern kosmische Wahrheiten, keine Wahrheiten im Buddhismus, sondern Wahrheiten im Universum, wie Buddhisten sie gesehen haben.
Von diesen beiden Prämissen lasse ich mich in den folgenden Kapiteln leiten. Das heißt, zum einen konzentriere ich mich auf grundlegende buddhistische Einblicke in das Leben, in seine existenziellen Herausforderungen, seine Hoffnungen und seine Verheißungen, weil ich an den Wahrheiten interessiert bin, die Buddhisten hier möglicherweise entdeckt haben. Zum anderen befasse ich mich mit den historischen Kontexten und Entwicklungen buddhistischer Ansichten. Ich zeige auf, wie die buddhistischen Ideen miteinander vernetzt sind und welche innere Logik meines Erachtens hinter ihrer geschichtlichen Weiterentwicklung steht. Ich gehe dabei freilich recht selektiv vor. Angesichts des hohen Alters dieser Tradition und der überaus vielfältigen Formen, die der Buddhismus innerhalb der unterschiedlichen Kulturen angenommen hat, in denen er sich ausbreitete, ist dies unvermeidlich. So konzentriere ich mich mehr auf die formative Periode und nicht so sehr auf die späteren Entwicklungen. Denn was später kam, lässt sich dann am besten verstehen, wenn man weiß, wie es vorher war. Und ich befasse mich mehr mit buddhistischen Ideen als mit praktischen oder soziologischen Aspekten. Das ist ein eher konservativer Ansatz, der heute oft als antiquiert, wenn nicht sogar als überholt abgelehnt wird. Aber ich habe mich dennoch für diesen Ansatz entschieden, weil ich davon überzeugt bin, dass unsere Praxis ganz erheblich von unseren Ideen bestimmt wird. Außerdem ist es in jedem Fall einfacher, eine Praxis mit Hilfe der ihr zugrunde liegenden Ideen zu verstehen als umgekehrt. Ich lehne das marxistische Dogma ab, dem sich heute so viele Soziologen verschrieben haben, wonach Religionen lediglich das Produkt und Epiphänomen ihrer sozialen Umgebung und der ökonomischen Bedingungen seien. Zweifellos sind Religionen in nicht unerheblichem Maße auch durch ihren sozio-ökonomischen Kontext bedingt, aber das Gegenteil ist nicht weniger wahr: Religionen haben ihrerseits Gesellschaften geprägt und verändert. In jedem Fall liefern soziologische Deutungen keine erschöpfende Erklärung für unser religiöses Leben.
In einer anderen Hinsicht bin ich jedoch weit weniger konservativ: Ich teile nicht die in den Religionswissenschaften vielfach immer noch vorherrschende Ansicht, dass ein Wissenschaftler eine vollkommen neutrale und objektive Darstellung des Forschungsgegenstandes bieten muss. Ich glaube, dass es (zumindest im Bereich der Religionen) unmöglich ist, vollkommen objektiv und neutral zu sein. Selbstverständlich dürfen wir die religiösen Ideen und das konkrete Datenmaterial, mit dem wir uns beschäftigen, nicht absichtlich verfälschen. Aber wenn wir versuchen, eine bestimmte Religion zu verstehen, sind es doch immer wir, die das tun. Und wir sind kein unbeschriebenes Blatt. Wenn wir tatsächlich versuchen, die Welt mit buddhistischen Augen anzuschauen, und das, was wir dabei sehen, ernst nehmen, wenn wir uns den buddhistischen Ansichten aussetzen und versuchen, zu begreifen, was Buddhisten verstanden haben, dann wird uns dies persönlich berühren und herausfordern. Unsere eigene Persönlichkeit ist also immer ein konstitutiver Bestandteil dieses Verstehensprozesses, und die Frage, was all dies für unser eigenes Leben bedeuten könnte, wird immer irgendwie in der Luft liegen. Diesen Sachverhalt sollten wir weder leugnen, noch ignorieren, noch ausklammern, sondern damit ganz offen und bewusst rechnen. Während also Objektivität und Neutralität meiner Meinung nach illusionäre Ziele darstellen, so können und sollten wir uns jedoch um Aufrichtigkeit und eine reflektierte Subjektivität bemühen.
Zweifellos sind auch meine eigene Wahrnehmung des Buddhismus und meine fortdauernden Bemühungen, Buddhisten zu verstehen, durch meinen persönlichen Hintergrund beeinflusst, der primär vom Christentum geprägt ist. Seit über zwanzig Jahren ist jedoch mein eigener spezifischer Weg des Christseins auch von dem durchdrungen, was ich aufgrund meiner Beschäftigung mit dem Buddhismus und durch meine tiefe Faszination für diese spirituell und intellektuell reiche Tradition gelernt habe. Manche mögen der Ansicht sein, dass mich dieser christliche Hintergrund daran hindert, den Buddhismus angemessen zu verstehen. Meinerseits bezweifele ich demgegenüber ernsthaft, dass der atheistische, naturalistische, materialistische oder säkulare Hintergrund vieler Zeitgenossen aus dem Westen (und sogar einiger asiatischer Buddhisten, die stark vom Westen beeinflusst sind) eine bessere Voraussetzung für das Verständnis des Buddhismus bietet. Natürlich war der Buddha kein »Theist« im Sinne eines Menschen, der an einen personalen Schöpfergott glaubt. Aber der Buddha war auch kein Anhänger der Cārvākas, jener frühen indischen Materialisten und Atheisten, die es unter seinen Zeitgenossen gab. Ganz im Gegenteil: Der Buddha hielt die Lehren der Cārvākas für unheilsam, denn sie leugneten universelle moralische Gesetze, ein Leben nach dem Tod, karmische Vergeltung und die endgültige Erlösung in einer und durch eine letzte transzendente Wirklichkeit. Der Buddha stellte und stellt immer noch für Theisten und Atheisten gleichermaßen eine Herausforderung dar.
Jeder Versuch, den Buddhismus zu verstehen, wird sich auch kritisch mit dem auseinanderzusetzen haben, was sich dabei als Missverständnis des Buddhismus darstellt. Historisch gesehen ist die westliche Kenntnis des Buddhismus noch ziemlich jung. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begann im Westen das wissenschaftliche und philosophische Studium des Buddhismus. Die ideologischen Konflikte der damaligen Zeit haben die abendländische Wahrnehmung des Buddhismus erheblich beeinflusst, und das führte zu einer Reihe von Missverständnissen, die bis heute in hohem Maße auf das Bild des Buddhismus einwirken. So verstand beziehungsweise missverstand man den Buddhismus als Materialismus, Nihilismus, Pessimismus, Eskapismus usw. Bisweilen waren westliche Interpreten des Buddhismus äußerst zögerlich, wenn es darum ging, ihre einmal gefassten Ansichten zu korrigieren, selbst wenn eine verbesserte Kenntnis der buddhistischen Tradition dies notwendig machte. Als beispielsweise Max Weber sein berühmt-berüchtigtes Urteil vertrat, der Buddhismus sei das Paradebeispiel einer »asozialen« Religion, vernachlässigte er dabei bewusst die Rolle des Saṅghas (der buddhistischen Gemeinschaft) und des »rechten Lebenserwerbs« für den buddhistischen Erlösungsweg (siehe Weber, 1958, S. 213-221). Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Albert Schweitzer war der Auffassung, die buddhistische Ethik sei vollkommen passiv und nicht in der Lage, Menschen zu wohltätigen Handlungen zu motivieren. Als er dann auf jenen kanonischen Bericht stieß, wonach der Buddha sich eigenhändig um einen schwer kranken Mönch kümmerte und seine Schüler anwies, seinem Beispiel zu folgen, zog Schweitzer den Schluss, dass der Buddha hier entgegen seiner eigenen Lehren handelte (siehe Schweitzer, 1936, S. 114). Viele solcher Klischees bestehen nach wie vor. Beispielsweise charakterisierte Papst Johannes Paul II. in seinem Buch Die Schwelle der Hoffnung überschreiten den Buddhismus als »eine fast ausschließlich negative Soteriologie«. Aber es haben sich auch neue Klischees entwickelt, die den Buddhismus als eine leichte und einfache Pop-Religion präsentieren, als Spiritualität ohne Dogmen und Glaubenssätze, ohne Vorschriften und Gebote, immer friedfertig und tolerant gegenüber fast allem; oder als gar keine Religion, sondern als eine Art Weisheits-Psychologie, als Lifestyle oder modische Weltanschauung, besonders geeignet für den etwas erschlafften, aber wohlhabenden, postmodernen Intellektuellen. Ich hoffe, dass der folgende Versuch, Buddhismus zu verstehen, auch einen Beitrag dazu leisten wird, zumindest einige dieser Missverständnisse auszuräumen.
Literaturhinweise: Cahill (1982); Panikkar (1978); Smith (1981); Smith (1997); Streng (1985).