O. S. Marden

 

Der Weg der Liebe

Impressum

„Der Weg der Liebe oder Wert und Wesen des praktischen Christentums“ von O. S. Marden

Erstveröffentlichung: 1920

Cover, Überarbeitung: F. Schwab Verlag

Neuauflage: F. Schwab Verlag – www.fsverlag.de sagt Danke!

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1. Eine Einladung.

Wenn dein Leben infolge eines qualvollen, von den Ärzten als unheilbar bezeichneten Leidens dahinsiechte und ein Meister der ärztlichen Kunst träte auf mit der Erklärung, eine „unheilbare Krankheit“ gebe es gar nicht, er bürge dafür, dich und alle Kranken, die zu ihm kommen, zu heilen, würdest du nicht zu ihm gehen?

Bist du je in deinem Leben dir darüber klar geworden, daß eine persönliche Einladung an dich ergangen ist von einem, der dich von all deinen Gebrechen, den körperlichen wie den geistigen, befreien kann, der alle dir gestellten Fragen, auch die schwierigsten, zu lösen im Stande ist?

„Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Ist das nicht eine persönliche Einladung von dem göttlichen Arzte, der Liebe? Nimmst du sie an, ganz in dem Sinne, wie sie gemeint ist, so wirst du des Friedens teilhaftig werden, der „alles Denken übersteigt“. Deine Sorgen und Kümmernisse werden zerrinnen, wie der Schnee in der Sonne zerrinnt.

Bist du von schmerzlicher Krankheit heimgesucht oder von drückender Armut, von aufreibenden Widerwärtigkeiten oder ungerechter Verfolgung, von selbstverschuldeter oder unverschuldeter Schande — kurz, von einem der tausend und abertausend Übel, welche die Welt mit Unglück und Elend füllen, dann vernimm den Ruf der Liebe und folge der göttlichen Einladung.

Unsre Zeit gibt dieser Einladung einen neuen Sinn. Sie läßt die Worte Christi auf jede Frage anwenden, die der Menschen Herz und Sinn bewegt. Seine Einladung steckt sich keine Grenzen, sie ist die Stimme der göttlichen Liebe, die uns zuruft:

„Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch die Last abnehmen, die euch drückt, denn ich will euch einen neuen Geist einhauchen. Was euch Knechtschaft und Sklaverei dünkt, will ich in Arbeits- und Berufsfreudigkeit verwandeln; ich will euch umkehren, so daß ihr euer Antlitz dem Lichte zuwendet, daß eure Schatten euch nicht mehr quälen, da sie rückwärts von euch fallen werden.

Kommet her zu mir, ich will den Alp der Furcht, der euch bisher zu Sklaven gemacht hat, von euch nehmen und euch befreien von aller Angst und Wirrnis, die eure Tatkraft gelähmt und Zwerge aus euch gemacht hat, die ihr hättet Riesen werden können. Ich will die Furcht vor dem Tod, vor Krankheit und erblicher Belastung von euch nehmen und jeglichen Kleinmut, der euch am Boden hält und euren Geist am Aufschwung hindert, bannen.

Kommet her zu mir, ihr, die Siechtum, Schwäche, leibliche Gebrechen irgend welcher Art hindern zu tun, wozu das Herz euch treibt, ich will euch zeigen, wie man gesund und stark wird. Ihr werdet erfahren, daß, wer Gottes Kind und also eins mit dem Vater ist, nicht krank, schwach oder elend sein kann, es wäre denn, daß sein Denken sich auf falschem Geleise bewegt. Die Wahrheit und Wirklichkeit eines Wesens, das göttlicher Art ist, kann weder dem Schmerz noch der Vernichtung anheimfallen.

Kommet her zu mir, alle, die ihr in den Schiffbrüchen des Lebens müde geworden seid, ich will euch die Wahrheit geben, die frei macht von allen Schranken, auch den Schranken der Armut, des Mißgeschicks und des Fleisches; denn der Geist ist's, der den Sieg behält.

Kommet her zu mir, deren Träume und Hoffnungen im Keime erstickt, deren Ideale grausam zerstört worden sind; ich will euch neue Kraft und neues Leben geben und die Sonne eines hoffnungsreichen Lenzes wieder über euch leuchten lassen.

Kommet her zu mir, alle, die ihr in der Nacht der Verworfenheit und der Verzweiflung dahinwandelt, und ich will einen neuen Geist in euch geben und ein neues Licht auf eurem Pfade anstecken. Ich will eure Seelen mit Ruhe und Glanz überfluten, wie er nirgends, weder zu Wasser noch zu Land, je geschaut worden ist.

Kommet her zu mir, alle, die ihr in der Erkenntnis eurer eigenen Mängel blöde und schüchtern, voll Selbstunterschätzung und Mißtrauen gegen euch selbst seid, die ihr keinen Glauben an euch habt, und ich will euch zeigen, wie ihr von all diesen Schwächen loskommen, all die Fehler ablegen möget, die das Selbstvertrauen in Ketten legen, euch Kraft und Glückseligkeit rauben und alle Anstrengungen, euer Bestes zu tun und in bestem Licht zu erscheinen, zu schanden machen.

Kommet her zu mir, alle, die ihr in Hader und Streit verwickelt oder von Haß und Verleumdung, Neid und Eifersucht verfolgt seid; ich will euch lehren, daß ihr Brüder seid, und ihr könnt einander nicht bekämpfen, wenn ihr die Wahrheit über eure Verwandtschaft erfahret, ihr könnet einander nicht hassen, beneiden und beleidigen, ohne euch selbst zu hassen, zu beneiden und zu beleidigen.

Kommet her zu mir, alle, die ihr habgierig und geizig seid, ich will euch einen bessern Weg weisen und Güter zeigen, die besser lohnen als Gewinnsucht, und unendlich höhere Befriedigung gewähren als der Eigennutz. Ihr werdet euch eurer Selbstsucht schämen und sie hassen, so daß es euch Pein bereiten wird, im Luxus zu leben, während eure Schwestern und Brüder darben und frieren.

Kommet her zu mir, alle, ihr Opfer des Wankelmuts, des Zweifels und der Unentschlossenheit, die ihr die Dinge tausendmal abschätzt und abwägt; ich will euch lehren, den Willen zu stärken und die Unbeständigkeit zu überwinden.

Kommet her zu mir, alle, die ihr der Versuchung ins Garn gegangen seid, die ihr schwere Vergehen begangen und für eure Verbrechen von der Hand des Richters harte Züchtigung erfahren habt; ich will eure Seelen waschen, daß sie weißer werden denn der Schnee, und euch zeigen, daß, was immer eure vergangenen Tage belastet, ihr alles wieder gut zu machen vermöget. Ihr werdet erkennen, daß das Ebenbild eures Schöpfers unberührt geblieben, daß es niemals entstellt oder befleckt worden ist, daß der innerste Kern eures Wesens auch heute noch so vollkommen, rein und echt ist, wie er es ehedem war.

Kommt her zu mir, alle, die ihr die Hefe der Menschheit bildet, ihr Obdach- und Heimatlosen, ihr Bettler und Parias der Gesellschaft. Ich werde die Welt zu einem Paradies für euch machen, und ihr werdet Wunder über Wunder an euch selbst erleben, Dinge, die wunderbarer sind als die Auferweckung der Toten; und das größte Wunder wird die Erkenntnis sein, daß ihr unermeßliche Schätze in euch selbst berget, Reichtümer, die eure kühnsten Träume überbieten und nie verloren gehen können, weil sie göttlichen Ursprungs sind.“

Die Liebe ist der mächtigste Hebel der Welt. Keine andere Macht hat je so gewaltige Wirkungen erzielt bei denen, die ihr Leben verpfuscht und ihr Glück weggeworfen, die ihre Tage in Unwissenheit, Sünde und Laster vergeudet haben. Die Liebe verdammt nicht und urteilt nicht; sie straft nicht und ächtet nicht. Das ist nicht der Liebe Weg. Zum schlimmsten Verbrecher, zum verworfensten Sünder sagt sie einfach: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Das ist ihr ganzer Richterspruch.

Der Liebe Weg ist Christi Weg. Sie sagt: „Liebe deine Feinde; segne, die dir fluchen.“ „Wer sich glaubt ohne Sünde, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Unter dieser Voraussetzung kann keiner einen Stein aufheben, weil keiner ohne Sünde und Schwachheit ist.

Die Liebe ist die einzige Macht des Weltalls, die sagen kann: „Ich bin die Wunderkraft, welche die Bildung und Zivilisation möglich gemacht hat. Ich habe das Menschengeschlecht von der Stufe des Affen zu seiner jetzigen Entwicklung emporgeführt und will es zu Höhen emportragen, von denen sich niemand träumen läßt.

Ich bin die Macht, die den Menschen befähigt, sein wahres und wirkliches Selbst zu entdecken, die den rohen und ungebildeten Wüterich zu einem zartgesinnten, warmherzigen und liebevollen Gatten und Vater umwandelt.

Ich bin der Geist, der die Fabriken reinlicher, heller, gesünder macht; d. h. zu Orten, wo Menschen leben können. Der Geist, der den Angestellten Glück, Tatkraft und Zufriedenheit gibt.

Meine Aufgabe auf Erden ist zu helfen, zu heilen, aufzurichten, Herz und Sinn aller Kinder Gottes zu erfreuen. Ich bin der barmherzige Samariter, der die Wunden verbindet, an denen die selbstsüchtigen und hartherzigen Pharisäer und Leviten mitleidlos vorübergehen. Ich bin der Geist, der im Roten Kreuz, in der Heilsarmee und in allen übrigen Einrichtungen der Barmherzigkeit tätig ist. Ich bin das Rückgrat aller Bestrebungen, welche die Verbesserung der Welt und den Aufstieg des Menschengeschlechts zum Ziele haben.

Ich bin das große Grundgesetz des Fortschritts, die „Wahrheit, die euch frei macht“. Ich bin das Wesen aller wahren Religion, der Kern alles dessen, was die verschiedensten Glaubensbekenntnisse an unverlierbarem Wert besitzen. Ich bin der Geist des Christentums, die goldene Regel des Sittengesetzes, die Kraft, welche menschliche Wesen zu einer großen und würdigen Arbeits- und Lebensgemeinschaft verbindet.

Ich bin der Geist des Mutes, der die Feigheit bannt und die Verzagten vorwärts schreiten heißt, wenn sie rückwärts gehen möchten. Ich wende mich ganz besonders an die Niedergedrückten und Ausgestoßenen, an die Entmutigten, die sich selbst für Nullen halten. Ich bin die Freundin der Niedergetretenen, der Vergessenen und Verzweifelnden. Ich bringe ihnen neue Hoffnung, neuen Mut und neues Leben.

Ich bin die Kraft, welche die Sklaven aller Nationen befreit und allen Menschen die Freiheit des Gewissens und des Denkens gebracht hat; die Kraft, die in dem hartherzigen Sklavenhalter und Tyrannen menschliche Regungen wachruft, die seine Selbstsucht und Habgier ertötet und ihm zeigt, daß alle Menschen Brüder sind; die Kraft, die dich lehrt, daß dein Nächster dir so nahe steht wie du selbst, und daß du ihn darum lieben mußt wie dich selbst.

Ich bin's, die segnet, wo andere fluchen; liebt, wo andere hassen; vergißt und vergibt, wo andere nachtragen und verdammen. Ich bin's, die nachgibt, wo andere streiten; ich bahne der Gleichheit und Gemeinsamkeit des Besitzes den Weg, indem ich den Neid und die Habgier ersticke. Ärger und Haß, Mißgunst und Eifersucht, Bitterkeit und Unzufriedenheit verschwinden in meiner Gegenwart, die alles mir Wesensfremde tötet.

Ich bin die heilsame Kraft, welche die streitsüchtigen und neidischen Nachbarn verwandelt und den Traum der menschlichen Bruderschaft verwirklicht. Ich schlichte Familienzwiste und mache uneinige Partner zu Freunden. Dem verletzenden Spott und der grausamen Schmähung nehme ich den Stachel und lösche das Feuer des wild aufbrausenden Temperaments. Ich versöhne allen Groll und Haß und tilge alle Verleumdung und Bosheit.

Ich bin's, die im Allerheiligsten Gottes wohnt; der Wunderbalsam für die Völker, der Balsam von Gilead für alle menschlichen Leiden. Ich bin das göttliche Verstehen, das die Mutter in ihrem verworfenen Sohne nicht den Verbrecher sehen läßt, sondern den gotthaften Menschen, den der Schöpfer wollte und der immer noch aus ihm werden kann. Wenn irgend jemand den Ausgestoßenen verdammt, so rufe ich Halt und sage: „Warte zu, noch lodert der göttliche Funke in einem verborgenen Winkel seines Herzens.“

Ich bin die Trösterin der Verurteilten, welche den Gefangenen in seinem Kerker aufsucht und ihn der Verzweiflung entreißt. Von mir stammt der Sonnenstrahl, der in die Nacht der Verurteilten dringt, ihren Schmerz lindert, in den Verlorenen neue Hoffnung weckt und ihrer Seele neuen Schwung verleiht.

Ich bin der geheiligte Bote, der euch bei eurer Geburt als Führer durchs Leben, als Schutzengel, Freund und Berater zugesellt wurde. Seid ihr von mir gewichen und irre gegangen auf des Lebens Pfad, so kommt zurück; ich will euch Kraft geben zur Umkehr und zum Beginn eines neuen Lebens und euch das werden lassen, wozu euch Gott bestimmt hat.

Ich will euch zeigen, daß Armut und Unglück, Schande und Verbrechen dem göttlichen Kern im Menschen nichts anhaben können; daß das Ebenbild Gottes im Menschen vollkommen und unsterblich, daß es ohne Anfang und ohne Ende ist. Keine Macht der Erde kann es darum dem Menschen rauben, keine es beschmutzen oder beschädigen, da die Gottheit im Menschen gegen jeden Unstern und jedes Mißgeschick gefeit und gewappnet ist. Sie ist unzerstörbar.

Ich bin Gottes Stimme und rufe seinen Kindern zu: „Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ihr werdet Ruhe finden für eure Herzen.“

2. Versuche es mit dem Weg der Liebe.

Jemand, der es im Kampf des Lebens mit dem Weg der Liebe versucht hat, sagt darüber: „Die Liebe wirkt wie Zauberei, sie ist ein unfehlbares Mittel gegen Sünde, Siechtum und Elend, sie bringt Gesundheit und Gedeihen mit sich.“

Wenn diejenigen unter uns, die in Mißhelligkeiten sich befinden, ernstlich einmal — und wäre es auch nur für ganz kurze Zeit — den Weg der Liebe beträten, sie kämen wohl nie wieder in Versuchung, zu den Wegen des Zanks und Streits, der Eifersucht und des Splitterrichtens oder gar denen der Tyrannei und Menschenschinderei zurückzukehren.

Warum wolltest du es nicht auf einen Versuch ankommen lassen? Du, den seit Jahren Jähzorn, Furcht, Haß und böser Wille martern und in Stücke reißen; der du durch Selbstmord dein Leben schon um eine Reihe von Jahren gekürzt hast, warum solltest du all diesen Übeln nicht den Rücken kehren und den Weg der Liebe betreten?

Ihr, deren häusliches Leben eitel Enttäuschung bedeutet; ihr Ehemänner und Hausfrauen, die ihr ewig hadert und niemals erfahren habt, was Frieden und Eintracht für ein Hauswesen bedeuten, versuchet es mit der Liebe. Sie wird euch nicht irreführen. Sie wird die Falten eurer Stirn glätten, euer Haus mit neuem Geist, eure Augen mit neuem Licht und euer Herz mit neuer Hoffnung und neuem Frohsinn füllen.

Ihr, deren Leben bisher einsam und unfruchtbar verlaufen; ihr Zweifler, Schwarzseher und Sauertöpfe; ihr, die ihr nur den Weg der Selbstsucht und Habgier eingeschlagen, die ihr euch nur um euer eigenes Wohl und Wehe gekümmert, die ihr euch in Kampf und Qual aufgerieben habt; ihr, deren Tage gefüllt sind mit Bangigkeit, Scheelsucht und Zwistigkeiten aller Art, warum solltet ihr nicht den Weg der Liebe einschlagen?

Alle andern Wege haben euch nicht zum Glück geführt. Der Weg der Selbstsucht wird es nie, da er dem Gesetze Gottes und den ewigen Grundsätzen der Natur widerstreitet. Nicht also der Liebe Weg: er steht im Einklang mit allem, was wahr und schön ist, und er führt immer zum Ziel. Die Liebe wird all eure Knoten entwirren und all eure Rätsel lösen. Darum versuchet es mit dem Weg der Liebe bei jedem Gram und jeder Sorge, bei jeder Schwierigkeit, die euch in den Weg tritt.

Ihr Mütter, denen ein gram- und kummervolles Leben ins Gesicht geschrieben ist, die ihr euch abmühet, eure Kinder mit Schelten und Schlägen, mit Püffen und Stößen zu erziehen, wollt ihr statt dessen es nicht mit der Liebe versuchen? Mit Liebe könnt ihr eure Knaben und Mädchen viel rascher und mit weit besseren Ergebnissen erziehen, als wenn ihr sie schindet und plagt; wendet euch an ihre besten und edelsten, statt an ihre schlimmsten Triebe, und ihr werdet überrascht sein zu sehen, wie bereitwillig und rasch sie eurem Rufe Folge leisten.

Die menschliche Natur sträubt sich gegen Zwang und Gewalt. Habt ihr eure Knaben und Mädchen bisher zwingen und knechten wollen, so lasset davon ab und betretet den neuen Weg, den Weg der Liebe. Seht zu, ob sie in eurem Haus nicht Wunder wirkt. Ob sie eure häusliche Maschine nicht viel sanfter laufen läßt. Ob sie die Spannung, die auf euch lastet, nicht wunderbar lösen wird. Versuchet es mit dem Weg der Liebe.

Erzwungene Arbeit, erzwungener Gehorsam zeitigen kaum je gute Früchte. Ich kenne einen Mann, der sich Tag und Nacht abmüht, um seine ganze Umgebung nach seiner Schablone zu modeln, um jeden dahin zu bringen, daß er genau so und nur so denkt und handelt wie er selbst. Dieses Bestreben artet bei ihm so aus, daß an ein friedliches Auskommen mit ihm nicht zu denken ist. Seine Kinder zittern vor seinem Nachhausekommen. Sie mögen tun, was sie wollen, nichts ist ihm recht; seine Frau und die Dienstboten mögen ihm alles an den Augen absehen, sie ernten nichts als Vorwürfe. Durch seine Engherzigkeit und Herrschsucht macht er sich und seine ganze Umgebung unglücklich und elend.

Ebenso ist er im Geschäft. Nichts macht man ihm recht. An einem fort kritisiert, tadelt und bespöttelt er seine Angestellten und raubt ihnen dadurch alle Arbeitsfreudigkeit. Er vergißt, daß ein einziges Wort des Ansporns und Lobes unendlich mehr bewirken würde, als alles Schelten, Nörgeln und Toben, woran sie sich so gewöhnt haben, daß es bei ihnen nichts anderes als Widerwillen und Ekel erzeugt.

Der Hang, die Leute zu beaufsichtigen und zu gängeln, sie jeder Selbständigkeit zu berauben; die Gewohnheit, immer hinter den Kindern her zu sein mit dem ewigen „Ihr dürft nicht“ und „Ihr sollt nicht,“ desgleichen der Drang, unseren Lebensgefährten, Geschäftsteilhabern oder Angestellten unsere Gedankengänge oder Handlungsweisen aufzunötigen, den Leuten zu widersprechen und sie niederzudonnern, kurz, alle Welt — ob sie will oder nicht — nach unserer eigenen „Fasson selig zu machen“, eine solche Gewohnheit zerstört alle geistige Harmonie, untergräbt die Tatkraft, verderbt die Stimmung und widert jeden an, der mit uns in Berührung kommt.

Die Liebe schlägt ganz andere Wege ein. Sie ist edelmütig, gerecht und großherzig. Sie achtet die Rechte und Gefühle der andern. Sie sucht nicht, Fehler zu korrigieren, anstoßerregende Eigenschaften oder Neigungen durch unausgesetzte Kritik zu bessern; sie sucht einfach, sie unschädlich zu machen. Sie treibt solche Fehler und schlechten Eigenschaften aus, genau wie die Sonne die Dunkelheit aus einem Zimmer treibt, wenn die Fensterläden geöffnet werden.

Ist Streit in deinem Hause, so gehe den Weg der Liebe, und du wirst zu deinem Entzücken wahrnehmen, wie schnell sie die Finsternis verjagt und die Sonnenstrahlen der Eintracht hereinläßt. Wie durch Zauberspruch wird sie die Atmosphäre in deiner Familie bessern. Ein neuer Geist wird seinen Einzug halten und statt der Widersacher werden hilfreiche Freunde sich einstellen. Laß Mitgefühl und Freundlichkeit den Platz des Tadelns und Scheltens einnehmen, und du wirst daheim eine wahre Umwälzung hervorrufen. Warmherziges uneingeschränktes Lob dann und wann wird wirken wie geschmeidiges Öl in einem ausgerosteten Räderwerk, und die Gegenwirkung auf dich selbst wird nicht ausbleiben und Wunder wirken.

Gehet den Weg der Liebe, ihr Männer, die ihr nur den Herrn und Gebieter in der Familie spielen, mit Stirnrunzeln und Poltern Weib und Kinder einschüchtern wollt, die ihr euch gar zum Leuteschinder herabwürdigt. Dieses veraltete und rohe Verfahren hat euch keinen Erfolg, keine Befriedigung, nur Enttäuschung gebracht, warum es also nicht mit der neuen Philosophie, dem Weg der Liebe, versuchen? Sie ist das Allheilmittel, der christliche Sauerteig, welcher die Welt durchsäuert.

Versuche du dieses Mittel, du krittelnde, keifende Hausfrau! Statt vom Morgen bis zum Abend zu nörgeln und zu schelten, zu schmälern und zu schmähen, zu jammern und zu klagen, gehe den Weg der Liebe. Statt deine Magd vor den Gästen mit Schimpf- und Scheltworten zu überschütten, wenn sie ein Stück Porzellan zerbricht, versetze dich an ihre Stelle, denke dich in ihre Verlegenheit hinein und gehe lachend über ihre Unachtsamkeit hinweg. Dann schadet's nichts, wenn du ihr eine Mahnung unter vier Augen zukommen läßt. Sie wird in Zukunft um so vorsichtiger sein. Gibt dir deine Waschfrau ein Stück Leinwand beschmutzt zurück oder ist ihre Arbeit nicht ganz so gut wie sonst, so fertige sie nicht mit grobem Tadel ab. Liebloses Dreinfahren wird sie nur mürrisch und finster machen, um so empfänglicher aber ist sie für sanfte und freundliche Worte.

Ihr Männer und Frauen, die ihr nie Glück habt mit euren Knechten und Mägden, die ihr verzweifeln möchtet, weil sie euch Hab und Gut entzweischlagen, vergeuden und veruntreuen, die ihr vorzeitig eure Kraft verzehret in unnützem Kampf, weil ihr Übles mit Üblem vergeltet, versuchet es mit dem Mittel der Liebe.

Versuchet es alle, die ihr müde seid des täglichen Zanks und Haders, der täglichen Prüfungen und Drangsale, die euch im Geschäft in den Weg treten. Die Liebe wird einen neuen Geist erwecken in eurem Laden, in eurer Fabrik und in eurem Kontor. Was auch euer Geschäft sei, welcherlei Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten ihr auch begegnen möget, die Liebe wird die Wege ebnen und euren Lebenswagen auf ein fahrbares Geleise bringen.

Auf dem Friedhof eines deutschen Landstädtchens, auf den ein burggekrönter Felsen herabschaut, las ich vor kurzem auf einem schlichten Grabstein die Worte: Unserer treuen Mutter. „Sie hat getan, was sie konnte.“ (Mark. 14, 8.) Von dem Ortsgeistlichen, der die Verstorbene genau gekannt hat, erfuhr ich, daß dieser Stein die sterblichen Überreste einer edlen Christin deckt, die in einem arbeits- und entsagungsreichen Leben für die Ihrigen getan, was eben nur ein treues und liebendes Mutterherz zu tun vermag, die mit gleicher Bereitwilligkeit Entbehrungen und Dienste aller Art auf sich nahm und fast buchstäblich ihr letztes Scherflein hergab, um — namentlich in den ersten Kriegsjahren, die sie noch erlebte — die Not ihrer Mitmenschen zu lindern; und die in edler Selbstüberwindung auch solchen, die ihr Böses antaten, verziehen und aus der Not geholfen hat. Ist diese Inschrift und eine solche Verkörperung edelster Mutter- und Nächstenliebe nicht ein herrliches Beispiel und ein Fingerzeig für den Weg, den die Liebe geht? Die Liebe höret nimmer auf und tut, was in ihren Kräften steht, zum Besten ihrer Kinder, Brüder und Schwestern im engsten und weitesten Sinn des Worts.

Der Liebe Weg begreift alles in sich, was schön, edel und gut, was rein und wahr ist, alles, was des Besitzes wert erscheint. Sie verursacht keine Reue, sie hinterläßt keine Sorge. Sie ist so rein wie das Leben eines kleinen Kindes. Zu allem, was sie tut, bekennt dein Herz sich mit einem freudigen Amen. Der Weg der Liebe ist immer gerade, denn es ist Gottes Weg.

Schlage ihn ein, den Weg der Liebe, auf ihm winkt Glück und Seligkeit.

3. Das Größte auf Erden.

„Die Liebe ist der Seele Leben,

Sie ist des Weltalls Harmonie.“

Channing.

Wörterbücher widmen dem Begriff „Liebe“ eine halbe Spalte. Die Bibel lehrt uns ihre umfassende Bedeutung in vier Wörtern: „Gott ist die Liebe.“

Nach der übereinstimmenden Meinung der Menschenkinder aller Zeiten ist das herrlichste Ding auf dieser Erde, das alle menschlichen Wesen immer am dringendsten begehrt haben, die Liebe. Sie ist, wie H. W. Beecher sagte, „der Strom des Lebens in dieser Welt. Glaube nicht, der du an dem rieselnden Quell oder an dem plätschernden Bach stehest, daß du die Liebe kennest. Du mußt erst durch die felsigen Schluchten wandern, ohne den Strom zu verlieren, du mußt über die Wiesen und Felder der Ebene gehen, wo der Strom sich weitet und so tief wird, daß er Flotten auf seinem Rücken trägt; du mußt erst zu dem unergründlichen Weltmeer gelangen und deine Schätze seinen Tiefen übergeben — erst dann kannst du ermessen, was die Liebe ist.“

Irgendwo habe ich die Geschichte eines Sonnenstrahls gelesen. Der hatte gehört, es gebe Orte auf der Welt, so düster und unheimlich, daß es unmöglich sei, sie zu beschreiben. Er beschloß, diese Plätze ausfindig zu machen und begab sich mit Blitzesschnelle auf die Reise. Er suchte die verborgensten Höhlen auf, glitt in sonnenlose Hütten, in dunkle Alleen, in unterirdische Keller. In das finsterste Dickicht drang er auf seiner Suche, um zu sehen, wie die Dunkelheit ausschaue; aber nirgends fand der Sonnenstrahl die Finsternis, weil ihn überallhin sein eigenes Licht begleitete. Jeder Winkel, den er besuchte, mochte er noch so finster und unheimlich vor seinem Eintreten sein, wurde durch seine Gegenwart erleuchtet und erheitert.

Die Sonne ist ein schönes Sinnbild der Liebe. Sie sendet ihren erwärmenden und lebenspendenden Strahl ebenso unparteiisch in die ärmste Hütte und in die Gefängniszelle wie in den Palast des Reichen. Sie teilt sich selbst dem schlimmsten Unhold, dem elendesten Krüppel, der in Lumpen gehüllt auf der Erde umherkriecht, so uneingeschränkt und so freudig mit wie dem Monarchen auf dem Thron. Für sie gibt es kein Ansehen der Person; sie scheint auf die Gerechten und Ungerechten. Sie fragt nicht, wessen Korn, wessen Kartoffeln, wessen Rosen, wessen Heim sie erwärmen oder beleuchten soll. Sie fragt nicht nach unserem Herkommen, unseren Grundsätzen, unserer politischen oder religiösen Anschauung. Sie strahlt den Bösen wie den Guten, den Ungläubigen wie den Gläubigen, allen Völkern, allen Rassen: den Weißen, Schwarzen, Braunen und Gelben. Sie kennt weder Haß noch Vorurteil. Sie flutet einfach in jeden Winkel der Erde, der ihr zugänglich ist. Seien es die giftigsten Sümpfe, die ansteckendsten Moräste, Löcher voll Schmutz und Unrat, der Aufenthalt der gemeinsten und niedrigsten Lebewesen — sie läßt ihr Licht, ihre Schönheit und ihre Freude ohne Unterschied auf alle ausströmen.

Wie die Sonne, so erleuchtet und erwärmt auch die Liebe alles, was sie berührt, zu neuem Leben. Die Liebe ist für das Menschenherz, was die Sonne für die Rose ist. Duft und Schönheit, Pracht und Reichtum der Farben, alle darin verborgenen Möglichkeiten zaubert die Sonne aus der Blume hervor. So lockt auch die Liebe das Beste, was in uns ist, heraus; denn sie wendet sich an die edelsten Empfindungen und die erhabensten Ideale. Wahre Liebe erhebt, reinigt und stärkt jedes Herz, das sie berührt. Sie hebt uns über uns selbst empor, weil sie nur das Beste in uns erblickt. Sie achtet nicht unserer Schwachheit, unserer Niedrigkeit, unseres Verbrechertums und sieht nur den göttlichen Kern in uns, der zum Leben erweckt werden will. Die Liebe schließt unsere Natur auf und zieht wunderbare, in tiefster Vergessenheit begrabene Kräfte ans Tageslicht.

Die Liebe erkennt Gott in der elendesten menschlichen Ruine und schafft dem Verworfensten eine Möglichkeit der Rettung. Sollte man diese Gelegenheit verscherzen? Wenn nichts anderes mehr übrig bleibt, wenn das Leben voll ist von Angst und Pein, dann klopft der Betrüger, der Dieb, der Mörder, der Ausgestoßene an die Tür der Liebe und findet eine Zuflucht; denn „die Liebe höret nimmer auf“ und verschließt sich niemand. Sie ist für jedes menschliche Wesen, was die mütterliche Zärtlichkeit für das verlorene Kind ist. Kein Sohn, keine Tochter ist je so tief gefallen, daß es dadurch der Mutter Liebe verwirkte. Kein Mann noch Weib kann je dahin kommen, daß die Liebe sie nicht erlösen könnte. Sie ist das Heilkraut für alle Übel.

Eine Mutter fragt nicht: „Welches ist mein bestes Kind?“ um diesem einen vor allen andern ihre Gunst zuzuwenden. Nein, sie gibt sie allen. Wenn ein Unterschied gemacht werden muß, so gibt sie die meiste Liebe dem, das sie am nötigsten braucht — dem schwächsten, dem zartesten, dem von der Natur am wenigsten begünstigten, dem gebrechlichen, dem Krüppel, dem Mißgestalteten. Die Liebe kennt kein höheres Entzücken als das, dem Unglücklichen zu helfen und den Gefallenen aufzurichten. Wenn schwarze Wolken sich auftürmen und deine Gutwetterfreunde dich verlassen; wenn dein Geschäft zugrunde gerichtet ist, wenn du einen verhängnisvollen Irrtum begangen, wenn die Gesellschaft dir die Türe gewiesen hat; wenn deine Nächsten dich verleugnen und verleumden und alle Unternehmungen fehlschlagen, dann kommt die Liebe und steht dir bei, träufelt Öl auf deine Wunde und rettet dich aus der Nacht der Verzweiflung! Die Liebe richtet nicht und verdammt nicht. Sie verlangt immer Mitleid und mildernde Umstände für den Angeklagten. Sie sagt: „Verdammt nicht den armen Sünder, es ist noch ein göttlicher Kern in ihm“ — und ruft dem gefallenen Mädchen zu: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Sie folgt dem schlimmsten Sünder und dem verhärtetsten Missetäter bis zum Grab — und darüber hinaus.

Die Liebe hat in der Weltgeschichte die größten Wunder gewirkt. Und wie oft sind wir Zeugen von Umwandlungen, die ein rauhes und verkommenes Leben durch sie erfährt! Ein junger Mensch, der auf schiefer Bahn rettungslos dem Abgrund entgegentreibt, faßt Neigung zu einem anmutigen und tugendhaften Mädchen und findet Gegenliebe. In kurzer Zeit ist er wie umgewandelt; die erneuernde Kraft der Liebe hat ihn dem Strudel entrissen. All seine Laster ersetzt er durch die entgegengesetzten Tugenden, und es beginnt für ihn ein neues Leben.

Wo jedes Besserungsmittel versagt, da triumphiert die Liebe, denn sie berührt die edelsten Triebfedern des Lebens, wie es sonst nichts vermag. Sie versenkt sich ins andere, weil sie mit ihm fühlt und wesensverwandt ist; sie hat eine Art, auf den tiefsten Grund der Dinge zu dringen, welche der Seele, die nicht von ihr geleitet wird, unbekannt bleibt. Immer wieder bekehrt sie die verworfensten Naturen, treibt sie das Tierische aus und entfaltet die feinsten und edelsten Regungen in einem Mann oder einer Frau. Welche Macht könnte der Gewalt der Liebe widerstehen, was könnte sie zerstören? Die Armut kann sie nicht ersticken, Mißachtung sie nicht schwächen, Schande sie nicht töten. Der abgestumpfte brutale Trunkenbold kann sie nicht dem ihm ergebenen Weibe aus dem Herzen reißen, der schwärzeste Undank die Liebesflamme im Mutterherzen nicht auslöschen.

Wunder vollbringt sie in den Gefängnissen, und auf dem Schlachtfeld waltet sie wie ein Engel vom Himmel. Ihr Vertreter, das Rote Kreuz, zeigt uns den Sinn der göttlichen Liebe: es verbindet die Wunde von Freund und Feind. Die Liebe fragt nicht nach Recht oder Unrecht; nicht, auf welcher Seite du gekämpft, nicht nach deiner Nationalität. Sie sieht nur Gottes Kinder in all den verwundeten und mit dem Tod ringenden Soldaten.

Die Liebe überwindet die Angst, denn sie ist das Gegengift der Furcht. Sie ist die einzige Macht, die dieser schlimmsten Feindin des Erdenbürgers, der Hauptquelle aller seiner Leiden, gewachsen ist. Die Liebe segnet, wo andere fluchen; erinnert sich, wo andere vergessen; verzeiht, wo andere verdammen; teilt aus, wo andere die Hand verschließen. „Die Liebe nimmt den Widerwärtigkeiten und Sorgen ihren Stachel, sie haucht Musik in deine Stimme und deine Schritte; sie umgibt die niedrigste Verrichtung mit Würde und Schönheit; sie schafft um dein Haus eine Atmosphäre sittlicher Gesundung; sie verleiht der Anstrengung Kraft und dem Fortschritt Flügel — kurz, sie ist allmächtig.“

Die Liebe ist's, die Herzen und Sinne öffnet, die guten Keime entwickelt, das Leben mit reichem Inhalt füllt und die Gesellschaft zusammenhält. Sie ist auch die einzige allgemein verstandene Sprache, sie selbst spricht alle Sprachen und Mundarten und ist ein offenes Buch für alle, die nicht lesen und ihren eigenen Namen nicht schreiben können. Sie ist das einzige, was den Sklavendienst, die Not und den Schmerz erträglich macht.

Gibt es größeres Glück und größere Lust hienieden als lieben und geliebt zu werden? Das menschliche Herz wurde geschaffen für die Liebe, und jeder darf soviel Liebe ernten als er gesät hat. Das Glück der Liebe besteht darin, daß sie andere glücklich macht. Die Liebe ist als Zwilling geboren und kann allein nicht glücklich sein. Darum muß sie auch alles, was sie hat, mit dem andern teilen; Selbstsucht, Neid und Habgier sind ihr fremd. Im Geschäftsleben behält sie auch den Vorteil des Partners und Widersachers im Auge; denn sie ist immer gerecht und vornehm, immer edelmütig, hilfreich und freundlich und übervorteilt nie den Nächsten.

In seiner unvergleichlichen Schrift „Das Größte auf Erden“ gibt der bekannte Naturforscher und Theologe H. Drummond eine Analyse vom Spektrum der Liebe. „Die Liebe ist nach Paulus nichts Einfaches, sondern etwas Zusammengesetztes. Wie der naturwissenschaftliche Forscher einen Lichtstrahl durch ein Kristallprisma leitet, so daß er auf der andern Seite herauskommt, gebrochen in die verschiedenen Farben, aus denen er zusammengesetzt ist — Rot, Blau, Gelb, Orange und die übrigen Regenbogenfarben — so läßt Paulus die Liebe durch das herrliche Prisma seines von Gott erleuchteten Geistes gleiten und zerlegt sie so in ihre verschiedenen Bestandteile.

Was ist also das Spektrum oder die Analyse der Liebe? Willst du sehen, was ihre Grundbestandteile sind? Du wirst finden, daß sie gewöhnliche Namen haben, daß es lauter Dinge sind, die von jedermann und überall angewendet werden können, und daß eine Menge kleiner Dinge und gewöhnlicher Tugenden als Summe das eine hohe Gut, das „summum bonum,“ ergibt. Die einzelnen Stücke sind Geduld: die Liebe ist langmütig; Güte: und gütig; Edelmut: sie ist nicht neidisch; Demut: sie rühmt sich nicht selbst, ist nicht aufgeblasen. Höflichkeit: sie beträgt sich geziemend; Selbstlosigkeit: sie sucht nicht das ihre; Sanftmut: sie läßt sich nicht aufreizen; Arglosigkeit: sie denkt nichts Übles; Aufrichtigkeit: sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern über die Wahrheit.“

Drummond erklärt das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs von Paulus für das großartigste Liebesgedicht, das je verfaßt worden sei. In einer Vorlesung fragte er einst seine Zuhörer: „Wie viele von euch Studenten wollen mit mir dieses Kapitel ein Vierteljahr lang einmal in der Woche lesen? Das tat einmal ein Mann, und diese Lektüre änderte sein ganzes Leben. Wollt ihr desgleichen tun?“

Das von Drummond so hochgehaltene Kapitel zählt nur dreizehn Verse. Es kann in kürzester Zeit dem Gedächtnis eingeprägt werden; wenn du dies tust und das Gelernte jeden Tag nachdenklich wiederholst, so wird es dein Leben von Grund auf umgestalten.


4. Wie man sein Leben zu einem Gesang macht.

Ein New Yorker Geistlicher fragte eines Tages seine Zuhörer, unter denen sich weltbekannte Männer, wie z. B. Andr. Carnegie, der Besitzer der größten Eisen- und Stahlwalzwerke der Welt, sowie Rabindranath Tagore, der indische Dichter und Philosoph, befanden, nach ihrer Meinung darüber, wie man sich am sichersten gegen die Versuchungen der Weltstadt schützen könne. Die beste der Antworten, die er sich schriftlich erbeten hatte, lautete:

„Dadurch, daß wir zu Gott als unserem allgegenwärtigen und erfahrensten Helfer aufblicken.“ Der Pastor gab dieser Antwort den Vorzug vor allen andern; fügte jedoch hinzu: „in allen unsern Angelegenheiten.“ Mit andern Worten: er meinte, wenn wir bei all unsern Angelegenheiten Gott, der die Liebe ist, im Auge behalten, so ist unser Leben gestärkt und gefestigt; wir sind geschützt vor dem Übel und ziehen wie ein Magnet alles Gute an.

Würde dieser Gedanke nicht bloß von der den großstädtischen Versuchungen am meisten ausgesetzten Jugend, sondern von jedermann, alt und jung, in allen Lebenslagen und Ständen, auf dem Land wie in der Stadt, beachtet und befolgt, wie unendlich viel Elend würde dadurch erspart! Wieviel glücklicher wären wir dann alle! Wie oft machen wir uns das Leben selbst zur Qual durch fortgesetztes Murren über unsre Umgebung, unsre Arbeit, unsre Nachbarn und unsre Lage im Allgemeinen, da wir nicht zu Gott in all unsern Angelegenheiten emporblicken!

Unter meinen Bekannten ist eine Frau, die unaufhörlich ihren Wohnort und die Leute darin verlästert. Sie fühlt sich ihnen nicht verwandt, sondern glaubt sich weit über sie erhaben. Sie hat sich nie mit ihrer Umgebung aussöhnen können und sagt, sie schäme sich, ihre Kinder in einem so „toten gottverlassnen Nest, wo dir Leute keinerlei Ideale haben“, aufziehen zu müssen. So ist sie über alle Maßen unbefriedigt und unglücklich.

Das Unglück kommt hier nicht von der Stadt, sondern von der Frau selbst. Sie weiß keine geistigen Beziehungen zu ihren Nachbarn anzuknüpfen, weil sie nicht von dem Geist der Liebe beseelt ist. Sie wohnte vorher in andern Städten, die nach der Ansicht ihrer Einwohner vortrefflich waren, in denen sie aber nicht glücklicher war, als sie es heute ist.

Die Wurzel dieser Unzufriedenheit ist hier und anderswo kleinlicher gesellschaftlicher Ehrgeiz. Sie ist eine Streberin, die immer nur sucht, in Kreise sich einzudrängen, die gesellschaftlich über ihr stehen, vorzugsweise in solche, deren Mitglieder viel reicher sind als sie selbst. Da sie nun aber mit diesen nicht gleichen Schritt halten kann, macht sie sich und ihre Familie elend, indem sie über den Ort und ihre eigene Gesellschaftsklasse den Stab bricht. Sie dünkt sich höher als diese, und wir können uns vorstellen, wie ein weibliches Wesen, das auf seine ganze Umgebung herabsieht, von dieser behandelt wird. Es ist nur zu begreiflich, daß ihre Nachbarn sie nicht schätzen und ihre Abneigung auf jede nur erdenkbare Weise zum Ausdruck bringen.

Viele Leute liegen allezeit im Streit mit ihrer Umgebung, weil sie in ihren Angelegenheiten nicht zu Gott emporblicken. Statt dessen verschwenden sie eine ungeheure Zeit und Energie, die sie zur Besserung ihrer Lage anwenden könnten, mit Nörgeln und unnützem Widerstreben.

Bist du ein Nörgler, ein Quälgeist, ein Pessimist, so wirst du deiner Umgebung unterliegen und eine Null in der Welt sein. Bist du aber auch in schweren Lebenslagen ein strahlender, hoffnungsfreudiger Optimist, so wird dein Leben ein voller Erfolg sein, sei deine Umgebung auch noch so ungastlich. Gott in dir selbst und in deiner Umgebung zu erkennen, bedeutet immer einen Gewinn.

Wir sollten uns bemühen, mit jeder Umgebung, sie mag beschaffen sein, wie sie will, so viel wie möglich „in Fried und Freundschaft“ zu leben, schon um ruhig unsre Arbeit verrichten zu können, um den Reibungen aus dem Weg zu gehen, die unsere Nerven zerreißen und unsere Kraft zerstören. Reibungen sind für uns Menschen, was der Sand für einen Mechanismus ist, der das Zapfenlager viel rascher zerreibt und abnützt, als es die Arbeit tut, welche die Maschine normalerweise zu verrichten hat.