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Copyright © 2015 Rolf Friedrich Schuett
3. überarbeitete Auflage
Herstellung und Verlag :
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (holz- und säurefrei)
Umschlaggestaltung : E. L. Schmidt
Printed in Germany
ISBN 978-3-7392-7423-2
„Diese Herrschaft der Freiheit kann nicht beginnen, solange die Arbeit nicht beendet ist, welche uns Notwendigkeit und äußerliche Endgültigkeit auferlegen.“ (Karl Marx: „Das Kapital“, III)
„Sobald für alle ein Spielraum wirklicher Freiheit zum Leben jenseits der Produktion besteht, hat der Marxismus seine Zeit vollendet; es wird dann eine Philosophie der Freiheit an seine Stelle treten. Doch haben wir keine Möglichkeit, keine Denkmittel und konkreten Erfahrungen, die es ermöglichten, uns einen Begriff von dieser Freiheit und von dieser Philosophie zu machen.“
(J.-P. Sartre: “Critique de la raison dialectique”, 1960, S. 32)
Diese Arbeit geht aus von der Hypothese, dass die Philosophie noch lange nicht ausgeschöpft hat, was sie von Tiefenpsychologen profitieren könnte.
„Die Psychologie ist die philosophische Wissenschaft, und umgekehrt, die philosophische Wissenschaft oder die Philosophie, das ist die Psychologie.“ Niemand würde diese Worte des Philosophen Theodor Lipps (1851-1914) heute wohl mehr unterschreiben wollen oder die „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) des ehemaligen Psychiaters Karl Jaspers noch einmal ernsthaft als philosophisches Fundament in Erwägung ziehen. Kaum noch jemand wird mit dem Lebensphilosophen Dilthey die Psychologie des Erlebnisverstehens im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Erklärung als die Basisdisziplin der Kulturwissenschaften verstehen.
Husserls „Logische Untersuchungen“ (1900) hatten in der Nachfolge Franz Brentanos die logische Geltung strikt und endgültig und unabweisbar von ihrer psych(olog)ischen Genese abgetrennt.
S. Freud meinte, „dass die Philosophie eine der anständigsten Formen der Sublimierung verdrängter Sexualität, nicht weiter, ist.“ (Ludwig Binswanger: „Erinnerungen an Freud“, Bern 1956, S. 19). Auch wenn niemand diesem programmatischen Reduktionismus mehr folgen möchte, wurden die explikativen Chancen einer Anwendung der Tiefenpsychologie nicht nur auf Neurosen, Träume und Mythen, sondern auch auf „tief(gründig)e Gedanken“ und ganze begriffliche Gedankengebäude bisher noch gar nicht recht ernstgenommen.
Der philosophische Gedanke sollte dabei nicht reduziert werden auf das psychische Rohmaterial, das in ihm mitverarbeitet ist, aber die Psychoanalyse kann sehr wohl helfen, die Objektivität des Gedankens vor dem unreflektierten Anteil aus der geheimen Subjektivität des Denkers und seiner Rezipienten zu schützen. Nicht die Philosophen werden dabei auf Freuds Couch gezerrt, sondern ihre bewussten Gedanken von möglichen unbewussten Anteilen befreit, die deren Wahrheitsgehalt hinterrücks ganz systematisch verzerren und die Ratio zur bloßen Rationalisierung von Verdrängungen verkommen lassen können.
Man könnte Freuds Tiefenpsychologie auch recht zwanglos einbetten in die lange Tradition der europäischen Moralistik und die „französischen Moralisten“ als Ur-Analytiker des Unbewussten hinter allen rationalisierenden Bewusstseinsfassaden und Sozialkonventionen verstehen.
„Daß hierbei u. a. das Unbewusste zum ersten Male entdeckt wurde, ist das damals in seiner ganzen Bedeutung noch nicht ermessene Verdienst der Maximen“ von La Rochefoucauld, erkannte Konrad Nussbächer 1988. Joseph Rattner und Gerhard Danzer nannten den Ur-Aphoristiker „ohne weiteres den Ahnherrn der Tiefenpsychologie“. („Europäische Moralistik in Frankreich von 1600 bis 1950“, Würzburg 2006, Seite 36)
Jacques Lacan erkannte, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei. Der linguistic turn hatte die Philosophie daran erinnert, sich von ihren Sprachformen gar nicht emanzipieren zu können, und legte es nahe, wieder über das Verhältnis von Literatur und Philosophie nachzudenken, selbst wenn man nicht ganz so weit gehen will wie Jacques Derrida, der ihre Differenzen einebnete zu bloßen rhetorischen Spielformen allgemeiner Textproduktion.
Freud hielt den bedeutenden Aphoristiker Nietzsche, der die französischen Moralisten in die Philosophie zurückführte, für jenen Denker, der wohl in der psychologischen Selbsterforschung bisher am weitesten gekommen sei, und für einen seiner eigenen Vorläufer. Psychologische Deuter sagen uns ständig: „So ist es nicht, wie ihr denkt, sondern in Wahrheit ganz anders... “. Die Philosophie täte gut daran, sich dieser Hilfsdisziplin stärker zu bedienen. Kurzum : Die Kosten für die Verdrängung der tiefenpsychologischen Hermeneutik aus der Philosophie dürften weit höher ausfallen, als viele Philosophen zu glauben scheinen. Philosophisches Denken könnte sich durch psychoanalytische Reflexion von falscher ubw-Subjektivität befreien. Das übt den Philosophen im Umgang mit unumgänglichen Ambivalenzen der Welt. Wir werden versuchen, davon einige Proben zu geben.
Das letzte Werk des unheilbar Krebskranken, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ von 1938, zeigte Sigmund Freuds eigenen Ödipuskomplex, einen geistigen Mordversuch an Gottvater, um sich mit Mutter Natur(wissenschaft) zu vereinigen. Die Psychoanalyse war seine welterobernde Art, weniger am eigenen (schwachen) Vater als am Gott seiner Väter zu scheitern.
Johannes Gross sah in Sigmund Freud übrigens einen großen Humoristen für das 21. Jahrhundert. Und auch dieses Buch lässt sich zwanglos als eine Wissenschaftssatire lesen.
„Der Blick ins Innere führt nach oben.“
(Aurelius Augustinus)
„Der Körper wird den Geist immer beim Denken behindern.“
(René Descartes)
„Die Genitalien sind der Resonanzboden des Gehirns.“
(Arthur Schopenhauer)
„Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich
zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe.“
(Karl Marx)
„Die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur
le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere, und zugleich
unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.“
(Karl Marx)
„Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht
bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf.“
(Friedrich Nietzsche)
„Manche Menschen hängen wohl darum so an der Natur, weil sie als
verzogene Kinder sich vor dem Vater fürchten und zu der Mutter ihre
Zuflucht nehmen.“ (Novalis)
„Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch
reißet sie nieder.“ (Sirach 3,11)
„Sonderbar, Väter werden fast immer vergessen.“
(Theodor Fontane, 1896)
„Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach
philosophischer Erkenntnis ... Therapeut bin ich wider Willen geworden.“
(Sigmund Freud in einem Brief)
„Der Eros des Philosophen Platon zeigt in seiner Herkunft, Leistung und
Beziehung zur Geschlechtsliebe eine vollkommene Deckung mit der Lie
beskraft, der Libido der Psychoanalyse.“
(Sigmund Freud)
Wer den Weltlauf nach Analogie des zeugenden mütterlichen Ursprungs aller Dinge auffaßt, des Schoßes der Mutter Natur, die ihren Kindern das Leben gibt und wieder nimmt und selbst dabei unerschaffen unsterblich bleibt, hat den Versuch gewagt, das unheimlich Unbekannte zurückzuführen auf etwas Vertrautes, englisch: familiar, es also auf den Horizont trauter Familienverhältnisse zurückgeschraubt. Man hat Ordnung in die verwirrende Mannigfaltigkeit der Phänomene gebracht, sobald sie ableitbar werden aus der sozialen Ordnung, in der man lebt. Die Kategorie der Kausalität etwa wird da nur erst faßbar als Abstammungs- und Verwandtschaftsgrad, als Herkunft einer Wirkung aus dem mütterlichen Ur-sprung, so daß sich das Kind zur Mutter verhält wie die Wirkung zur Ursache – mit dem Vater als Nebenursache.
„Von Lydien lernten die Milesier die Prägung goldener Münzen. Milets Hafen war voll von Schiffen vieler Völker und seine Warenlager überfüllt mit Gütern aus aller Welt. Mit Geld als universalem Mittel zur Anhäufung von Werten und zur einfachen Ausübung des Warenhandels ist es verständlich, daß die milesischen Philosophen die Frage stellten, woraus alle Dinge gemacht sind.“ (Bertrand Russell: „Denker des Abendlandes“, Stuttgart 1970, Seite 16).
Nach Thales kommt alles aus dem Wasser und geht alles ins Wasser zurück. Wasser ist Symbol weiblicher Fruchtbarkeit von altersher, seine Quintessenz ist das Fruchtwasser. Aphrodite steigt schaumgeboren aus dem Meer, Nymphen, Najaden, Nereiden, Nixen und auch Undinen sind erotische Wasserwesen. Das Wasserbad dient der rituellen Reinigung und erfleht den Fruchtbarkeitssegen. Der Mann taucht ein zur Wiedergeburt in den urmütterlichen Jungbronnen. Thales hat aus seiner Kenntnis der Gestirnverläufe einmal ein gutes Olivenjahr meteorologisch vorhergesehen, schlau alle Olivenpressen rechtzeitig billig aufgekauft und sie für viel Geld wieder vermietet, als dann die große Olivenernte tatsächlich kam. Er wollte beweisen, daß auch Philosophie praktischen Nutzen haben könnte, falls sie darauf aus wäre. Er kannte den Sinn des Geldes als universales Tauschobjekt und Äquivalenzprinzip aller Dinge. Gold läßt sich in jede Ware verwandeln und in sich zurückverwandeln aus den Dingen und bleibt doch immer das gleiche wie das Wasser der Ägäis vor seiner Tür in all seinen Zustandsänderungen bei Verdunstung, Niederschlag und Vereisung. Der Port von Milet: ein weibliches Portal; die Schiffsbäuche trugen ihre Ladungen wie Kinder, die Schiffe selbst als Kinder verließen den sicheren Port, um wieder zu ihm zurückzukehren. C.G. Jung hat auf die etymologische Assoziativkette Meer (Sumpf, stehendes Gewässer) – französ. mère (Mutter) – Maar – Nachtmahr (Vampir, weiblicher Unhold) – mors (latein.: Tod) – Moira (griechische Schicksalsgöttin) hingewiesen.
Die urethrale Nebenbedeutung des Wassers klingt an, das gelassen und abgeschlagen wird als Urinstrahl, der das Liebesfeuer löscht und das weibliche Meeresbecken füllt. Hier verbindet sich der Urin auch mit dem Uranismus der Homosexuellen.
Und in der antiken Philosophie steht die gesuchte menschliche Selbstbeherrschung, die Macht über die innere Natur, noch nicht im Dienste einer Weltbeherrschung.
Wunsch und Anstrengung wie er zu werden, setzt aber ja das Eingeständnis voraus, bis auf weiteres nicht zu sein wie er, setzt also die Unterwerfung des Sohnes unter das Verbot des Vaters voraus, sich mit ihm eins zu fühlen, seine Privilegien zu usurpieren, sich also schon jetzt für seinen eigenen Vater zu halten. Das ist das verwirrend Zweideutige an der platonischen Idee: sie ruft die sinnliche Erscheinung auf, sich zu ihr hochzuentwickeln, und verwehrt es ihr in ein und demselben Atemzug, sich mit ihr schon jetzt zu verwechseln. Der Idee nach ist die Erscheinung schon ihre eigene Idee, nie aber de facto. Der Sohn soll sein, was er der Idee nach ist, sein eigener Vater, und was heißt das anderes, als daß er tatsächlich hier und jetzt das eben noch nicht ist – und nach Plato so ganz auch nie werden kann, sofern er ja die Mutter eben doch am Ende nicht heiraten wird, sondern nur auf den Verzicht auf sie vorbereitet wird durch diese ganze Veranstaltung. Am Ende ist ja die Identifikation mit dem Vater (als vorgeblich einziges Mittel, sich der Mutter und der Einheit mit ihr doch noch zu versichern) wirklich das, was sie von Anfang an schien: der Versuch, das Kind von der eigenen Mutter wegzulocken in der Hoffnung, es werde auf dem Wege zum Vater sie vergessen, um deren Willen es vorerst auf sie zu verzichten gelobte. So droht im Idealismus von vornherein das Mittel zum Selbstzweck zu verkommen, zum unüberwindlichen Hindernis auf dem Weg zu einem unterwegs vergessenen Ziel. Die Identifikation mit dem Vater (als vermeintliche Etappe der Vereinigung mit der Mutter) wird zur Vereitelung dieser Vereinigung, also zur Identifikation des Kindes damit, nicht identisch mit dem Vater zu sein in dem Maße, als er sein eigener Vater erst werden soll und nicht kann, d. h. nie ist. Im Gegenteil wird die Lösung vom Primärziel, der Verzicht auf die Mutter, zum Mittel der Identifikation mit dem Vater. Das Kind kann nur werden wie der Vater, um die Mutter zu bekommen, wenn er auf die Mutter verzichtet, um später nicht die Mutter, sondern eine Frau wie die Mutter zu heiraten. Im berühmten Höhlengleichnis lockt Plato den Leser aus der mütterlichen Uterushöhle heraus ins Freie, ans Licht. Er ködert ihn mit der Versicherung, er werde im Lichte der väterlichen Idee die geliebte Mater-ie eher "erkennen" als dort unten im Bauch der Mater-ie selbst, geschmiedet an die Ketten der Mutter-Kind-Symbiose. (Platons Materie war „dechomenon“: das Empfangende und Aufnehmende.)
Fortan steht der Erdensohn zwischen Mutter und Vater, Natur und Geist, Mater-ie und Formkraft, Realität und Idee. Die auf Mutter Erde gerichteten Liebesaffekte werden wie die auf Gottvater abzielenden Haßregungen als niedrig und verwerflich gebrandmarkt, die Unterwerfung unter die Diktate des himmlischen Vaters als reiner und höher bewertet. In der Subordination der sinnlichen, auf die Mutter Natur gerichteten Strebungen unter die übersinnlichen wird die patriarchalische Subsumtion von Frau und Kind unter den Mann gefeiert: sie sind Sub-jekte, d. h. dem Vater Unterworfene. Unter dem eifersüchtigen Vater schiebt und gibt der kleine Sohn die Vereinigung mit Mutter Natur auf und wird eins mit der väterlichen Idee, will sagen mit dem Verbot, sich für den Vater zu halten, mit ihm zu verwechseln oder ihn zu beseitigen. Die Herrschaft des Menschen über die innere wie äußere Natur nimmt hier die Form der Herrschaft des Mannes über Frau und Kinder an, ein Missverständnis. Mutter Natur ist zur bloßen Mater-ie herabgewürdigt, zum passiven Mater-ial männlicher Bearbeitung und aggressiver Deformationen, während die auf sie gerichteten Liebesregungen des Erdensohnes diffamiert werden bis hin zum Zwang, sie zu verdrängen.
Agathon, das schlechthin Gute, die höchste Tugend, die Idee aller Ideen bei Plato ist die gerechte Güte und freie Mächtigkeit des von der Mutter unabhängigen, also ganz freien Vaters im Himmel, symbolisiert durch die Sonne, die alles Verborgene und Verbotene ans Tageslicht kommen läßt. Und der Sohn hat umso mehr teil am väterlichen Licht, je mehr er sich herausarbeitet aus der urmütterlichen Leibeshöhle. Die Natur und die auf sie abzielenden natürlichen Regungen des Sohnes unterliegen der „Art-Idee“, dem Naturgesetz.
Der Sohn ist nur die irdische Erscheinungsform, nur ein sehr schwacher Abglanz und bloßer Schatten seines göttlichen Vaters, die empirische Welt nur empfangendes Gefäß für das ideelle Feuer vom Himmel. Das Kind ahmt den Vater nach, will werden wie er und stammt von ihm und nur von ihm ab. Und sind schon die sinnlichen Phänomene, die Kinder also aus der Ehe von Gottvater und Mutter Natur, niedriger und unvollkommener als ihre Idee, so erst recht der ungestalte böse Weltstoff der Mutter Erde selbst, das finstere Chaos und archaische Nichts, der leere Weltinnenraum ihres Uterus, in den das phallische Licht (phos) erst einfallen muß, das „Aussehen“ des Vaters im Himmel und seine prägnante Art, Ordnung zu schaffen. Aber die Teilhabe und Mitbestimmung des Sohnes an der phallischen Macht des Vaters über die Mutter Natur, diese Partizipation ("Methexis") erreicht niemals ihr Original, ist immer nur sehnsüchtige Annäherung an ein Ideal, die positive Kehrseite des untersagenden Verbots. Diese väterliche Idee von oben verbindet sich mit der mütterlichen Mater-ie von unten, um das sinnliche Einzelding herzustellen, den Sohn, der dem allgemeinen Gesetz unterstellt ist, dem allen Söhnen der Bruderhorde gemeinsamen Verzicht auf Frau Welt. Die „platonische Liebe“ des Sohnes hat sich auf Mutter wie Vater zu richten. Bei Plato ist dem Erdensohn angesonnen, die weibliche Mater-ie zu hassen und sich homosexuell an den Vater zu binden als den, der vor der bösen Mutter Natur in uns und um uns herum schützt, aber eben auch den Sohn von der inzestuös geliebten Mutter abdrängt auf alle anderen Frauen dieser Welt.
Wir sehen, dass mit Plato eine neue Stufe der Menschheitsentwicklung ihrer selbst bewußt zu werden beginnt, normativ für die Biographien ihrer Zeit und ihrer Wirkungsgeschichte. Das Auftauchen des rivalisierenden Dritten zwingt das Menschenkind, sich allmählich vom Rockzipfel der allgewährenden Mutter Natur zu trennen, hat aber das Gute, daß der Sohn bei dem Versuch, sich aus der Umklammerung und der Fürsorge der Umweltmutter zu befreien, sich fortan auf die Hilfe eben dieses idealisierten Vaters stützen kann. Dieser Vater wird als böse erlebt, wo er dem Kind den inzestuösen Zugang zur guten Mutter verstellt; seine Güte jedoch zeigt sich darin, daß die Einigung mit ihm dem Kinde hilft, sich vom Hexenbild einer präödipal besitzergreifenden Urmutter zu lösen, die als unberechenbar und grausam erlebt wird in ihrer launischen Verteilung von Gaben und Giften, Leben und Tod, Ernten und Mißernten, Dürre und Epidemien, Kriegen und Erdbeben etc.
Platos Idealismus verheißt dem Kind, diesem Aspekt der Natur nicht länger hilflos ausgeliefert zu sein. Der Vater ist ein übermächtiges Gegengewicht zur grausamen Mutter Natur dadurch geworden, daß die Bruderhorde der Frühzeit ihn zur Sühne für den Mord an ihm in den Himmel gehoben hat, um zu beweisen, daß sie einen so mächtigen Vatergott unmöglich getötet haben kann. Nun schwebt der Geist Gottes über den Wassern des Thales, die Sonne ist aufgegangen über Frau Welt und über der Beziehung des Erdensohnes zu ihr. Bei Plato ist dieser Vater bereits unabhängig von der Mutter und vom Weibe überhaupt. Die Ideen thronen in einer eigenen Sphäre nicht nur außerhalb des Verfügungsbereichs der Realität, sondern weit darüber, als Naturgesetze (C. F. v.Weizsäcker), denen alles Mater-ielle unterworfen ist, gleichsam als „Paterie“.
In gewissem Sinne kommt das Ich des Sohnes vom Regen der Naturverfallenheit in die Traufe der Unterdrückung durch die eigenen Kultuideale. Das aber wird bei Plato noch nicht sehr flagrant. Erst heute, da die Macht des Menschen über die RabenmutterImago der Natur viel stärker geworden ist, stören im nachhinein auch stärker die repressiven Züge des Platonismus. Uns Heutigen dämmert, daß wir die Übermacht der ersten Natur nur eingetauscht haben gegen die der zur zweiten Natur gewordenen Technik, die vor der ersten Natur nur schützt, indem sie nun selbst jene Unterwerfung für sich fordert, die einst der Mutter Natur galt. Bei Plato findet die philosophische Rekonstruktion der Trennung von Leib und Seele statt, zwischen denen das noch sehr schwache Ich steht, und mit dem genitalen Unterschied tut sich die Generationsdifferenz auf zwischen Kindern und Eltern. Wir kommen in die Zeit, in der Sophokles seine Ödipusdichtung verfertigt. Der philosophische Eros Uranios richtet sich auf herr-göttliche Ideen, nicht auf die Mutter Natur.
So ist schon bei Plato der Idealismus, eine der großen paradigmatischen Möglichkeiten des Philosophierens, zutiefst zweideutig: Die Idee, wie der eigene Vater zu werden, verheißt dem Sohn Unabhängigkeit von der archaischen Übermacht der Mutter und droht ihm gleichzeitig den Entzug seiner Mutter als Liebesobjekt an. Erkenntnis eines Dinges ist nach Plato Erkenntnis seiner reinen, von der Vermischung mit Mater-iellem gesäuberten Idee, „Anamnesis“: Wiedererinnerung an das, was das Ding war vor seinem Sündenfall, sich dem weiblichen Rohstoff der Welt zu verbinden. Diese Anamnese der Idee wird erklärt als Wiedererinnerung an die Zeit vor der Geburt. Die Idee des Sohnes ist dann das, was er vor seiner Geburt war, vor der Kopulation des Vaters mit der Mutter, also die Idee des Vaters selbst, das „im Schönen zu zeugen“, was ihm gleicht, aber eben nun im Weltstoff ganz realisiert. Der Sohn soll das wieder werden, was er vor seiner Herkunft aus dem Mutterleib war: reine Idee des Mannes von sich selbst, der zwar mit der Frau sich vereinen muß, um sich als Mann hervorzubringen, aber das Medium der Selbsterzeugung immer wieder von sich abstreifen muß, um die Männlichkeit in ihrer ideellen Reinheit aufleuchten zu lassen. So wird der Idealismus zur Philosophie männlicher Homoerotik, der glorifizierten Maskulinität. Dieser Vater bedient sich der Mutter nur, um sich, also um Männer hervorzubringen, denen die Herkunft aus dem Mutterleib und die Verbindung zum Weiblichen wie ein zu tilgender Makel anhaftet. Zur Zeit Platos ist die Gesellschaft noch so sehr verstrickt in die frühe Auseinandersetzung mit der Natur, daß der Schutz, den die Idee des Vaters vor der Rabenmutter-Imago einer unwirtlichen Natur verspricht, wichtiger ist als die in Kauf zu nehmende Aufgabe der geliebten Mutter durch Gehorsam gegen den verhaßten und zugleich bewunderten Vater.
Platonschüler Aristoteles richtet seinen Forschungsdrang auf Frau Welt, nicht mehr auf die Männlichkeit des Vaters wie Plato. Das Wesen der Welt thront nicht länger in erhabener Majestät über der Welt, sondern steckt in ihr wie der Penis des Vaters in der Vagina der Mutter und wie das Kind im Uterus. Jedes der auf ihr allgemeines Wesen hin zu befragenden innerweltlichen Einzeldinge stellt eine Verbindung dar von prägender Form mit dem „zugrundeliegenden“ weiblichen Mater-ial. Der allgemeingültige, eine Geist realisiert sich durch Verschmelzung mit dem rohen, ungestalten Naturrohstoff zur Vielfalt einzelner Nachkommen. Die Dynamis, das bloß weiblich Mögliche, wird hier durch die Energeia, energische Manneskraft, das eigentlich bewirkende Wirkliche, in jedem „Akt“ herausaktualisiert. Jedes Geschöpf ist Realisierung einer Potenz: Synthesis (lateinisch: co-itus) von Stoff und Form, von Mutter Natur und Gottvater. Philosophiegeschichtlich wird Aristoteles verbucht als Synthese zwischen Plato und den vorsokratischen Materialisten, da ihn primär das sinnliche Einzelding interessiert, das Individuum aber als Er-zeugnis gefasst wird, somit als Produkt einer Vereinigung von Idee und Stoff, von Form und Mater-ie, als kon- kret, d. h. zusammengewachsen aus männlichem und weiblichem Weltprinzip. Dabei ist der Frau die Rolle der causa materialis zugedacht, der Mann spielt den Part der causa formalis, genauer, das Ziel, das er sich in den Kopf gesetzt hat, seine Idee, während Koit und Kind die causa finalis sind und der aktive Phallus des Mannes die causa efficiens. Aristoteles interessiert sich für die Weltprinzipien erst dort, wo sie kon-kret geworden sind, also sich vereinigen, um reale Kinder zu zeugen. Geist und Natur sind erst da ganz Idee und Materie, wo sie ineinander aufgehen: im einzelnen Kind, das sie in die Welt setzen. Die Idee ist im Reinzustand nicht zu haben, nur als Wesenheit, als väterliche Form eines Kindes, und die Frau ist erst da ganz Frau, wo sie Mutter ist: in ihrem Kind, in der Synthesis mit dem männlichen Prinzip(al). So wird auch hier die ganze Welt nach dem Bilde des trauten Familienlebens erklärt, als Reich geborener Kinder, als Früchte der Liebe von Frau Welt und Herrgott. Die Dinge sind Geschöpfe, Kinder, geformte Stoffe, und nur sie sind real; nur in ihren Söhnen sind Vater und Mutter real, d. h. wirklich das, was sie „im Grunde“ sind. Statt diese Mutter Natur inzestuös zu "erkennen", will Weltkind Aristoteles erkennen, was Vater und Mutter im Innersten zusammenhält, woraus also ihr Sohn besteht und woher er kommt. Die philosophische Frage nach dem Ursprung der Welt ist die philosophische Rekonstruktion der vorphilosophischen Frage nach der Herkunft der Kinder. Die Forschungsbegierde, der berühmte weltliche Erkenntnisdrang des modernen Aristoteles von Stagira hat ihren Ursprung in der sexuellen Neugierde des Kindes auf die Urszene der Vereinigung seiner Eltern, der reinen Kopulation von platonischer Idee im Kopf des Mannes mit weiblicher Mater-ie, eine Kopulation, die in der Copula des Urteils ihre logische Entsprechung findet. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil bildet die Art und Weise ab, wie Frau und Kind dem Manne untertan sind, wie Mann und Frau im Kind vereint sind. Das Kind ist paternale Substanz seiner maternalen Akzidenzen, Träger notwendiger und kontingenter Merkmale. Was am Sohn notwendig ist für das, was es seinem Wesen nach ist, ist vom Vater; das Zufällige, das so oder so ist und gut auch nicht oder anders sein könnte, ohne am Wesen des Einzelnen etwas zu ändern, stammt von Muttern. Der eine Vater ist allgemeiner, allen gemeinsamer Urheber seiner Kinder, und jeder Sohn ist ein Sohn kraft seiner Abstammung vom Vater, vom selben Vater. Die Kinder sind Brüder als Söhne ein und desselben Vaters.
Sie gleichen einander darin, daß sie den gleichen Vater haben, und sie stimmen mit ihm und also miteinander überein im Besitz eines Penis. Sie kommen darin überein, Abkömmlinge des gleichen Prinzips, also Prinzipals zu sein. Im Lichte dieses väterlichen Phallus ist auch der Sohn eine wenngleich verkleinerte Ausgabe des Vaters – kraft seines Penis. Aber das Ideal des Sohnes, der Vater, ist auch sein Gewissen, d. h. der Entschluß, sein eigener Vater zu werden, impliziert die Anerkennung des Sohnes, noch nicht sein eigener Vater zu sein. Wie der Vater werden heißt, ein Gewissen und nicht etwa nur ein Wissen auszubilden, das den Sohn gerade daran hindert zu meinen, er sei sein eigener Vater. Die ideelle Natur der Natur thront nicht mehr über dem Natürlichen, sondern der Vater ist dem Sohn über, aber (anders als bei Plato) im Sohn selbst. Bei Aristoteles ist der Vater im Sohn über dem Sohn: in der Form des Gewissens. Und der Vater ist in der Mutter über ihr. Es ist missverständlich, schon beim Platonismus von Moral zu sprechen: Die "Idee" ist zwar die Vorstellung im Kopfe des Vaters, aber eben noch nicht als Stimme des Gewissens im Sohn, sondern als Ukas von oben. Eben darin liegt der „Fortschritt“ des Aristoteles über Plato hinaus, daß die Strafpredigt und der Verbotskatalog des Vaters im Erdensohn internalisiert sind. Was bei Plato noch der Vater von oben, vom Himmel herab donnert, das sagt er bei Aristoteles als "universale in re singulare": der Vater im Sohn: das Gewissen als Wahrheit über die verworfene Sehnsucht zurück in die Mutter Natur. Der Kampf zwischen Mater-ie und Form, das Verhältnis von Vater und Mutter und Kind, ist in das Kind hineinverlegt. Die Kluft zwischen Erscheinung und Idee, der „Chorismos“ zwischen Sohn und Vater, wird zum Kampf zwischen Ich und Über-Ich des Sohnes, und der noch tiefere Graben zwischen Form und Mater-ie selbst ist ins Individuum installiert als Abstand von Über-Ich und Es im Ich des Kindes. Die Unterwerfung unter die Gebote des Vaters antwortet aber dann auch nicht mehr einem Zwang von außen, sondern der Sohn darf glauben, seinen eigensten Neigungen zu folgen, wo er von der Mutter abläßt, um erst einmal so wie der idealisierte Vater zu werden, ohne ihn selbst so zu verdrängen wie den Todeswunsch gegen ihn.
Er folgt keinem externen Vorbild und gehorcht keinem fremden Willen, wenn er sich seinem eigenen Gewissen fügt und das ureigenste Ideal zu realisieren sucht. So tritt der Gehorsam gegen den Vater und die imitatio Dei auf in der Maske der Selbstverwirklichung, als immanente Zielstrebigkeit des Sohnes, als das, was Aristoteles die „Entelechie“ nannte, nach der jede Einzel-Ousia darauf aus sei, die in ihm angelegte Natur zu entfalten, das ihm wesenhaft eigene Ziel zu erreichen, seine Bestimmung aus sich heraus zu erfüllen. Und da die Donnerstimme des Vaters hier sich hüllt in die innere „Stimme des Gewissens“, darf das Individuum dort, wo es in Wirklichkeit eher other-directed ist, wähnen, es tummele sich in der eigensten Autonomie. So sehr Aristoteles den Vater dort nun aufsucht, wo er als Gewissen des Kindes spricht, hat er ihn aber auch recht liebevoll ausgemalt in seiner ganzen Herrlichkeit hoch droben, in seiner vollen Freiheit von Mutter Natur, im Himmel des reinen Denkens. Das Ideal des Sohnes, (wie) sein eigener Vater zu werden, wird nach Aristoteles am ehesten erreicht durch ein theoretisches Leben, durch weltflüchtige „Dianoia“, unbeirrt durch sinnliche Versuchungen und alle Affektstürme. Der Vater, das ist vor allem der Herr über sich selbst, über das große Ganze der Mutter Natur, aus der alles kommt. Der unbewegte Beweger, das nur „an sich selbst denkende Denken“, bewegt die Dinge so, „wie man bewegt wird durch das, was man liebt“. Der Sohn liebt den Vater und bewegt sich auf ihn hin, seine Entelechie weist ihn auf den Vater, der selbst nur sich liebt und selbstgenügsam in den Wolken wohnt, absolute Substanz, die kein anderes Seiendes braucht, um zu sein, was sie ist. Das göttergleiche Leben besteht zwar nicht darin, wie der Himmelsvater die geliebte Frau Welt zu "erkennen", aber wenigstens darf der Erdensohn sie im Lichte des Vaters ansehen, das Sinnliche vom Übersinnlichen her. Kurz: Aristoteles hilft dem Sohn, seinen Ödipuskomplex aufzulassen, um sich eine postödipale Perspektive und Existenz aufzubauen.
Das christliche Mittelalter war eine einzige Midlife Crisis des abendländischen Denkens, und es ist bezeichnend, daß wir, die heute bereits im kindischen Pensionsalter der europäischen Geistesgeschichte stehen, die rüstigen mittelalterlichen Denker veraltet, vergreist und verkalkt nennen. Am finsteren Mittelalter wird gemäkelt, daß es zuviel ans Göttliche und zu wenig ans Natürliche gedacht habe, aber in Wirklichkeit ist dem Mittelalter eher vorzuwerfen, daß es zu wenig an Gottvater und zu viel an Mutter Kirche geglaubt hat. Das Bedenkliche am Mittelalter war nicht, daß die Liebe zum himmlischen und stellvertretenden leiblichen Familienvater siegte über die kindische Sehnsucht des Menschenkindes zurück in der Mutterleib der Natur, sondern daß der Schoß der Mutter Kirche zu siegen drohte über das Individuationsprinzip Vater. Das Menschlein kam vom Regen der Mutter Natur in die Traufe der Mutter Kirche. Das Mittelalter blieb hier zweideutig in der Mitte(lmäßigkeit), nicht zwischen himmlischer und irdischer Liebe, sondern zwischen kindlicher Liebe zur Mutter und erwachsener Liebe zum Weibe. Die Menschen drohten, Kinder der Mutter Kirche zu bleiben statt erwachsen zu werden mit Hilfe des Vaters. Papam habemus? Der Heilige Vater ist gerade kein leiblicher Vater, sondern trägt Frauenröcke. Priester und Mönche waren keine Männer und Nonnen keine Frauen. Und Christus war ewiger Sohn geblieben. Die christliche Sohnesreligion war den heidnischen Naturreligionen so weit überlegen wie der altbiblischen Vaterreligion unterlegen, und das bekam diese in Kreuzzügen zu spüren. Sie wurde für minderwertig erklärt, weil ihre Feinde vor ihr diesen Komplex hatten. – Als Kinder gelten fortan nur Söhne.
Die Vielfalt der Ausformungen und Schattierungen ist faszinierend, verschwindet aber vor dem einen Grundthema, das Gesetz der Väter gegen die emanzipatorischen Ansprüche der selbstbewußter werdenden Söhne zu verteidigen: ein einziges Defensivmänöver. Philosophie als Ideologie der Revolte des Sohnes soll hier, kann man sie schon nicht mehr ignorieren, wenigstens als einig erwiesen werden mit der hochheiligen Theologie, dieser Kernideologie der gottväterlichen Autorität. Die Offenbarung des göttlichen Willens und seiner einschüchternder Herrlichkeit dominiert 'das natürliche Licht der Vernunft' des aufmüpfigen Sohnes. Gezeigt wird die Vereinbarkeit der Vernunft mit dem Glauben, die Versöhnbarkeit des Sohnes mit dem Vater im Himmel, aber so, daß die Philosophie „Magd der Theologie“ bleibt. Der Theologe des Mittelalters sucht mit aller scholastischen Raffinesse zu beweisen, daß all seine erzautonome Vernunft dem Erdensohn recht verstanden eigentlich nur die Erkenntnis nahelegt, was dem Willen des himmlischen Vaters gemäß ist und was ihm widerstreitet. Das autonome Gewissen, also die aufgeklärte Selbstgewißheit des Sohnes, gilt als angeborenes oder verinnertes Diktat Gottvaters. Alles, was das Kind von sich aus weiß, ist die Notwendigkeit seiner Unterwerfung unter die fraglose Autorität Gottes. Und das muß dem Kind nicht erst von oben herab zugerufen werden, sondern ist ihm bewußt von sich aus kraft des Gewissens. Die mittelalterliche Scholastik bildet ein einziges Unterfangen, das Reich des Vaters gegen den Aufstand des nachrückenden Sohnes zu sichern – mit den rationalen Mitteln des Sohnes selbst. Die eigene neuentdeckte Vernunft soll den Erdensohn dazu bewegen, sich der Weisheit Gottvaters in Mutter Kirche zu beugen und zu opfern. Gottvater ist bereits getötet, aber den Söhnen steht noch das eigene Schuldbewußtsein im Wege und verbindet sie homoerotisch miteinander durch gemeinsame homosexuelle Bindung an den himmlichen Vater, der gleichwohl nicht aufhört, die Zielscheibe unterschwelliger Aggressionen zu sein bei aller demonstrativ christlichen Demut vor ihm. Jede Unterwerfungsgeste ist Sühne und bereits insgeheim wieder Vorbereitung auf eine erneute mörderische Attacke. Die Gestalt Jesu schillert zweideutig zwischen dieser Revolte und dieser Kapitulation, eine Einladung an die Gläubigen zu Aufstand und Gehorsam zugleich, zu Verbrechen und Sühne. Die selbstbewusste Vernunft, die den Sohn in die Revolte treibt, wird listig umfunktioniert zum Beweismittel aller Glaubenswahrheiten. Bewiesen werden soll, daß es im wohlverstandenen Eigeninteresse des Sohnes liegt, dem Willen des Vaters gemäß zu leben, daß nur die Identifikation mit dem Gesetz des Vaters die Identität des Kindes begründet, daß es sein eigenstes tieferes Wesen verwirklicht, wo es den Auftrag des Gesetzes erfüllt, daß die Weisheit des Ich mit der Weisheit des Über-Ich recht eigentlich identisch sei. Allerdings geben die Scholastiker zu, daß das Kind nicht durchaus von Mutter Natur her weiß, was der Vater von ihm will, es muß ihm offenbart werden von oben und außen, es wäre nicht selbst darauf gekommen. Aber was das Kind auch von sich aus einsehe, widerstreite nirgends den väterlichen Gesetzen, die das Beste des Kindes im Auge haben auch und gerade da, wo das Kind davor verstockt ist. Die Glaubenswahrheit ergänze die Vernunftwahrheit, die Gnade hebe die Natur nicht auf, sondern vollende sie:
„Gratia non tollit naturam, sed perfecit.”
Da dient bei Augustinus auch noch die Sünde des Sohnes gegen den Vater dem Vater; da ist seine Revolte a priori in den väterlichen Heilsplan eingebaut und integriert. Der Sohn könne gar nicht anders, als sich gegen den Vater zu empören, weil dieser das selbst angeblich so wolle, um dem Sohn seine Erlösungsbedürftigkeit und Angewiesenheit auf väterliche Hilfe zu demonstrieren. Da wird bei Thomas von Aquin die Lehre von den zwei Reichen und den „zwei Wahrheiten“ des Sohnes und des Vaters zugestanden, sofern nur der Vater die Oberhand und Priorität behält vor dem „lumen naturale“ des Kindes, das gerade gut genug ist, die Anfangsgründe der väterlichen Weisheit zu buchstabieren. So wird der Verstand durch Umarmung gefesselt, gegängelt und angehalten, Vorstufe des Glaubens zu sein, für und nicht gegen den er rationale Gründe herbeischaffen muß, um überhaupt als gesunder Menschenverstand toleriert zu bleiben. Philosophie ist Vernunft als Magd der Theologie, der Sohn ist Mensch als Diener der Mutter Kirche „im Namen des Vaters“.
Anselm beweist die Existenz des Vaters aus der Existenz der Idee, die der Sohn von ihm hat: Aus der Existenz des Gewissens folgt die Existenz des Vaters, dessen Gesetz es ja ist. Daß Gott lebt und nicht getötet ist, wird vom Sohn selbst bezeugt: Der Sohn lebt noch, also kann er seinen Vater nicht erschlagen haben, der ihn zur Vergeltung ja getötet hätte. Bei Augustinus ist selbst die Fähigkeit des Sohnes, dem Sittengesetz statt dem Naturgesetz zu folgen, eine Gnade des Vaters, hängt also nicht von der freien Verzichtentscheidung des Erdensohnes ab, auf die Augustinus nicht bauen mag, sondern von einer Vorsehung für den „Gottesgenuß“.
Es sei Gnade des Vaters, ob er dem Sohn Moral genügend großer Resistenzkraft gegen die gefährlichen Versuchungen zurück zur Mama mitgebe oder von vornherein ihn dadurch dem väterlichen Gericht überantworte, daß er ihn durch Zuteilung eines zu schwachen Ich-Ideals den verpönten Regungen in die Arme treibe. Aus den „Confessiones“ wissen wir, für wie schwach Augustin das Ich hält zwischen Vater und Mutter — weniger vor der realen Natur draußen, die ihn nur als Genußmittel interessiert. Das Ich hat keinen autonomen Spielraum, seine relative Wahlfreiheit sei Fiktion und Verblendung: Wo ich wähne, nur mir selbst zu folgen, vollstrecke ich bereits das über mich Verhängte, das „Prädestinierte“.
Bei Thomas hat das einzelne Menschenkind einen wenngleich bescheidenen Anteil an einer Entscheidung für oder gegen die Stimme seines Herrn. Erkenntnis der Welt ist bei ihm möglich, weil Erkennender und Erkanntes beide von Gottvater sind. Der Sohn "erkennt" Frau Welt, weil beide Produkte des himmlischen Vaters sind, geprägte Stoffe. Die Welt ist freigegeben für den Sohn, aber eine Frau Welt für einen Sohn, die beide vom Vater präpariert sind dazu, nur noch zu erkennen, daß sie einander nicht "erkennen" können und dürfen. Gnostiker und Manichäer wurden zu Häretikern gestempelt, weil sie der Mater-ialität der Mutter Natur viel zu viel verführerische Eigenexistenz zumaßen und damit erst ernst nahmen.
Gottvater ist für Thomas das Sein selbst, und seine Geschöpfe haben am Sein teil in absteigender Folge. In der Rangfolge der „analogia entis“ stehe ein Geschöpf umso tiefer, je mehr (weibliches) Nichts es zusätzlich in sich habe. Jedes Kind sei eine Mixtur aus gottväterlichem Sein im Kopf und erdmütterlichem Nichts zwischen den Beinen.
Kann die Scholastik schon nicht mehr die Ansprüche des stärker gewordenen Sohnes übersehen, so doch wenigstens die des Weibes. Die autonome Vernunft ist der Geist des Sohnes, also Christi selbst, aber Frau Welt, Mutter Natur, das Mater-ielle, sind gar nichts, nichts als Mangel an väterlichem Sein qua Geist und bar selbst jeder Vernunft des Sohnes. Das Böse ist kein Prinzip für sich, sondern nur Abwesenheit des Guten, in das Vater und Sohn, nur graduell verschieden, sich teilen. Vater und Sohn mögen gegeneinander Krieg führen, um Priorität übereinander und über Frau Welt, aber vor dem gemeinsamen Feind, den eventuellem Emanzipationsansprüchen der Mutter Natur, sind sie sich einig. Sie ist böse, gerade weil sie nichts ist und nichts von der heiligen Dreieinigkeit des naturbeherrschenden männlichen Willens hat. Zugelassen ist sie höchstens als reine Jungfrau Maria, als Mutter Kirche, als Ziel von Schutz- und Versorgungsbedürfnissen der kleingehaltenen Kinder.
Frau Welt ist kein Wesen eigener Art, sondern der Name, der dem Abfall von Gottvater gegeben wird, also Abfall. Damit ist sie nur negativ bestimmt, um sie nicht aufzuwerten: Inbegriff all dessen, was Gottvater nicht will und nicht ist und sein Sohn nicht werden soll. Das Nichts zwischen den Beinen von Mutter Natur ist für den Erdensohn als das Böse verteufelt, und ein reines Nichts zu lieben, wird als innerer Widerspruch und schlimmste Verblendung erwiesen. Alle Richtungen wurden exkommuniziert, die in Jesus Christus den geheimen militanten Rebellen gegen einen despotischen alten Vatergott begrüßten, statt daß ein Unschuldiger stellvertretend sich opfert, dem tyrannischen Moloch ein Blutopfer bringt, um ihn mit den von Mordphantasien gepeinigten Erdensöhnen zu versöhnen. – Vereinigung mit der Mama durch Identifikation mit dem Papa?
Duns Scotus Eriugena, der „doctor subtilis“ und voluntaristische Gegenspieler des Thomas, spricht insgeheim schon vom neuzeitlichen Subjekt, vom Menschensohn, wo er offiziell scholastisch noch von Gottvater sprechen muß. Fast steht seine hochgezüchtete Begriffskunst bereits im Dienste dessen, was Scholastik zu widerlegen und abzuweisen antritt. Nach ihm tut Gott nicht das Gute, weil es gut ist, sondern das Gute sei gut, weil Gott es wolle. Damit hat er hinter der Autorität der Landesväter die blanke Willkür der Macht entlarvt, die Theokratie beruhend auf illegitimer Gewalt, die sich zum Recht deklariert. Purer Wille und sonst nichts setzt sich durch; noch die individuellsten Regungen der Kreatur sind durch Rücksicht auf ihn präformiert. Noch wo ihm etwas widersteht, ist es Geist von seinem Geist, und wo er selbst es ist, der sich selbst gegenübersteht, steht ihm eigentlich nichts entgegen: Die Welt ist geformt nach Seinem Willen bis in die naturhaften Strebungen hinein. Das Individuationsprinzip ist nicht unbestimmte Mater-ie, sondern männliche Form, die Duns „haecceitas“ nennt.
Die Sozialpsychologie des Mittelalters steckt schon mystifiziert im sogenannten Universalienstreit, dem Problem also, welche Seinsweise den Allgemeinbegriffen zukomme. Der Realismus betont die Selbständigkeit der abstrakten Universalien, der Nominalismus sieht in ihnen nur ökonomische Erkenntnisinstrumente ohne eigenes Sein über den Realia der Sinnenwelt. Thomas sucht zu vermitteln durch die Formel : universalia ante rem in Deo, in rebus singularibus et post rem in mentem: Vor den Dingen als Idee Gottes (Plato), in den Einzeldingen (Aristoteles) und nach den Einzeldingen im menschlichen Geist als Wortmarken (Occam) und Begriffe des Sohnes. Wilhelm von Occam kennt wie die Neuzeit schon nur noch isolierte Einzelwesen, die kalkulierte Konstellationen, Bündnisse und Arrangements eingehen.
Philo von Alexandria (gest. 45 n. Chr.) gilt als der erste Religionsphilosoph überhaupt. Zwischen überweltlicher Transzendenz Gottes und materiellem Diesseits vermittle der stoische Logos spermatikos, der geistige Same der Engel. Erkenntnis komme aus weiblicher Wahrnehmung und männlicher Ratio zugleich.
Sa'adia (882-942) bewies mit Aristoteles, daß die Welt das Kind eines „unbewegten Bewegers" sei, und bewies gegen Aristoteles, daß Gottvater diese Welt aus sich selbst erzeugt und nicht aus einem ihm widerspenstig beigeordneten mütterlichen Weltmaterial geformt habe.
Israeli (850-950) wurde als frau- und kinderloser Armenarzt über hundert Jahre alt. Die Wahrheit sei eine Vereinigung des gesunden Menschenverstandes mit der „Sophia“, der erstgeborenen Tochter Gottvaters. Gott schuf die „prima materia“ und die „prima forma“ (Sophia) aus dem Nichts und nicht aus der Materie. Sein Neuplatonismus ist ohne Verachtung der ewigweiblichen Materie, die gleichursprünglich wie die männliche Form sei. Jeder sei elitefähig zur erkennenden Vereinigung mit der Sophia des Gottesgesetzes.
Für Avicenna (980-1037) ist die Welt eine 'Emanation' (Ausfluß) des göttlichen Lichtes der Vernunft bis hinunter in den dunklen Schoß der Materie. Gottvater bedient sich der Mutter Natur als Ursprung aller Dinge. Zufälliges Sein und notwendiges Wesen fallen nur im Vatergott zusammen, in seinen Kindern nicht, und Mutter Natur sei nur kontingente Existenz ohne eigene Essenz.
Avicebrol (auch Avencebron, 1020-1070) lehrte in seinem neuplatonisch beeinflußten Hauptwerk „Quelle des Lebens", daß Gottvater die erdmütterliche Materie forme, die in ihm selbst sei. Dieses Ewigweibliche in Gottvater selbst faszinierte die Mystiker und die Materialisten bis Bloch. Der Wille Gottes liege in der „Sophia“, der weiblichen Form, die etwas Besonderes sei und aus uns mache, während das Wesen Gottes in der Materie liege, die etwas allen Gemeinsames sei und jede Besonderheit in sich aufnehmen könne, ohne selbst etwas ganz Besonderes zu sein. Diese Aufwertung der Materie zum allgemeinen Wesen Gottvaters prägte Bruno, Spinoza, Schelling und bevorzugt alle Denker der Mutter Natur.
Noch einen Schritt weiter ging dann der nach Ernst Bloch „linke Aristoteliker“ Averroes (1126 - 1198). Der Araber sah die weibliche Mater-ie nicht als bloßes Rohmaterial des Vatergottes, sondern als „Schoß aller Formen“. Sie werde nicht erst vom Mann in weibliche Formen gebracht, sondern bringe auch die Männer und patriarchalische Ratio erst hervor. Ernst Bloch machte aus Averroes einen frühsozialistischen Stoffhuber, als führe die Beseelung der Stoffe zu hartnäckiger Verstopfung der Seelen.
Der vielleicht letzte große Philosoph Spaniens, Abravanel (1437-1509), schrieb 1502 die „Dialoghi d'amore" zwischen einem Mann und einer Frau. Das Werk beeinflußte die Philosophie des heroischen Enthusiasmus von Giordano Bruno und Spinozas 'amor Dei intellectualis'. Abravanel hatte 'Erkennen' gut biblisch als ein Lieben verstanden, dabei den Erkenntnisbegriff vom Rationalisten Maimonides übernommen und den Liebesbegriff vom Voluntaristen Hasdai Crescas. Diese personale Liebe wurde ihm zur kosmischen All-Liebe des Renaissance-Pantheismus, obwohl er versuchte, die platonische Liebe religiös zu deuten. Solche Liebesvereinigung zwischen Schöpfer und Geschöpfen übertrat aber schon das Gesetz der Väter.
Laut Freud haben die Christen gestanden, daß sie Attentate auf Gottvater verübten. Verzichtet Gottvater aber auf fällige Todesstrafe für die Vatermordwünsche seiner Menschenkinder? „Gott ist tot", weil seine Söhne ihn ermordet haben und weil er in ihren Schuldängsten übermenschengroß wieder aufersteht? An und wie Christus glauben heißt dann glauben, daß dem Sohn der Vatermordwunsch vergeben ist, wenn er glaubt, daß ihm vergeben ist, und wenn er aufhört, Gottvater töten und werden zu wollen.
Meister Eckart: