N. Bernhardt

Buch II: Der Untergang des Fürstentums

Der Hexer von Hymal

N. Bernhardt

Buch II: Der Untergang des Fürstentums

Der Hexer von Hymal

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
3. Auflage, ISBN 978-3-954182-40-4

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel: Eine Burg vol­ler Fra­gen

Zwei­tes Ka­pi­tel: Ein Ge­fan­ge­ner von großem Wert

Drit­tes Ka­pi­tel: Wie­der­se­hen mit Freu­de

Vier­tes Ka­pi­tel: Das Ban­kett in Ho­ca­tin

Fünf­tes Ka­pi­tel: Flucht auf die Ei­sen­fes­te

Sechs­tes Ka­pi­tel: Die drei­zehn­te Le­gi­on

Sieb­tes Ka­pi­tel: Ver­rat auf der Fes­tung

Aus­blick

Schon wie­der Hy­mal, schon wie­der Orks! Na­tür­lich en­det wie­der ein­mal al­les im De­sas­ter. Ist Da­nu­wil etwa tot? We­nigs­tens kann Nik­ko einen Ge­fan­ge­nen aus den Klau­en der Orks be­frei­en. Wer aber ist der Kerl?

Zu­rück in der Hei­mat, kommt al­les nur noch schlim­mer. Der Her­zog mar­schiert ge­gen das Fürs­ten­tum, da kann man nur noch flie­hen. Doch wo soll man sich je si­cher füh­len in die­ser Welt vol­ler Ge­fah­ren? Au­ßer­dem hat Nik­ko ja noch ein ganz be­son­de­res Ziel, das es nicht aus den Au­gen zu ver­lie­ren gil­t…

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Erstes Kapitel: Eine Burg voller Fragen

Es war be­reits Mit­tag, als Nik­ko und Da­nu­wil am nächs­ten Tag eine ers­te Rast ein­leg­ten. Nach ei­nem schnel­len Früh­stück wa­ren die bei­den sehr früh auf­ge­bro­chen und dem Ver­lauf des Flus­ses an des­sen We­stu­fer ohne Pau­se für vie­le Stun­den ge­folgt. Ge­spro­chen hat­ten sie da­bei kaum, ob­wohl in Nik­ko mehr Fra­gen brann­ten, als der Ad­li­ge wohl je be­ant­wor­ten konn­te. Vor al­lem hat­te der Jun­ge noch im­mer nicht ge­nau ver­stan­den, was es wirk­lich be­deu­te­te, dass er plötz­lich ein Zau­be­rer war. Er war sich je­doch be­wusst, dass sie jetzt in Fein­des­land wan­del­ten. Da­nu­wils Aus­sa­ge, dass War­g­rei­ter auf eine grö­ße­re An­zahl Orks hin­deu­te­ten, hat­te sein oh­ne­hin düs­te­res Bild von Hy­mal da­bei nur noch wei­ter ver­zerrt. Da­rum hat­te sich der Jun­ge lie­ber im Hin­ter­grund ge­hal­ten, um den er­fah­re­ne­ren Ad­li­gen nicht ab­zu­len­ken. Die­ser hat­te nun die Füh­rung über­nom­men und im­mer wie­der kurz Halt ge­macht, um das Ostu­fer und die da­hin­ter­lie­gen­de Ebe­ne mit sei­nem Fern­rohr gründ­lich ab­zu­su­chen.

Die Son­ne stand jetzt hoch am Him­mel, und die bei­den hat­ten es sich im Gras am Ufer ge­müt­lich ge­macht, um sich ein kur­z­es Mahl schme­cken zu las­sen.

»Die Burg scheint jetzt fast ge­nau im Os­ten zu sein«, be­merk­te der Ad­li­ge plötz­lich und hielt sich schon wie­der das Fern­rohr ans Auge. »Der Fluss hin­ge­gen fließt noch vie­le Stun­den nach Süd­ost, be­vor er dann nach Sü­den biegt«, fuhr er fort, als er sich mit dem Rohr am Auge lang­sam Rich­tung Sü­den dreh­te.

»Von hier könn­ten wir es viel­leicht bis heu­te Abend zur Burg schaf­fen«, mur­mel­te Da­nu­wil und steck­te da­bei das Fern­rohr weg. »Ein lan­ger Weg je­doch über das wei­te Feld, das uns kaum Schutz bie­tet.«

»Wir kön­nen dem Fluss aber nicht ewig fol­gen«, mein­te Nik­ko, ob­wohl er es selbst gar nicht so ei­lig hat­te, das schüt­zen­de Ge­wäs­ser zu über­que­ren. »Ihr habt doch selbst ge­sagt, er fließt spä­ter nach Sü­den.«

»Rich­tig«, nick­te der Ad­li­ge. »Aber dort, wo der Fluss nach Sü­den biegt, scheint der di­rek­te Weg zum Hü­gel kür­zer. Vie­le Stun­den viel­leicht so­gar.«

»Wenn wir heu­te bis zu je­ner Bie­gung kom­men«, fuhr er fort, »dann kön­nen wir mor­gen früh die Ebe­ne an­ge­hen. Vi­el­leicht sind wir dann schon mit­tags auf der Burg.«

»Dann könn­ten wir abends zu­rück über den Fluss sein«, dach­te Nik­ko laut. »Nur falls wir dort nichts fin­den«, füg­te er schnell hin­zu, als er einen miss­bil­li­gen­den Blick des Ad­li­gen ern­te­te.

»Ihr habt ja recht«, mein­te die­ser. »Wer weiß, was wir dort oben fin­den. Bes­ser ist es, wenn wir wie­der über den Fluss sein kön­nen, be­vor es dun­kelt.«

»Also gut«, ent­schied er dann. »Wir fol­gen dem Fluss so weit, wie wir heu­te noch kom­men. Mor­gen in al­ler Frü­he über­que­ren wir das Feld.«

Den rest­li­chen Tag wa­ren die bei­den recht gut vor­an­ge­kom­men, so­dass sie die Fluss­bie­gung be­reits am frü­hen Abend er­reich­ten. Von hier aus floss das Ge­wäs­ser ge­mäch­lich wei­ter nach Sü­den, so weit das Auge reich­te. Auch wa­ren sie nun deut­lich nä­her an der Burg, die von hier aus viel­leicht noch drei Stun­den ent­fernt sein moch­te.

Da­nu­wil hielt sich wie­der das Fern­rohr ans Auge und schi­en das letz­te Licht des aus­ge­hen­den Ta­ges nut­zen zu wol­len, um sich noch schnell ein Bild vom Um­feld zu ver­schaf­fen.

»Kei­ne Lich­ter«, mur­mel­te er und hielt das Rohr zur Burg ge­rich­tet. »Das ge­fällt mir gar nicht.«

»Ver­las­sen?«, frag­te Nik­ko und mach­te sich ins­ge­heim Ge­dan­ken, ob sich das ge­fähr­li­che Un­ter­fan­gen we­gen ei­ner ver­las­se­nen Burg über­haupt lohn­te.

»Wer weiß, wer weiß«, ant­wor­te­te der Ad­li­ge und füg­te dann hin­zu: »Wir sind hier, um ge­nau das her­aus­zu­fin­den.«

»Macht Euch kei­ne Sor­gen«, fuhr er auf­mun­ternd fort. »Die Burg ist noch weit ent­fernt. Wahr­schein­lich wür­den wir ein schwa­ches Licht, von ei­ner Fa­ckel etwa, von hier aus gar nicht er­ken­nen kön­nen.«

»Schlaft jetzt«, sag­te Da­nu­wil dann mit ei­nem Lä­cheln. »Ich über­neh­me die ers­te Wa­che.«

Es war tief in der Nacht, als der Ad­li­ge Nik­ko durch sanf­tes Rüt­teln weck­te und dem noch halb schla­fen­den Jun­gen be­deu­te­te, sich ru­hig zu ver­hal­ten. Es dau­er­te noch einen län­ge­ren Au­gen­blick, bis Nik­ko sich we­nigs­tens et­was ori­en­tie­ren konn­te, denn er hat­te er­staun­lich tief und fest ge­schla­fen.

»Lei­se«, flüs­ter­te Da­nu­wil schließ­lich. »Ich glau­be, es sind Orks un­ter­wegs auf der an­de­ren Sei­te. Der Wind steht gut, so wer­den sie uns wohl nicht wit­tern. Also ver­ra­tet uns nicht durch un­be­dach­te Geräusche.«

Nik­ko war zu ver­dutzt, um in die­sem Mo­ment über­haupt schon Angst zu ver­spü­ren. Zu­nächst ver­such­te er, erst ein­mal rich­tig wach zu wer­den.

»Wenn sie zu nahe ans Ufer kom­men, oder der Wind dreht, dann weckt mich lei­se«, flüs­ter­te Da­nu­wil. »Ich lege mich jetzt hin. Weckt mich sonst kurz nach Son­nen­auf­gang.«

Der Jun­ge war noch im­mer nicht ganz wach und nahm Da­nu­wils Aus­sa­gen kom­men­tar­los auf. Als er schließ­lich alle Sin­ne bei­sam­men hat­te, schlum­mer­te der Ad­li­ge be­reits fried­lich un­ter sei­ner De­cke.

Es war eine fins­te­re Nacht, die kein Stern er­hell­te. Nik­ko konn­te kaum die Hand vor Au­gen se­hen. Umso ge­spens­ti­scher er­schie­nen ihm die Geräusche von der an­de­ren Sei­te des Flus­ses. Fast glaub­te der Jun­ge, in ei­ni­ger Ent­fer­nung wür­den Be­feh­le in der krat­zi­gen Spra­che ge­brüllt und von Grun­zen quit­tiert. Den Zau­ber­stab mit bei­den Hän­den fest um­klam­mert, konn­te er sich ein Zit­tern in der un­heil­vol­len Fins­ter­nis nicht ver­weh­ren. Wie war er bloß wie­der in einen sol­chen Schla­mas­sel ge­ra­ten? Hat­te er sich nicht vor kur­z­em erst fest ge­schwo­ren, nie wie­der einen Fuß nach Hy­mal zu set­zen?

Wie lan­ge er so da­saß, wuss­te er nicht. Vi­el­leicht nur Mi­nu­ten, viel­leicht auch Stun­den. Plötz­lich je­doch durch­schoss ein marker­schüt­tern­des Heu­len sei­nen Kör­per und riss ihn jäh aus sei­ner Tran­ce! Schnell je­doch sam­mel­te er sei­ne Ge­dan­ken und spitz­te die Ohren. Noch ein Heu­len hör­te er, nur viel wei­ter ent­fernt. Der vor Angst fast ge­lähm­te Jun­ge frag­te sich, ob er nicht lie­ber den er­fah­re­nen Ad­li­gen we­cken soll­te.

»Ein War­g­rei­ter«, hör­te er die­sen plötz­lich flüs­tern. »Schein­bar nahe dem Ufer. Wir zie­hen uns et­was vom Was­ser zu­rück. Aber lei­se!«

Das ers­te Heu­len muss­te Da­nu­wil wohl schon ge­weckt ha­ben, dach­te sich Nik­ko und folg­te dem Edel­mann, der lei­se vom Ufer weg­kroch. Erst nach ei­ni­gen Mi­nu­ten, als die bei­den meh­re­re Stein­wür­fe vom Fluss ent­fernt wa­ren, mach­te die­ser Halt.

»Der Wind ist noch güns­tig«, sag­te Da­nu­wil mit lei­ser Stim­me. »Aber die­se ver­fluch­ten Wargs kön­nen noch bes­ser rie­chen als ein Ork. Wir ha­ben wahr­lich Glück, dass der Wind uns nicht ver­rät in die­ser Nacht.«

»Glaubt Ihr nicht, dass wir be­merkt wur­den?«, frag­te Nik­ko mit ei­nem kläg­li­chen Zit­tern in der Stim­me, das Angst und Schre­cken kaum ver­barg.

»Nein«, er­wi­der­te der Ad­li­ge. »Sie mö­gen zwar kein Was­ser, aber wenn sie Beu­te wit­tern, gibt es kein Hal­ten mehr.«

»Dann ha­ben sie nicht nach uns ge­sucht?«

»Nein, ich den­ke nicht«, ver­si­cher­te Da­nu­wil. »Eher eine Pa­trouil­le am Fluss ent­lang. Vi­el­leicht auch Spä­her. Macht Euch kei­ne Sor­gen.«

»Legt Euch noch et­was hin, Nik­ko«, be­fand der Ad­li­ge schließ­lich. »Es sind noch ein oder zwei Stun­den bis zur Däm­me­rung. Ich über­neh­me den Rest Eu­rer Wa­che.«

Es war viel­leicht eine Stun­de nach Son­nen­auf­gang, als der Ad­li­ge Nik­ko weck­te. Der Him­mel war im Nor­den und im Os­ten, wo­hin ihr Weg sie füh­ren wür­de, tief wol­ken­ver­han­gen, wäh­rend die Son­nen­strah­len im Wes­ten manch­mal doch einen Weg durch die Lücken in der Wol­ken­de­cke fan­den und die Ebe­ne dort in ein freund­li­che­res Licht rück­ten.

Nach ei­nem kur­z­en und wort­lo­sen Früh­stück, bei dem Nik­kos Ge­dan­ken noch im­mer um die Vor­komm­nis­se der letz­ten Nacht kreis­ten, mach­ten sich die bei­den auf den Weg zu­rück zum Fluss. Dort an­ge­kom­men, hielt sich Da­nu­wil so­gleich das Fern­rohr ans Auge und in­spi­zier­te das vor ih­nen lie­gen­de Feld.

»Das Ufer scheint frei zu sein«, be­fand er. »Aber auf der Ebe­ne kann ich nicht viel er­ken­nen. Zu hoch ist das Gras und zu vie­le Kuh­len sind im Bo­den. Nicht un­mög­lich, dass sich dort Orks ver­kro­chen ha­ben.«

»Auf der Burg kann ich kei­ne Be­flag­gung er­ken­nen«, fuhr er fort. »Das sieht nicht gut aus, fürch­te ich.«

»Wa­rum dann ein Ri­si­ko ein­ge­hen?«, schoss es aus Nik­ko her­aus, ohne dass er vor­her nach­den­ken konn­te. Fast wie eine An­kla­ge muss­te die­se Fra­ge wohl ge­klun­gen ha­ben.

»Meis­ter Nik­ko«, ant­wor­te­te der Ad­li­ge mit fast vä­ter­li­chem Ton, »wir sind auf ei­ner Mis­si­on. Glaubt Ihr denn, eine ver­las­se­ne … nein, eine wahr­schein­lich ver­las­se­ne Burg wäre dem Fürs­ten Nach­richt ge­nug?«

»Aber Ihr habt na­tür­lich recht«, fuhr er fort. »Je­den­falls was Euch be­trifft. Zwar seid Ihr ei­gent­lich im Diens­te des Fürs­ten, je­doch droht Euch als Zau­ber­fä­hi­gem wohl kei­ne Stra­fe. Zu wert­voll wärt Ihr … und zu ge­fähr­lich. Ich hin­ge­gen könn­te mich in Ho­ca­tin, und viel wich­ti­ger noch in Zun­daj, wohl nie wie­der bli­cken las­sen.«

»Ich muss Ant­wor­ten fin­den, Nik­ko«, er­klär­te Da­nu­wil mit fes­ter Stim­me nach ei­ner kur­z­en Pau­se. »Mein Weg führt auf die­se ver­damm­te Burg. Ich kann und will Euch je­doch nicht zwin­gen, mir dort­hin zu fol­gen.«

Nik­ko brauch­te nicht lan­ge nach­zu­den­ken, um sich für den Ad­li­gen zu ent­schei­den. Nicht nur die trost­lo­se Aus­sicht, ta­ge­lang al­lein durch Hy­mal wan­dern zu müs­sen, be­weg­te ihn dazu. Auch woll­te er Da­nu­wil jetzt nicht im Stich las­sen. Ir­gend­wie hat­te er sich schon an die Ge­sell­schaft des selt­sa­men Kerls ge­wöhnt, und hier in Hy­mal war des­sen Er­fah­rung ja tat­säch­lich von großem Nut­zen. Nütz­li­cher als im Ge­bir­ge, ging es Nik­ko durch den Kopf, und er konn­te sich ein über­le­ge­nes Grin­sen nicht ver­knei­fen.

»Ohne mich und mei­nen Zau­ber­stab wärt Ihr doch glatt ver­lo­ren«, scherz­te der Jun­ge schließ­lich.

»Hof­fen wir, dass Ihr ihn nicht ein­set­zen müsst«, er­wi­der­te Da­nu­wil kühl, sei­nen Blick fest auf die Burg ge­rich­tet.

Ei­ni­ge Stun­den wa­ren die bei­den un­ter­wegs ge­we­sen, nach­dem sie den seich­ten Fluss durch­wa­tet hat­ten. Hüft­hoch war das der­be Gras, das sich im Rhyth­mus des Win­des bog wie Wel­len auf dem Was­ser. Vie­le zu­ge­wach­se­ne Lö­cher im Bo­den be­hin­der­ten ih­ren Gang. Kaum ein Son­nen­strahl drang durch die dich­te Wol­ken­de­cke, die über dem wei­ten Feld lag und es in ein schumm­ri­ges Licht rück­te.

Fast schon Mit­tag war es wohl, als sie sich dem kah­len Hü­gel von Süd­os­ten her nä­her­ten, den eine klei­ne Bur­grui­ne aus hell­grau­em Stein in längst ver­blass­tem Stolz krön­te. Still war es, und tot wirk­te das Ge­mäu­er von hier un­ten. Die brö­ckeln­den Mau­ern schie­nen nicht be­mannt, der halb ein­ge­stürz­te Burg­fried war nicht be­flaggt.

»Wir soll­ten bes­ser die Stra­ße su­chen, die vom Pass her im Nord­os­ten zur Burg führt«, mein­te Da­nu­wil. Denn ob­wohl sich das of­fen­bar un­be­wach­te Burg­tor fast di­rekt über ih­nen be­fand, war der Hü­gel hier recht steil.

Nach ei­ner Vier­tel­stun­de hat­ten sie den Auf­stieg ge­fun­den und folg­ten ihm, wie er sich zu­nächst nach Nor­den den Hü­gel hin­auf, dann im Os­ten um die Burg­mau­ern her­um, auf de­nen schon Moos und Gras wild wu­cher­ten, und schließ­lich von Süd­os­ten her zum brü­chi­gen Tor hin­auf­schraub­te, in des­sen ma­ro­de Fu­gen vie­le klei­ne Sträu­cher und Efeu­ran­ken un­auf­halt­sam ihre Wur­zeln trie­ben.

Lang­sam und vor­sich­tig über­quer­ten die bei­den die her­un­ter­ge­las­se­ne Zug­brücke, de­ren eine ros­ti­ge Ket­te durch­trennt war und schlaff aus ei­ner Öff­nung über dem Tor­bo­gen hing. Das Tor schi­en mit Ge­walt auf­ge­bro­chen wor­den zu sein und stand nun weit of­fen, ohne je­doch »will­kom­men« zu schrei­en.

»Was für ein Empfang«, scherz­te Da­nu­wil. »Nun gut«, fuhr er fort, »im­mer noch bes­ser als Orks auf den Mau­ern.«

»Seid Ihr Euch si­cher, dass hier kei­ne Orks sind?«, frag­te Nik­ko ner­vös.

»Ja, ich den­ke schon«, ant­wor­te­te der Ad­li­ge. »Wenn Orks die Burg hiel­ten, dann wäre das Tor tags­über wohl ver­ram­melt oder we­nigs­tens be­wacht. Au­ßer­dem sind die Bies­ter no­ma­disch. Ich glau­be nicht, dass sie die Vor­zü­ge ei­ner schüt­zen­den Burg zu schät­zen wüss­ten. Nicht un­wahr­schein­lich je­doch, dass sie die Fes­tung er­obert hat­ten. Ich den­ke mal, sie sind schon wei­ter­ge­zo­gen.«

»Glaubt Ihr, wir fin­den hier noch Hin­wei­se?«, woll­te Nik­ko wis­sen, der noch im­mer große Angst hat­te, dass gleich eine Hor­de wil­der Orks über sie her­fal­len wür­de.

»Nein«, ant­wor­te­te der Ad­li­ge hart. »Aber wir müs­sen es trotz­dem ver­su­chen.«

Lang­sam schritt Da­nu­wil mit ge­zo­ge­nem Lang­schwert in der rech­ten Hand durch den Tor­bo­gen und deu­te­te Nik­ko mit der an­de­ren, zu­nächst noch zu­rück­zu­blei­ben. Erst als er im Bur­g­hof stand, wink­te er den Jun­gen zu sich.

»Tro­cke­nes Blut«, sprach der Ad­li­ge re­si­gniert. »Über­all. Seht Ihr es?«

»Ja«, er­wi­der­te Nik­ko mit Ekel. »Wo sind denn nur die gan­zen Lei­chen? Es muss doch vie­le Tote ge­ge­ben ha­ben, oder?«

»Wo­von, glaubt Ihr, er­näh­ren sich Orks?«, lach­te Da­nu­wil zy­nisch, und Nik­ko ver­stand.

Der Bur­g­hof bot ein wah­res Bild der Ver­wüs­tung. Zwar er­weck­te die Burg an sich den Ein­druck, schon lan­ge eine Rui­ne ge­we­sen zu sein, im In­nern je­doch be­fan­den sich zer­schla­ge­nes Holz, zer­trüm­mer­te Krü­ge und zer­fetz­te Stof­fe. Und ge­trock­ne­tes Blut, über­all Blut­fle­cken.

»Die Ex­pe­di­ti­on war hier«, mein­te Da­nu­wil als er ei­ni­ge Trüm­mer ge­nau­er un­ter­such­te. »Seht Ihr, auf ei­ni­gen Fet­zen kann man noch das Wap­pen von Ho­ca­tin oder das Em­blem der Gil­de er­ken­nen.«

Nik­ko fiel dies auch auf. An­sons­ten aber fan­den sich in den Trüm­mern we­der wei­te­re Hin­wei­se noch brauch­ba­re Ge­gen­stän­de. Die ver­fluch­ten Orks hat­ten al­les zer­stört und gründ­lich ge­plün­dert.

»Wir soll­ten bes­ser ver­schwin­den«, mahn­te Nik­ko. »Die gan­ze Burg zu durch­su­chen dau­ert be­stimmt Stun­den oder Tage. Ich wäre vor der Dun­kel­heit gern wie­der jen­seits des Flus­ses.«

»Ich ver­ste­he Euch«, ant­wor­te­te Da­nu­wil sanft. »Aber die Burg ist wahr­schein­lich si­che­rer. Ich glau­be kaum, dass die Orks hier­her zu­rück­keh­ren. Es sei denn, sie wit­tern uns.«

»Ihr wollt hier über­nach­ten?«, reg­te sich Nik­ko laut­stark auf. »Wa­rum? Wenn wir uns be­ei­len, kön­nen wir noch heu­te über den Fluss kom­men.«

»Der Wind hat ge­dreht, Nik­ko«, be­lehr­te der Ad­li­ge den Jun­gen. »Wir ha­ben jetzt Nord­wind. Wenn wir nach Süd­wes­ten ge­hen, kann es schlecht für uns aus­ge­hen.«

»Wo sol­len wir denn hin­ge­hen?«, jam­mer­te Nik­ko.

»Am bes­ten im­mer ge­gen den Wind«, ant­wor­te­te Da­nu­wil. »Aber hier in den Mau­ern wä­ren wir wohl am si­chers­ten.«

»Ich will aber nicht in die­ser blut­ver­schmier­ten Burg blei­ben«, trotz­te Nik­ko.

»Gut«, seufz­te Da­nu­wil. »Lasst uns we­nigs­tens erst ein­mal auf den Turm stei­gen, so hoch wie wir über­haupt noch kom­men. Von dort oben ha­ben wir be­stimmt einen bes­se­ren Über­blick.«

Dem hat­te Nik­ko nichts ent­ge­gen­zu­set­zen, auch wenn er lie­ber so­fort auf­ge­bro­chen wäre. Den­noch war auch er neu­gie­rig ge­nug, einen Blick auf die gan­ze Ebe­ne wer­fen zu wol­len.

Was wür­de wohl im Os­ten die­ses selt­sa­men Lan­des lie­gen, frag­te sich Nik­ko, wäh­rend die bei­den die brö­cke­li­ge Trep­pe des ver­fal­le­nen Turms hin­auf­stie­gen. Gäbe es hier wohl Dör­fer oder so­gar Städ­te, die den Orks tap­fer trotz­ten? Vi­el­leicht aber gäbe es ja so­gar Ork­städ­te.

Als die bei­den oben auf dem in­sta­bil wir­ken­den Burg­fried an­ge­kom­men wa­ren, konn­ten sie sich zu­nächst einen bes­se­ren Über­blick über die ge­sam­te Burg ver­schaf­fen. Das Tor­haus war als ein­zi­ges Ge­bäu­de noch halb­wegs in­takt – wie auch die Mau­ern. Das Haupt­haus und die Ne­ben­ge­bäu­de hin­ge­gen er­schie­nen weit­ge­hend ver­fal­len. Die Nord­hälf­te des run­den Turms, auf dem sie nun stan­den, war be­reits zu­sam­men­ge­fal­len, und der Rest mach­te einen brü­chi­gen Ein­druck. Je­doch er­laub­te der ver­blie­be­ne Teil der obers­ten Platt­form einen gu­ten Blick in alle Rich­tun­gen.

Im Os­ten hat­ten sich die Wol­ken wei­ter zu­sam­men­ge­zo­gen. Es war dort grau, und die Luft war die­sig. Zu Nik­kos Ent­täu­schung konn­te man so nicht weit in die­se Fer­ne bli­cken. Al­les, was zu er­ken­nen war, schi­en eine un­end­li­che Wei­te, in der das fah­le Grün der Ebe­ne mit dem trü­ben Grau des wol­ken­ver­han­ge­nen Him­mels zu ei­nem un­heil­vol­len Ei­ner­lei ver­schmolz.

»Ver­flucht sei die­ses Wet­ter!«, me­cker­te Da­nu­wil laut­stark. »Wenn ich nur wüss­te, ob Tei­le der Ex­pe­di­ti­on wei­ter nach Os­ten ge­zo­gen sind. Aber bei solch die­si­ger Luft lässt sich nichts erah­nen und viel we­ni­ger noch er­ken­nen.«

»Was hat die­se Ex­pe­di­ti­on ei­gent­lich ge­sucht?«, woll­te Nik­ko wis­sen.

»Erz na­tür­lich«, er­wi­der­te der Ad­li­ge nüch­tern. »Was denn sonst?«

Da­nu­wils Fern­rohr späh­te nun vom Nor­den über den Wes­ten in den Sü­den, wor­auf­hin er nur mit dem Kopf schüt­tel­te.

»Schaut Euch das an, Nik­ko«, seufz­te er schließ­lich und gab dem Jun­gen das Fern­rohr. »Da, im Sü­den. Seht Ihr es?«

Viel mehr als schwar­ze Punk­te konn­te der Jun­ge nicht er­ken­nen. Vie­le schwar­ze Punk­te, fast ei­nem Amei­sen­hau­fen gleich, und Rauch. »Was ist das?«, frag­te er schließ­lich.

»Nur ein Ork­heer«, mein­te der Ad­li­ge mit trie­fen­dem Sar­kas­mus. »Kei­ne Sor­ge, ge­nug für uns bei­de.«

»Wie vie­le das wohl sind«, mur­mel­te der Jun­ge. »Na ja, der Weg nach Süd­wes­ten fällt dann wohl weg, oder?«

»In der Tat«, ant­wor­te­te Da­nu­wil. »Wisst Ihr ei­gent­lich, wie viel Glück wir ges­tern wohl hat­ten? Die War­g­rei­ter, ich den­ke das wa­ren Spä­her die­ses Heers.«

Nik­ko ver­stand, wie knapp sie in je­ner Nacht dem Tode ent­ron­nen sein muss­ten. Aber wun­dern konn­te er sich dar­über nicht mehr. Wie oft doch war er in den letz­ten Wo­chen dem Tod schon von der Schip­pe ge­sprun­gen, ge­ra­de hier in Hy­mal.

Da­nu­wil hat­te das Fern­rohr wie­der an sich ge­nom­men und in­spi­zier­te nun die Stra­ße nach Nord­wes­ten ge­nau­er.

»Was ist denn das?«, be­merk­te er plötz­lich mit großem In­ter­es­se. »Nik­ko, schaut Euch das ein­mal an.«

Nach­dem der Jun­ge das Rohr an sich ge­nom­men und die frag­li­che Stel­le an­vi­siert hat­te, konn­te er eine klei­ne Grup­pe von Orks er­ken­nen, die sich auf der Stra­ße in Rich­tung Nord­wes­ten be­weg­te. Ver­flucht, jetzt ist auch die­se Rich­tung noch blo­ckiert!

»Neun Orks«, mein­te er schließ­lich ent­geis­tert. »Kein Heer, aber trotz­dem är­ger­lich, dass auch die­ser Weg ver­sperrt ist.«

»Schaut ge­nau hin!«, er­wi­der­te der Ad­li­ge auf­ge­regt. »Sechs Orks und drei Ge­fan­ge­ne. Zückt schon mal Eu­ren Zau­ber­stab, Meis­ter Nik­ko. Die schnap­pen wir uns!«

Be­vor der Jun­ge noch et­was sa­gen konn­te, rann­te der Edel­mann be­reits die Trep­pe hin­un­ter den Burg­fried hin­ab. Nik­ko blieb so nichts an­de­res üb­rig, als dem stür­mi­schen Ad­li­gen zu fol­gen.

Erst nach­dem Da­nu­wil die Zug­brücke pas­siert hat­te, wech­sel­te er vom schnel­len Lauf in einen zü­gi­gen Gang. Der atem­lo­se Jun­ge hat­te den­noch große Schwie­rig­kei­ten, mit dem plötz­lich so aus­dau­ern­den Ad­li­gen Schritt zu hal­ten.

»Los, Nik­ko!«, sporn­te Da­nu­wil ihn an, als die­ser be­merk­te, dass der jun­ge Zau­be­rer zu­rück­ge­fal­len war. »Wir müs­sen die ver­fluch­ten Orks fas­sen, be­vor sie in ir­gend­ei­nem Loch ver­schwin­den.«

Nik­ko woll­te schon pro­tes­tie­ren. Nicht nur we­gen des ho­hen Tem­pos, son­dern ihm kam auch die Idee, den Ork­trupp zu stel­len, viel zu ge­fähr­lich vor. Dann je­doch be­sann er sich der hilflo­sen Ge­fan­ge­nen. Si­cher­lich wür­den die Orks sie tö­ten und wahr­schein­lich so­gar ver­spei­sen. Da­nu­wil und er wa­ren wohl ihre ein­zi­ge Hoff­nung auf ein Über­le­ben, ver­such­te er das ver­we­ge­ne Vor­ha­ben zu recht­fer­ti­gen.

Nach kur­z­em Weg er­reich­ten die bei­den eine Stel­le, an der von der Stra­ße nach Nord­wes­ten ein Pfad nach Nor­den ab­zweig­­­­­­­­­­­