Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrüßen Sie auf dem geistigen Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Halten Sie bitte Ihre Personaldokumente bereit und zeigen Sie sie den Geistern der Vergangenheit, die Sie heimsuchen werden, auf Verlangen vor.
Als tägliche Lesezeit steht Ihnen die Zeit von Montag bis Freitag zwischen 7 Uhr und 16.35 Uhr zur Verfügung. Der Samstag ist lesefrei, es sei denn, Sie wollen die Zeit als VMI-Stunden abrechnen. Arbeiten Sie das Buch gewissenhaft durch. Am Ende wird Ihre Arbeit mittels einer Leistungskontrolle überprüft.
Das Buch entstand in sozialistischer Gemeinschaftsarbeit zwischen den Redakteuren des Verlags Bassermann, dem Autor und einem Kollektiv von Erinnerungsspezialisten, die ungenannt bleiben wollen. Es stellt weder einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR noch eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der dafür zuständigen Stellen dar. Behandeln Sie das Buch behutsam und pfleglich; wir wissen nicht, ob Sie angesichts der großen Nachfrage sofort ein neues Exemplar bekommen können, sollten Sie eins benötigen. Lassen Sie sich gegebenenfalls in eine Warteliste eintragen oder legen Sie sich schon jetzt einen kleinen Vorrat an, wenn Sie zufällig mehrere erwischen sollten.
Mit sozialistischem Gruß
Ihr Schöpferkollektiv
Einleitung
»Nie war die DDR so schön wie heute«, schrieb Holger Reischok schon 2003 in der Berliner Zeitung. In der Zwischenzeit sind noch etliche Motto-Shows über die Mattscheibe geflimmert, haben Stars von einst als Moderatoren von heute in Medien-Erinnerungen gekramt wie einst Willi Schwabe in der Rumpelkammer nach alten Filmschnipseln. Und schon sind wir mittendrin in der schönsten Ostalgie – Willi Schwabes Rumpelkammer, das war doch noch was, das war unpolitisch, das war Kultur, das war einfach nur schön.
Nun werden die Erinnerungen an die DDR bei jedem Einzelnen anders ausfallen. Es muss aber einen Grund dafür geben, dass sich so viele gern an die DDR erinnern. Wahrscheinlich gibt es mehr als einen Grund. Aber ein wichtiger, vielleicht sogar entscheidender Grund wird selten genannt. Wer heute 50 ist und gern an die Siebzigerjahre in der DDR zurückdenkt, tut das nicht, weil diese Jahre besonders schön gewesen wären, er tut das, weil er in dieser Zeit jung war. Seine Erinnerungen an die Sechzigerjahre sind davon geprägt, dass er in die Schule gegangen ist. Und wenn er von Pioniernachmittagen schwärmt, sich an das Fach Heimatkunde erinnert und es putzig findet, dass alle hintereinandersitzenden Schüler einer Bankreihe eine sogenannte Brigade bildeten, dann will er damit nicht ein totalitäres System beschönigen, sondern er erinnert sich an seine Schulzeit. Jeder hat das Recht, sich seiner Schulzeit als einer angenehmen, anregenden und abwechslungsreichen Zeit zu erinnern. Denn er erinnert sich nicht in erster Linie an die Fakten, sondern an die Gefühle und Empfindungen, die diese Fakten – welche es auch immer gewesen sein mögen – damals in ihm auslösten. Man frage ihn nicht, wie er als Vier- oder Fünfjähriger die Aufrichtung von Mauer und Stacheldraht bewertet hat. Man frage ihn aber, wie ihm im Kindergarten das lauwarme Kübelessen geschmeckt hat, das er mit dem damals gebräuchlichen Aluminiumlöffel zu sich nahm. Darüber wird er wahrscheinlich Auskunft geben können.
Die Erinnerung arbeitet in uns auf zweierlei Weise. Der eine Erinnerungsstrang lässt das, was wir damals als völlig normalen Alltag hingenommen haben, mit wachsendem Abstand immer absurder aussehen. Die Erinnerung verzerrt; das tut sie immer. Die Frage ist nur, ob sie die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verzerrt oder ob gerade die Verzerrung das, was war, erst wirklich kenntlich macht. Der andere Erinnerungsstrang verfährt genau umgekehrt. Was wir damals als störend, belastend, ja bedrohlich empfunden haben, erscheint in einem milderen Licht, je weiter der Abstand wird.
Damit wir uns einig darüber sind, woran wir uns erinnern: Wir haben ein Land vor uns, das seine eigenstaatliche Existenz auf der Konkursmasse eines viel größeren Landes gründete, einem Land, das einmal das Deutsche Reich gewesen war. Auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone dieses im Zweiten Weltkrieg untergegangenen Reiches bestand die Deutsche Demokratische Republik etwas weniger als 41 Jahre, nämlich vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990. Gegründet auf Betreiben Stalins, der als Vater der Völker Staaten von der Landkarte zu tilgen und neue zu schaffen pflegte, wenn es ihm beliebte, genoss der neue Staat nur eine begrenzte Souveränität und eine begrenzte Lebenskraft. Begrenzt durch die Oder-Neiße-Grenze (bis auf den nordöstlichen Rand, wo Stalin in Jalta das Lineal ein wenig nach links gerückt und die Grenzlinie westlich der Oder gezogen hatte), umfasste es 108 179 Quadratkilometer. In ihm wohnten zu Beginn 18,36 Millionen Menschen; am Ende waren es noch 16,35 Millionen. Das Land ging mit denkbar schlechten Voraussetzungen an den Start: Außer Braunkohle und Kalisalzen kaum Rohstoffe, auf dem interessantesten Rohstoff, dem Uran, hatte die UdSSR ihre Hand; aus dem erzgebirgischen Uran war Stalins Atombombe gemacht. Kaum Schwerindustrie. Ein zerschlissenes Verkehrssystem (und die zweiten Gleise der Eisenbahn als Reparation demontiert). Keine modernen Werften, keine großen Seehäfen, keine Fischereiflotte, von Luftfahrt ganz zu schweigen. Eine Landwirtschaft, die nach einer Bodenreform in ineffektive Kleinproduktion zurückgefallen war. Und über allem schwebte eine Partei, die in ihren besten Tagen zwar 2,3 Millionen Mitglieder haben würde, von denen aber nicht wirklich viele aus vollstem Herzen und ohne jeden Vorbehalt die Politik bejahten, die da auch in ihrem Namen betrieben wurde. Die DDR war ein Land, das seinen Bürgern Sicherheit gab, und davon so viel, dass es ihnen aus Sicherheitsgründen manche erstrebenswerte Freiheit vorenthalten musste, ein Land, in dem »arm« und »reich« keine wichtigen Begriffe mehr waren, »arm an Beziehungen« und »einflussreich« aber schon, ein Land, das den Weg beschritten hatte, den gravierenden Mangel an Gütern mittels einer Planwirtschaft zu beheben, die in Wirklichkeit eine Kommandowirtschaft war. Ein Land auch, das auf jeden schoss, der es unerlaubt verlassen wollte, ein Land, das zerbrach, was sich nicht fügen wollte, ein Land, das die Hoffnungen zerstörte, die es gesät hatte, und mit den Hoffnungen den Mut und die Gesundheit und die Fröhlichkeit so vieler Menschen.
Dem Grotesken, Komischen, Verdrehten des Alltags widmet sich dieses Buch. Dem Alltag, der lächerlich war und kleinlich und beschaulich. Oder erstaunlich. Bedenklich und bedenkenswert. Unversehens schneit große Politik in diesen Alltag hinein, wie es auch in der vergangenen Wirklichkeit dieses Landes war, und was da hineinschneit, wie trivial war es doch manchmal. Aus der Fülle der Daten puhlt es diejenigen heraus, die wenig bedeutsam klingen und die für die Menschen dennoch wichtiger waren als Staatsakte. Mancher wird etwas ganz Neues erfahren, mancher wird seine Erinnerung auffrischen: »Ach, tatsächlich, siehste, das gab es ja auch.« Stoff zum Plaudern und zum – dieses Wort muss hier einmal fallen – Erfahrungsaustausch sollte sich allemal finden. Subjektiv und eingeschränkt, wie die Erinnerungen.
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Nein, dieser Satz wird in diesem Buch nicht zu lesen sein. Gut und schlecht sind keine Kategorien der Erinnerung. Das Gedächtnis vergibt keine Zensuren. Es gibt nur Signale: »Hier war etwas. Nimm es oder lass es liegen. Wenn es wehtut, lass es. Wenn du lachen kannst, nimm es, du hast es besiegt. Das Land ist gestorben. Du lebst. Du kennst es noch. Es ist wirklich, wirklich vorbei. Es ist tot. Du kannst lachen.«
Sachlexikon
Abkindern DDR-Jargon für eine besondere Tilgungsform des zinslosen ☞Ehekredits, der jungen Ehepaaren zur Verfügung stand. Bei der Geburt des ersten Kindes wurden 1000 Mark der Restschuld erlassen, beim zweiten Kind 1500 Mark und beim dritten 2500 Mark.
Abschnittsbevollmächtigter ABV Angehöriger der ☞ Volkspolizei mit ständigem Dienstsitz im Wohngebiet. Seine ständige Anwesenheit sollte die Präsenz der Staatsmacht demonstrieren. Was ein Abschnitt war und welche Vollmachten der Bevollmächtigte dort besaß, wurde dem Normalbürger allerdings niemals klar. Vergleichbar mit dem Kontaktbereichsbeamten bundesdeutscher Prägung; vergleichbar auch, weil die Berufsbezeichnung ähnlich irre klingt.
Adel Neben den »imperialistischen Kriegstreibern« waren die »Junker« so ziemlich das Schlimmste, was die SED-Propaganda als Feindbild aufzubauen vermochte. Junker galten als Klassenfeind, als Hort des Militarismus. Als gesellschaftliche Klasse wurden sie bereits während der Bodenreform seit Herbst 1945 aus der Gesellschaft völlig verdrängt. Daneben hielt sich ☞ Ulbricht aber einige Vorzeige-Adlige, wie den Wissenschaftler ☞ Manfred von Ardenne, den Rennfahrer Manfred von Brauchitsch und den Fernsehkommentator ☞ Karl-Eduard von Schnitzler.
Aktendulli Bezeichnung für einen Heftstreifen aus Pappe oder Kunststoff mit einer Metallklammer, mittels dessen Blätter nach Art des Schnellhefters zu einem Konvolut geheftet werden, das man seinerseits in einen Aktenordner einlegen kann. Von Schreibwarenhändlern auch Fisch oder Aktenfisch genannt; unter der Bezeichnung Akten-Dulli wurde das praktische Bürohilfsmitel 1939 von Carl Kohl in Chemnitz erfunden.
Amiga Schallplattenlabel, auf dem überwiegend Unterhaltungsmusik, Schlager, Jazz, Rock- und Popmusik veröffentlicht wurden (☞ Eterna). Neben Künstlern eigener Provenienz gab es auch in begrenztem Umfang Produktionen westlicher Musik; sie gehörten zur begehrtesten ☞ Bückware in der DDR und waren auch Tauschobjekte für andere begehrte Artikel. Schlagersängerinnen in der DDR wurden auch – wegen des typischen Stils der Studioproduktionen – Amiga-Drosseln genannt.
Ampelmännchen Symbolische Figur auf Lichtsignalanlagen für Fußgänger. Das DDR-Ampelmännchen – sowohl in der roten wie in der grünen Ausführung – kann als grafisch wesentlich gelungener bezeichnet werden als das in der alten Bundesrepublik übliche Symbol. Das grüne Ampelmännchen schreitet sehr viel dynamischer aus, und das rote Ampelmännchen signalisiert mit ausgebreiteten Armen das Kommando Stopp!, wodurch es psychologisch effektiver ist als die schüchtern dastehende Westperson, die sich eher übersetzen ließe mit »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, empfehle ich Ihnen, jetzt einmal stehen zu bleiben«. Nach der Wiedervereinigung sollte das Ost-Ampelmännchen abgeschafft werden, was zu einer ungeahnt hohen Protestwelle und zu einer Publizität des Vorgangs geführt hat, die dem Ampelmännchen Kultstatus verschaffte. Bislang ist es jedenfalls gelungen, die putzigen Kerlchen im Straßenbild zu erhalten.
Antifaschistischer Schutzwall Martialische und zugleich beschönigende Bezeichnung für die Sperrwerke der Berliner ☞ Mauer. Die Bezeichnung will suggerieren, dass die Mauer gegen einen äußeren Feind gerichtet ist, während doch die Sperrwerke sich allein gegen die Bürger des eigenen Landes richteten. Der Begriff war so wenig wirksam, dass ihn seine Erfinder schließlich fallen ließen; seit 1977 sprach selbst ☞ Erich Honecker von der Mauer.
Arbeiterschließfach DDR-Jargon für die Neubauwohnungen der Typen P 2 und WBS 70, die in ihrem gleichförmigen äußeren Erscheinungsbild an Schließfachanlagen der Post erinnerten.
Asche Soldatenjargon für Nationale Volksarmee (☞ NVA).
Aufgebot Im Familienrecht der DDR abgeschafft, führte der Begriff Aufgebot ein zweites Leben in der politischen Propaganda. Namentlich die ☞ FDJ versuchte mit Aufgebotskampagnen die junge Generation für den Aufbau des ☞ Sozialismus zu begeistern. So gab es 1955 ein Wilhelm-Pieck-Aufgebot, 1970 ein Lenin-Aufgebot, 1984/85 ein Thälmann-Aufgebot und 1989 ein Aufgebot DDR 40 – gewissermaßen das letzte Aufgebot. Wer hierbei militärische Assoziationen hat, liegt nicht verkehrt: Militärische Organisation und »Kampf«-Terminologie waren beabsichtigt und wurden als besonders »revolutionär« gepflegt.
Behelfsetikett Provisorisches Etikett zur Kennzeichnung von Waren, das verwendet wurde, wenn Papier oder Druckkapazität oder Druckfarben oder eine andere notwendige Zutat für die Herstellung regulärer Etiketten nicht verfügbar waren. Behelfsetiketten enthielten meist nicht mehr als die notwendigsten Warenangaben und kamen grundsätzlich ohne grafische Gestaltung und Abbildungen aus. Da eine große Anzahl von Warenetiketten bereits in den Fünfzigerjahren entworfen worden war, hoben sich die schlichten Behelfsetiketten, die in den Achtzigern häufig anzutreffen waren, sehr angenehm von den regulären Etiketten ab, die im Grunde niemand vermisste.
Beutelratten Abfällige Bezeichnung der Westler für DDR-Bürger, die anfangs dadurch auffielen, dass sie stets und ständig einen ☞ Dederon-Einkaufsbeutel mit sich führten. Das war natürlich ein trainiertes Jagdverhalten, das der ☞ Dederoni auch in der Marktwirtschaft nicht sofort ablegen konnte. In der sozialistischen Planwirtschaft (☞ Plan) musste man nämlich immer darauf gefasst sein, dass es »etwas gab«. Kein Mensch konnte vorhersehen, was dieses »Etwas« sein würde. Vorhersehbar war aber, dass es für dieses Etwas keine geeignete Verpackung im Geschäft geben würde. Was also tun, wenn es gerade frische Pflaumen gab? Oder Walnüsse? Jonglieren? In die Backentaschen stopfen? Also.
Bierpfennig Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war der Bierpfennig eine Abgabe auf den Verbrauch von Bier (die es im Übrigen heute noch gibt). Aber er bezeichnete auch eine der kuriosesten Abgaben in der DDR, hervorgerufen durch die üblichen Festpreise: Ein kleines Glas Bier (0,25 l) kostete 51 Pfennig. Ein großes Glas Bier (0,51) kostete 1,03 Mark. Wer also vier kleine Glas Bier trank, hatte einen Liter zu 2,04 Mark getrunken, wer zwei große Bier trank, einen Liter zu 2,06 Mark. Der feste Literpreis von 2,06 Mark ließ sich nicht durch 4 teilen. Die Mindereinnahme, die durch das Ausschenken des Biers in Viertellitergläsern entstand, musste genau verbucht werden. Die Gastwirte waren angehalten, die Zahl der Viertellitergläser und die Zahl der Halblitergläser, die sie ausgeschenkt hatten, zu registrieren und den zuständigen Organen für Handel und Versorgung zu melden – dort wurden dann die Pfennigdifferenzen verrechnet und der Bierpfennig, der durch den Ausschank von Halbliterbieren überschoss, abgeführt.
Bilanz Bestandteil des ☞ Plans. Der Begriff meinte in der DDR, anders als im Handelsrecht der Bundesrepublik, die zahlenförmige Gegenüberstellung von wirtschaftlichen Größen, die einander bedingten (zum Beispiel Bedarf und Aufkommen an Material, Arbeitskräften, Rohstoffen, Halbfertigerzeugnissen usw.). Die Bilanz stellten Proportionen und Relationen der verschiedenen Wirtschaftskräfte dar, und oft zeigte sich, dass sich zentral vorgegebene Plankennziffern gar nicht bilanzieren ließen, weil die dafür erforderlichen Arbeitskräfte oder Rohstoffe nicht zur Verfügung standen.
Blaue Fliesen Bezeichnung für D-Mark, wahrscheinlich abgeleitet vom blauen Farbton des 100-DM-Scheins. Obwohl der 100-Mark-Schein der DDR ebenfalls blau war, galt die Bezeichnung nur für Westgeld.
Bonbon Volkstümliche Bezeichnung für das Parteiabzeichen der ☞ SED; die Bezeichnung hatte in der elliptischen Form des Abzeichens ihren Ursprung (☞ Existenzellipse).
Bonner Ultras Propagandaformel der Fünfziger- und Sechzigerjahre, die gegen die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gerichtet war; sie nimmt den historischen politischen Begriff des Ultramontanismus (von ultramontan = jenseits des Gebirges; das bezeichnete jene Gruppe von Katholiken, die sich allein an Weisungen aus Rom gebunden fühlten) auf, um anzudeuten, dass die Bonner Regierung ausschließlich Anweisungen von außen, sprich: aus den USA, ausführe.
Bonzenschleuder Kosename für Verkehrsmittel mit zwei Bedeutungen: 1. die Luxuslimousinen der Partei- und Staatsführung, in der Frühzeit sowjetischer Bauart (vor allem die Marken Tschaika und SIL waren der obersten Führung vorbehalten), später schwedischer Import (Volvo). 2. Die Städteexpress-Züge, die seit 1976 aus allen Bezirksstädten der DDR morgens nach Berlin und am Nachmittag wieder in die Bezirksstädte zurückfuhren, und zwar montags bis freitags. Die Fahrpläne waren so abgestimmt, dass Dienstreisende 10-Uhr-Termine in Berlin erreichten, ebenso nach dem üblichen Sitzungsschluss ihren Zug zurück in die Bezirke. Die Schleudern waren orange-beige lackiert und unterschieden sich allein dadurch auffallend vom damals üblichen Reichsbahngrün. Auch innen wirkte die Ausstattung gediegener und vor allem sauberer als bei gewöhnlichen Reichsbahn-D-Zügen (☞ Reichsbahn). Der Städteexpress wurde als zentrales ☞ Jugendobjekt der ☞ FDJ geführt. Städteexpresszüge waren zuschlagspflichtig. Der Zuschlag kostete für die 2. Klasse 5 Mark (in normalen D-Zügen 3 Mark). Neben dem Transport von Funktionären und Dienstreisenden dienten die Züge – besonders montags früh und donnerstags nachmittags – dem Bauarbeiterverkehr von und nach Berlin.
Bückware Gängige Bezeichnung für knappe Waren, die nicht offen in den Regalen zu sehen waren, sondern unterm Ladentisch versteckt wurden, weshalb sich das Verkaufspersonal bücken musste, um besonders gute Kunden damit zu bedienen. Wer selbst etwas zu bieten hatte, das die Verkäuferin dringend brauchte, hatte die besten Chancen, an Bückware heranzukommen.
Datsche Wochenendhaus im Grünen, nach dem russischen Wort »datscha«, einer der wenigen Russizismen, die dauerhaft Eingang in die Sprache der DDR gefunden haben. Datschen waren besonders von Großstadtbewohnern heiß begehrte Wochenend- und Feriendomizile – das Spektrum der architektonischen Vielfalt reichte dabei vom Geräteschuppen mit Sitzplatz bis zum unterkellerten Sechs-Zimmer-Haus Marke Kanzler-Bungalow. In den Baugenehmigungen waren Datschen gewöhnlich als »Wohnlaube« ausgewiesen, der (manchmal) dazugehörige Swimmingpool als »Feuerlöschteich«. Manche Dörfer und Vororte im Weichbild der Großstädte hatten mehr als 15 Feuerlöschteiche.
Dederon Bezeichnung für die Polyamidseide, die in den USA als Nylon, in der Bundesrepublik als Perlon und in der Schweiz als Grilon bekannt ist. Der Handelsname sollte von vornherein markenrechtliche Streitigkeiten, bei denen die DDR meist den Kürzeren zog, ausschließen. Er enthielt die drei Buchstaben der Staatsbezeichnung: DeDeRon.
Dederoni teils abfällige Bezeichnung der Westler für DDR-Bürger, teils selbstironische Selbstbezichtigung; abgeleitet von der DDR-Bezeichnung für Polyamidseide ☞ Dederon.
DEFA Staatliche Filmproduktionsfirma, gegliedert in die selbstständigen Studios für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg), das Studio für Dokumentarfilme (Berlin, Potsdam) und das Trickfilmstudio (Dresden); außerdem gehörte noch das DEFA-Kopierwerk zum Firmenverbund. Im Alltagsverständnis verband man mit dem Begriff DEFA vor allem das Spielfilmstudio. Es produzierte in den letzten Jahren der DDR pro Jahr 16 Kinofilme (darunter in der Regel zwei Kinderfilme), übernahm aber im etwa gleichen Umfang die Produktion für große Fernsehfilme des DDR-Fernsehens als Dienstleister. Ferner wurden in den Babelsberger Studios in begrenztem Umfang auch internationale Produktionen realisiert. Der DEFA-Film, wie man ihn gemeinhin kannte, war ein typischer Studiofilm, die Eigenheiten der Regisseure und Autoren traten hinter den Produktionsmechanismen des ideologisierten Studiobetriebs zurück. DEFA-Filme wurden häufig gescholten, selten gelobt. Zu den heute gelobten gehören manche, über die man zur Zeit ihrer Entstehung bestenfalls milde gelächelt hat. Daran erinnert der folgende Witz:
Ein Priesterseminarist wird von einem Bischof nach seinen Zukunftsplänen gefragt. »Ich will DEFA-Direktor werden«, antwortet er. »Aber warum nur das?«, fragt der Bischof irritiert. »Hochwürden, stellen Sie sich einmal vor: Erster Mai, Demonstrationszug, und dann verkündet der Sprecher: ›Und jetzt begrüßen wir das Kollektiv des DEFA-Spielfilmstudios mit seinem Direktor an der Spitze‹, da sagt doch alle Welt: ›Ach du lieber Gott …‹«
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Die DEFA drehte den ersten deutschen Nachkriegsfilm: Die Mörder sind unter uns (1946). Er setzt sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander. Der erfolgreichste DEFA-FILM aller Zeiten ist ein Märchen: Die Geschichte vom kleinen Muck (1953, Regie: Wolfgang Staudte). Eine bemerkenswert hohe Resonanz beim Publikum fanden die Indianerfilme der DEFA. Die Söhne der großen Bärin (1966, Regie: Josef Mach), Chingachgook die große Schlange (1967, Regie: Richard Groschopp), Spur des Falken (1968, Regie: Gottfried Kolditz), Weiße Wölfe (1969, Regie: Konrad Petzold), Tödlicher Irrtum (1970, Regie: Konrad Petzold), Osceola (1971, Regie: Konrad Petzold), Tecumseh (1972, Regie: Hans Kratzert), Apachen – Blutige Rache (1973, Regie: Gottfried Kolditz), Ulzana (1974, Regie: Gottfried Kolditz), Blutsbrüder (1975, Regie: Werner W. Wallroth), Severino (1978, Regie: Claus Dobberke), Blauvogel (1979, Regie: Ulrich Weiß), Der Scout (1983, Regie: Dshamjangijn Buntar, Konrad Petzold).
Besondere Juwelen der Produktion sind – damals belächelt, heute Kult – die Science-Fiction-Filme. Der schweigende Stern (1960, Regie: Kurt Maetzig), Signale – Ein Weltraumabenteuer (1970, Regie: Gottfried Kolditz), Eolomea (1972, Regie: Hermann Zschoche), Im Staub der Sterne (1976, Regie: Gottfried Kolditz), Besuch bei van Gogh (1985, Regie: Horst Seemann).
Delikat Ladenkette für Nahrungs- und Genussmittel mittlerer bis höherer Qualität; sie wurde geschaffen, um den Unmut der Bevölkerung über die wachsende Zahl von ☞ Intershop-Läden einzudämmen, in denen nur Westgeld-Besitzer einkaufen konnten. In der Delikat-Kette wurden vorgeblich höherwertige Waren für DDR-Mark verkauft. Wirklich delikat waren vor allem die Preise – für niedrige und mittlere Gehälter schlicht unerschwinglich. Häufig wurden die Delikat-Läden vor Festen und Feiertagen aufgesucht, wenn das Geld etwas lockerer saß oder man seinen Gästen oder Besuchern aus dem Westen etwas bieten wollte. Nach und nach rutschten immer mehr normale Produkte aus dem ☞ HO- oder ☞ Konsum-Sortiment und landeten im Delikat-Programm, selbst Dosenmakrelen in Tomatensoße galten am Ende schon als delikat.
Diskothek Anders als im Westen war sie in der Regel kein festes Etablissement, sondern eine mobile Einrichtung, die schnell aufgebaut und wieder abgebaut werden konnte. Diskotheken wurden veranstaltet von ☞ Schallplattenunterhaltern – meist in Kulturhäusern, Jugendklubs, Sälen von Gasthöfen, aber auch in Ferienlagern, am Ende von Schulungen, Ernteeinsätzen und ähnlichen Gelegenheiten. Abgespielt wurde die aktuelle Musik sowohl östlicher als auch westlicher Herkunft, wobei, solange die Gefahr einer Überwachung bestand, das Verhältnis von 60 (DDR und Ost) zu 40 (West) Prozent bei den Musiktiteln eingehalten werden musste. Die Schallplattenunterhalter hatten hierüber entsprechende Listen zu führen und bei der AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte aus dem Gebiet der Musik) einzureichen. Wenn keine Kontrolle drohte, wurde in der Regel erheblich mehr Westmusik als Ostmusik gespielt, aber getreulich Ostmusik in die Listen geschrieben. So mancher DDR-Rocker hat auf diese Weise Tantiemen bezogen, die nach bürgerlichem Recht eigentlich den Stones, Deep Purple, John Lennons Erben oder Dieter Bohlen zugestanden hätten. Die Diskothek war die Jugendunterhaltungsform erster Wahl spätestens seit Beginn der Siebzigerjahre.
Dispatcher Neben dem Broiler ein weiterer Anglizismus, der sich in der DDR offiziell durchgesetzt hatte; vom engl. Verb »to dispatch« = etwas erledigen, abschicken. Er wurde als Fachbegriff für Koordinatoren im Eisenbahnwesen (hier einem Disponenten der Betriebszentrale vergleichbar), im öffentlichen Personennahverkehr (hier in der Funktion eines Verkehrsmeisters), in der Schifffahrt und im Speditionswesen (hier einem Disponenten vergleichbar) verwendet. Wenn in der Hauptverkehrszeit eine Oberleitung riss und in einer Großstadt der Straßenbahnverkehr zusammenbrach, erschienen die Dispatcher, dispatchten wie verrückt, und nach ein, zwei Stunden lief’s wieder.
Elf 99 Jugendsendung des DDR-Fernsehens, die im Titel und im Logo die Postleitzahl des Fernsehstudios in Berlin-Adlershof (1199) aufnahm. Erster Sendetermin war der 1. September 1989; in den Wendewochen fiel Elf 99 durch Frische, Frechheit und kritische Berichterstattung auf. Die Sendung erreichte große Popularität, wurde nach der Auflösung des Deutschen Fernsehfunks an RTL abgegeben und von dort an Vox weitergereicht, wo das Format schließlich im März 1994 eingestellt wurde.
Erichs Lampenladen DDR-Jargon für den ☞ Palast der Republik; der Begriff kam zustande aufgrund der Vielzahl von Beleuchtungskörpern, mit denen das Hauptfoyer ausgestattet war.
Eterna Schallplattenlabel, auf dem klassische Musik bzw. sogenannte E-Musik (stand nicht für Elektronik, sondern für »ernste Musik«) veröffentlicht wurde. Eterna-Aufnahmen mit den hervorragenden Solisten und Orchestern, über die die DDR verfügte, genossen auch international einen ausgezeichneten Ruf.