1. November 1689
Richards 31. Regierungsjahr
In ihren knapp achtzehn Lebensjahren war Eliza Sawyer in einige lebensbedrohliche Situationen mit tödlichen Kreaturen geraten, doch nie zuvor hatte sie einer solchen Bestie ins Antlitz geschaut.
Nicht Mensch, nicht Tier zeigte sie groteske Züge aus beidem; einen gewaltigen, haarigen Wolfskörper, doch den Kopf eines Mannes. Scheußlich knisternde Verbrennungen warfen Blasen über das rohe Fleisch seiner linken Gesichtshälfte, und dennoch schaffte er es zu lächeln.
Sie zitterte, die Anstrengungen der letzten Stunden forderten ihren Tribut. London brannte. Lodernd leckten die Flammen nach dem Himmel, und selbst hier, einige Meilen von der Stadt entfernt, konnte man das unheilvolle Pfeifen der Kanonenkugeln hören, die von der Themse aus auf sie abgefeuert wurden, sowie das Bersten der steinernen Mauern, die der unnachgiebige Beschuss zerschmetterte.
Hinter sich nahm sie eine Bewegung wahr und sie wagte es, den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen. Ein weiterer Mann näherte sich ihr langsam, sein Bein hinterherziehend.
Auch ein Raubtier, wie viele glaubten. Er trug viele Namen: der Bluthund des Lordprotektors, Richards rechte Hand, der Grimm. Obwohl er mindestens so angeschlagen wirkte wie der Wolfsmensch vor ihr, war er nicht weniger gefährlich. In der einen Hand hielt er eine kleine, handliche Armbrust, mit der er sehr gut umzugehen wusste, die andere tastete nach seinem Druidenstab.
Ihr alter Meister war seit wenigen Stunden tot, möglicherweise war er jetzt der mächtigste Magier von ganz Britannien.
Zwei Männer. Zwei Kämpfer. Unerbittlich. Unerschütterlich. Ungebrochen trotz ihrer Verletzungen. Beide wussten genau, was sie wollten.
Der eine versprach ihr seine Liebe, seine Leidenschaft, sein Land, so sie denn wollte.
Der andere schwieg.
Einer war bereit zu töten, um zu bekommen, wonach es ihn verlangte.
Einer bereit zu sterben, um dasselbe zu verteidigen.
Von ihrer Entscheidung hing nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das dieser Krieger ab, und sie spürte das Aufflammen der Magie in sich. Heftig schäumte sie auf, bereit zuzuschlagen und zu vernichten.
Doch da war noch immer ihr Herz, das wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust flatterte, rauswollte, sich nach Freiheit sehnte. Dieser Freiheit, für die sie alles riskiert und alles gegeben hatte. Eliza beschloss, sich ein weiteres Mal auf ebenjenes wild schlagende Herz zu verlassen. Sie beruhigte den tosenden Magiequell in ihrem Inneren, ging neben dem Wolfsmann auf die Knie und sagte: »Wir müssen damit aufhören.«
20. Oktober 1689
Richards 31. Regierungsjahr
Die Welt bestand aus kalten Orten, und London war der schlimmste von allen. Die Kälte zeigte sich nicht nur am Wetter. Sie entströmte geradewegs den Herzen der Menschen in dieser Stadt.
»Was denkst du, Siofra?« Aidan zügelte sein Pferd und hielt auf einer Anhöhe über der Stadt. Unter ihnen breitete sich ein Häusermeer aus – auf jemanden, der aus der Wildnis kam, musste es wirken, als reiche es bis zum Ende der Welt. Ein schmutziger, dunkler Strom floss träge nur wenige hundert Fuß von ihnen entfernt, und selbst entgegen der Windrichtung stieg ihnen ein unangenehmer Gestank von Fäulnis und Verwesung in die Nase.
Das Mädchen wandte sich ab. »Oh mein Gott. Das müssen Sodom und Gomorrha sein. Ich dachte, ich wäre hier geboren, aber ich kann mich nicht an diese riesige Stadt erinnern!«
Ein leichter Schenkeldruck setzte Ahearn wieder in Bewegung. »Vielleicht habt ihr vor den Toren gelebt.« Er deutete auf die geduckten Hütten und zerfallenen Katen, die sich außerhalb der mächtigen, steinernen Mauer versammelten, als suchten sie Schutz in ihrem Schatten. Aidan beobachtete die kleine Elfe, als sie den Blick schweifen ließ. Sie sah verstört aus, doch das tat sie schon seit Tagen, wenn nicht seit Wochen. Er vermutete, dass sie nur schwer darüber hinwegkam, einen Werwolf getötet zu haben, um ihr Leben zu verteidigen. Aidan hatte versucht mit ihr darüber zu reden, aber sie hatte abgeblockt und behauptet, es mache ihr nichts aus. Nachts jedoch weinte sie im Schlaf, und einmal hatte sie geschrien. Er bedauerte, dass es so gekommen war. Nicht um Borwins willen, der sich nichts daraus gemacht hätte, sie beide umzubringen, und das so beiläufig, wie man eine Fliege zerquetschte, aber es tat ihm um Eliza leid. Ihm war auch bewusst, dass er sich selbst bemitleidete, denn seit der Nacht in den schottischen Highlands hatte sich ihr freundschaftliches, beinahe vertrautes Verhältnis verändert. Die kleine Elfe zog sich von ihm zurück, ließ ihn nicht mehr an ihren Gedanken teilhaben, obwohl sie fast ununterbrochen zu grübeln schien. Aidan fehlte die Leichtigkeit, die zwischen ihnen geherrscht hatte. Ja, sie erledigte brav ihre Übungen, doch sie war schweigsam und in sich gekehrt. Er vermisste ihre Beschwerden, ihre lautstarken Bemühungen, ihn von einer Aufgabenstellung abzubringen, doch am meisten – und er vermochte es kaum vor sich selbst zuzugeben – vermisste er ihr Lächeln. Dieses sorglose, kurz aufblitzende Grinsen, das die Grübchen in ihren Wangen vertiefte und den Schalk in ihren Augen aufleuchten ließ.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, murmelte sie unentschlossen. »Wieso ist die ganze Stadt eingesperrt?« Ihre Hand deutete zitternd auf die Mauer, die sich, nur durch große, schmiedeeiserne Tore unterbrochen, lückenlos um London wand.
Zumindest ihr Wissensdurst war ungebrochen. Aidan unterdrückte einen erleichterten Seufzer. »Der Lordprotektor fürchtet, dass die holländischen Flottenverbände auf der Themse bis zum Tower vordringen könnten.« Sein Finger wies auf die gewaltige, befestigte Ringburg und zwei mächtige Doppeltürme, die wie göttliche, steinerne Wächter über dem Fluss thronten. »Der Krieg mit den Holländern dauert schon länger, als du und ich existieren, und weder Richard noch Wilhelm können glauben, dass die Welt groß genug für beide Imperien ist.« Er sah sie über seine Schulter hinweg an. »Natürlich habe ich so etwas nie gesagt und du nie gehört.«
»Natürlich nicht.« Sie wich seinem Blick aus. Was war nur mit ihr los? Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gemeint, dass sie Angst vor ihm hatte. Aber das war lächerlich, einfach lächerlich. Warum sollte sie ihn plötzlich fürchten? Vielleicht war es London und das, was sie im Tower erwarten mochte, das wäre nicht abwegig. Er hatte vor all den Jahren auch Angst gehabt. Wer konnte es ihr verdenken? Und doch … Aidans Eingeweide wollten sich verknoten, und er erkannte unwillig, woran es lag: Er fürchtete sich selbst. Nicht um Eliza und das, was im Tower mit ihr geschehen würde. Er war sicher, dass Richard sie nur zu gern in seine Dienste aufnahm. Nein, es war simpler und eigennütziger. Er fürchtete, sie zu verlieren. Sie entglitt ihm, seit Wochen schon, und er hatte keine Ahnung, was er getan hatte, dass sie sich von ihm abwandte. Aidan schwang sich von seinem Pferd und sie folgte ihm ohne Aufforderung. Die ersten Gebäude tauchten vor ihnen auf, schmale Hütten aus Lehm und Dung, doch sie machten bald Platz für richtige Gebäude, mehrstöckige, prachtvolle Handelshäuser aus Stein, wuchtige Fachwerkbauten, deren Dächer und Giebel sich stolz in den Himmel reckten. Aus den Augenwinkeln beobachtete Aidan, wie Eliza anfing, auf ihrer Unterlippe zu kauen – ein Zeichen, dass sie nervös war. Tief sog sie die Seeluft ein und sah den Möwen hinterher, die kreischend über ihnen hinwegschossen und gelegentlich in den Sturzflug gingen, um einem Straßenverkäufer, der Pasteten und Naschereien feilbot, kleinere Stücke seiner Waren zu stehlen. Sie hatten Southwark erreicht, und Menschen drängten sich an ihnen vorbei, hasteten in alle Richtungen, schubsten und stießen sie ungeduldig zur Seite. Ahearn schnaubte nur, doch Elizas Stute wurde unruhig und tänzelte. Aidan nahm ihr die Zügel aus der Hand. »Bleib dicht bei mir«, wies er sie an, »und achte auf deine Wertsachen.« Ihr verwirrter Gesichtsausdruck brachte ihn zum Lachen und er deutete auf eine Horde schmutziger, kleiner Jungen, die sich in den Schatten der Häuser drückten. Wie kleine Ratten lauerten sie auf die Besucher Londons, die keinen Schimmer hatten, was sie in der Hauptstadt erwartete. Mit geschultem Blick erkannten sie die hochnäsigen Steuereintreiber, denen sie wohlweislich aus dem Weg gingen, Söldner und Seeleute aus allen Ländern des Commonwealth, die sie zu gern um Sold und Heuer erleichterten, und die Kaufleute aus dem Norden, die einfach auszusäckeln waren. Auch die anderen Nicht-Londoner stellten in ihren Augen leichte Beute dar. Als sich einer von ihnen unauffällig in ihre Richtung bewegte, verharrte Aidan und zog sein Schwert einen Zoll aus der Scheide, während er freundlich Zähne zeigte. Der Junge blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an, trat den Rückzug an, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Aidan nickte nur zustimmend, blieb jedoch wachsam.
»Als wäre er ein Raubtier, das einem größeren gegenübersteht.«
Er war sich nicht sicher, ob die kleine Elfenbrut ihre Gedanken wirklich laut aussprechen wollte oder ob es ihr herausgerutscht war, doch es klang nicht wie ein Kompliment. Er knurrte innerlich.
»Das ist die London Bridge«, erklärte er wie ein vom Lordprotektor bestellter Fremdenführer, und sein Kopf ruckte nach vorn.
»Das ist eine Brücke?« Sie schnappte nach Luft.
Aidan grinste freudlos. »Gar nicht so einfach zu erkennen mit all den Häusern darauf, nicht wahr?« Ein mächtiges Rundtor bildete den Eingang zu der großen, steinernen Brücke, und sie mussten sich in eine Hunderte Menschen umfassende Schlange anstellen.
»Worauf warten wir hier?«
Der Wind blies dem Mädchen die Haare aus dem Gesicht, und auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Ihr Blick huschte über all die Eindrücke, die auf sie einströmten: die Männer, deren Stimmen rau und grob klangen und die sich keine Sekunde lang um jemanden scherten, der neben ihnen stand, die Marktfrauen, die vor dem Tor ihre Stände aufgebaut hatten und lauthals heiser ihre Waren anboten, die unzähligen Schiffe auf dem trägen, breiten Fluss, manche kaum größer als ein Floß, einige so lang, dass dreißig oder vierzig Männer hoch zu Ross darauf stehen konnten und trotzdem noch Platz vorhanden war. Die Segel bauschten sich in der heftigen Brise, und die Rufe der Fährleute dröhnten über den Fluss.
»Unser Herr Richard sorgt dafür, London zu einer sicheren Stadt zu machen – ohne dass niederländische oder andere ausländische Spione ihrem schmutzigen Geschäft nachgehen können«, sagte Aidan und gab sich dabei keine Mühe, leise zu sprechen. Er wiederholte eine oft benutzte Phrase des Lordprotektors, um niemandem Anlass zu geben, ihn für verdächtig zu halten. Die Wachposten am Tor pflegten erst zuzuschlagen, dann zu fragen. Nicht nur einmal hatte er erlebt, dass eine hysterische Menge jemanden zu einem Agenten der niederländischen Krone erklärt hatte und dieser jämmerlich verprügelt wurde, bevor er sich ausweisen konnte. Er war der Bluthund Richards, doch selbst er würde misshandelt, wenn jemand der Meinung war, er spräche etwas Falsches zur falschen Zeit. Eliza nickte und wieder pries er insgeheim ihre schnelle Auffassungsgabe. Sie schwiegen, während sie langsam Schritt für Schritt vorrückten und sich den Torwächtern näherten.
Aidan lockerte seinen Kragen und zog die goldene Kette mit dem Siegelring eines Beamten Richards hervor. »Ich bin Aidan Grimshaw, der Inquisitor«, verkündete er. Wie üblich traten die Menschen um ihn herum einen Schritt zurück und stießen gegen ihre Hintermänner, während die beiden Soldaten eine knappe Verbeugung andeuteten.
»Das Mädchen, Lord Inquisitor?«
»Ist auf Geheiß unseres Herrn hier – und dieser dürfte mittlerweile recht ungeduldig ihre Ankunft erwarten!« Er sorgte dafür, dass sein Blick stählern wurde, und die Wachleute gewährten ihnen Durchlass.
»Willkommen zurück in London, Lord Inquisitor!«
»Das sind richtige Häuser!«, bemerkte Eliza leise, während sie ihre Pferde über die gepflasterte Brücke führten. »Wie eine Stadt in einer Stadt.«
»Das ist sie auch«, erklärte Aidan. »Hier leben die Torwächter mit ihren Familien, Diener des Towers, Schreiber, Soldaten, niedere Beamte. Sie alle sind Richard verpflichtet, der sie dafür billig in diesen großen Häusern wohnen lässt. Das nächste Mal lassen wir uns von einem Fährmann übersetzen, doch dafür brauchen wir eine Ausnahmegenehmigung – die Spione Wilhelms sollen keine Chance haben, unsere Hauptstadt zu erkunden.«
Sie konnte offensichtlich nicht widerstehen. Durch eine Lücke zwischen zwei Häusern trat sie an den Rand der Brüstung und spähte hinunter. »Unglaublich«, hauchte sie, doch da der Wind ihm ihre Worte zutrug, konnte Aidan sie verstehen.
»Die Konstruktion ist massiv, du musst dir keine Sorgen machen. Aber jetzt komm, als ich meinte, dass Richard wartet, war das nicht nur so dahergesprochen.« Er winkte sie zu sich, und ihr Gesicht, das bis dahin so offen und voller Neugierde gewesen war, verschloss sich wieder. Er presste die Lippen zusammen.
***
Eliza erschauderte, als sie auf die Straße traten. Die fast durchweg aneinander stehenden Gebäude auf der Brücke hatten den Wind vollkommen abgehalten, doch jetzt fegte er über sie hinweg und brachte einen Hauch von Kälte mit sich. Der Herbst, der sie im schottischen Hochland mit seinen in leuchtenden Rottönen glühenden Bäumen verabschiedet hatte, bekam in London einen unheilvollen Beigeschmack. Als wollte er sie warnen, darauf vorbereiten, dass sie endgültig verloren war – fort von ihren Freunden, ihrer Heimat. Sie spähte zu Grimshaw hinüber. Etwas in ihr hatte sich verändert, und schuld daran waren die wenigen geflüsterten Worte, die der Therianthrop namens Vuuk wie Gift in ihr Ohr geträufelt hatte. Sie war überzeugt davon, dass es nichts weiter als ein Versuch gewesen war, sie von Grimshaw zu trennen, doch eine leise Stimme in ihr hatte in den vier Wochen, die sie für ihren Ritt nach London gebraucht hatten, andauernd seinen Satz wiederholt: Und frage dich, ob du noch mit einem Mann reiten möchtest, dem dein Leben nicht den Hauch einer Überlegung wert ist. Sie wollte vernünftig darüber nachdenken. Auf einer rationalen Ebene wusste sie, der Inquisitor hatte nur geblufft, als er behauptete, ihr Leben bedeute ihm nichts. Er musste sich unbeeindruckt geben, um Vuuk glauben zu machen, dass er nichts gegen ihn in der Hand hatte. Hatte er nicht wieder und wieder bewiesen, dass er sie schützen wollte? War er nicht sogar mit ihr aus Maryborough geflohen, um ihr genau die Gefahren zu ersparen, denen sie sich jetzt stellen musste? Und doch nagten Zweifel an ihr. Was, wenn Grimshaw zwar auf der Seite seiner Art war, aber lieber ihr Leben opferte, als den großen Plan zu gefährden, den er irgendwann vor Jahren mit Gavin ausgeheckt hatte? Die Skepsis wurde von Vuuks Gehässigkeit angestachelt, umso mehr, da sich der Bluthund so leicht davon hatte überzeugen lassen, ein Pakt mit den Therianthropen wäre der Knechtschaft des Lordprotektors vorzuziehen. Und ein echter Teufelspakt ist das, dachte sie und ließ den Blick über die Häuser und die Straße schweifen. Sie mussten reich sein, die Londoner, unvorstellbar reich. Alle Gebäude sahen verhältnismäßig neu aus, waren massiv und trutzig gebaut wie kleine Ritterburgen.
Als hätte Grimshaw ihre Gedanken erraten, bemerkte er: »Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten tobte eine riesige Feuersbrunst durch die Stadt. Tausende und Abertausende Menschen verloren ihre Häuser, und viele starben, als die Flammen beinahe fünf Tage lang alles zerstörten, was sie in ihrer Gier fassen konnten. Deshalb siehst du hier so vieles, was neu errichtet wurde.« Er half ihr auf die kleine Stute. »Nur wenige Monate vorher hatte die Pest gewütet, und nicht wenige flüsterten damals, dass es eine Bestrafung Gottes war.«
Sie tat es ihm gleich und senkte die Stimme. »Eine Strafe wofür?«
Sein Lächeln wirkte gezwungen. »Da waren sie sich nicht ganz einig. Die einen sagten, es sei eine Strafe dafür, dass so lange unseresgleichen mit ihrem schmutzigen Blut geduldet worden waren, die anderen glaubten, es sei wegen der allgemeinen Gottlosigkeit, die schon immer auf diesem Pflaster herrschte. Keine Partei konnte eindeutig die Richtigkeit ihrer Annahmen beweisen, also beschloss Richard, dass er alle haftbar machen würde. Um London wiederaufzubauen, erhob er neue Steuern, die er ›Bußgeld der reuigen Sünder‹ nannte, und noch im gleichen Jahr ließ er weitere Feuer entstehen. Du hast bestimmt schon davon gehört.«
Elizas Kehle wurde eng, als sie sich an all die Erzählungen erinnerte, welche ihr in Laingyard zu Ohren gekommen waren. »1666. Das Blutjahr«, murmelte sie.
»Genau das. Und die Zahl des Tieres beweist es.« Der Inquisitor schwang sich auf Ahearn und ritt voran. Sie fand, dass sie auch weiterhin zu Fuß hätten gehen können, denn von einem zügigen Tempo konnte keine Rede sein. Viel zu viele Menschen befanden sich auf den Straßen, Karren, gezogen von mageren, stoischen Rindern und manchmal ebenso mageren, verschwitzten Männern behinderten das Vorankommen. Ein Trupp Soldaten, gekleidet in Richards Farben Blau und Gold, drängte rücksichtslos durch die Massen, hieb sich mit den stumpfen Seiten ihrer Schwerter einen Weg frei. Eliza hatte bereits jetzt Kopfschmerzen von dem Lärm, dem Gebrüll, den Gerüchen, es schien hier alles lauter zu sein, greller, beengter. Es nahm ihr die Luft zum Atmen, und sie hatte ohnehin Schwierigkeiten damit, seitdem sie Brodiesham hinter sich gelassen hatten. Die Angst war zu ihrem ständigen Begleiter geworden. In der Nacht beherrschten Albträume ihren Schlaf, und sie sah sich wieder und wieder auf den Therianthropen einstechen, hörte sein gequältes Keuchen, als das Leben seinen massigen Körper verließ. Und tagsüber zerfraßen sie Zweifel und Furcht vor der Zukunft. Sie wünschte, sie hätte Laingyard nie den Rücken gekehrt, wünschte, sie wäre Aidan Grimshaw nie begegnet, wäre nie auf Vuuk und seine verräterischen Ideen getroffen. Gleichzeitig schmerzte der Gedanke, den Inquisitor nie kennengelernt zu haben. Des Menschen Verstand war schon ein sprunghafter Geselle, er zog und zerrte in viele verschiedene Richtungen und sorgte dafür, dass man niemals zur Ruhe kam. Sie biss sich auf die Lippen und ritt stumm hinter dem Inquisitor her, der die Meute der Menschen teilte wie Moses das Rote Meer. Er kannte sich hier aus, ritt mit klappernden Hufen über das holprige Kopfsteinpflaster, pfiff gelegentlich laut wie ein Straßenbengel, um sich Gehör und Platz zu verschaffen, und führte sie näher an die immer bedrohlicher aufragenden dunklen Türme heran, nur um kurz vorher in eine schmale, stinkende Gasse abzubiegen, die direkt in den Fluss zu münden schien. Am Ende der engen Straße stieg er von Ahearn und wartete, bis sie es ihm gleichtat. Elizas Hände waren schweißnass, trotz des kühlen Schattens zwischen den heruntergekommenen Häusern, durch die Grimshaw sie geleitete, bis sie eine Mauer von der Höhe zweier Männer erreichten. Eine hölzerne Pforte duckte sich unauffällig zwischen ihren Steinen, und der Bluthund hämmerte mit der Faust gegen sie. Sie mussten so lange warten, dass Elizas Herz Zeit hatte, verrückte Sachen in ihrem Inneren anzustellen. Mal schien es in ihren Magen zu rutschen, mal bis in ihre Kehle zu wandern, und auf jeden Fall pochte es schneller und schneller, bis es in ihren Ohren dröhnte. Fast hätte sie übersehen, dass sich die niedrige Tür öffnete und ein buckliger, ganz in Leder gekleideter Gnom zu ihnen aufsah. »Ah, Mylord Inquisitor, Ihr seid zurück!« Seine Stimme war so ölig wie seine Haare, und er verneigte sich so tief, dass seine Nase bald den Staub berührte.
»Polter«, grüßte Grimshaw, ohne eine Miene zu verziehen. »Der Lordprotektor erwartet uns. Ich nehme an, du hast frische Kleidung herausgelegt?« Der kleine Mann nickte hastig. »Dann kümmere dich um die Pferde.« Er machte eine herrische Kopfbewegung.
»Natürlich, Lord Inquisitor.« Wieder verbeugte sich der Torwächter. »Doch zuvor erlaubt mir, Euch das Passwort abzufragen.«
Grimshaw sprach leiser, sodass Eliza nicht verstand, was er sagte, doch seine Antwort musste den Mann befriedigt haben. Er gab ihnen den Weg frei. Hinter ihm standen zwei Wachen, deren Ausdruck weder als vertrauenswürdig noch als intelligent zu bezeichnen war. Eliza fuhr ein Schauder über den Rücken, als die abschätzigen Blicke der Männer sie von oben bis unten abtasteten.
»Wir begleiten Euch, während sich Polter Euren Tieren widmet, Lord Inquisitor«, murmelte der Soldat, der sich als Erster wieder seiner Pflichten besann.
Grimshaw ignorierte ihn, nahm Eliza die Zügel ab und drückte sie Polter in die Hand. »Komm mit, Siofra, und fürchte dich nicht«, sagte er gedämpft, und sie bezweifelte, dass jemand anders seine Worte hören konnte.
Sie folgte den Männern durch lange, kahle Gänge und musste sich auf die Wangeninnenseiten beißen, um ihre Fragen zurückzuhalten. Warum betraten sie den Tower auf einem so seltsamen Wege? Wo brachte Polter die Pferde hin? Sie hatte eine große Zuneigung zu der kleinen Stute entwickelt und hoffte, dass sie das Tier behalten durfte. Und was sollte die Frage bedeuten, ob der Gnom schon frische Kleidung herausgelegt hatte? Zumindest diese Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der Wachposten, der auch zuvor das Wort ergriffen hatte, öffnete eine Tür zu seiner Linken und wies mit dem Kopf auf einen kleinen, dämmrigen Raum, der nur vom einfallenden Licht der untergehenden Sonne erhellt wurde. Staubflocken tanzten in der Luft.
»Hier kann sich das Hexenmädchen …« Er unterbrach sich kurz, als Grimshaw langsam den Kopf wandte und ihn so kalt anstarrte, dass selbst Eliza einen Schritt zurücktrat. Sich räuspernd setzte er neu an. »Hier kann sich … die junge Lady erfrischen und ihre Reisesachen hinterlassen.« Seine Worte waren respektvoller, sein Tonfall nicht. Unter fettigen, seit Tagen, wenn nicht Wochen ungewaschenen Haaren schielte er auf Eliza, und sie musste keine Gedanken lesen können, um zu ahnen, was er dachte. Ihr wurde schlecht, und sie schlüpfte hastig an ihm vorbei. Bevor sie ihm die Tür ins Gesicht knallen konnte, schob ihn Grimshaw zur Seite.
»Komm heraus, sobald du fertig bist«, sagte er gepresst. »Der Lordprotektor wartet nicht gern.«
Zuerst wollte sie nicken, bevor ihr einfiel, dass sie sich unter den aufmerksamen Augen von englischen Soldaten befanden, und sie knickste. »Jawohl, Lord Inquisitor«, murmelte sie mit zu Boden gesenkten Augen. Aufatmend lehnte sie sich an das raue Holz der Tür, als sie allein in der Kammer stand. Auf einem Tischchen in der Ecke befand sich eine Schüssel mit klarem Wasser, daneben lagen ein sauberer Lappen, ein frisches Handtuch und – sie wagte es kaum zu glauben – ein viereckiges Seifenstück. Sie schnupperte daran wie ein Hund und hinderte das Lächeln nicht, welches sich auf ihrem Gesicht ausbreiten wollte. Es duftete frisch, wie Blüten an einem Sommertag. Die Londoner lebten in einem unvorstellbaren Luxus. Erst jetzt bemerkte sie das Brokatkleid, das ausgebreitet auf einem schmalen Diwan lag, und sie schluckte. Es war tief ausgeschnitten und bestand aus lauter Rüschen und Spitzen, und sie hasste es auf den ersten Blick, weil sie wusste, dass dieses dunkle Rot alle Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Sie würde darin aussehen wie eine der leichten Frauen, die den Soldatentruppen in jedem Krieg folgten und ihren Körper verkauften, dachte sie und zog die Schultern hoch. Die Freude über die Seife war fortgewischt, und am liebsten hätte sie sich aus dem riesigen, steinernen Gebäude geschlichen, das sie mit seinen dicken Mauern umschloss wie ein Grab und ihr bereits jetzt den Atem raubte. Doch sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Wenn sie jetzt flöhe, würden ihr die Bluthunde des Lordprotektors folgen. Andere Männer als Grimshaw, der dann wahrscheinlich büßen müsste, sie als Richards neueste Dienstmagierin vorgeschlagen zu haben. Und sosehr sie gerade an Aidan Grimshaw zweifelte, so wenig wollte sie, dass er noch einmal derart leiden musste wie bei ihrer ersten Begegnung mit Vuuk. Hastig begann sie, sich auszuziehen und mit der schäumenden Seife den Schmutz und Schweiß der letzten Tage von ihrem Körper zu waschen. Sie rümpfte die Nase, als sie sich abtrocknete und ihr der Hauch von Lavendel in die Nase stieg. So angenehm war der Duft doch nicht, entschied sie. Als sie kurze Zeit später vor die Tür trat, spürte sie, dass ihr Schamesröte ins Gesicht schoss. Schuld war der Ausschnitt, den sie nicht einmal mit dem Spitzentüchlein gänzlich ausstopfen konnte, und den beiden Wachen fielen fast die Augen heraus. Sie mochten sie verachten, doch an ihrer männlichen Reaktion änderte das nichts. Die engen Hosen, die ihre kräftigen Beine umschlossen, taten nichts, um irgendetwas zu verbergen. Eliza wandte sich ab.
»Bist du bereit?« Grimshaw löste sich von der Wand und trat vor sie – anscheinend, um sie zu inspizieren, doch sie bemerkte, dass er sie vor den Männern abschirmte. Er sah ihr nur in die Augen.
»Ja, Lord Inquisitor.« Seine Haare glänzten noch vor Feuchtigkeit und waren aus dem Gesicht zurückgebunden. Ein neuer Umhang ließ seine Schultern breiter wirken, während er mit den samtenen Hosen und den glänzenden Stiefeln wie ein Höfling aussah. Die Soldaten führten sie wieder durch nicht enden wollende Flure, hielten schließlich vor einer mit kostbaren Stoffen versehenen Tür und verneigten sich.
»Ab hier, Lord Inquisitor, wisst Ihr Bescheid.«
Grimshaw bedachte sie mit einem Ausdruck, der beinahe Abscheu gleichkam, bevor er wortlos die Tür öffnete und Eliza bedeutete einzutreten. Der Raum diente als Vorzimmer und war ganz offensichtlich leer.
Der Bluthund beugte sich vor. »Wir werden jetzt warten, Siofra«, flüsterte er in ihr Ohr. »Es heißt zwar, dass Richard nicht gerne wartet, aber er liebt es, Befürchtungen und Ängste zu schüren, indem er andere Leute lange, lange ausharren lässt. Versuch, ruhig zu bleiben. Es gibt kein Maß dafür, welcher Laune er sein wird oder ob er etwas gegen uns in der Hinterhand hält. Es ist nur ein Spielchen von ihm, und er erfreut sich daran, seine Bittsteller nervös und verängstigt anzutreffen. Setz dich hin und gehe in Gedanken alle Schritte durch, die du tun musst, um dich von einem Erstarrungsbann zu lösen. Danach überlegst du dir, wie du sämtliche Gegenstände in diesem Raum zu dir rufen könntest, und danach …« Er lächelte freudlos. »… sehen wir weiter.«
»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich ans Fenster stelle?«, wisperte sie. Trotz seiner Zusicherung, dass das Warten nichts zu bedeuten hatte, schnürte es ihr die Kehle zu, und sie wollte zumindest das Gefühl haben, die Freiheit draußen erblicken zu können.
»Nein.« Er nahm auf einem kostbaren Sessel Platz und schlug die Beine übereinander, während er den Kopf an die Lehne zurücksinken ließ, als befände er sich in der Sicherheit seines eigenen Hauses. Eliza beobachtete ihn einen Augenblick und kam zu dem Schluss, dass er tatsächlich ruhig war, bevor sie sich umdrehte und die Hände auf dem Fenstersims abstützte. Ihr Blick ging weit hinaus über den Fluss, die Themse, und Heimweh überfiel sie mit einer Heftigkeit, die genauso unerwartet wie schmerzhaft war. Ihre Finger verkrampften sich, und sie biss die Zähne zusammen, während sie der Anweisung Grimshaws folgte, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab zu dem Moment, in welchem Vuuk vorschlug, die Waffen zu senken und zivilisiert miteinander zu reden. Und Grimshaw hatte es getan. Er hatte tatsächlich die Spitze seines Schwertes zum Boden gerichtet und auch sie angewiesen, einige Schritte zurückzutreten. Da er ihr nicht befohlen hatte, die Armbrust wegzulegen, hatte sie es auch nicht getan, aber Vuuk hatte nichtsdestotrotz gelächelt und war ihr mit seinen Blicken gefolgt.
»Ich habe Euch beobachtet, Inquisitor.« Vuuk hatte den anderen Templer nicht beachtet, der ihn anstarrte wie ein Hund seinen Herrn. »Ihr seid stolz, geradlinig und etwas, das ich sehr an Euch schätze: loyal.«
Der Bluthund zuckte mit keiner Wimper.
»Oh, ja.« Das Lächeln des Anführers der Templer wurde breiter. »Ihr seid noch immer loyal Euren eigenen Leuten gegenüber, solchen wie …« Er wirbelte so blitzartig herum, dass Eliza nicht einmal daran dachte, ihre Waffe zu heben, bevor er sie bereits aus ihren Händen gerissen hatte. Wieder schlang sich sein Arm um ihre Kehle, doch dieses Mal hielt er kein Messer daran. »Ihr seid noch immer loyal gegenüber Eurer Art. Wie auch dieses Mädchen.« Seine Finger fuhren durch ihr Haar, und sie wand sich und versuchte ihn zu treten. Vuuk lachte nur, und selbst Matej grinste. Grimshaw starrte sie an, als wollte er ihr etwas sagen, doch er tat nichts, um ihr beizustehen. Sie hatte keine Ahnung, was das sein konnte, doch ihre Luft wurde knapp und ihre Bewegungen schwächer. Der Kampf gegen den bulligen Borwin hatte sie über alle Maßen erschöpft. »Eine Wildkatze, meint Ihr nicht?«, fragte Vuuk.
»Was wollt Ihr, Templer? Weiß eigentlich Euer Herr, dass Ihr bessere Hunde seid, als ich es bin?« Eliza hatte Grimshaw noch nie so abschätzig reden hören.
»Natürlich nicht.« Das Lächeln in der Stimme des Mannes, der sie festhielt, war spürbar. »Und genau in diesem Moment kommt Ihr ins Spiel, Inquisitor. Ich habe nämlich soeben beschlossen, dass ein Bündnis zwischen uns zu befriedigenden Ergebnissen führen könnte. Äußerst befriedigend, in der Tat!« Sein Griff um Elizas Hals lockerte sich, doch er hielt sie noch immer an sich gedrückt. »Ich gehe doch nicht fehl in der Annahme, dass ihr schon einige Zeit hier anwesend gewesen seid und zugehört habt?« Er wartete keine Antwort ab, doch als er weitersprach, tat er es leise und samtig und befand sich mit seinem Mund so nah an Elizas Ohr, dass er sie fast berührte. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, und sie schauderte vor Entsetzen. »Was Matej den Schotten erzählt hat, ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, das würde ich sogar auf die Bibel beschwören. Allerdings hat er einige Dinge ausgelassen, nämlich den eigentlichen Grund, warum wir uns bei Richard verdingen, obwohl er ein verachtenswerter Wicht ist. Und mehr als das, aber wenn du versprichst, Eliza Sawyer, dich nicht mehr gegen uns zu wenden, und dein Mentor mir dasselbe Versprechen gibt, werde ich mich im Gegenzug verpflichten, keine feindlichen Handlungen vorzunehmen.«
Eliza bat stumm um Anweisungen, und Grimshaw nickte. »Ja«, ächzte sie.
Vuuk wartete nicht auf die Antwort des Bluthunds, er ließ sie auf der Stelle los, blieb jedoch hinter ihr stehen und wedelte mit der Hand, um Matej zu bedeuten, zur Seite zu gehen. Eliza konnte kaum glauben, dass er gehorchte und sogar sein Schwert verstaute. Grimshaw lehnte sich an die Wand; sein Blick war starr auf Vuuk gerichtet.
»Der Carnifex, mit dem Ihr gut vertraut seid, Inquisitor, ist nicht einfach nur eine Bestie, die Richard versteckt und für seine Zwecke einsetzt. Er ist …«
»Eine Bestie, die Spaß daran hat, ihre Fähigkeiten gegen meine Art einzusetzen?«, unterbrach ihn Grimshaw höhnisch.
»Wartet, bis ich ausgesprochen habe«, beschied ihn Vuuk ruhig. »Er hat keine Wahl, er ist genauso ein Gefangener des Lordprotektors, wie Ihr und alle anderen Inquisitoren mit schlechtem Blut es sind.« Grimshaw zog eine Augenbraue hoch, ansonsten hielt er sich zurück. Noch immer war sein Schwert blankgezogen, doch er richtete es auf niemanden. »Ich werde jetzt noch mehr auf Euch vertrauen, indem ich Euch sage, dass er niemand anders als unser Fürst ist.«
Er schwieg, offensichtlich in der Annahme, dass der Inquisitor spätestens jetzt etwas einwerfen wollte. Doch es war Eliza, die sich nicht mehr beherrschen konnte. »Er ist der Fürst der Wölfe? Warum wandelt er sich nicht und warum lässt er sich wie ein Hund vom Lordprotektor einsperren, um jeden seiner Befehle auszuführen?«
Vuuks Lachen war warm, fast schon herzlich. »Ich wusste es, eine Wildkatze, die Ihr Richard bringt«, sagte er zu Grimshaw. »Ein Mädchen nach meinem Geschmack, stark, mutig und mit einem scharfen Verstand gesegnet.« Er drehte sich ein wenig, um ihr in die Augen zu sehen. »Aber du musst lernen, deine Gedanken in Zaum und deinen Mund verschlossen zu halten, wenn du in London überleben willst, Wildkatze.« Elizas Herz hämmerte. Sie hasste es bereits, dass Grimshaw sie mit einem eigenen Namen neckte, doch ihm hatte sie es irgendwann stillschweigend erlaubt. Dieser Templer besaß diese Erlaubnis nicht, und ganz besonders durfte er sie nicht so mustern, wie er es tat. Als sähe er sie plötzlich in einem neuen Licht, als etwas, das ihn interessierte. Sie wollte ihn nicht interessieren, aber sie wollte Antworten, also biss sie die Zähne zusammen und schob ihr Kinn nach vorn.
»Mein Fürst ist ein Gefangener des Lordprotektors«, wiederholte Vuuk langsam, ohne den Blick von ihr zu lösen. Es hatte den Anschein, als hätte er den Inquisitor vergessen. »Das würde noch nicht ausreichen, um ihn zum Gehorsam zu zwingen, doch Richard hat nicht nur ihn in seiner Hand. Zusammen mit dem Carnifex hat er dessen Frau und ihr damals Neugeborenes überfallen und gefangen genommen. Wenn ihm das Leben seiner Familie etwas wert war – und nichts, nichts hat für ihn einen größeren Wert! –, musste er tun, was ihm angeordnet wurde.«
»Da ist noch mehr«, bemerkte Grimshaw beiläufig. »Warum die Maske? Bestimmt nicht nur, damit unvermittelte Besucher ihn nicht erkennen, nicht wahr?«
Zum ersten Mal blitzte etwas in Vuuks Augen auf, doch Eliza konnte nicht ausmachen, was das war. Angst vielleicht? Ärger auf jeden Fall, aber es bedeutete etwas. Als ob er sich zurückhalten müsste, vorsichtig wurde.
»Die Maske ist eine besonders perfide Folter«, sagte er leise. »Sie ist so konzipiert, dass sie meinen Herrn quält – Tag und Nacht, ununterbrochen. Das ist es, was ihn so überaus unmenschlich macht, was ihn zu etwas werden lässt, das Ihr Bestie nennt, Inquisitor.«
»Woraus besteht sie?«, wagte Eliza zu fragen.
Vuuk antwortete lange nicht. »Das weiß ich nicht«, sagte er schließlich, aber sie hatte das Gefühl, dass er log. »Tatsache ist, dass Richard mit meinem Fürsten eine gnadenlose Waffe in den Händen hält, mit der er seine magischen Bluthunde kontrolliert. Verliert er diese Waffe, geht ihm ein wichtiger Vorteil verloren. Das ist der Grund, warum ich ehrlich zu Euch bin, Grimshaw.« Er sprach jetzt wieder mit dem Inquisitor, doch Eliza hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sich immer noch an sie richtete. Und ob er wirklich ehrlich war, bezweifelte sie. »Seht, ich habe Euch alles offengelegt, was uns betrifft. Matej hier neben mir ist der Meinung, dass es ein Fehler war und wir euch auf der Stelle töten sollten. Aus jeder Pore dringt seine Aggressivität, doch ich weiß es besser. Ich bin der Meinung, wir könnten gegenseitig von Vorteil für uns sein, eine Hilfe für den jeweils anderen. Was sagt Ihr, Inquisitor?«
»Mir ist nicht ganz klar, was für uns dabei herausspringt, Ritter«, bemerkte Grimshaw. Sein Körper war angespannt. »Was sollte mich davon abhalten, Kontakt zu dem Carnifex und damit auch dem Lordprotektor aufzunehmen und ihm von Eurem Verrat zu erzählen? Vielleicht habt Ihr Euch in mir geirrt? Ich bin der beste Bluthund Richards, hat Euch das noch niemand erzählt? Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit, und ich wüsste keinen Grund, warum ich etwas am Status quo ändern sollte.« Er sah beiläufig zu Eliza, bevor er sich wieder ganz Vuuk zuwandte.
Der Templer grinste offen. »Ihr seid nicht so gelassen, wie Ihr uns weismachen wollt, Grimshaw. Ich kann Eure Nervosität und Angst riechen. Wohlgemerkt, ich bezweifle, dass Ihr Angst um Euch habt, denn Euer Mut ist unbestritten. Ihr denkt, ich werde Euch dieses Mädchen entreißen, und …« Er unterbrach sich für einen Augenblick, um kurz nachzudenken. »Und wisst Ihr was? Ihr habt recht. Das werde ich. Ich werde Eliza entführen, wenn Ihr Kontakt mit dem Carnifex aufnehmt. Ich werde sie foltern und herausfinden, woher sie wirklich stammt. Ich werde alle Leute mit schmutzigem Blut aus ihrer Familie oder Dorfgemeinschaft aufspüren und töten. Langsam töten. Es wird mir keinen Spaß machen, aber ich tue es, einfach, um zu beweisen, dass ich es kann.«
Grimshaw grinste dünn und ohne jedes Zeichen von Amüsement. »Ihr würdet keine dreihundert Fuß weit kommen«, behauptete er ruhig. »Dann hätte er Euch in Eurer Gewalt, wie er es bei mir getan hat.«
Vuuk lachte. »Oh, das Beste habe ich Euch noch nicht erzählt: Keiner von uns wird von unserem Herrn belästigt. Wir werden von ihm beschützt, aus dem einfachen Grund, dass wir Blut von seinem Blut, Fleisch von seinem Fleisch sind. Natürlich kann er in unsere Gedanken eindringen, doch er würde uns nie etwas tun. Wollt Ihr es wagen, Grimshaw?«
Als hätte er alle Zeit der Welt, lehnte sich der Bluthund an die Wand zurück. »Nur mal angenommen, ich glaube Euch dieses kleine Märchen und stimme zu, mit Euch zusammenzuarbeiten. Wozu braucht Ihr uns? Warum …« Er verzog abschätzig das Gesicht. »Warum erschnüffelt Ihr nicht einfach Euren Fürsten, befreit ihn von seiner Folter, seht zu, wie er in die Gedanken des Lordprotektors einbricht und erfährt, wo sich Frau und Kind des Carnifex befinden?«
Vuuk presste die Lippen aufeinander. »Genau das versuche ich die ganze Zeit zu erklären! Das können wir nicht. Wir wissen, dass er sich irgendwo unter Felsen befindet, doch da wir Ritter eine Ausnahmesituation darstellen, werden wir nicht durch ihn geprägt. Wir haben kein schlechtes Blut, sind nicht magisch, wie Ihr es seid. Richard hält uns für besonders gesegnet, also gibt es keinen Grund für ihn, uns mit der Bestie, wie er sagt, in Kontakt zu bringen. Er will uns nicht verunreinigen, weil wir Gottes Geschöpfe sind, sonst könnten wir nicht ohne Magie Euresgleichen aufspüren.« Ein hysterisches Lachen wollte in Eliza aufsteigen, doch sie unterdrückte es.
»Ihr glaubt also, wir könnten Euch sagen, wo sich der Carnifex befindet? Wisst Ihr nicht, dass wir es selbst nicht ahnen? Ist Euch nicht klar, dass wir uns in Gefahr begeben würden, sollten wir auch nur so etwas wie Interesse an ihm anmelden?« Grimshaws Stimme war tonlos.
»Doch, das weiß ich. Und deshalb biete ich Euch und Eurem Mündel unseren Schutz an. Niemand ist mächtiger und stärker als die Neuen Templer in London.«
Der Bluthund schnaubte. »Unfug. Sobald wir anfingen, unsere Fühler nach Eurem Herrn auszustrecken, hätten es schon Dutzende Spione Richard gemeldet. Und vergesst nicht, dass der Lordprotektor auch die Familie des Carnifex’ als Geisel hält. Selbst wenn wir ihn aufspürten, könnte er immer noch Frau und Kind töten. Außerdem …« Er dachte eine Weile nach. »Das Kind ist doch schon lange kein Kind mehr? Ist es ein Sohn oder eine Tochter?«
»Das weiß ich nicht«, gab Vuuk zu.
Grimshaw sah aus, als würde er gern jemanden schlagen. »Das wisst Ihr nicht?«
»Sie war hochschwanger und stand vor der Niederkunft, als Richards Schergen zuschlugen. Die Wachen unseres Herrn waren nur zu dritt, außerdem glaubten sie sich in einem sicheren Versteck. Sie wurden niedergemetzelt, unser Herr und seine Lady gefangen. Die Fürstin wehrte sich, ergab sich aber, als ihre Wehen einsetzten, und so ergab sich auch unser Herr. Sie warteten!«, stieß Vuuk hervor. »Sie warteten, bis das Kind geboren wurde, um es seiner Mutter, die im Sterben lag, zu entreißen!«
»Ihr habt sie und die Wachen also gefunden?«, murmelte Eliza, bevor sie sich zurückhalten konnte.
Vuuk nickte. »Du, kleine Wildkatze … Ich habe dich unterschätzt, hm? Wir fanden sie, und sie konnte uns gerade so noch sagen, was passiert war. Auch, dass ihr Kind und Mann gestohlen wurden, doch das Geschlecht des Kindes …« Er verstummte.
»Und wie lange ist das genau her?«
»Mehr als zwei Jahrzehnte, kurz vor dem Londoner Feuer.«
Grimshaw stieß sich von der Wand ab. »Um das zusammenzufassen: Ihr wollt, dass wir nach London reiten und Eliza in die Dienste des Lordprotektors tritt. Ihr wollt, dass sie während ihrer Ausbildung ihr Leben riskiert, sich umsieht und Nachforschungen anstellt, genauso wie ich. Ihr wollt, dass wir alles für Euren Herrn und seine Familie riskieren. Ihr wollt, dass wir unsere Gesundheit, Leib und Leben opfern, um Euch zu helfen? Euch, die Ihr mehr als genügend Menschen mit schlechtem Blut getötet habt, Euch, die Ihr Euch nicht zu schade seid, arme, fleißige Menschen hier in der Wildnis zu überfallen und um ihres Blutes und Fleisches willen zu töten? Was könnte uns bewegen, uns dieser Sache anzuschließen? Und bevor Ihr wieder antwortet, Vuuk, bedenkt, dass Eliza und ich keine schwächlichen Menschen sind. Ihr könntet versuchen, uns zu töten, aber ob Ihr Erfolg habt, steht auf einem anderen Blatt Pergament.«
»Ich will ehrlich sein«, antwortete Vuuk leise. »Ich will genau das, was ich den Schotten versprochen habe. Ich will, dass sich dieses Volk gegen Richard erhebt. Ich will, dass sich auch die Engländer gegen Richard erheben. Ich will diesen Mann und seine Armeen ausrotten für das, was er meinem Fürsten und unserem Volk angetan hat! Und indem ich das mache, meint Ihr nicht, dass ich Euch damit in die Hände spiele, Inquisitor? Glaubt Ihr nicht, dass Ihr und Euresgleichen einen besseren Stand habt, wenn Richard tot ist? Wenn es Chaos gibt, wie es zu Zeiten von Richards Vater gegeben hat – wer weiß? Vielleicht könntet Ihr und Eure Magier so viel Gutes für dieses Land tun, dass die Menschen Euch sogar ins Parlament wählen werden? Selbst wenn nicht, alle Fäden liegen in Eurer Hand. Ihr könntet Euch von diesem Joch lösen, wenn Richard tot ist. Kein Magier muss mehr Angst haben, gefangen zu werden, niemand muss sich mehr in den Diensten eines Mannes verdingen, der euch unterdrückt und umbringen will. Ohne den Carnifex gibt es keine Macht mehr über die Inquisitoren. Ich finde, dass wir auf jeden Fall zusammenarbeiten sollten, meint Ihr nicht, Grimshaw? Als Zeichen meines guten Willens werden Matej und ich jetzt gehen. Wir suchen Euch morgen Abend auf und erwarten Eure Antwort.«
Er schob Matej hinaus, ging selbst jedoch zu der Leiche Borwins und kniete neben ihr nieder, um die Augen zu schließen und den Kopf zu senken. Eliza dachte, dass er betete, doch dann schrie sie auf, als er mit einer schnellen Bewegung den Dolch wieder aus dem Gürtel zog, Borwins Haare packte, zurückriss und den Kopf mit schnellen Bewegungen vom Körper trennte.
»Was zum Teufel …?!«, stieß der Inquisitor hervor. Selbst er wurde blass, und Eliza fragte sich, wie sie aussehen musste. Der Boden schien unter ihren Füßen zu wanken, bis sie begriff, dass sie es selbst war.