Florian Aigner

DIE
SCHWERKRAFT
IST KEIN
BAUCHGEFÜHL

Eine Liebeserklärung
an die Wissenschaft

INHALT

Vorwort

Wissenschaft oder Bauchgefühl?

Warum wir uns auf unsere Intuition nicht verlassen können, warum man als vernünftiger Mensch möglicherweise aufgefressen wird und warum sich gerade die Ahnungslosesten für die Allerklügsten halten: Wir müssen zwischen Bauchgefühl und Wissenschaft unterscheiden, sonst können wir nicht vernünftig miteinander diskutieren.

Eins plus eins ist zwei

Warum es Wahrheiten gibt, denen niemand widersprechen kann, wie man unendlich viele Gäste in ein voll belegtes Hotel bringt und wie ein Wunderkind aus Indien auf verblüffende Formeln kam: die bemerkenswerte Macht der Logik.

Dieser Satz ist falsch

Wie man mit logischen Argumenten Lebensträume zerstört, warum manche Aussagen weder wahr noch falsch sind und wie der größte Logiker der Welt ein höchst unlogisches Ende fand: Die Mathematik kann niemals alles beweisen, aber das muss sie auch nicht.

Schmutzige Gläser und reine Wahrheit

Wie der Wiener Kreis nach der perfekten Philosophie suchte, wie man mysteriöse Strahlen entdeckt, die es gar nicht geben kann, und warum man eine Nobelpreisidee auch mal mit Taubenmist verwechseln kann: Naturwissenschaft ist immer auf Beobachtungen angewiesen, aber unsere Beobachtungen sind niemals perfekt.

Alle Raben sind schwarz

Warum alle Verallgemeinerungen problematisch sind, wie man die Rabigkeit von Kirschen testet und wie wir uns mit Karl Popper vor Täuschungen schützen: Wenn es uns nicht gelingt, etwas zu beweisen, können wir stattdessen versuchen, etwas zu widerlegen.

Was nicht stimmt, muss nicht gleich falsch sein

Wie man einen Planeten entdeckt, wie man einen anderen Planeten verschwinden lässt und warum die Erde ziemlich sicher keine Scheibe ist: Eine wissenschaftliche Theorie sollte man in Krisenzeiten verteidigen – aber nicht um jeden Preis.

Es lebe die Revolution!

Warum es in der Wissenschaft nicht nur ums Widerlegen geht, wie durch einen gewaltigen Irrtum versehentlich die Chemie erfunden wurde und wie Neutrinos zeigten, dass die Wissenschaft keine dogmatische Sekte ist: Die Wissenschaft verändert sich ständig, trotzdem können wir uns auf gute wissenschaftliche Theorien verlassen.

So einfach wie möglich

Warum Perfektion ziemlich nutzlos ist, wie man sich mit Ockhams Rasiermesser gegen Hosengnome verteidigt und was passieren würde, wenn ein wunderlicher Esoteriker eines Tages tatsächlich recht hätte: In der Wissenschaft geht es nicht um endgültige Wahrheit, sondern um die Wahl der richtigen Werkzeuge.

Wie man mit der Wahrheit lügt

Warum Schokolade eher doch kein Schlankheitsmittel ist, warum wir auf Omas Hustentee nicht vertrauen sollten und warum wir immer nach logischen Zusammenhängen suchen müssen: Was uns als wissenschaftliche Studie präsentiert wird, muss noch lange nicht wahr sein.

Ein Netz, das uns trägt

Worauf wir uns verlassen können, warum im Badezimmer kein fliegendes Einhorn wohnt und warum unterschiedliche Forschungsbereiche zusammenarbeiten müssen: Glaubwürdig sind wissenschaftliche Tatsachen erst dann, wenn sie logisch mit vielen anderen Fakten verwoben sind.

Auf den Schultern von Riesen

Warum es dumm ist, Forschungsergebnisse zu fälschen, warum es trotzdem gemacht wird und wie wir gemeinsam klüger werden, als wir es allein jemals geschafft hätten: Wissenschaft ist immer ein Gemeinschaftsprojekt.

Auch kluge Leute reden Unsinn

Warum man nicht immer kompromissbereit sein soll, warum auch Genies keine Einzelkämpfer sind und wohin die Nobelpreis-Krankheit führen kann: Expertenmeinungen sollte man ernst nehmen, aber eine Garantie für absolute Wahrheit liefern sie nicht.

Wissenschaft mit Bauchgefühl

Warum man im Konzertsaal keine Mathematik erwarten soll, was Spiderman mit Adam und Eva zu tun hat und warum Wissenschaft etwas Wunderschönes ist: Wer zwischen Gefühl und Verstand einen Widerspruch sieht, dem fehlt es vielleicht an beidem.

Literatur

Danke!

Vorwort

Was können wir wissen? Was sollen wir glauben? Und worauf dürfen wir uns in dieser verwirrenden Welt eigentlich verlassen? Auf einer Reise durch die Wissenschaft stoßen wir auf wichtige Ideen, die uns helfen, uns weniger zu täuschen.

Was die Wissenschaft sagt, das stimmt – und unser Bauchgefühl liegt oft daneben. Zumindest sagt uns das unser Bauchgefühl, wenn wir uns ein bisschen mit Wissenschaft beschäftigt haben. Aber können wir unserem Bauchgefühl vertrauen, wenn es uns sagt, dass ihm ja gar nicht zu trauen ist?

Wir wissen mehr über unsere Welt als je zuvor. Und gleichzeitig wird mehr Unsinn über unsere Welt verbreitet als je zuvor. Wir haben die kleinsten Teilchen erforscht, aus denen die Materie besteht, und die größten Strukturen, die es in den Weiten des Universums gibt. Wir haben Menschen auf den Mond geschickt und Krankheiten geheilt, die früher den sicheren Tod bedeutet hätten. Die Wissenschaft hat sich auf glänzende Weise bewährt. Und trotzdem ist die Menschheit von einer merkwürdigen Wissenschaftsfeindlichkeit durchdrungen, die sich immer weiter auszubreiten scheint.

Es gibt Menschen, die trotz aller Beweise die Erde für eine Scheibe halten. Es gibt Menschen, die nicht an die Klimaerwärmung glauben. Es gibt Menschen, die Viren für eine Erfindung der Pharmaindustrie halten, die wichtige Gesundheitsvorschriften mit Unterdrückung verwechseln und Impfungen als gefährliche Bedrohung betrachten.

Es gibt Politiker, die einfach „Fake News!“ schreien, wenn ihnen ein Argument nicht passt – ganz unabhängig davon, ob es faktisch richtig ist oder nicht. Es gibt Geschäftemacher, die ohne jeden Skrupel wirkungslosen Unsinn verkaufen, solange man damit Geld machen kann – vom Chakren-Balance-Kristall bis zum magischen Zahlenamulett gegen Coronaviren. Es gibt Verschwörungstheoretiker, die anderen Leuten Angst einreden, vor mörderischen Außerirdischen, bösartigen Geheimbünden oder gefährlichen Killerstrahlen.

Wir sind jeden Tag von so viel Information umgeben, dass es schwierig geworden ist, echtes Wissen von unsinnigen Behauptungen zu unterscheiden. Gleichzeitig ist diese Unterscheidung aber wichtiger als je zuvor. In unsicheren Zeiten spüren wir das ganz besonders. Dieses Buch wurde 2020 fertiggestellt, während sich das Coronavirus SARS-CoV-2 gerade über den ganzen Planeten ausbreitete, in einer Zeit, in der vielen von uns die Bedeutung der Wissenschaft deutlicher bewusst wurde als je zuvor.

Vorher ist es in den Hauptmeldungen der Abendnachrichten immer um Politik gegangen, nun geht es plötzlich um Virologie und Epidemiologie. Vorher hat man sich über die Ungerechtigkeit der geplanten Steuerreform geärgert, über Wahlergebnisse oder Fußballniederlagen, nun ärgert man sich plötzlich über Ansteckungswahrscheinlichkeiten, Tröpfcheninfektion und Exponentialfunktionen.

Doch nicht nur die Wissenschaft erlebt in solchen Zeiten einen Aufschwung. Auch Esoterik, Pseudowissenschaft und Hasspropaganda verbreiten sich in einem gesellschaftlichen Klima von Angst, Zweifel und Unsicherheit schneller als sonst: Das neue Coronavirus ist in Wirklichkeit eine Biowaffe, erklären die einen. Viren gibt es gar nicht, und die Krankheit COVID-19 wird in Wirklichkeit von gefährlichen Handystrahlen ausgelöst, behaupten die anderen. Und wieder andere erklären uns, dass sich dunkle Welteliten zusammengeschlossen haben, um mit COVID-19 die Weltbevölkerung zu dezimieren.

In dieser komplizierten Welt haben wir große, schwierige Fragen zu beantworten: Worauf können wir uns eigentlich verlassen? Was können wir wissen? Und was sollen wir glauben?

Niemand von uns ist im Besitz der perfekten Wahrheit. Das macht aber nichts – denn wir haben die Wissenschaft, und die ist eine Sammlung kluger Methoden, Theorien und Ideen, die uns helfen, Probleme zu lösen. Wissenschaft ist größer als irgendetwas, was ein einzelner Mensch im Kopf haben kann. Wissenschaft ist das, was stimmt, auch wenn man nicht daran glaubt. Wissenschaft ist das, worauf wir uns gemeinsam verlassen können.

Davon möchte ich Sie in diesem Buch überzeugen. Als Physiker habe ich natürlich eine von der Physik beeinflusste Sicht auf die Wissenschaft – auch wenn ich den Blick auch auf viele andere Wissenschaftsdisziplinen richte. Selbstverständlich kann kein Buch ein vollständiges Bild der Wissenschaft bieten. Es wäre verrückt, diesen Anspruch zu erheben. Am Ende des Buches ist hoffentlich auch klar, warum ich es gar nicht für zielführend halte, die Wissenschaft auf präzise und allgemeingültige Weise zu definieren. Wir werden uns stattdessen auf eine Abenteuerreise begeben, quer durch die Welt des klaren Denkens

Wir werden dabei geniale Ideen kennenlernen, und atemberaubende Irrtümer. Wir werden über großartige wissenschaftliche Revolutionen sprechen, und über haarsträubende Fehler. Es wird um Triumphe gehen und um Verzweiflung, um die Entdeckung ferner Planeten und um geflügelte Einhörner, um hellblaue Raben und tödliche Heilmittel. Machen wir also eine Reise durch die Welt der Wissenschaft, um herauszufinden, worauf wir uns wirklich verlassen können.

FLORIAN AIGNER

WISSENSCHAFT ODER BAUCHGEFÜHL?

Warum wir uns auf unsere Intuition nicht verlassen können, warum man als vernünftiger Mensch möglicherweise aufgefressen wird und warum sich gerade die Ahnungslosesten für die Allerklügsten halten: Wir müssen zwischen Bauchgefühl und Wissenschaft unterscheiden, sonst können wir nicht vernünftig miteinander diskutieren.

Jede folgenschwere Dummheit, jeder historische Irrtum, jede schreckliche Fehleinschätzung begann eines Tages als kleine Idee, die irgendjemand gar nicht so übel fand. Je mehr wir denken, umso mehr Denkfehler sind denkbar. Der Gedanke, dass wir uns auf unser Gehirn verlassen können, kann nur in unserem Gehirn entstanden sein.

Vielleicht sollten wir lieber auf unser Bauchgefühl vertrauen? Wer von uns wurde jemals von einer Bauchspeicheldrüse angelogen? Eben. Kein Wunder, dass sich viele Leute lieber auf das Herz verlassen, auf die Intuition oder auf das Solarplexuschakra, aber lieber nicht auf den Verstand.

Oft ist das auch gar nicht so dumm. Unser Bauchgefühl ist nämlich eine großartige Sache. Wir müssen mit dem neuen Kollegen nur ein paar Minuten plaudern, um ein recht verlässliches Bauchgefühl dafür zu entwickeln, ob wir Spaß daran haben werden, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir kosten die Suppe und erkennen ganz ohne biochemische Messgeräte, dass sie mit etwas mehr Petersilie wohl noch besser schmecken würde. Wir brauchen keine mathematischen Formeln, um mit akzeptabler Genauigkeit vorherzusagen, ob sich die Tante am Geburtstag über ein Quantenphysik-Lehrbuch freuen würde oder eher nicht.

Unsere täglichen Entscheidungen treffen wir nicht, indem wir alle Fakten auflisten, übersichtlich sortieren und rational abwägen, sondern indem wir unser lückenhaftes Halbwissen zu einer fragwürdigen Brühe verrühren und auf recht undurchsichtige Weise eine Meinung daraus hervorziehen. Erstaunlicherweise liegen wir damit ziemlich oft richtig.

Ähnlich wie unser rationaler Verstand ist auch das Bauchgefühl eine Form von Intelligenz. Es ist ein grandioser Mechanismus, mit dem es uns Tag für Tag gelingt, mit ziemlich wenig Information in ziemlich kurzer Zeit ziemlich gute Entscheidungen zu treffen.

Dafür hat die Evolution gesorgt: Über viele Tausend Generationen hinweg hatten unsere Vorfahren dann eine höhere Überlebenschance, wenn sie die vielen verwirrenden Fakten, die ihnen das Leben Tag für Tag an den Kopf warf, ganz intuitiv auf einigermaßen sinnvolle Weise verarbeiten konnten. Wissenschaftliche Präzision hingegen war in unserer Evolutionsgeschichte meistens ziemlich nutzlos.

Stellen wir uns vor, wie vor Hunderttausenden Jahren ein Rudel unserer entfernten Vorfahren nach langer Wanderung erschöpft unter den Bäumen saß. Plötzlich raschelt es im Gebüsch, eine hungrige Raubkatze springt hervor, packt einen von ihnen und nimmt ihn mit. Die anderen ziehen zitternd weiter, mit beißender Raubkatzenangst im Bauch. Am nächsten Tag suchen sie wieder Zuflucht im Wald, wieder hören sie ein verdächtiges Rascheln im Gebüsch. In Panik springen sie auf und laufen davon – ganz intuitiv, ohne viel nachzudenken.

„Immer mal langsam!“, würde ein urzeitlicher Wissenschaftler nun vielleicht warnen: „Bleibt doch erst mal sitzen, verlasst euch nicht bloß auf euer Bauchgefühl! Die Faktenlage ist extrem dünn, und auf einer einzelnen Beobachtung lässt sich keine verlässliche Theorie aufbauen. Bevor wir überstürzte Entscheidungen treffen, sollten wir anhand einer größeren Anzahl von Experimenten sorgfältig untersuchen, inwieweit tatsächlich ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem Rascheln im Gebüsch und lebensbedrohlichen Raubkatzen nachweisbar ist!“

Kein Zweifel: Dieser frühzeitliche Naturwissenschaftler wurde aufgefressen. Seine Einwände waren vielleicht methodisch korrekt, aber praxistauglich waren sie nicht. Kein Wunder, dass uns die Evolution nicht auf ganz natürliche Weise mit der Fähigkeit zum wissenschaftlich präzisen Denken ausgestattet hat.

Wir sollten dankbar sein, dass wir ein gut entwickeltes Bauchgefühl haben, aber eines ist klar: Verlässlich ist es nicht – zumindest nicht immer. Unser Bauchgefühl schützt uns zwar davor, schlecht gelaunten Raubtieren in der Nase zu bohren. Aber es sagt uns auch, dass Alkohol Spaß macht und daher völlig ungefährlich ist, dass die Jugend immer dümmer und respektloser wird und dass beim Roulette ganz sicher Rot kommen muss, wenn fünfmal hintereinander Schwarz an der Reihe war. Manchmal ist unser Bauchgefühl ein ziemlicher Trottel.

Unsere Welt sieht heute ganz anders aus als zur Zeit unserer prähistorischen Vorfahren. Wir leben nicht mehr in überschaubaren Gruppen, wir sind eine weltweit vernetzte Gemeinschaft geworden. Wir fürchten uns nicht mehr vor Raubtieren, sondern vor abstrakten negativen Zahlen auf unserem Bankkonto. Wir forschen nicht mehr an den besten Methoden, ein Feuer zu entfachen, sondern an den kleinsten Bausteinen der Materie, an den molekularbiologischen Eigenschaften unseres Körpers und an den größten Strukturen des Kosmos.

Wir stellen heute Fragen, auf die unsere Vorfahren nicht in ihren verrücktesten Träumen gekommen wären. Unsere Gene, unsere angeborenen Fähigkeiten und unser Bauchgefühl wurden aber an die Welt unserer prähistorischen Vorfahren angepasst. Wir haben gerade erst ein paar Jahrtausende Kulturgeschichte hinter uns – auf einer evolutionsbiologischen Zeitskala ist das lächerlich wenig. Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass unser Bauchgefühl für eine atemberaubend komplexe Welt, die wir uns mithilfe von Kultur, Technik und Wissenschaft gestaltet haben, nicht mehr ausreicht.

Das ist nicht schlimm. Wir Menschen finden immer wieder Strategien, über unsere natürlich angeborenen Möglichkeiten hinauszuwachsen. Wir können mit bloßen Händen keine Armbanduhr reparieren, wir können nicht einfach mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine Knieoperation durchführen, und durch Hautkontakt auszuprobieren, ob ein Stück Draht an den Stromkreis angeschlossen wurde, ist auch keine gute Idee. Deshalb haben wir für solche Aufgaben nützliche Werkzeuge entwickelt.

Dasselbe gilt für unser Bauchgefühl. Es ist völlig ungeeignet, um die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen. Dafür gibt es andere Methoden, zum Beispiel klinische Studien. Das Bauchgefühl hilft uns nicht, die Geheimnisse des Universums zu verstehen, dafür brauchen wir Teleskope und mathematische Formeln. Ob es am Nachmittag regnen wird, können wir manchmal vielleicht intuitiv vorhersagen. Aber meteorologische Simulationsrechnungen haben trotzdem eine höhere Trefferquote.

In vielen Situationen brauchen wir ein höheres Maß an Zuverlässigkeit, als das Bauchgefühl uns bieten kann. Und genau dafür haben wir die Wissenschaft entwickelt. So wie die Arbeit unserer Finger präziser wird, wenn wir Pinzetten verwenden, wird unsere geistige Arbeit präziser, wenn wir uns die Wissenschaft zunutze machen.

Wie Einstein Raum und Zeit verbog

Manchmal bringt uns die Wissenschaft sogar auf Gedanken, die unserem Bauchgefühl ziemlich heftig widersprechen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie.

Einstein beschäftigte sich mit einem der ältesten physikalischen Rätsel überhaupt – mit der Schwerkraft. Eigentlich haben wir dafür ein ziemlich gutes Bauchgefühl entwickelt: Wenn ich einen Kirschkern aus dem Fenster spucke, dann fliegt er in parabelförmigem Bogen durch die Luft und bewegt sich am Ende mit großer Zuverlässigkeit nach unten, Richtung Erdmittelpunkt. Und wer unten davon getroffen wird, weiß sofort ganz intuitiv: Dieses Ding muss von oben gekommen sein.

Einsteins Gedanken über die Schwerkraft waren allerdings deutlich komplizierter. Er arbeitete an einer völlig neuen Theorie von Raum und Zeit. Im Jahr 1905 hatte er bereits gezeigt, dass Raum und Zeit zusammengehören. Man kann sie streng genommen gar nicht getrennt voneinander betrachten, sie bilden gemeinsam eine vierdimensionale Raumzeit. Schon dieser Gedanke ist etwas, womit unser Bauchgefühl niemals zurechtkommt: Für uns sind Raum und Zeit zwei völlig unterschiedliche Dinge. Aber Einsteins Ideen wurden noch viel seltsamer: Diese Raumzeit ist nämlich noch dazu verbogen. Ein fliegender Kirschkern weit draußen im leeren Weltraum bewegt sich entlang einer geraden Linie. Aber hier auf der Erde, wo die Masse des gesamten Planeten Raum und Zeit verbiegt, muss der Kirschkern einer gekrümmten Bahn folgen.

Anschaulich vorstellen kann man sich eine solche „verbogene Raumzeit“ leider nicht. Niemand kann das. Auch Albert Einstein selbst konnte das nicht. Unser menschlicher Verstand ist für die Relativitätstheorie nicht geschaffen. Aber das macht nichts, denn die Relativitätstheorie ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und mathematischen Regeln kann man auch gehorchen, ohne sich darunter etwas vorstellen zu können.

Allerdings ist die Mathematik, die man zum Bezwingen der allgemeinen Relativitätstheorie benötigt, schrecklich kompliziert. Jahrelang quälte sich Albert Einstein damit herum, oft genug hatte ihn seine Arbeit an den Rand der Verzweiflung getrieben, weil er die entscheidende Formel für die Gravitation und die Krümmung der Raumzeit nicht finden konnte. Doch im Lauf der Zeit verstand Einstein immer besser, welche Eigenschaften eine solche Formel haben muss – und im Herbst 1915 hatte er das Gefühl, ganz knapp vor dem Durchbruch zu stehen.

In diesen Tagen arbeitete aber nicht nur Albert Einstein angestrengt daran, das große Rätsel der Relativitätstheorie zu lösen. David Hilbert, damals der berühmteste Mathematiker der Welt, beschäftigte sich zur gleichen Zeit mit genau demselben Problem. Im Sommer 1915 war Einstein zu Hilbert nach Göttingen gefahren, um vom aktuellen Stand der Forschung zu berichten. Beide Wissenschaftler waren beeindruckt von den Ideen des jeweils anderen. Einstein wurde klar, dass er sich wohl beeilen müsse, um seine allgemeine Relativitätstheorie präsentieren zu können, bevor es Hilbert gelang.

Um seine Ideen gründlich durchzudenken, fehlte Einstein die Zeit. Im November veröffentlichte er eine erste Version seiner Theorie, doch sie enthielt noch entscheidende Fehler. Hilbert lud Einstein ein, noch einmal zu ihm nach Göttingen zu kommen, er hätte gerne seine eigenen Gedanken dazu präsentiert – doch Einstein lehnte ab. Er habe Magenschmerzen, behauptete er, und blieb zu Hause in Berlin. In Wirklichkeit arbeitete er fieberhaft weiter an seinen Formeln.

Die Antwort ist – dreiundvierzig

Und plötzlich war es so weit. Eines Tages war es da, das Ergebnis, nach dem Einstein so lange gesucht hatte: dreiundvierzig. Um dreiundvierzig Bogensekunden verschiebt sich die Bahn des Merkurs pro Jahrhundert. Der Planet bewegt sich entlang einer Ellipse um die Sonne, aber die lange Achse dieser Ellipse wandert langsam um die Sonne herum, wie ein träger kosmischer Uhrzeiger – ein merkwürdiger Effekt, den Astronomen zwar schon lange beobachtet hatten, den aber bisher niemand erklären konnte. Mit Einsteins neuen Formeln ließ sich diese seltsame Unregelmäßigkeit der Merkurbahn zum ersten Mal berechnen. Und sein Ergebnis stimmte mit den Beobachtungen bestens überein.

Am 25. November 1915 veröffentlichte Albert Einstein die entscheidenden Formeln der allgemeinen Relativitätstheorie, die heute als „Einstein’sche Feldgleichungen“ weltberühmt sind. David Hilbert kam wenig später auf dasselbe Ergebnis – doch Einstein war schneller gewesen.

War Einsteins verrückte, bauchgefühlzerrüttende neue Theorie bewiesen, bestätigt und allgemein anerkannt? Natürlich nicht. Wer so haarsträubende Thesen aufstellt wie die von der gravitationsverbogenen vierdimensionalen Raumzeit, muss überzeugende Beweise vorlegen. Die Verschiebung der Merkurbahn zu berechnen ist ein Erfolg, genügt aber nicht.

Bald gab es aber eine interessante Möglichkeit, die Relativitätstheorie zu testen: Wenn wir einen Stern am Himmel sehen, dann bewegt sich sein Licht auf schnurgerader Bahn zu uns, bis es in unser Auge gelangt. Doch wenn sich knapp neben dieser geraden Linie etwas Großes, Schweres befindet, zum Beispiel unsere Sonne, dann sieht die Sache anders aus. Wenn die allgemeine Relativitätstheorie stimmt, dann wird durch die Sonne der Raum gekrümmt und der Lichtstrahl ein kleines bisschen verbogen. Das bedeutet, dass sich ein Stern, den wir am Himmel knapp neben der Sonne sehen, in Wirklichkeit in einer geringfügig anderen Richtung befindet, als es für uns den Anschein hat. Sternenkonstellationen, die sich knapp neben der Sonne befinden, sollten daher ein bisschen verbogen aussehen, verglichen mit dem unverbogenen Bild, das wir in der Nacht sehen können.

Das ist zwar eine schöne, einleuchtende, klare Vorhersage, aber es ist ziemlich schwierig, sie im Experiment präzise zu überprüfen. Tagsüber sind die Sterne kaum zu sehen. Die exakte Position von Sternen zu vermessen, die sich knapp neben der Sonnenscheibe befinden, ist genauso hoffnungslos, wie das schüchterne Fiepen einer Maus zu hören, während der Lärm eines Presslufthammers alles übertönt.

Doch durch einen erstaunlichen, glücklichen Umstand ließ sich dieses Problem lösen: Zufällig leben wir nämlich auf einem der ganz wenigen Planeten, auf dem eine totale Sonnenfinsternis möglich ist. Der Mond hat aus purem Zufall exakt die richtige Größe, um die Sonne vollständig zu verdecken, den Blick auf die Sterne knapp daneben aber freizulassen. Sollten physikinteressierte Außerirdische ebenfalls eine allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt haben, grübeln sie vielleicht noch heute, wie sich Sternenlichtverbiegungen auf elegante Weise messen lassen. Auf der Erde musste man nur auf eine totale Sonnenfinsternis warten.

Und die kam im Jahr 1919. Der britische Astronom Arthur Stanley Eddington beschloss, der Sache mit den gekrümmten Lichtstrahlen auf den Grund zu gehen. Zwei Expeditionen wurden gestartet. Eddington selbst reiste zur Insel Principe im Golf von Guinea, ein anderes Team machte sich auf den Weg nach Brasilien. Am Tag der Sonnenfinsternis, als der Mond seinen Schatten um die halbe Erde, quer über Südamerika bis nach Afrika zog, fotografierte man sorgfältig die mondverdeckte Sonnenscheibe und die Sterne, deren Licht von der Sonne verbogen wurde. Die Genauigkeit dieser Messungen war beschränkt, doch nach sorgfältigen Analysen und Auswertungen verkündete Arthur Eddington ein positives Ergebnis: Die Sternbilder seien tatsächlich verzerrt, Einsteins allgemeine Relativitätstheorie war bestätigt.

Es war ein Triumph, wie er in der Wissenschaft nur selten vorkommt. Auf der ganzen Welt wurde davon berichtet: „Die Lichter am Himmel sind alle verschoben!“ titelte die New York Times am 10. November 1919. Von diesem Tag an war Einstein nicht mehr bloß ein großer Theoretiker, er wurde zum ersten Popstar der Wissenschaftsgeschichte.

Aus der Geschichte von der allgemeinen Relativitätstheorie kann man viel darüber lernen, wie Wissenschaft funktioniert: Zunächst muss jede neue naturwissenschaftliche Theorie zu den Ergebnissen passen, die bereits bekannt sind. Aber das genügt nicht. Sie muss darüber hinaus auch neue Aussagen über die Natur liefern, die man dann durch gezielte Beobachtung überprüfen kann. Wenn sich die Theorie immer wieder als nützlich erweist und die Ergebnisse von Messungen richtig vorhersagt, dann ist es klug, an sie zu glauben – selbst wenn sie seltsam klingt.

Außerdem lernen wir daraus, dass in der Wissenschaft nicht immer alles perfekt laufen muss: Auch die klügsten Menschen der Welt sind manchmal verzweifelt, weil die Mathematik zu kompliziert ist, veröffentlichen Ergebnisse, die sich später als falsch herausstellen, oder schwindeln ein bisschen, weil sie schneller ans Ziel kommen wollen als die Konkurrenz. Das sollten sie nicht – aber entscheidend ist, dass am Ende das Richtige herauskommt.

Die Geschichte von der allgemeinen Relativitätstheorie zeigt uns auch, dass man mit bloßer Intuition und Bauchgefühl in der Wissenschaft nicht weit kommt. Unser bauchgefühlter Alltagsverstand versagt jämmerlich, wenn es um komplizierte Physik geht. Was die Relativitätstheorie behauptet, erscheint auf den ersten Blick völlig verrückt: Raum und Zeit können sich verbiegen, und Lichtstrahlen, die sich durch das leere Nichts des Weltalls bewegen, werden plötzlich gekrümmt? Das klingt fast wie die Behauptung eines esoterischen Wunderheilers, der sich das falsche Räucherstäbchen angezündet hat. Sollen wir das tatsächlich glauben?

Ja, das sollten wir. Wissenschaftliche Wahrheiten hängen nicht davon ab, ob sie uns gefallen oder nicht. Niemand sagt, dass wissenschaftliche Theorien zu unserer Intuition passen müssen. Fakten sind Fakten. Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl.

Der Dunning-Kruger-Effekt

Wir müssen lernen, wo wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen können und wo nicht. Aber können wir ein verlässliches Bauchgefühl für die Verlässlichkeit des Bauchgefühls entwickeln? Die Sache ist kompliziert. Leider fällt es uns ziemlich schwer, uns selbst richtig einzuschätzen.

Wenn man die gesamte Bevölkerung nach Intelligenz reihen würde – wo würden wir uns selbst einordnen? Im obersten Drittel? Bei den besten drei Prozent? Wie sieht es mit anderen Qualitäten aus – zum Beispiel mit unserem Sinn für Humor? Oder mit der Fähigkeit, zuverlässige Nachrichten von frei erfundenem Unsinn zu unterscheiden? Fast jeder ist davon überzeugt, das besser zu können als die meisten anderen. Aber wenn sich neunzig Prozent zu den besten zehn Prozent zählen, dann muss irgendetwas falsch sein. Um das zu erkennen, muss man gar nicht zu den neunzig Prozent zählen, die zu den besten zehn Prozent im Prozentrechnen gehören.

Offensichtlich überschätzen wir oft unsere eigenen Fähigkeiten, wenn wir uns mit anderen vergleichen. Diesem Phänomen liegt der „Dunning-Kruger-Effekt“ zugrunde, benannt nach den Psychologen Justin Kruger und David Dunning, die ihre Experimente zu diesem Phänomen im Jahr 1999 veröffentlichten.

Dunning und Kruger legten ihren Versuchspersonen unterschiedliche Aufgaben vor, etwa Logik- oder Grammatiktests. Danach wurden die Probanden befragt, wie gut sie ihre eigene Leistung im Vergleich zur Leistung anderer Leute einschätzen würden. Erstaunlicherweise lagen viele von ihnen ziemlich weit daneben. Sogar unter den Versuchspersonen, die in Wahrheit zum schlechtesten Viertel gehörten, hielten sich viele für eher gut. Die Leute, die zum besten Viertel zählten, schätzten die eigene Leistung auch als gut ein, sie waren in Wirklichkeit aber sogar noch deutlich besser, als sie dachten.

Im nächsten Schritt ließ man die Versuchspersonen dann die Antworten anderer Leute bewerten. Je besser sie selbst beim Test abgeschnitten hatten, umso eher gelang es ihnen auch, die Qualität fremder Leistungen richtig einzuschätzen. Das ist nicht überraschend. Wer kaum lesen kann, ist mit Sicherheit kein guter Literaturkritiker, und wer Angst vor mehr als zweistelligen Zahlen hat, sollte nicht unbedingt als Rechnungsprüfer arbeiten.

Interessant ist allerdings, welche Schlüsse die Versuchspersonen daraus in Bezug auf ihre eigene Leistung zogen. Nachdem sie die Antworten anderer Leute gesehen hatten, wurden sie ein weiteres Mal gebeten, ihre eigene Leistung einzuschätzen. Die besonders guten Testpersonen hatten nun erkannt, dass die meisten anderen schlechter abgeschnitten hatten als sie selbst, und korrigierten ihre Einschätzung der eigenen Leistung nach oben. Die unbegabteren Testpersonen hingegen konnten aus den fremden Ergebnissen überhaupt keine zusätzliche Information gewinnen. Sie schätzten sich selbst danach noch immer viel zu positiv ein.

Genau das ist der „Dunning-Kruger-Effekt“: Um korrekt beurteilen zu können, ob man etwas gut kann, muss man es gut können. Die Fähigkeiten, die man braucht, um Leistungen einzuschätzen, sind dieselben Fähigkeiten, die man auch benötigt, um diese Leistungen selbst zu vollbringen. Wer das eine nicht kann, wird meist auch am anderen scheitern. Gerade den ahnungslosesten, unfähigsten und inkompetentesten Leuten fällt es daher ganz besonders schwer, die eigene Ahnungslosigkeit zu erkennen.

Wenn man jemandem klarmachen möchte, was er nicht kann, muss man dafür sorgen, dass er es lernt. Dunning und Kruger gaben Personen, die beim Logiktest schlecht abgeschnitten hatten, Logiknachhilfe. Damit verbesserten sich die Antworten, doch die Einschätzung der eigenen Leistung verschlechterte sich. Wenn man dazulernt, kann man auch die eigenen Schwächen besser wahrnehmen.

Diese bittere Erfahrung haben wir wohl alle schon einmal gemacht – auf ganz unterschiedlichen Gebieten. Man kauft sich eine Gitarre und würgt die ersten verkrampften Akkorde aus ihr heraus. Die Begeisterung ist groß, und man zweifelt nicht daran: Der Aufstieg zum gefeierten Weltstar ist sicher nur noch eine Frage der Zeit. Doch dann übt man weiter, schult das eigene Gehör, bekommt ein Gefühl für die Feinheiten des Instruments und erkennt: Was die wahren Profis zustande bringen, ist doch noch einmal etwas völlig anderes. Die eigene Leistung wird zwar kontinuierlich besser, aber die Zufriedenheit mit dem Resultat nimmt eher ab.

Dasselbe lässt sich auch im Bereich der Wissenschaft beobachten: Begeisterte Hobbyforscher finden ein Buch über die Relativitätstheorie und sind plötzlich überzeugt davon, Albert Einstein widerlegen zu können. Hoffnungsvolle Esoteriker lassen sich im Wochenendseminar zum Teilzeitwunderheiler ausbilden und glauben dann, der wissenschaftlichen Medizin widersprechen zu können. Enthusiastische Garagenbastler schrauben an einem elektrischen Generator herum und sind zuversichtlich, ihn mit ein bisschen Schmieröl und technischem Geschick in ein Perpetuum mobile umbauen zu können. Wenn ein paar Naturgesetze etwas dagegen haben, dann muss man sich eben neue suchen!

Sie alle sind Opfer des Dunning-Kruger-Effekts. Ihnen fehlt das nötige Wissen über wissenschaftliche Fakten, um einzusehen, dass sie über wissenschaftliche Fakten sehr wenig wissen. Im besten Fall lernen sie dazu und sehen irgendwann ein, dass man als Einzelperson nicht so einfach die gesamte Wissenschaft zerschlagen kann. Im schlechtesten Fall bleiben sie dauerhaft im Stadium der Selbstüberschätzung stecken – dann verbringen sie ein selbstbewusstes, aber wissenschaftlich höchst unproduktives Leben als Esoteriker.

Mit Wissenschaft lässt es sich besser streiten

Aber ist es überhaupt ein echtes Problem, wenn es ein paar seltsame Leute gibt, die zwischen Wissenschaft und Bauchgefühl nicht unterscheiden können – oder gar nicht unterscheiden wollen? Für die Wissenschaft ist es doch völlig egal, ob sich irgendjemand seine eigenen alternativen Fakten zusammenträumt oder nicht. Wissenschaft ist das, was stimmt, auch wenn man nicht daran glaubt. Wenn sich manche Menschen unbedingt einreden möchten, dass die Erde eine Scheibe ist, dass man durch feinstoffliche Auramassage wieder gesund wird oder dass die Erde vor sechstausend Jahren erschaffen wurde – sollten wir sie dann nicht einfach lächelnd ignorieren? Schaden diese Leute nicht ohnehin nur sich selbst?

Ganz so einfach ist es leider nicht. Das friedliche Zusammenleben der Menschheit kann nur gelingen, wenn wir uns alle an gewisse logisch-rationale Grundregeln halten. Wenn wir gemeinsam Probleme lösen wollen, dann müssen wir uns zuallererst darüber einig sein, welche Sorte von Argumenten überhaupt zulässig ist.

Bei jedem Spiel muss man die Regeln festlegen, bevor man beginnt. Wer beim Tennis seinen Gegner mit drohend erhobenem Schläger dazu zwingt, den Ball aufzuessen, bekommt dafür keine Punkte. Eine solche Aktion mag zwar kurzfristig wie ein Erfolg aussehen, aber sie gehört nicht zu den Verhaltensweisen, die in diesem Sport allgemein anerkannt werden.

In einer demokratischen Diskussion ist es ähnlich. Wir müssen erlaubte, konstruktive Beiträge und sinnloses, destruktives Verhalten auseinanderhalten. Wenn wir darüber diskutieren, ob in der Landwirtschaft bestimmte Pestizide verboten werden sollen, dann sind biochemische Analysen und ökologische Studien zulässige Argumente. Wenn uns hingegen jemand erzählt, er habe die letztgültige Wahrheit telepathisch von einem intergalaktischen Grottenolm aus einer fremden Dimension übermittelt bekommen, werden wir das eher nicht als akzeptablen Diskussionsbeitrag gelten lassen.

Genau auf dieses Problem stoßen wir ziemlich oft: Wir bekommen Scheinargumente präsentiert, die in einer sinnvollen Debatte eigentlich gar nicht als Argument zählen dürften: „Das muss man verbieten, denn das gehört sich einfach nicht!“, sagen die einen. „Das steht aber so in meinem heiligen Buch“, entgegnen die anderen. Der eine versucht Wählerstimmen zu gewinnen, indem er ohne echten Grund Angst verbreitet, der andere ignoriert die Wirklichkeit und wirft bei der Wahlkampfrede dem Publikum frei erfundene Zahlen entgegen. Der eine sieht die Moral auf seiner Seite, weil er im intensiven Gebet erleuchtet wurde, der andere behauptet, zu einem Herrenvolk zu gehören, mit dem naturgegebenen Anrecht auf die Weltherrschaft. Alle haben ein sehr ausgeprägtes Gefühl, recht zu haben – aber das dürfen wir nicht gelten lassen.

Manche Meinungen sind fundiert und durch überprüfbare Fakten belegbar, manche Meinungen sind bloß ein vages Gefühl und manche Meinungen sind nichts als faktenverachtender Unsinn. Demokratie kann nur funktionieren, wenn wir zwischen diesen Kategorien unterscheiden. Dafür brauchen wir die Wissenschaft.

Wissenschaft bedeutet nicht, selbstbewusst zu verkünden, was andere glauben müssen. Nichts hält uns bei der Suche nach der Wahrheit so sehr auf wie die voreilige Überzeugung, man sei schon am Ziel. Wir müssen erkennen, was wir alles noch nicht erkannt haben. Wir müssen lernen, dass wir noch vieles lernen müssen. Erst dann können wir uns auf die Suche nach wissenschaftlichen Wahrheiten machen, die für uns alle gelten – unabhängig davon, auf welchem Kontinent oder in welchem Jahrhundert wir geboren wurden. Wissenschaft ist die Suche nach dem, worauf wir uns gemeinsam verlassen können.

EINS PLUS EINS IST ZWEI

Warum es Wahrheiten gibt, denen niemand widersprechen kann, wie man unendlich viele Gäste in ein voll belegtes Hotel bringt und wie ein Wunderkind aus Indien auf verblüffende Formeln kam: die bemerkenswerte Macht der Logik.

Der englische Naturforscher William Buckland war dafür bekannt, alles zu kosten. Eines Tages zeigte man ihm in einer Kirche einen wundersamen Blutfleck: Ein Heiliger war dort gestorben, und seither erneuerte sich der nasse Fleck jede Nacht. Buckland kniete sich hin, leckte an der feuchten Stelle und meinte: „Das ist kein Blut, das ist nur Fledermaus-Urin.“ Ja, William Buckland kostete tatsächlich alles.

Wenn wir Naturwissenschaft betreiben wollen, sind wir auf unsere Sinneseindrücke angewiesen. Das ist nicht immer schön, aber nur durch sorgfältiges Beobachten lernen wir etwas über die Welt. Leider ergeben sich dadurch oft Meinungsverschiedenheiten: Was für den einen aussieht wie heiliges Blut, wirkt auf den unerschrockenen Geschmacksexperten völlig anders.

Es gibt nur eine einzige Wissenschaft, in der man solche Schwierigkeiten umgehen kann: die Mathematik. In allen anderen Wissenschaften geht es darum, in unserem Kopf ein vereinfachtes Abbild der Welt zu erschaffen. Die Mathematik ist auf die Welt nicht angewiesen. Sie kann ganz für sich allein wertvoll und wahr sein, ganz unabhängig davon, ob diese Wahrheiten mit irgendetwas Beobachtbarem in Verbindung stehen.

In der Mathematik führt man keine Messungen durch, bei denen sich ein Messfehler ergeben könnte. Man denkt sich keine Experimente aus, deren Ergebnis man mühsam interpretieren muss. Man plant keine Expeditionen in der Hoffnung, Augenzeuge neuer mathematischer Phänomene zu werden. Die Mathematik beschreibt nicht das, was der Fall ist. Sie beschäftigt sich damit, was der Fall sein kann und was der Fall sein muss.

Genau dadurch erreicht die Mathematik den höchsten Grad an Zuverlässigkeit, den es überhaupt gibt. Was mathematisch bewiesen ist, das stimmt. An der Mathematik ist nicht zu rütteln. Wenn wir herausfinden möchten, worauf wir uns wirklich verlassen können, dann müssen wir bei der Mathematik beginnen, bei der Mutter des wissenschaftlichen Argumentierens.

Das, was anders nicht gedacht werden kann

Natürlich gibt es auch in anderen Wissenschaften Erkenntnisse, die als absolut zuverlässig gelten. Was man aus dem Fenster wirft, wird von der Schwerkraft nach unten gezogen. Sauerstoff ist für Säugetiere unverzichtbar. Heizöl ist als Hundenahrung ungeeignet. Solche Aussagen können wir nicht ernsthaft anzweifeln. Und wenn doch, dann sollten wir uns zumindest nicht darüber wundern, wenn uns der Nachbar nicht erlaubt, auf seinen Hund aufzupassen.

Doch nur in der Mathematik können wir völlige logische Klarheit erwarten. Wenn zwei Leute zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen, dann ist irgendetwas falsch. Wenn drei plus acht zwölf ist, dann kann drei plus acht nicht sechzehn sein. Eventuell ist sogar mehr als nur ein Fehler passiert.

Wir irren uns, wir verrechnen uns, wir stolpern über unsere eigenen Gedanken. Aber unser Denken lässt sich von den Gesetzen der Logik nicht lösen: Wenn ich jeden zweiten Tag die Blumen gießen muss und gestern die Blumen nicht gegossen habe, dann muss ich heute die Blumen gießen. Das ist logisch. Daran zu zweifeln ist gar nicht möglich, es gelingt uns nicht, diesen Zusammenhang anders zu denken.

Ich kann selbstverständlich die Annahmen hinterfragen, die hier getroffen wurden: Ich kann daran zweifeln, dass die Blumen jeden zweiten Tag gegossen werden müssen, ich kann vergessen haben, ob ich sie gestern gegossen habe, oder ich kann vielleicht in einem Anfall gröberer Geistesverwirrung völlig abstreiten, dass es Blumen überhaupt gibt. Doch wenn ich die Voraussetzungen als wahr akzeptiere, dann folgt daraus zwingend, dass die Blumen heute gegossen werden müssen – mit mathematischer Unanfechtbarkeit. Dagegen kann sich niemand wehren, wir können gar nicht zu einem anderen Schluss kommen.

Das ist bemerkenswert, denn in allen anderen Wissenschaften ist das anders. Wir schaffen es, uns eine Welt ohne Schwerkraft vorzustellen. Problemlos können wir darüber nachdenken, wie unangenehm der Alltag wohl wäre, wenn man sich ständig mit Haken am Boden verankern müsste, um nicht versehentlich ins leere Weltall davonzudriften. Wir können auch über ein Universum nachdenken, das ausschließlich aus negativ geladenen Teilchen besteht, die einander abstoßen. Unser gesamter Kosmos wäre bloß eine explodierende Wolke aus Einzelteilchen, die unaufhaltsam voneinander fortgetrieben werden, ohne jemals etwas Interessantes wie ein Molekül, einen Blumentopf oder einen Planeten hervorzubringen. Im Gegensatz dazu können wir uns aber kein Universum vorstellen, in dem zwei plus drei sieben ist, in dem jedes Dreieck vier Ecken hat oder in dem x genau dann größer als y ist, wenn y größer ist als x.

Wenn etwas mit sich selbst in Widersprüche gerät und logisch nicht erlaubt ist, dann ist es nicht nur in unserem Universum unmöglich, es kann nicht einmal in unserem Denken Gestalt annehmen. Man könnte das sogar als Definition der Mathematik betrachten: Mathematik untersucht, was sich alles denken lässt. Nicht alles, was die Mathematik als möglich erweist, ist in unserer Welt auch tatsächlich der Fall. Doch was der Mathematik widerspricht, kann nicht wahr sein. Die Mathematik ist die Wissenschaft des Denkmöglichen.

Axiome: Wo das richtige Denken beginnt

Das macht die Mathematik zu einer wunderbar menschheitsverbindenden Sache: Es spielt keine Rolle, aus welchem Kulturkreis wir kommen. Es ist egal, welche politischen Ansichten wir haben, welche Sprache wir sprechen oder welche Schriftzeichen wir benutzen. Über mathematische Aussagen können wir uns einigen. Und aus jeder mathematischen Aussage lassen sich nach den Gesetzen der Mathematik wieder andere mathematische Aussagen ableiten, über die wir uns dann ebenso einig sind. An verlässliche Wahrheiten können wir immer weitere verlässliche Wahrheiten anbinden, und so knüpfen wir Schritt für Schritt ein großes Netz an Wahrheiten, an denen niemand zweifeln kann.

Wenn wir das tun, müssen wir allerdings auch fragen: Woran ist das ganze Netz eigentlich befestigt? Welche Wahrheiten stehen ganz am Anfang? Gibt es Grundwahrheiten, auf die sich alles andere logisch zurückführen lässt? Kinder lernen das oft schon im Alter von zwei oder drei Jahren: Man kann immer „Warum?“ fragen und für die Begründung dann wieder eine Begründung fordern: Warum darf der Hamster nicht mit in die Badewanne? Warum kann er ertrinken? Warum ist es schlimm, wenn sich die Hamsterlunge mit Wasser füllt? Warum braucht der Hamster Sauerstoff? Irgendwann muss diese Fragenkette enden, irgendwann geben selbst die geduldigsten Eltern auf und sagen: Das musst du mir jetzt einfach glauben, das ist einfach so.

In der Wissenschaft ist das ähnlich. Wir führen unsere Erkenntnisse auf Grundannahmen zurück, die sich irgendwann nicht weiter begründen lassen – oft nennt man sie „Axiome“. Ein gutes Axiom ist so klar und einfach, dass es jeder als Wahrheit akzeptieren wird. Wenn niemand mehr das Bedürfnis verspürt, „Warum?“ zu fragen, weil man bei etwas offensichtlich Wahrem angekommen ist, dann hat man ein solides Fundament gefunden, auf dem man weitere Argumente aufbauen kann.

Solche Axiome, solche verlässlichen Grundwahrheiten, spielen in der Mathematik eine besonders wichtige Rolle. Eines der bedeutendsten Werke der gesamten Wissenschaftsgeschichte schrieb der griechische Mathematiker Euklid um das Jahr 300 v. Chr. – die Elemente. Euklid wollte das damalige Wissen über Geometrie und Zahlenkunde in eine schlüssige, logische Form bringen. Seither haben sich fast alle Aspekte des menschlichen Lebens verändert. Über Politik, über Moral oder über den Aufbau des Universums denken wir heute völlig anders als die Menschen zu Euklids Zeiten. Aber die Wahrheiten über Punkte, Linien, Kreise oder Dreiecke, die Euklid in den Elementen zusammenfasste, gelten heute noch genauso wie damals. Sie sind unveränderlich wahr – auch wenn andere Leute seither noch auf andere, kompliziertere Wahrheiten gestoßen sind.

So wie man beim Hausbauen damit beginnt, ein solides Fundament zu errichten, fängt Euklid in seinen Elementen zunächst mit den wichtigen Definitionen und Axiomen an: Eine Linie ist eine Länge ohne Breite. Alle rechten Winkel sind gleich groß. Von jedem Punkt kann man zu jedem anderen Punkt eine Linie ziehen. Das erscheint alles so klar, dass es keine weitere Begründung benötigt. Und diese fundamentalen Grundsätze benutzt Euklid dann, um Schritt für Schritt eine Geometrie zu entwickeln: Er erklärt, wie man ein gleichseitiges Dreieck konstruiert. Er beschreibt, wie man Winkel oder Strecken halbiert. Er beweist, dass in jedem Dreieck die längste Seite dem größten Winkel gegenüberliegt.