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Inhaltsverzeichnis

Widmung
Prolog
ERSTES BUCH - Die Vision
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
ZWEITES BUCH - Die Mission
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog
Anmerkungen der Autorin
Copyright

Epilog

An einem kühlen, frischen, für das nordkalifornische Wetter typischen Januarmorgen übernahm Susannah die Position der Aufsichtsratsvorsitzenden der Falcon Business Technologies. Sie trug ihr konservativstes graues Kostüm, ihre schwarzen Pumps mit den niedrigsten Absätzen und ihre schlichtesten Ohrringe. Nur ein einziges anderes Schmuckstück gestattete sie sich – den massiven goldenen Ehering an der linken Hand, ein atemberaubendes Juwel, aber wegen der großen, glitzernden Diamanten vielleicht etwas zu protzig für den FBT-Geschmack.

Mehrere Männer erwarteten sie am Eingang des »Schlosses«, das Joel Faulconer erbaut hatte.

»Willkommen bei FBT, Mrs. Blaine.«

»Freut mich, Sie an Bord zu begrüßen.«

»Welch ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Mrs. Blaine.«

»Nein – Miss Faulconer«, erwiderte sie. »Aber nennen Sie mich bitte Susannah.«

Da strahlten sie vor Entzücken – ein Dutzend Topmanager in dunklen Anzügen. Und alle wussten, dass sie dank der Vollmacht ihrer Schwester das größte Aktienpaket der Firma unter ihrer Kontrolle hatte. Vergeblich sah sie sich nach einem weiblichen Gesicht um, dann entsann sie sich, dass Frauen bei FBT nur selten die Grenzen des mittleren Managements überschritten.

Höflich geleiteten die Gentlemen ihre neue Chefin durch das Gebäude, als wäre sie nie zuvor hier gewesen, führten sie unter angeregtem Geplauder die stillen Korridore entlang und in Büros mit dicken Teppichen, öffneten ihr die Türen und umfassten ihren Ellbogen.

»Wir planen eine längere Orientierungsperiode für Sie, Susannah.«

»Am Anfang sollten Sie sich nicht mit zu viel auf einmal belasten.«

»Ein Spezialteam wird Sie beraten und Ihre Fragen beantworten ...«

»... unsere Firmenphilosophie erläutern ...«

» ... und Ihnen helfen, damit Sie unsere diversen Prozeduren nicht falsch interpretieren.«

»Dieses Team wird sich um alles kümmern. Also werden Sie nicht mit zu vielen Einzelheiten behelligt.«

»Am besten konzentrieren Sie sich vorerst auf die PR ...«

»... halten Pressekonferenzen ab ...«

»... geben Interviews.«

»Da Sie eine Frau sind, möchten Sie Ihr Büro sicher neu einrichten.«

»Ihre Sekretärin hat bereits eine Liste der Wohltätigkeitsveranstaltungen zusammengestellt, die Sie demnächst mit Mr. Blaine besuchen müssten.«

Mit kühlem, unergründlichem Lächeln inspizierte sie die Kantine des Spitzenmanagements und überlegte, wie sie den Raum in eine Tagesstätte für die Kinder der Angestellten verwandeln könnte. Zur ersten Kundschaft würde das kostbare Leben zählen, das unter ihrem Herzen wuchs.

Inständig wünschte sie, Mitch wäre in diesem Moment an ihrer Seite. Doch es würde noch mindestens sechs Monate dauern, bis er SysVal dem brillanten Team anvertrauen konnte, das die jugendliche Firma in eine reife, profitable Erwachsenenwelt führen würde. Sie würde die Zusammenarbeit mit ihm schmerzlich vermissen. Wenn er zu FBT überwechselte, würde Susannahs Schwangerschaft bereits weit fortgeschritten sein. Belustigt stellte sie sich seine Macho-Schritte in den ehrwürdigen Fluren vor. Der erste Mann in der Geschichte des Konzerns, der eine Generaldirektorin geschwängert hatte ...

Als drei sanfte Gongtöne aus dem Lautsprecher drangen, hob sie den Kopf. »Mr. Ames ins Sicherheitsbüro«, bat eine melodische Stimme, und Susannah versuchte sich auszumalen, wie die Frau das Personal vor einer japanischen Invasion auf dem Parkplatz warnen würde.

Eine Stunde lang ließ sie sich die diskreten Ermahnungen und verschleierten Befehle noch gefallen, dann entschuldigte sie sich und betrat das Chefbüro. Im Vorraum wurde sie von einer Schar identisch gekleideter Assistentinnen empfangen, die lederne Aktenmappen und gelbe Schreibblöcke schwenkten und alle durcheinander redeten.

»Mrs. Blaine, wenn ich Sie über Ihre Termine in dieser Woche informieren dürfte ...«

»Mrs. Blaine, Ihre erste Pressekonferenz haben wir für ...«

Abwehrend hob sie eine Hand. »Ich heiße Faulconer. Nennen Sie mich Susannah. Und die nächste Person, die auch nur ein einziges Wort zu mir sagt, wird – das schwöre ich – die Verantwortung für die Reinigung aller Kaffeekannen in diesem Gebäude übernehmen.«

Dann kehrte sie allen den Rücken, betrat das Privatbüro des FBT-Aufsichtsratsvorstands und schloss die Tür.

Abgesehen von den Blumensträußen mehrerer Leute, die ihr zum Einstand gratulierten, hatte sich seit Joel Faulconers Lebzeiten nicht viel in diesem Raum verändert. Langsam wanderte sie umher, berührte vertraute Möbel und Gegenstände – die Bücherregale und tiefen Besuchersessel, die Stehlampe aus Messing. Zu beiden Seiten der breiten Fensterfront hingen goldgelb und blau gemusterte Vorhänge, eine exakte Reproduktion jener schweren Stoffbahnen, an die sie sich erinnerte. Der massive Schreibtisch ihres Vaters mit der polierten Malachitplatte beherrschte nach wie vor den Raum. Dahinter hing der bronzene FBT-Falke an der Wand, die Schwingen weit ausgebreitet, um den Globus zu umfassen, auf dem er hockte.

Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, welch schwierige Aufgabe sie erfüllen musste. »O Daddy, was mache ich denn hier?«

Aber an diesen Tag sprach der Vater nicht mit ihr. Vielleicht wusste er, was sie plante.

Um sich abzulenken und zu fassen, öffnete sie die Glückwunschkarten, die aus den Blumenarrangements ragten. Eine stammte von Paige und Yank. Inzwischen war das alte Gästehaus auf Falcon Hill in ein Labor umgewandelt worden, das dem neuesten Stand der Technik entsprach. Yank hatte beschlossen, freiberuflich zu arbeiten. Seine Projekte verteilte er auf SysVal, Sam und andere Auftraggeber, die seine Fantasie anregten. Es amüsierte Susannah unendlich zu beobachten, wie der Mann, den früher nicht einmal eine nukleare Explosion aus der Konzentration seiner Arbeit gerissen hätte, sofort den Kopf hob, wenn Paiges leise Schritte erklangen. Wie er sich erst aufführen würde, wenn sie ein Kind bekam, konnte sich Susannah kaum vorstellen.

Ihre Stiefkinder hatten ihr ein Dutzend Rosen geschickt. Das fand sie sehr aufmerksam, wenn sie auch vermutete, dass Mitch sie dazu angestiftet hatte. Die beiden waren wundervoll, und sie freute sich, dass sie die zweite Ehefrau ihres Vaters freundschaftlich akzeptierten.

Von Angela hatte sie ein Arrangement aus Nelken, Löwenmäulchen und Margeriten bekommen. Bisher war sie die Einzige, der Susannah und Mitch von dem Baby erzählt hatten. Da hatte sie prompt verlangt, das Kind müsse sie »Na Na« nennen. »Nicht ›Granny‹«, hatte sie betont und über die Silbernieten an den Ärmeln ihrer neuen roten Lederjacke gestrichen. »Dafür bin ich zu jung. Aber ›Na Na‹ klingt hübsch.«

Mit diesem Angebot rührte sie Susannah und Mitch, und beide ahnten im Voraus, welch eine liebevolle Großmutter sie sein würde, ganz egal, wie sie genannt werden wollte.

Durch einen Tränenschleier las Susannah, was die frühere Schwiegermutter ihr geschrieben hatte. »Du wirst stets meine Tochter bleiben. Hau sie alle vom Sockel, Kindchen.«

Nun ging sie zum Schreibtisch. Nach kurzem Zögern nahm sie in dem wuchtigen Ledersessel Platz, der ihrem Vater gehört hatte. Auf der Malachitplatte lag die vertraute Schalttafel, mit der er die Obeliskenbrunnen ein- und ausgestellt hatte. Susannah notierte sich, dass sie das Gerät entfernen lassen würde. Von solchen Machtsymbolen hielt sie absolut nichts.

Als sie den Notizblick beiseite schob, entdeckte sie ein Päckchen, in Silberfolie gewickelt. Sicher nicht von Mitch ... Sein Geschenk hatte sie an diesem Morgen auf dem Nachttisch gefunden, als sie erwacht war, und vor seinen Augen ausgepackt – schwarze Reizwäsche mit dem aufgestickten FBT-Logo, ein Vorrat, der für eine ganze Woche reichen würde.

»Dress for Success«, hatte er geflüstert. Dann hatte er sie geküsst, bis sie schier erstickt war, und hatte sie aus dem Bett und unter die Dusche gezogen. Dort hatten sie sich leidenschaftlich geliebt.

Eine Zeit lang drehte sie das silberne Päckchen hin und her, bevor sie das beiliegende Kärtchen öffnete. Darauf stand in Blockbuchstaben: ERINNERE DICH AN DEINE WURZELN. SAM.

In dem Päckchen fand sie ein kleines goldenes Amulett, eine perfekte Nachbildung des Blaze. Während sie es in der Hand hielt, sagte sie sich, kluge Spitzenmanager müssten erkennen, dass Veränderungen nicht über Nacht eintreten dürften. Die sollte man langsam vornehmen, denn plötzliche Umwälzungen bedrohten und verunsicherten die Menschen. Kluge Chefs verstanden den Wert von Taktgefühl und Geduld.

Nachdenklich sah sie sich in dem großen Büro um. Hier war Sam von ihrem Vater gedemütigt worden.

»Du hast dich geirrt, Daddy«, flüsterte sie. »Hättest du bloß auf ihn gehört.«

Das Amulett in der Hand, stand sie auf und ging zu den Nussbaumschränken. In einem der Fächer entdeckte sie das Lautsprechersystem, in einem anderen die aufwändige Stereoanlage, die Cal installiert hatte. Susannah nahm eine Kassette aus ihrer Handtasche und schob sie in den Rekorder.

Lächelnd betrachtete sie den kleinen Blaze und wisperte: »Für die Kids in der Garage.« Dann ergriff sie das Mikrofon und schaltete die Lautsprecheranlage ein. »Ladys und Gentlemen, hier spricht Susannah Faulconer. In einer Stunde ist meine Tür geöffnet. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mich sprechen wollen, sind willkommen. Stellen Sie sich an! Die Position spielt keine Rolle. Wer zuerst kommt, malt zuerst. Meine Tür bleibt geöffnet, bis alle da waren. Und zeigen Sie, was Sie drauf haben, denn von jetzt an werde ich diesen Konzern ins Chaos stürzen. Sämtliche gewohnten Prozeduren und Philosophien sind erst einmal abgeschafft. Und wenn wir alles so clever wie möglich umgekrempelt und Glück haben, werden wir die Welt verblüffen.« Grinsend drückte sie auf die Starttaste des Kassettenrekorders.

Während rockige Rolling-Stones-Rhythmen die heiligen FBT-Hallen erfüllten, setzte sie sich wieder hinter den Schreibtisch, legte die Füße auf die Malachitplatte und wartete, bis der erste entrüstete Aufschrei an ihr Ohr dringen würde.

Anmerkungen der Autorin

Dieser Roman basiert auf Tatsachen – den Ereignissen, die sich um die Entstehung der PC-Industrie ranken. Ebenso wie die darin verwickelten Menschen, Firmen und Organisationen bilden sie die Grundlage meiner fiktiven Geschichte. Eine Ähnlichkeit zwischen den handelnden Personen in meinem Buch und lebenden Menschen ist nicht beabsichtigt, auch das Zusammenspiel der Romanfiguren mit tatsächlich existierenden Firmen ist ein reines Produkt meiner Fantasie.

Von den zahlreichen Büchern und Artikeln, die ich während der Recherchen für meinen Roman las, fand ich die folgenden besonders aufschlussreich. Steven Levys interessantes Werk: »Heroes of the Computer Revolution«. Genauso informativ waren »Fire in the Valley: The Making of the Personal Computer« von Paul Freiberger und Michael Swaine; »Silicon Valley Fever« von Everett M. Rogers und Judith K. Larsen; »The Ultimative Entrepreneur: The Story of Ken Olsen and Digital Equipment Corporation« von Glenn Rifkin und George Harrar; und »Charged Bodies: People, Power and Paradox in Silicon Valley« von Thomas Mahon.

Leser, die sich für die faszinierende Geschichte der Apple Computer Corporation interessieren, werden Freude an Michael Moritz’ ausgezeichnetem »The Little Kingdom« finden, ebenso an John Sculleys »Odyssey«, ein Buch, das ich zu den besten Publikationen des letzten Jahrzehnts rechne  – ein Fachbuch über die Geschäftswelt mit Bestseller-Qualitäten, das man gar nicht aus der Hand legen kann. All diesen Autoren möchte ich danken, weil sie meine Fantasie angeregt und mir wertvolles Hintergrundmaterial für meinen Roman geliefert haben.

Bei dem Trio meiner technologischen Berater stehe ich in tiefer Schuld: Dan Winkler, Gerald Vaughan und Bill Phillips. Für Irrtümer in diesem Buch bin ich allein verantwortlich, denn die drei taten ihr Bestes.

Außerdem weiß ich die Hilfe der großartigen Mitarbeiter von IBM und Apple Computer, Inc. zu schätzen, die meine Fragen so geduldig beantwortet haben. Herzlichen Dank auch an Mary Pershall, Richard Phillips, John Titus und DeDe Eschenburg für ihre Beiträge.

Und die Leute von Pocket Books – ihr seid die Besten! Mein besonderer Dank gilt meiner Lektorin Claire Zion, die stets an dieses Projekt glaubte und die Vision nie aus den Augen verlor – nicht einmal, als ich daran zweifelte. Steve Axelrod, du warst ein Segen. Und ich werde Linda Barlow für immer dankbar sein, die mich ermutigte, dieses Buch zu schreiben und wesentliche Beiträge zur endgültigen Fassung leistete.

Danke, Lyd. Du hast mich gelehrt, was Schwestern bedeuten. Ty und Zach, ihr seid wirklich gut drauf.

 

Susan Elizabeth Phillips
Naperville, Illinois

1

Susannahs leiblicher Vater war nicht Joel Faulconer, sondern ein Engländer namens Charles Lydiard, der ihre Mutter 1949 während eines Besuchs in New York City kennen gelernt hatte. Kurz zuvor war Katherine »Kay« Bennetts Vater, ein reicher Financier, gestorben. Die bildschöne junge Schickeria-Lady entdeckte Lydiard auf der Yacht eines Freundes. Lässig lehnte er an der Mahagonireling des Achterdecks, rauchte eine türkische Zigarette und nippte an einem Gibson. Stets auf der Suche nach attraktiven ungebundenen Männern, ließ sich Kay sofort mit ihm bekannt machen. Noch vor dem Ende des Abends verliebte sie sich in seine fein gemeißelten aristokratischen Züge und sein zynisches, melancholisches Wesen.

Besonders scharfsinnig war sie nicht. Deshalb fand sie erst ein Jahr nach der Hochzeit heraus, dass sich ihr eleganter Ehemann eher zu künstlerisch veranlagten jungen Männern hingezogen fühlte als zu ihrem eigenen verführerischen Körper. Unverzüglich zog sie mit ihrer zwei Monate alten Tochter in das Penthouse ihrer verwitweten Mutter in der Park Avenue. Um den ganzen unerfreulichen Zwischenfall zu vergessen, stürzte sie sich hektisch in gesellschaftliche Aktivitäten. Außerdem tat sie ihr Bestes, um auch das kleine Mädchen mit dem ernsten Gesicht zu vergessen, das sie so schmerzlich an ihr mangelndes Urteilsvermögen erinnerte.

Charles Lydiard starb 1954 bei einem Bootsunfall. Um diese Zeit lebte Kay bereits in San Francisco. Kurz davor hatte sie Joel Faulconer geheiratet, einen kalifornischen Industriellen. Vollauf damit beschäftigt, ihren virilen jungen Gatten zu beglücken, verschwendete sie keinen Gedanken an das Schicksal ihres enttäuschenden ersten Ehemanns. Sie dachte auch nicht an ihre dreijährige Tochter, die sie ihrer alten Mutter anvertraut hatte.

Und so wuchs Susannah Bennett Lydiard auf der anderen Seite des Kontinents zu einem ernsthaften Mädchen mit grauen Augen, schmaler Nase und kastanienrotem, zu zwei strammen Zöpfen geflochtenem Haar heran. Als sie vier Jahre alt war, brachte sie sich die Kunst des Lesens bei und lernte die hohen Räume im Penthouse ihrer Großmutter möglichst lautlos zu durchqueren. Wie ein Schatten huschte sie an den großen Fenstern vorbei, deren schwere Samtvorhänge stets geschlossen blieben, um die vulgären Geräusche des großstädtischen Straßenverkehrs zu dämpfen. Ihre Schritte auf den dicken alten Teppichen glichen einem Flüstern, und sie führte ein ebenso stilles Leben wie die ausgestopften Singvögel, die unter Glaskuppeln auf polierten Tischen prangten.

Allmählich verlor Großmutter Bennett den Verstand. Zu jung, um das zu begreifen, wusste Susannah nur, dass die alte Dame strikte Regeln aufgestellt hatte. Wenn man dagegen verstieß, wurde man streng bestraft. Ein frivoles Kind habe sie bereits großgezogen, betonte die Witwe, und sie würde sich nicht mit einem zweiten belasten.

Die Mutter des kleinen Mädchens kam zweimal im Jahr zu Besuch. An solchen Tagen ging Susannah nicht wie üblich mit einem der älteren Dienstboten ihrer Großmutter einmal um den Häuserblock, sondern trank mit Kay Tee im Plaza. Die Mutter war sehr schön. Fasziniert beobachtete das Kind, wie sie eine Zigarette nach der anderen rauchte und alle paar Minuten auf ihre funkelnde, mit Diamanten besetzte Armbanduhr schaute.

Sobald die Teekanne leer war, wurde Susannah nach Hause gebracht. Pflichtbewusst küsste Kay die Stirn ihrer Tochter und verschwand für weitere sechs Monate. Die Großmutter erklärte, weil Susannah so unartig sei, dürfe sie nicht bei ihrer Mutter leben.

Sicher, Susannah war furchtbar unartig. Manchmal berührte sie an der Dinnertafel ihre Nase. Oder sie saß nicht kerzengerade. Gelegentlich vergaß sie, »bitte« und »danke« zu sagen. Für jedes dieser Vergehen wurde sie bestraft und für eine ganze Stunde in einem Schrank eingesperrt. Das würde zu ihrem eigenen Wohl geschehen, behauptete die Großmutter. Aber das Mädchen fragte sich, warum etwas so Grausames gut sein sollte.

Der Schrank war klein und stickig. Noch schlimmer – Großmutter Bennetts alte Pelzmäntel hingen darin. Für ein Kind mit reger Fantasie verwandelte sich die beengte Finsternis in einen Albtraum voller Leben. Hässliche schwarze Nerze streiften Susannahs blasse Wangen, eklige geschorene Biberfelle rieben sich an ihren dünnen Armen. Am unheimlichsten fand sie die Fuchsstola mit dem echten Kopf, der die gespenstische Schließe bildete. Sogar im Dunkeln spürte sie den Blick der schlauen Glasaugen des Tiers. Stocksteif vor Entsetzen kauerte sie am Holzboden, den Rücken an die Schranktür gepresst, und erwartete, die scharfen Fuchszähne würden sie jeden Moment auffressen.

Für ein so kleines Kind verlief das Leben in düsteren, beängstigenden Bahnen. Mit fünf Jahren hatte Susannah die weltfremden Gepflogenheiten eines älteren Menschen entwickelt. Kein einziges Mal erhob sie ihre Stimme, lachte nur selten und weinte nie. Um der gruseligen Pelzhölle zu entrinnen, tat sie alles, was in ihrer begrenzten Macht stand. Sie bemühte sich so eifrig, brav zu sein, dass sie wahrscheinlich gewisse Erfolge erzielt hätte. Doch eines Nachts, im Tiefschlaf, ließ sie ihr eigener Körper schmählich im Stich.

Sie begann ins Bett zu machen.

Wann es passieren würde, wusste sie niemals im Voraus. Manchmal verging ein ganzer Monat ohne peinliche Zwischenfälle. Und dann erwachte sie eines Morgens und lag wieder in ihrem Urin. Großmutter Bennetts papierdünne Nasenflügel bebten angewidert, wann immer die Enkelin nach solchen Nächten zu ihr gebracht wurde. Nicht einmal Susannahs unmanierliche Mutter Katherine hatte sich jemals so abscheulich benommen.

Susannah versuchte ihr nasses Bettzeug zu verstecken. Aber es waren zu viele Laken, und die Dienstboten kamen ihr unweigerlich auf die Schliche.

Wenn das geschah, las ihr die Großmutter mit scharfer Stimme die Leviten, und Susannah musste während der Gefangenschaft im Schrank ihr schmutziges Nachthemd tragen. Der beißende Gestank ihres Urins mischte sich mit dem Kampfergeruch, den die alten Pelze verströmten, bis sie kaum noch atmen konnte. In ihrer Verzweiflung glaubte sie, spitze Zähne auf ihren Armen zu spüren, einen kraftvollen Kiefer, der ihr die zarten Knochen brach. Weil sie ihren Rücken so fest gegen die Schrankwand drückte, entstanden an ihrer Wirbelsäule Blutergüsse, wie eine Perlenkette in verschiedenen Farben.

Nacht für Nacht bekämpfte sie den Schlaf. Sie las Bücher aus der Bibliothek ihrer Großmutter und kniff sich in die Beine, um wach zu bleiben.

Aber sie war erst fünf Jahre alt, und schließlich schwanden ihr trotz aller Mühe die Sinne. Prompt kroch das Monster zur Tür herein und grub die scharfen Zähne in ihr Fleisch, bis sich ihre kleine Blase entleerte.

Jeden Morgen erwachte sie voller Angst, wagte sich kaum zu bewegen, Gerüche wahrzunehmen, das Laken zu berühren. Sobald sie feststellte, dass es trocken war, empfand sie eine fast Schwindel erregende Freude. An solchen Tagen wirkte alles heller und freundlicher – der Ausblick auf die Park Avenue durch die Fenster an der Vorderfront des Hauses, der glänzende rote Apfel, den sie zum Frühstück aß, das komisch verzerrte Spiegelbild ihres ernsten kleinen Gesichts in der silbernen Kaffeekanne ihrer Großmutter.

Wenn das Bettzeug nass war, wünschte sie inständig, sie wäre alt genug, um zu sterben.

Und dann, ein paar Tage nach ihrem sechsten Geburtstag, änderte sich die Welt. Sie saß am Boden des Schranks, der Geruch des Urins brannte in ihrer Nase, kalte Furcht schnürte ihr die Kehle zu. An ihren Schienbeinen klebte das nasse Nachthemd, und ihre Füße steckten im schmutzigen Bettzeug, das sie auf den Befehl ihrer Großmutter mitgenommen hatte. Die Augen zusammengekniffen, starrte sie in der Finsternis die Stelle an, wo – das wusste sie ganz genau – der grässliche Fuchskopf hing.

Darauf konzentrierte sie sich so intensiv, dass sie die Geräusche nicht hörte. Nur allmählich drang das Gezeter der Großmutter in ihr Bewusstsein, dann eine tiefere männliche Stimme, die ihr fremd war.

Sie kannte so wenige Männer. »Kleine Miss« nannte sie der Pförtner des Apartmenthauses. Aber diese Stimme gehörte nicht ihm. Da gab es noch den Mann, der den Wasserhahn über dem Waschbecken im Badezimmer reparierte, wenn er tropfte, den Doktor, von dem sie letztes Jahr eine Injektion bekommen hatte. Wenn sie spazieren ging, sah sie Männer auf der Straße. Doch sie war keines dieser süßen kleinen Püppchen, die Grübchen in den Wangen hatten und die Aufmerksamkeit der Erwachsenen erregten. Nur ganz selten sprach jemand mit ihr.

Durch die dicke Schranktür hörte sie, wie sich die Männerstimme näherte. Laut. Und zornig. Angstvoll zuckte sie zurück und fiel zwischen die Pelze, tote Nerze und Biber hüllten sie ein. Als der Fuchskopf gegen ihre Stirn prallte, stieß sie einen Schrei aus.

Die Tür flog auf. Das merkte sie nicht. Von panischer Angst überwältigt, begann sie zu schluchzen.

»Großer Gott!«

Die ärgerliche Männerstimme dröhnte in ihren Ohren. Zitternd versank sie noch tiefer in der stickigen Masse der Pelze, suchte intuitiv bekanntes Grauen, statt sich einem unbekannten auszuliefern.

»Großer Gott!«, wiederholte der Fremde. »Das ist ja barbarisch!«

Wimmernd starrte sie ins bösartige Fuchsgesicht.

»Komm her, meine Süße.« Jetzt nahm die Stimme einen sanften Klang an. »Komm zu mir!«

Ganz langsam drehte sie sich um und blinzelte ins Licht. Zu der freundlichen Stimme gewandt, sah sie Joel Faulconer zum ersten Mal. Hoch gewachsen und goldblond, mit breiten Schultern.

Wie ein hübscher Prinz aus ihrem Märchenbuch lächelte er sie an und streckte seine Hand aus. »Komm nur, Schätzchen, ich werde dir nicht wehtun. Und ich werde auch niemand anderem erlauben, dich zu quälen.«

Sie wollte sich bewegen. Doch sie konnte es nicht, denn ihre Füße hatten sich in den nassen Bettlaken verfangen, und der Fuchskopf schlug gegen ihre Wange.

Da griff der Mann nach ihr. Instinktiv zuckte sie zusammen und schob sich noch weiter zwischen die Pelze zurück. »Schon gut«, beteuerte er und zog sie aus dem Schrank. »Alles in Ordnung, mein Schatz.«

Und dann hob er sie auf seine starken Arme und drückte sie an seine Brust. Sie erwartete, er würde sie loslassen, sobald er das nasse Nachthemd spürte und den beißenden Geruch wahrnahm. Das geschah nicht. Ganz im Gegenteil, er presste sie noch fester an sein elegantes Jackett, trug sie in ihr Schlafzimmer und half ihr, sich anzukleiden. Und er führte sie für immer aus dem Penthouse an der Park Avenue.

»Diese dumme Kuh«, murmelte er. Erst viel später sollte sie erkennen, dass er nicht ihre Großmutter meinte.

 

Joel Faulconer war nicht sentimental. Und nichts hatte ihn auf die tiefen Gefühle vorbereitet, die ihn erfassten, als er Susannah zwischen den alten, von Motten zerfressenen Pelzmänteln seiner Schwiegermutter kauern sah. Sechs Stunden später saß sie festgegurtet neben ihm im Flugzeug, er schaute sie an, und sein Herz krampfte sich zusammen. In ihrem kleinen schmalen Gesicht wirkten die grauen Augen übergroß, und das Haar war in so stramme Zöpfe geflochten, dass sich die Haut über der zarten Stirn spannte und zu platzen drohte.

Unverwandt starrte sie vor sich hin. Seit er sie aus dem Schrank befreit hatte, war kaum ein Wort über ihre Lippen gekommen. Joel nippte an dem Bourbon, den er bei der Stewardess bestellt hatte, und versuchte, sich nicht vorzustellen, was mit Susannah geschehen wäre, hätte er an diesem Morgen nicht einem plötzlichen Impuls nachgegeben und seine Schwiegermutter besucht. Weil Kay ihre Mutter nicht mochte, hatte er die Frau nur ein paar Mal bei gesellschaftlichen Veranstaltungen getroffen und zu kurz mit ihr gesprochen, um ihre Geisteskrankheit zu erkennen. Aber Kay hätte es wissen müssen.

Während er an seine Frau dachte, verspürte er das vertraute Gemisch aus Unbehagen und Erregung, das sie stets in ihm weckte. Erst einige Monate nach der Hochzeit hatte sie ihm die Existenz ihrer Tochter verraten – ungefähr um die gleiche Zeit, als er sich zum ersten Mal gefragt hatte, ob es klug gewesen war, sie zu heiraten. Kay versicherte, in der Obhut ihrer Mutter sei das Kind besser aufgehoben. Dabei ließ er es bewenden, weil er sich nicht mit dem Kind eines anderen Mannes belasten wollte.

Wann immer sie nach New York flog, besuchte sie Susannah, und er nahm an, Mrs. Bennett würde ihre Enkelin gut betreuen. Als seine eigene Tochter zur Welt gekommen war, hatte er das andere Kind beinahe vergessen.

Nun schwenkte er den Bourbon in seinem Glas umher und starrte aus dem Fenster. Was für eine Frau konnte ihr eigenes Fleisch und Blut ignorieren? Nur eine Frau wie Kay – zu dumm und oberflächlich, um zu registrieren, was jedem halbwegs vernünftigen Menschen sofort auffallen würde ... Natürlich hätte er sich viel früher um Susannah kümmern müssen.

Bedrückt wandte er sich wieder zu dem kleinen Mädchen an seiner Seite. Die Hände im Schoß gefaltet, saß Susannah kerzengerade da. Ihr Kopf begann hin und her zu schwanken, und er vermutete, die dröhnenden Motoren des Flugzeugs würden sie bald einlullen. Während er sie beobachtete, senkten sich ihre durchscheinenden Lider, fragil wie Eierschalen. Und dann riss sie abrupt die Augen auf.

»Du bist schläfrig, nicht wahr?«, fragte er.

Da erwiderte sie seinen Blick, und neues heißes Mitleid erfüllte ihn, als er die Angst in ihren Augen las. Wie ein Reh vor dem Gewehr eines Jägers, dachte er. »Nein – mir – mir geht es gut«, stammelte sie.

»Schlaf ein bisschen. Bis wir in Kalifornien ankommen, dauert es noch ein paar Stunden.«

Hilflos musterte sie den schönen Märchenprinzen, der sie gerettet hatte. Obwohl es unvorstellbar war, ihm den Gehorsam zu verweigern – sobald sie einschlief, würde sich das Monstrum mit den Fuchsaugen an sie heranpirschen. Sogar in dieser großen silbernen Maschine würde es zu ihr kommen. Dann würde sie sich in die Hose machen, und der Prinz würde herausfinden, wie unartig sie war.

Joel nahm ihre Hand und drückte sie behutsam. »Mach einfach die Augen zu.«

Nur mühsam hielt sie ihre Tränen zurück, als sie seine sanfte Stimme hörte. »Das – das kann ich nicht.«

»Warum nicht?« Wie viel Aufmerksamkeit er ihr schenkte  – als wäre sie kein kleines Kind, sondern eine richtige erwachsene Person ...

»Weil es unklug ist – Sir.« Verspätet fügte sie die höfliche Anrede hinzu und hoffte, er würde über ihre schlechten Manieren hinwegsehen.

»Von sechsjährigen Mädchen weiß ich nicht viel. Also wirst du mir einiges erklären müssen.«

Voller Mitleid, aber auch fordernd, schaute er sie mit seinen leuchtend blauen Augen an. Er hatte ein Grübchen im Kinn, und sie wünschte, sie könnte es mit einer Fingerspitze berühren, um herauszufinden, wie es sich anfühlte. Während sie nach einer höflichen Antwort suchte, überschlugen sich ihre Gedanken. Natürlich durfte sie ihr Problem nicht erwähnen. Über solche Dinge zu reden – das war vulgär und inakzeptabel. Dafür gab es keine Entschuldigung. »Nun, ich fürchte ...«, begann sie. »Unter Umständen wäre es möglich ...«

Er lachte, und sie hielt erschrocken den Atem an. Beruhigend tätschelte er ihre Hand. »Was für ein sonderbares kleines Vögelchen du bist ...«

»Ja, Sir.«

»Du solltest mich nicht ›Sir‹ nennen.«

»Nein, Sir. Wie darf ich Sie denn anreden?«

Eine Zeit lang dachte er nach. »Wie wär’s mit ›Dad‹?« Dann lächelte er. »Wenn ich’s mir recht überlege – entscheiden wir uns erst einmal für ›Vater‹. Irgendwie glaube ich, damit würdest du dich wohler fühlen.«

»Vater?« Ihr Herz schlug wie rasend. Was für ein wundervolles Wort! Ihr richtiger Vater war tot. Könnte sie doch den Märchenprinzen fragen, ob sie jetzt sein kleines Mädchen sei. Aber es wäre furchtbar unhöflich, so persönliche Fragen zu stellen, und so schwieg sie.

»Nachdem wir das geklärt haben, würdest du mir verraten, warum du nicht einschlafen kannst?«

Unglücklich senkte sie den Kopf. »Ich habe Angst, ich würde ... Nicht absichtlich, rein zufällig ... Womöglich würde ein Missgeschick meinen Sitz ruinieren.«

»Ein Missgeschick?«

Beklommen nickte sie. Wie sollte sie diesem großartigen Mann etwas so Schlimmes erklären?

Er sagte nichts, und sie wagte nicht, ihn anzuschauen, voller Angst, sie würde unverhohlenen Ekel in seiner Miene lesen. Und so starrte sie die Rückenlehne des Passagiers an, der vor ihr saß.

Schließlich erwiderte er: »Ich verstehe. Wirklich, ein außergewöhnliches Problem. Was meinst du, wie wir es lösen könnten?«

Susannah ließ die Lehne nicht aus den Augen. Offenbar erwartete er eine Antwort, und so schlug sie zögernd vor: »Vater – wenn du so freundlich wärst, mich in den Arm zu kneifen, sobald ich einschlafe ...«

»Hm. Ja, das wäre möglich, aber vielleicht schlafe ich selber ein, und dann würde ich nichts merken. Da habe ich eine bessere Idee.«

Unsicher wandte sie sich zu ihm. Er hatte seine Fingerspitzen aneinander gelegt, konzentriert runzelte er die Stirn.

»Wie wäre es, wenn wir beide die Augen schließen und uns ausruhen? Wenn du aufwachst und feststellst, dass dir ein – eh – Missgeschick passiert ist, stößt du mich mit dem Ellbogen an und weckst mich. Dann bitte ich die Stewardess um ein Glas Wasser. Wenn sie’s bringt, schütte ich’s scheinbar versehentlich auf deinen Rock und den Sitz.« Dank ihres Scharfsinns brauchte sie nur wenige Sekunden, um zu begreifen, was er meinte. Was für ein brillanter Plan ... »O ja«, flüsterte sie erleichtert, »ja, bitte!«

Und so schlief sie stundenlang. Als sie erwachte, war der Sitz trocken, und sie fühlte sich so glücklich wie noch nie.

Von diesem Glück beflügelt, gewöhnte sie sich mühelos an ihr neues Leben in Falcon Hill, einem schönen Haus – so groß wie ein Schloss und voller Sonnenschein. Sie hatte eine hübsche, rosige dreijährige Schwester namens Paige, mit der sie spielen durfte. Jeden Tag sah sie ihre schöne Mutter, nicht nur alle halbe Jahre zum Tee im Plaza. Und jeden Abend kam ihr neuer Vater in ihr Schlafzimmer und stellte ein Glas Wasser auf ihren Nachttisch, das sie aufs Laken schütten konnte, falls ihr ein Missgeschick passierte. Susannah liebte ihn so heiß und innig, dass es wehtat.

 

Seit Joel Faulconer fünfzehn Jahre alt gewesen war, hatte er Tom Watson bewundert, den Gründer von IBM. Begierig beobachtete er, wie Watsons Firma zu einem der erfolgreichsten Konzerne auf der ganzen Welt avancierte. Genau das sollte auch mit Faulconer Typewriter geschehen, dem Unternehmen, das sein Vater Ben und sein Onkel Lewis 1913 gegründet hatten. Tüchtig zu sein – das genügte Joel Faulconer nicht, er musste der Beste werden.

Den Kopf voll grandioser Träume, kehrte er aus dem Zweiten Weltkrieg zurück und überraschte seinen Vater und den Onkel mit tollkühnen Strategien für eine Expansion der Firma. Schreibmaschinen zu verkaufen – das sei armselig, erklärte er ihnen. Stattdessen müssten sie den Konzern IBM auf dessen eigenem Gebiet angreifen, indem sie ihre Produktion mit Rechenmaschinen erweiterten. Dann würden sie sich um lukrative Regierungsaufträge bemühen und den Vertreterstab vergrößern.

Sein Onkel Lewis Faulconer, der protzige Anzüge und zweifarbige Schuhe trug und Havannazigarren rauchte, verwarf die Ideen seines Neffen. »Hör mal, Junge, dein Vater und ich haben schon genug Millionen verdient. Wozu brauchen wir noch mehr Geld?«

»Um die Besten zu sein«, erwiderte Joel mit schmalen Lippen, ohne seinen Frust zu verbergen. »Um Watson und IBM die Hölle heiß zu machen.«

Lewis’ Blick schweifte von Joels modisch geschnittenem Haar zu seinem Ring mit dem Wappen von der Stanford-Universität. »Scheiße, Junge, du bist noch nicht einmal trocken hinter den Ohren. Und jetzt willst du deinem Daddy und mir erzählen, wie wir die Firma leiten sollen, die wir aus dem Boden gestampft haben.«

Aber Ben Faulconer, der sich im Lauf der Jahre – im Gegensatz zu seinem Bruder – einen gewissen gesellschaftlichen Schliff angeeignet hatte, war fasziniert von Joels Plänen. Wenn er wegen der Wirtschaftslage in der Nachkriegszeit auch vor radikalen Neuerungen zurückschreckte – Joel glaubte, es würde ihm gelingen, ihn auf seine Seite zu ziehen, sobald sie Onkel Lewis losgeworden wären.

In einem Schachzug, der sich als prophetisch erweisen sollte, kaufte Joel Patente von der eben erst aufstrebenden Computerindustrie. Gleichzeitig hofierte er die leitenden Angestellten der Firma. Mit ihrer Hilfe manövrierte er seinen Onkel geschickt in ein paar geschäftliche Debakel hinein. Es dauerte zwei Jahre, bis er es endlich schaffte, Lewis vollkommen auszubooten.

An Lewis’ letztem Tag in der Firma, die er mitbegründet hatte, stellte er seinen Bruder in dessen komfortablem, mit Holz getäfeltem Büro zur Rede. »Benny, du hast einen Fuchs in den Hühnerstall gelassen«, warnte er ihn mit leichtem Zungenschlag, weil er keinen Grund mehr sah, bis zum Lunch auf den ersten Drink des Tages zu warten. »Pass auf deinen Arsch auf! Jetzt ist er hinter dir her.«

Unsinn, dachte Ben, insgeheim stolz auf seinen raffinierten Sohn. Wie clever der Junge die Firma von einem Mann befreit hatte, der allmählich zum Ärgernis geworden war. Dass er sich um seine eigene Position sorgen sollte, fand Ben lächerlich. Als Aufsichtsratsvorsitzender hielt er sich für unangreifbar. Außerdem war Joel sein Sohn.

Ein Jahr später, dreißig Jahre alt, zwang Joel Faulconer seinen Vater in den Vorruhestand und übernahm das Ruder der Firma, die jetzt Falcon Business Technologies hieß – oder FBT.

Und von da an florierte das Unternehmen in einem Ausmaß, das die Vorstellungskraft aller Beobachter überstieg.

Zwei Wochen nach Susannahs Ankunft in Kalifornien feierte FBT den achten Jahrestag von Joels Aufstieg zum Vorstand mit der Einweihung des neuen Hauptquartiers bei Palo Alto. Offiziell FBT Center of Corporate Activities genannt, hieß es schon bald das »Schloss«. Insgeheim freute sich Joel über diesen Spitznamen. Sollte ein König etwa nicht in einem Schloss wohnen?

Natürlich bildete er sich keine Sekunde lang ein, er wäre ein König ... Aber im Imperium der Falcon Business Technologies übte er uneingeschränkte Macht aus. Sogar der Präsident der Vereinigten Staaten musste sich vor dem Volk verantworten – und Joel nur vor sich selbst und den handverlesenen Mitgliedern des Aufsichtsrats. Was er in so jungen Jahren erreicht hatte, erfüllte ihn mit Stolz. Mit achtunddreißig zählte er zu den einflussreichsten Männern der amerikanischen Industrie, und er wünschte, er hätte seinen privaten Haushalt unter genauso strenger Kontrolle.

Während er die Manschettenknöpfe aus Onyx in die Löcher seiner Hemdsärmel schob, schaute er ungeduldig zu seiner Frau hinüber. Sie saß an ihrem Toilettentisch und bemalte die Lippen, die eben noch seinen Körper so effektvoll beglückt hatten.

Mit dreiunddreißig Jahren hatte sie die volle Blüte ihrer Schönheit erreicht. Wann immer sie den Oberkörper zum Spiegel neigte, schmiegten sich ihre Brüste verführerisch in die Körbchen des BHs. Konzentriert schminkte sie sich, als würde die simple Aufgabe, einen Lippenstift aufzutragen, ihre gesamte Intelligenz erfordern – die keineswegs bemerkenswert ist, dachte Joel.

»Du wirst dich schon wieder verspäten, Kay!«, fauchte er. »Wie wichtig dieser Abend ist, weißt du doch. Und du hast versprochen, du würdest pünktlich sein.«

»Tatsächlich?«, fragte sie vage, schraubte den Lippenstift in die Hülle zurück und fingerte an dem kostbaren, mit Juwelen besetzten Verschluss. Wie Federn umrahmten die hellblonden Haare ihres italienischen Kurzhaarschnitts die Wangenknochen und milderten Züge, die das gar nicht nötig hatten. Für die aktuelle Mode war ihr Mund zu voll. Doch das hatte Joel stets gefallen. Vielleicht zu sehr. Solche Lippen passten zu einer Nutte, nicht zur Ehefrau eines mächtigen, erfolgreichen Industriellen.

»Sei nicht böse, Darling«, bat sie. »Seit du aus New York zurückgekommen bist, schimpfst du ständig mit mir.«

»Kannst du mir das verdenken? Dass du dumm bist, wusste ich. Aber ich hatte keine Ahnung, wie dumm.«

Kay griff nach einer Zigarette und strich mit ihrem kleinen Finger über die Bögen ihrer dünn gezupften Brauen. »Schrei mich nicht schon wieder an, Joel! Es war nicht meine Schuld. Das habe ich dir oft genug erklärt. Wann immer ich Susannah besucht habe, war sie gut gekleidet. Wie sollte ich denn merken, dass da irgendwas nicht gestimmt hat?«

Joel verkniff sich eine Antwort, die seine einfältige Frau zu einer noch schlimmeren Verspätung bewegen würde. Welch eine grauenhafte Ehe hatte er sich aufgehalst ... Trotzdem übte er keine allzu vernichtende Kritik an seiner Vernunft, denn die sinnliche Seite seines Wesens fühlte sich zu Frauen wie Kay hingezogen – verführerische, verwöhnte Kätzchen, die im Bett wahre Wunder vollbrachten, aber im täglichen Leben völlig versagten. Auch einflussreichen Männern musste man gewisse körperliche Schwächen zugestehen. Eine Zeit lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich scheiden zu lassen. Doch ein solcher Skandal würde seine Position gefährden. Stattdessen verübelte er Kay, dass sie nicht die tüchtige Ehefrau war, die ein Mann von seinem Kaliber brauchte.

»Hast du meine Ohrringe gesehen, Darling? Die Saphire?« Vergeblich wühlte sie in dem Chaos auf ihrem Toilettentisch, in der Hoffnung, der teure Schmuck könnte sich irgendwo zwischen den Max-Factor-Fläschchen und den Ayds-Diätwürfeln verstecken.

»Um Himmels willen, Kay, wenn du die Saphire schon wieder verlegt hast, nehme ich sie dir endgültig weg. Ist dir eigentlich klar, was sie gekostet haben?«

Geistesabwesend griff sie wieder nach dem Lippenstift. »Ein Vermögen, nehme ich an. Oh, jetzt erinnere ich mich – ich habe sie im Wohnzimmer abgenommen und sie in eine Schublade des Sekretärs gelegt, damit ich sie nicht verliere. Sei ein Schatz und hol sie mir.«

Joel verließ das Schlafzimmer und stieg die Treppe hinab. Als er das Wohnzimmer betrat, sah er Susannah nicht, die wie eine stille, kleine graue Maus in einem Sessel kauerte, die Beine unter dem Rock ihres neuen Nachthemds aus Kattun angezogen. Beim Anblick des vergötterten Vaters strahlten ihre Augen.

»Verdammt!« In den Schubladen des Nussbaumsekretärs häuften sich Kays Besitztümer. Alles, nur keine Ohrringe... Ein Fach nach dem anderen riss er auf und schloss es wieder. »Wo zum Teufel hat sie die Ohrringe hingelegt?«

»Kann ich dir helfen, Vater?«, fragte Susannah unterwürfig, sprang aus dem Sessel und eilte zu ihm.

Joel hatte dem Kindermädchen verboten, ihr Haar zu flechten. Deshalb hing es glatt und lose herab. Während sie vor ihm stand, erkannte er schweren Herzens, wie besorgt sie wirkte. Weil er so stark und mächtig war, deprimierte ihn ihre Hilflosigkeit und ihre völlige Abhängigkeit von ihm umso schmerzlicher. So ernsthaft war sie, so still, so übertrieben höflich mit ihrem Wortschatz einer alten Frau, so demütig. Noch nie hatte ein menschliches Wesen in ihm das Bedürfnis geweckt, es zu schützen. Nicht einmal seine leibliche Tochter. Um Baby Paiges Wohl kümmerte sich ein ganzes Heer von Dienstboten. Und dieses seltsam »alte« kleine Mädchen hatte nur ihn.

»Irgendwo in diesem Raum hat deine Mutter Ohrringe liegen lassen.«

»Ohrringe? Vielleicht die blauen?«

»Ja, die Saphire. Hast du sie gesehen?«

»Gestern sah ich Mutter Ohrringe in die Schüssel auf dem Kaminsims legen.«

Joel ging zu der Schüssel und nahm die Saphire heraus. Dann wandte er sich zu Susannah. Sie zog ihre Mundwinkel nur ganz leicht nach oben, um sein Lächeln zu erwidern.

Ein zitterndes, unsicheres Lächeln – aber eindeutig ein Lächeln.

»Was für ein liebes Mädchen du bist«, sagte er leise. »Ein sehr liebes Mädchen.« Und dann nahm er sie in die Arme.

Was beide noch nicht ahnten – in diesem Moment unternahm die sechsjährige Susannah den ersten Schritt, um sich zu der tüchtigen Gefährtin zu entwickeln, die Joel Faulconer so dringend brauchte.