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Terézia Mora: Alle Tage

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
0. JETZT - Wochenende
Vögel
Chöre
Die unbekannte Größe
Gottesurteile
Protokoll
Mercedes
Radio
I. GOTTSUCHER - Reisen
Zerbrochene Fenster
Hundstage
Eine Frau namens Bora
Wunder
II. DER BESUCHER - Hysterie, Lamento
Speisung I. Konstantin
Speisung II. Tibor
Willkommen
Sein und Haben
Salon
Transit
Eka
Fragen
III. ANARCHIA KINGANIA - Folklore
Im Wald
Die Patin
Nach dem Frost
In der Enklave
Woher, wohin
Kreise
Die Zecke
IV. FLEISCH - Affären
Carlo
Spiele
Eines langen Tages Abend. Abel
Eines langen Tages Abend. Danko
Nacht
Tag
Männer im passenden Alter
V. ROADMOVIE - Unvollendet
Amerikanisch
Reisender sein
Falken
Elsa
Fluchtartig
VI. DAS UNMÖGLICHE - Ehe
Straßenszene. Mercedes
Abel
Omar
Dazwischen
Frühling
Ce jour
Was war die Frage?
Das Leben in den Bergen und auf hoher See
Das Drachen-Spiel
Puzzle
Unter Kontrolle
Kleine Dinge
In flagranti
VII. BINDEN UND LÖSEN - Übergang
Was denkst du, dass du
Was es ist
Noch Fragen
Der Himmel über unserer Sackgasse
ZENTRUM - Delirium
0. AUSGANG - Verwandlungen
Erwachen
Letzte Wendung
Ausgang
Copyright

Abel Nema, ein junger Mann, kann nicht mehr in seine osteuropäische Heimat zurückkehren – dort wird Krieg geführt. Er lebt am gesellschaftlichen Rand einer großen deutschen Stadt, trauert seiner verlorenen Liebe nach und ist ein Genie im Überleben: Er erlernt im Handumdrehen Sprachen, er trifft eine Frau, die er heiratet, dennoch ist sein Leben am neuen Ort eine Höllenfahrt und eine Passionsgeschichte in einem.

 

TERÉZIA MORA, 1971 in Sopron, Ungarn, geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Ungarischen und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

»Es ist eine Kostbarkeit, dieses Buch,
es ist ganz etwas Besonderes!«

 

Elke Heidenreich in LESEN

Vögel

Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt.

Eine Stadt, ein östlicherer Bezirk davon. Braune Straßen, leere oder man weiß nicht genau womit gefüllte Lagerräume und vollgestopfte Menschenheime, im Zickzack an der Bahnlinie entlang laufend, in plötzlichen Sackgassen an eine Ziegelsteinmauer stoßend. Ein Samstagmorgen, seit kurzem Herbst. Kein Park, nur ein winziges, wüstes Dreieck sogenannte Grünfläche, weil etwas übrig geblieben war am spitzen Zusammenlaufen zweier Gassen, so ein leerer Winkel. Plötzliche Böen frühmorgendlichen Windes  – das kommt von der zerklüfteten Straßenstellung, so ein soziales Gebiss  –, rütteln an einer hölzernen Scheibe, einem alten oder nur so aussehenden Kinderspielzeug, das am Rande der Grünfläche steht. Daneben der frei schwebende Tragering eines Mülleimers, der Eimer selbst fehlt. Einzelner Abfall liegt im nahen Gestrüpp, das es in Anfällen von Schüttelfrost loszuwerden versucht, aber es fallen meist nur Blätter klappernd auf Beton, Sand, Glasscherben, ausgetretenes Grün. Zwei Frauen und wenig später noch eine, auf dem Weg zu oder von der Arbeit. Schneiden hier die Ecke ab, trampeln über den Trampelpfad, der das Grün in zwei Dreiecke teilt. Eine der Frauen, eine Korpulente, zieht im Vorbeigehen zwei Finger über den Rand der hölzernen Scheibe. Der Scheibenfuß quietscht auf, es hört sich an wie der Schrei eines Vogels, oder vielleicht war es wirklich ein Vogel, einer von den Hunderten, die über den Himmel ziehen. Stare. Die Scheibe dreht sich torkelnd.

Der Mann habe auch irgendwie wie ein Vogel ausgesehen, oder eine Fledermaus, aber eine riesige, wie er da hing, seine schwarzen Mantelflügel zuckten manchmal im Wind. Zuerst dachten sie, sagten die Frauen später aus, jemand hätte nur seinen Mantel dort vergessen, auf dieser Teppichklopfstange oder was das ist, ein Klettergerüst. Aber dann sahen sie, dass unten Hände heraushingen, weiße Hände, die Spitzen der gekrümmten Finger berührten fast den Boden.

An einem Samstagmorgen zu Herbstbeginn fanden drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz im Bahnhofsbezirk den Übersetzer Abel Nema kopfüber von einem Klettergerüst baumelnd. Die Füße mit silbernem Klebeband umwickelt, ein langer, schwarzer Trenchcoat bedeckte seinen Kopf. Er schaukelte leicht im morgendlichen Wind.

Größe: circa… (sehr groß). Gewicht: circa… (sehr dünn). Arme, Beine, Rumpf, Kopf: schmal. Haut: weiß, Haar: schwarz, Gesicht: länglich, Wangen: länglich, Augen: schmal, Tränensäcke beginnend, Stirn hoch, Haaransatz herzförmig, Augenbraue links tief, Augenbraue rechts hochgezogen  – ein mit den Jahren zunehmend asymmetrisch gewordenes Gesicht mit einer wachen rechten und einer schlafenden linken Seite. Ein nicht schlecht aussehender Mensch. Aber gut, auch das ist etwas anderes. Zwischen abheilenden älteren Blessuren ein halbes Dutzend neue. Doch abgesehen davon:

Etwas ist jetzt doch anders, dachte seine Frau Mercedes, als man sie später ins Krankenhaus rief. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich ihn das erste Mal schlafen sehe.

Eigentlich nicht, sagte der Arzt. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Bis wir wissen, wie es um sein Gehirn steht.

Und weil es auch ein Gewaltdelikt ist, schließlich kann man sich, und sei man noch so fähig, nicht selbst in so eine Lage bringen, stellt auch die Polizei Fragen. Wann man seinen Mann das letzte Mal gesehen habe.

Mercedes schaut lange in das Gesicht.

Ich hätte bald gesagt: Wenn ich’s mir recht überlege: noch nie. Aber dann sagte sie doch: Das war vor … Bei unserer Scheidung.

Chöre

An einem Samstag vor etwas mehr als vier Jahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Mercedes trug ein schmales schwarzes Kleid mit einem weißen Kragen und einen Strauß weißer Margeriten in der Hand. Er kam wie immer, in zerknitterten schwarzen Klamotten, suchte lange, mit zitternden Fingern nach seinem Identitätsnachweis, es sah so aus, als würde er ihn nicht finden, dann fand er ihn doch, in der Tasche, in der er zuerst nachgesehen hatte. Zur Scheidung, an einem Montag vor…, kam er wieder zu spät, ich habe so was schon geahnt, nach einer Weile weiß man das, schon als noch Zeit genug war, eine Viertelstunde vor dem Termin, als sich Mercedes mit der gemeinsamen Anwältin traf.

Wollen Sie das wirklich? fragte die Anwältin, als sie sie engagierten. Immerhin war er dort einigermaßen pünktlich erschienen, sagte aber anschließend kein Wort, nickte nur zu allem, was Mercedes sagte. Sind Sie sicher? fragte die Anwältin hinterher. Vielleicht sollte jeder seinen eigenen… Nein, sagte Mercedes. Das ist kein Streitfall. Plus die Kostenersparnis.

Es war also schon zu wissen, dass es auch diesmal nicht glatt gehen würde, warum sollte es ausgerechnet diesmal glatt gehen. Sie standen auf dem Gerichtsflur, die Anwältin redete etwas, Mercedes sagte nichts, beide warteten sie. Draußen sammelte sich eine letzte Brüllhitze, als würde der scheidende Sommer mit hochrotem Kopf noch einmal das Maul aufreißen und einen (Mercedes, das ist ihre Assoziation) heiß und verächtlich anhauchen, aber hier drinnen zog es fröstelig kühl den langen, grünlichen Flur herauf.

Als das Handy der Anwältin klingelte, waren es nur noch fünf Minuten bis zum Termin, und, natürlich: er war dran. Mercedes spitzte die Ohren, ob sie ihn sprechen hörte und wie er klang, aber es war nichts zu hören, nur die Echos der Flure und die Anwältin, wie sie Hm-Aha-Verstehe-In-Ordnung sagte.

Er habe, berichtete sie, angerufen, um mitzuteilen, dass er unterwegs sei, das heißt, so gut wie, es gäbe da nämlich ein Problem.  – Wieso überrascht mich das nicht? Jedes Mal, wenn sich dieser Mann auf den Weg machen will, wohin auch immer, taucht ein Problem auf.  – Das Problem sei diesmal, dass er ein Taxi nehmen müsse, nein, das sei nicht das Problem, das Problem sei, dass er es nicht bezahlen könne, er habe momentan leider so gut wie kein Geld, aber er müsse dieses Taxi nehmen, sonst würde er es nicht bis zum Gericht schaffen, schon gar nicht rechtzeitig.

Verstehe.

Sie standen noch eine Minute nebeneinander auf dem Flur, dann sagte die Anwältin, sie würde jetzt hinausgehen und vor dem Gebäude auf ihn warten. Mercedes nickte und ging auf die Toilette.

Sie musste nicht auf die Toilette, aber draußen auf dem Flur stehen konnte sie auch nicht. Sie wusch sich die Hände, stand mit tropfenden Fingern vor dem Spiegel, sah sich an.

 

Frauenstimme (singt): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.

Männerstimme (singt mit ihr): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.

Andere Stimmen (singen mit ihnen): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.

Alle: Do-na. No-bis. Pa-a-cem, pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.

Frauenstimme: Do-o-na no-o-bis …

Männerstimme: Do-o-na no-o-bis

Frauenstimme (gleichzeitig): Paa-cem pa-cem.

Männerstimme: Paa-cem pa-cem.

Frauenstimme (gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.

Andere Stimmen (gleichzeitig): Do-o-na no-o-bis.

Männerstimme (gleichzeitig): Paa-cem, pa-cem.

Andere Stimmen: Paa-cem pa-cem.

Männerstimme (gleichzeitig): Doooo-naa noo-bis.

Frauenstimme (gleichzeitig): Paaa-a-cem.

Andere Stimmen (gleichzeitig): Doooo-naa noo-bis.

Alle: Paaa-a-cem. (Mit ein wenig Konzentration bringt man das alles schon auf die Reihe.)

Auf dem Flur war es nicht zu hören, nur hier: In der Nähe oder weit weg probte ein Chor, oder was ist das, ein Friedensgebet, aber wieso am Montag mittag, Mittagspause, sie verwenden ihre Montagmittagspause, um Dona nobis pacem zu singen. Wie lange schon, keine Ahnung, jedenfalls unermüdlich. Frieden unsrer Seele, Frieden unsrer Seele, Friede, Friede.

Der dunkle Lippenstift ist ungewohnt. Das spitze Lippenherz. Wieso muss man sich für seine Scheidung schminken? Andere Frauen kommen und gehen, schauen sich ebenfalls im Spiegel an, ihre dunklen oder helleren Lippen, Mercedes schaut ihnen durch den Spiegel zu, sie schauen Mercedes zu oder schauen ihr nicht zu, sie gehen, Mercedes bleibt. Mit einem Papierhandtuch den Mund abzuwischen ist riskant. Rotes bleibt in den Härchen drumherum zurück. Himbeersirupmund. Jetzt verkrümmt er sich nach unten. Ich bin weniger ärgerlich als traurig. Friede, Friede, Friede.

 

Maria von der Gnade der Gefangenenbefreiung, sagte Tatjana zu Erik. Unsere Freundin Mercedes hat eine Art Genie oder was aus Transsylvanien oder wo geheiratet, den sie aus dem Feuer oder so ähnlich gerettet hat.

Eigentlich, sagte Mercedes’ Mutter Miriam, ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig. Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist. Aber vielleicht ist das so, wenn man hochbegabt ist.

Was heißt hier: hoch? Nun gut, er kann was. Einpaar Sprachen. Angeblich. Denn in der Praxis hört man kaum einen Satz von ihm. Das mag ein Symptom sein. Aber die Ursache ist es nicht.

Er hat die gleichen Probleme wie jeder Emigrant: er braucht Papiere und er braucht Sprache, sagte zu einem früheren Zeitpunkt Professor Tibor B. zu seiner damaligen Lebensgefährtin Mercedes. Letzteres hat er so gelöst, dass er einfach perfekt geworden ist, und das gleich zehnmal, und zwar so, das glaubt man einfach nicht, dass er den Großteil seiner Kenntnisse im Sprachlabor erworben hat, so wie ich es sage: von Tonbändern. Es würde mich nicht wundern, wenn er nie mit einem einzigen lebenden Portugiesen oder Finnen gesprochen hätte. Deswegen ist alles, was er sagt, so, wie soll ich sagen, ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts  – er spricht wie einer, der nirgends herkommt.

Ein Glückspilz, sagte jemand namens Konstantin. Ich sage zu ihm: Du bist ein Glückspilz. Da schaut er mich an, als hätte er kein Wort verstanden. Dabei soll das doch, nicht wahr, seine Spezialität sein. Wobei ich persönlich denke, seine eigentliche Spezialität ist es, dass sich Menschen für ihn interessieren, und zwar ohne dass er auch nur das Geringste dafür tut. Man macht sich Gedanken über ihn und ärgert sich hinterher, weil sich herausstellt, dass er einem die ganze Zeit, während man auf ihn eingeredet hat, nur auf den Mund geschaut hat, als besäße allein die Art und Weise, wie man die Frikative bildet, Wichtigkeit für ihn. Der ganze Rest, die Welt, mit Mann und Maus, interessiert ihn nicht die Bohne. In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er.

Immer etwas etepetete, so ein Rührmichnichtan, aber du täuschst mich nicht, dein Name verrät dich: Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren. Abel, der Barbar, sagte eine Frau namens Kinga und lachte. Das bist du.

Schlicht und ergreifend Trouble, sagte Tatjana. Das sieht man auf den ersten Blick, es sei denn, man ist blind, es sei denn, man ist Mercedes. Im Wesentlichen, sagt sie, sei es eine Scheinehe. Das sind ihre Worte: Im Wesentlichen. Eine Scheinehe. Womit er beide seiner Probleme gelöst hätte. Gratulieren wir. Und was sie anbelangt…

Wie käme ich dazu, über andere zu urteilen. Es kann Gründe geben, diese sind oft von außen  – Mercedes verzieht den Mund, das Gegenüber lächelt  –, von außen, von wo aus sonst!, nicht zu sehen. Scheinbar verlieren sie einfach so den Verstand. Da ist dieser Mensch, Abel Nema, so ein hoffnungsvoller, junger, die erste freie Generation!, mit der Welt zu Füßen. Genieße es, für diesen kurzen Moment, den es dauert, denn wie schnell kann es vorbei sein. Kaum hat man sich einmal umgeschaut, bricht etwas auf und aus, sagen wir: ein Bürgerkrieg  – Ich kann es immer noch nicht begreifen, praktisch vor unserer Haustür! Was genau begreifst du nicht?–, und das war’s dann, sieh zu, dass du Land gewinnst. Vor zehn, nein, mittlerweile dreizehn Jahren musste A.N. seine Heimat verlassen, das war sicher nicht leicht, seitdem allerdings war alles eher normal. Was man so nennt. Ein Mensch mit bemerkenswerten Talenten, zehn Jahre, zehn Sprachen, gelernt und gelehrt, und auch als Privatperson von einiger Wirkung, schließlich und endlich sogar mit Ehefrau, Stiefkind, Staatsbürgerschaft. Hat seine Nische gefunden, seine ruhige Ecke am Rande der Party, und dann, vor etwas mehr als einem Jahr, einem Samstag, nein, es war schon Sonntag, erwähnte Party, stand er auf, ging hinaus und ist seitdem praktisch nicht mehr vorhanden. Hat sich zurückgezogen in diese skurrile bis lächerliche (alle Kursive: Mercedes) Wohnung mit diesem formidablen Blick zur Bahn und nichts als einer Matratze und einer Standleitung, und macht nichts, außer von überall auf der Welt skurrile bis lächerliche Geschichten für einen ominösen Agenten für skurrile bis lächerliche Wurstblätter zusammenzusuchen, sieben Tage die Woche. Was soll ich dazu noch sagen.

 

Do-o-na no-o-bis. Irgendwann hast du genug in den Spiegel gestarrt. Du bist, was du bist. Auf Zehenspitzen, warum?, ans kleine Fenster. Dahinter ein grauer Innenhof, mit dem aufsteigenden, eigenen Geruch grauer Innenhöfe, darin parkende Autos, darüber Himmel. Etwas lauter: Do-o-na no-o-bis. Aber so richtig hört man nicht, woher es kommt. Als wär’s von überallher. Das Fenster ist vergittert. Hier werden auch normale Fälle verhandelt. Kriminalfälle. Ich werde nicht durch das Klofenster fliehen können. Mercedes schließt das Fenster. Den Chor hört man immer noch.

Und dann wieder im Flur stehen, da sind auch andere, und, das ist bemerkenswert, alle schauen in dieselbe Richtung, den langen, grünlichen Korridor hinunter. Wie am Bahnsteig steht man da, die Gesichter erwartungsvoll dorthin gewendet, wo bald etwas oder jemand auftauchen müsste: er; man spürt schon die Luft, die er vor sich herschiebt.

Als er dann tatsächlich auftauchte, insgesamt nicht mehr als eine Viertelstunde zu spät, sah er bei weitem nicht so wuchtig aus, wie man aus dem Wind, den er im Vorfeld verursacht hatte, hätte annehmen können. Zwar groß, aber schmächtig, kein Zug, eher ein Semaphor, ein Strich in der Landschaft, wenn man die Augen zusammenkneift, schmilzt er von den Seiten her ein. Von vorne betrachtet sah es so aus, als würde er sich kaum von der Stelle bewegen. Dastehen, warten.

 

An einem Samstag vor vier Jahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Er sagte, er habe sich etwas verirrt, und lächelte, ich kann nicht sagen, wie. Mercedes lächelte auch und fragte nicht, wieso er nicht ein Taxi hätte nehmen können. Und eventuell etwas anderes anziehen. Der glitzernde Schweiß im offenen Kragen über der zerknitterten Knopfleiste ist das deutlichste Bild, das Mercedes von ihrer Hochzeit geblieben ist. Das und der Geruch, der aufstieg, als er, mitten in der Rede der Standesbeamtin, an keiner bestimmten Stelle, denn es war ohnehin kaum zu verstehen, was sie sagte  – Vielleicht könnte man die Rede kürzen oder gar weglassen, sagte Mercedes, um die Zeit aufzuholen, aber die Frau sah sie nur mit blanken Augen an, holte Luft und erzählte einfach alles herunter, was auch immer, Liebe und Gesetz auf der Grundlage bürgerlicher Lebensverhältnisse  –, und ich dachte immer nur: ich heirate gerade, ich heirate, als er auf einmal: seufzte. Der Brustkorb, die Schultern stülpten sich hoch und sackten wieder zurück, und dabei stieg ein Schwall auf, ein seltsames Gemisch aus dem Geruch des Sakkos, in dem sich Staub mit Regen verbunden hatte, dem durchgeschwitzten Waschmittelgeruch des Hemds, seiner Haut darunter, seiner Seifen-, Alkohol-, Kaffee- und Talgnoten, und etwas wie Gummi, genauer: Latex, mit einem leichten, synthetischen Vanillearoma, ja, sie glaubte, den Geruch eines Kondoms an ihm wahrzunehmen, plus den Geruch einer in der Hitze eines Dachgeschosses schmelzenden Computertastatur, mit weißen Kreisen im schwarzen Schmutz, dort wo die Finger die Tasten berühren, und so weiter, noch mehr bekannte Gerüche, aber diese sind Nebensache, denn was wirklich wesentlich war in dem Moment, war etwas, was die Braut Mercedes nicht hätte benennen können, das wie ein Wartezimmer roch, wie Holzbänke, Kohleofen, verzogene Schienen, ein in die Böschung geworfener Pappesack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße, Essigbäume, Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver, und überhaupt: Essen, wie sie es noch nie gegessen hat, und so weiter, etwas Endloses, wofür sie gar keine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: den Geruch der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm.

Ganz überraschend war das nicht. Eine gewisse Aura war schon früher da, schon beim ersten Mal, als er in ihrer Tür stand, ein wenig lächerlich in seinem altmodischen schwarzen Trench, der ihm von der Schulter hing. Der ganze Mensch eine Diagonale, aufgespannt zwischen zwei fernen Ecken des Türrahmens. Damals wusste ich noch nichts damit anzufangen. Jahre später, vor der Standesbeamtin, hat sie dieser Seufzer so in Gedanken gebracht, dass sie erst zu sich kam, als er den Ellbogen einknickte, um ihr einen unauffälligen Stoß in die Seite zu versetzen. Sie sah sich um, aber nicht nach ihm, sondern nach hinten, zu den Stuhlreihen, wo neben Tatjana ihr Sohn Omar saß, als Einzige im leeren Saal, liebes Brautpaar, liebe Gäste. Omars Augen glänzten beide gleich, das etwas größere aus Glas und das lebendige, er war gerade sieben geworden, er nickte: Sag ja. Sag’ jetzt –

Oui, yes, da, da, da, si, si, sim, ita est.

Später kam der Geruch immer häufiger wieder, er war auch nicht mit dem Rasierwasser zu verdecken, das sie von Zeit zu Zeit in der Wohnung verteilte, und am intensivsten dann ganz zum Schluss  – daran merkte sie, dass wirklich Schluss war.

 

Und natürlich war es auch jetzt wieder so, als er endlich auftauchte. Er trug trotz der Hitze den alten, schwarzen Trench, der ihm (die Zugluft?) hinterher flatterte, obwohl er diesmal nicht in der üblichen fluchtartigen Geschwindigkeit unterwegs war, lange Schritte, gebeugter Oberkörper, sondern im Gegenteil: langsam und steif. Er zog ein Bein hinterher. Er kam den Flur heraufgehinkt, der flinken Anwältin etwas hinterher. Schweißnass, auch das passte. Neu waren: die Abschürfung am Kinn, das Hämatom am rechten Jochbein, eine Beule am Hinterkopf, sowie das bereits erwähnte Hinken. Die Haare strähnig, die hastige Rasur hat Stoppelgrüppchen stehen lassen, am Ohr und am Hals glitzerte etwas  – alles in allem sah er aus, wie frisch einer Straßenschlägerei entstiegen. Aber die Stimme war noch die alte, überhaupt das Einzige an ihm, das dem Eindruck der allgemeinen und zunehmenden Desolation immer entgegenstand. Nie zuvor habe ich meine Muttersprache, die nicht seine ist, so perfekt gesprochen gehört, und das, obwohl er kein Wort mehr sagte, als unbedingt nötig, diesmal zwei:

Hallo. Mercedes.

Zehn Minuten sind noch vom Termin, sagte die Anwältin. Beeilen wir uns.

Die unbekannte Größe

Gerade als seine Verzweiflung am größten war und er, nach Stunden oder vielleicht Tagen irren Schmerzes schließlich soweit, sich auf das klamme Linoleum zwischen Badewanne und Kloschüssel zu knien und zu seinem Gott zu flehen, er möge ihm verzeihen, was er bald tun würde, und ihm helfen, es zu tun, am Vorabend seines seit langem geplanten Selbstmordes verschwand der Chaosforscher Halldor Rose, von einem Kongress kommend, aus einem fliegenden Flugzeug. Drei Tage später sah man ihn auf einer Brücke stehen. Er sah den Wolken hinterher, die in einem langen Keil davonzogen. Als er ihnen hinterher winkte, blieb auf der anderen Straßenseite ein Psychiater namens Adil K. stehen, überquerte nach kurzem Zögern die Fahrbahn und sprach den Physiker an. Halldor R. teilte mit, er sei vor drei Tagen leibhaftig zum Himmel gefahren und sei gerade eben wieder abgesetzt worden, auf dieser Brücke.

Auf die Frage, wieso er denke, er sei zum Himmel gefahren, antwortet er, er denke es nicht, er wisse es.

Auf die Frage, welcher Himmel es gewesen sei, antwortet er: Was meinen Sie mit welcher Himmel?

Auf die Frage, wie es dort gewesen sei, antwortet er, das könne er leider nicht sagen.

Auf die Frage, ob er wisse, warum er zum Himmel gefahren sei, antwortet er: Natürlich, wegen der Friedfertigkeit. Weil er der friedfertigste Mensch auf Erden sei.

Auf die Frage, warum er zurückgekehrt sei, antwortet er: Aus demselben Grund. Ich bin wiedergekommen als leibhaftiger Beweis dafür, dass die friedfertige Liebe das durch Gott an uns verliehene höchste Gut ist, und jede Handlung zuwider eine Beleidigung der Schöpfung und somit ein Anschlag auf Gott.

Auf die Frage des Paters Y.R., ob Gott noch etwas anderes gesagt habe, antwortet er: Gesagt habe Gott gar nichts, Gott bedürfe der Sprache nicht. Er habe ihm lediglich diese Gewissheit ins Bewusstsein gelegt.

Auf die Frage, ob das alles gewesen sei, antwortet er: Ja. Das heißt, soviel müsse er noch hinzufügen, dass er die ganze Zeit bei klarem Bewusstsein gewesen sei, ja sogar bei sehr klarem, ohne die üblichen chaotischen Trübungen seines Denkens und Empfindens. (Denkt nach.) Wie vor der Geburt oder nach dem Tod. In etwa. Die Fragen seien nicht beantwortet gewesen, es habe vielmehr überhaupt keine Fragen gegeben. Auch das Stückwerk Zeit habe es nicht gegeben. Er sei erstaunt zu hören, dass inzwischen drei ganze Tage vergangen sein sollen. Dieses, dass die Zeit keine Rolle spielte, sei für ihn als Naturwissenschaftler eine ganz besondere Erfahrung gewesen. Möglicherweise müsse er vieles neu bedenken. Deswegen möchte er auch so bald wie möglich zurück an die Arbeit, wenn die Herrschaften nichts dagegen hätten.

Was aus der Verkündigung der Friedfertigkeit werden solle?

Das wisse er auch nicht. Er habe diese beiden Sachen mitbekommen: Die Friedfertigkeit und die Frage nach der Zeit. Gott ließe einem die freie Wahl, welchen Fragen man sich in seinem Leben widmen möchte. Er, als Wissenschaftler, habe sich gerade dafür entschieden, der Frage nach der Zeit nachzugehen. Die Friedfertigkeit könnte vielleicht der Herr Pater …

Worauf Pater Y.R. erwiderte - - -

 

Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand dieser Welt. Alles mal die unbekannte Größe P.

 

Eigentlich war bis kurz vor Schluss alles normal. Das Wochenende vor seiner Scheidung verbrachte Abel wie meistens: im Wesentlichen zu Hause. Er fing gegen vier Uhr morgens an, loggte sich ein, durchkämmte die üblichen Quellen nach den üblichen Meldungen, kopierte und überschrieb sie direkt. Am Nachmittag schlief er einige Stunden, erwachte mit dem Sonnenuntergang, ging hinaus auf den Balkon, um ihn sich anzusehen.

Wenn man in Abel Nemas Wohnung durch die schmale Tür im Dach in den Fußbreit Metallkäfig hinaussteigt, drückt einen der Wind an windigen Tagen bis an die Hauswand zurück. Als würde man fahren, mit einem Haus fahren, so ein Windgefühl ist es, aber natürlich bleibt alles an seinem Platz oder fährt mit, nur dass man es nach einer Weile eventuell wegen der Tränen nicht mehr sieht, die einem auf die Schläfen getrieben werden. Eine Sackgasse, am Rande eines schmalen und verwinkelten Streifens alter Industrieräume an der Ostseite der Bahn gelegen, gibt es in Abels Straße nur auf der einen Seite Häuser. Auf der anderen eine Ziegelsteinmauer, dahinter siebzehn Paar Schienen und dahinter: die Stadt, sich unendlich hinstreckend in einer unendlich flachen Landschaft, die im allgemeinen Dunst verschwindet, bevor sie den Himmel berührt hätte. Ein Land, offen für alles, was kommt: Mensch, Tier, Wetter. An dieser Stelle ist die Bahnschneise am breitesten, die die Stadt verschiedentlich durchschneidet, aber im Wesentlichen in zwei Hälften teilt: in einen eleganteren, reicheren, geordneteren Westen und in die über den Ostausgang des Bahnhofs erreichbare »Insel der Tapferen«: ein ehemaliges Kleinindustriegebiet, in das man, nachdem alles eingegangen war, der Schlachthof, die Bierfabrik, die Mühle, zuerst Nervenkranke, schwer erziehbare Halbwaisen und Alte ansiedelte, dann, in einer kurzen, sogenannten goldenen Zeit versuchte man, sie zu einer exklusiven Wohngegend für junge Snobs auszubauen, bevor man die Gegend endgültig den Gestrandeten überließ, die nicht aufhörten, hierher zu strömen, als hätte ihnen jemand gesagt: nehmt den Ostausgang.

Am Samstagabend, nach getanem Tageswerk, stand Abel also auf seinem Balkon. Unter ihm, hinter der Ziegelsteinmauer, zogen die Eisenbahnwaggons hin und her wie Kugeln auf einem Abakus. Später, es war schon dunkel, kamen immer mehr Autos in die Sackgasse gefahren, reihten sich dicht an der Mauer auf, bis kein Platz mehr war. Späterkommende wendeten mühselig: das Geräusch sich auf Pflastersteinen drehenden Hartgummis, dazwischen das Klackern der Absätze, die dicht vor den erschrocken aufblitzenden Scheinwerfern die Straße querten. Der Laden am geschlossenen Ende der Sackgasse heißt Klapsmühle, an fünf Tagen der Woche feiern sie dort mit einer scheinbar nie nachlassenden Vehemenz, Arbeit und Feste, Tag für Tag, die Wellen der Drums wie plötzliches Donnern durch die Straße, wenn die Tür auf- und zugeht. Dann wieder, abrupt: Stille.

Nachdem er eine Weile auf dem dunklen Balkon gestanden war, ging Abel zurück ins einzige Zimmer, das sogenannte skurrile, obwohl es, ein nachträglich und vermutlich illegal ausgebautes Dachgeschoss, nur etwas zerklüftet geraten war. Wer auch immer hatte versucht, alles an Raum herauszuholen, was unter dem Himmel zu haben war, aber nur der tote Raum war mehr geworden: spitze Winkel, unnütze Buchten, in denen sich die Dunkelheit und der Staub sammeln, nicht mehr gebrauchte Dinge, beiseite gestoßen mit dem Fuß, oder die Zugluft weht sie dahin, sie bleiben liegen. Abel sammelte ein paar schwarze Kleidungsstücke aus den Ecken, steckte sie zusammen mit der ergrauten Bettwäsche in einen Rucksack, stieg fünf Etagen zur Straße hinunter, wo er als Einziger nicht auf die Bar zu, sondern von ihr weg ging, nach einem kurzen Slalom zwischen aufgedonnerten halbnackten Fremden rechts abbog und dann noch einmal rechts: zu einer Vierundzwanzigstundenwäscherei. Dort saß er einige Stunden und starrte in ein Bullauge. Drinnen war alles schwarz. Eine Socke mit einer hellgrauen Applikation unter dem Bund fiel immer an dieselbe Stelle zurück. Abel saß ganz hinten im Raum, wo sich das Spülwasser in eine Betonwanne in der Ecke ergoss und durch ein rostiges Eisenrohr abfloss. Wenn er nicht in das sich drehende Schwarz schaute, schaute er sich den trudelnden weißen Schaum an. Später dämmerte es, und er ging nach Hause. In der Sackgasse schwamm er erneut gegen den Strom, diesmal als Einziger nicht von der Bar weg, sondern auf sie zu. Später ließ der Lärm draußen nach, er setzte sich vor den Computer. Später läuteten die Glocken zweier naher Kirchen, er zog die Rollos an den Fenstern herunter, damit das Licht den Bildschirm nicht ausblendete. Später  – die vier Zahlen in der rechten unteren Ecke des Bildschirms zeigten einen mittleren Nachmittag an, neben einer (scheinbar) rotierenden kleinen Erdkugel stand: unbekannte Zone  – klingelte das Telefon.

Hallo, Mutter.

 

Ihr Name ist Mira. Das letzte Mal haben sie sich vor dreizehn Jahren gesehen, kurz bevor sie ihm die Flucht vor der Einberufung ermöglichte. Seitdem telefoniert man einmal im Monat, meistens Sonntagnachmittags.

Ich rufe dich zurück.

Gut.

Sie legt auf. Er ruft zurück. Fragt, wie es ihr gehe.

Sie sagt, ihr gehe es gut.

Sie schweigen ein wenig. In der Leitung klackt und piept es, das macht es die ganze Zeit, Klacken und Piepen, eine öffentliche Zelle.

Er fragt, ob sie auf die Zelle habe warten müssen.

Sie sagt ja, aber nun würde es besser. Die Nachrichten haben angefangen. Sie hat den Blick auf drei Fernseher hinter Vorhängen.

Ob es schon dunkel bei ihnen sei.

Noch nicht ganz.

Klack, Piep, Klack.

Hör mal, sagt Mira. Sie müsse ihm etwas sagen. Genauer: etwas korrigieren, das sie ihm früher einmal gesagt habe.

Neuerdings ruft sie an und korrigiert Sachen. Meine Mutter ist eine Lügnerin. Nicht notorisch. Nur aus Fantasie oder Solidarität. Sie drückt ihr Mitgefühl in Form von Lügen aus. Ja, ich weiß, wovon Sie reden, auch wir hatten Juden in der Familie. Wir hatten nie Juden in der Familie. Ich weiß, sagt Abel. Auch keinen Flugpionier. Keinen Partisanen. Sie selbst wurde nie von einem bösen Professor in eine radioaktive Kammer eingesperrt und war auch nie Zeugin einer Haifischattacke. Ich weiß, sagt Abel, ich weiß.

Diesmal, sagt sie, ginge es um was anderes. Sie sagt, sie habe Ilia gesehen.

Wen?

Deinen Freund Ilia.

Schweigen.

Anfangs sagte sie, die Stadt sei im Wesentlichen dieselbe geblieben. Abgesehen davon, was kaputt sei  – das Hotel, die Bibliothek, die Post, einige Geschäfte  –, sei alles noch, wie es war. Außer den Menschen. Man habe den Eindruck, es gäbe noch mehr von ihnen als vorher, aber als hätte man, ein Wunder oder ein schlechter Scherz, über Nacht die gesamte Bevölkerung ausgetauscht. Überall nur fremde junge Männer. Kommen von den Dörfern. Oder wer weiß woher. Werden neu geboren.

Es war Krieg, sagt Abel.

Ja, ich weiß.

Später fing sie an zu erzählen, sie sehe nun öfter auch Bekannte. Von einigen heiße es zwar, sie seien tot oder in Deutschland, aber sie habe sie gesehen. Ging auf der Straße, trug eine Papiertüte, ich bin mir sicher, das war er, er wohnt bloß nicht mehr da, wo er früher gewohnt hat.

Ilia, sagt sie, habe sie sogar gesprochen. Leibhaftig. Er sei zu ihr gekommen, er musste eine Weile suchen, weil auch sie nicht mehr dort wohne, wo sie vorher gewohnt habe. Er habe einen Bart gehabt wie ein Mönch.

Hm, sagt Abel und setzt sich im Stuhl zurecht. Er sagt seiner Mutter, dass Ilia vor einem Jahr für tot erklärt worden sei.

Ich weiß, sagt Mira. Das war ein Irrtum.

Pause.

Und, hat er auch was gesagt?

Er hat gefragt, wie es mir geht. Dann hat er nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, wo du jetzt lebst. Da hat er gelacht und hat gesagt: Na, wenn das kein Zufall ist. Er fliege genau dahin, schon morgen. Hörst du? Er könnte morgen schon da sein.

- - -

Hallo?

- - -

Freust du dich gar nicht? Wir dachten, er sei tot, und jetzt stellt sich heraus, er ist lebendig. Ist das nicht wunderbar?

Gottesurteile

Manchmal, sagte Ilia, bin ich von Liebe und Hingabe ganz erfüllt. So ganz und gar, dass ich gar nichts anderes mehr bin als diese Liebe und diese Hingabe. Das dauert einige Minuten. Manchmal auch nur Sekunden. Ich tauche auf und sehe: Es waren nur wenige Sekunden. Bevor ich auftauche, sehe ich mich von außen. Ich sehe mich in Ekstase und erkenne es als Pose. In diesem Moment, wenn ich es als Pose erkenne, bin ich von der Hingabe zur Skepsis gewechselt, also vom Glauben zum Nichtglauben. Wenn ich mich in der Skepsis befinde, und das tue ich häufig, erscheine ich mir in meiner vorherigen Hingabe, mit allem, was dazugehört an ganz klar abergläubischen Ritualen, die ich allein oder mit anderen zusammen ausführe, als lächerlich und dumm. Wenn ich im Glauben bin, und auch das bin ich ziemlich häufig, scheine ich mir in meiner Skepsis abscheulich und dumm. Das sind meine beiden Zustände. Entweder der eine oder der andere, und manchmal auch beide zusammen.

 

Damals, vor fünfzehn, zwanzig Jahren, lebten sie in einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen. Eine Stadt mit Sackbahnhof, Luftlinie etwa gleich weit von den drei nächstgelegenen Hauptstädten entfernt, eine ruhige, dunkle Insel anstelle eines ehemaligen Sumpfgebiets. Das Klima kontinental, der Boden fruchtbar, das Umland, was man hübsch nennt: Hügel, Felder, Wälder, kleine Seen. Vom Bauernstamm gewachsene Lehrer, Richter, Uhrmacher stellten die übliche versnobte Provinzaristokratie, verbissene Gähner in Konzertabonnements. Als gäbe es noch so etwas wie bürgerliches Leben, und sei es noch so eng, umgeben von Diktatur, Atomangst, wirtschaftlichem Niedergang. Gab es ein Theater nur für Gastspiele, ein Hotel, eine Post, ein Reiterstandbild, markierte Wanderwege? Ja. Gotik, Renaissance, Barock, Eklektik, postmoderne Verbrechen? Ja. Gotteshäuser folgender Religionen. Pflasterung, Beleuchtung, Grün. Abels Eltern waren Lehrer, sie von einem Dorf aus der Nähe, er eine Waise aus dem Ausland. Drei von vier Jahreszeiten verbrachte man in der Schule, im Sommer lud Andor Nema Ehefrau Mira und Sohn Abel in ein himmelblaues Auto, und dann fuhr man kreuz und quer, soweit es eben ging.

Dabei hörte und sang er laut Schlager. Zwischendurch stellte Mira auf Klassik um und fragte, ob man nicht wenigstens ab und zu anhalten könnte, für die eine oder andere Sehenswürdigkeit. Andor stellte meist schon während des Allegro-Satzes den Sender wieder um und raste an allen Kirchen und den meisten Heimatmuseen vorbei. Barbar! schrie Mira gegen Fahrgeräusch, Musik und Ehemanngesang an. Abel auf dem Rücksitz beteiligte sich nicht am Streit der Eltern um Radio und kulturelles Erbe. Er presste das Gesicht an die Seitenscheibe und schaute sich den Himmel an, der sich mal so, mal so drehte und im Übrigen dieselbe Farbe wie das Auto hatte, nur, dass oben die Wolken weiß waren oder wahlweise schwarz, und hier unten von Rost. Was außerdem noch zu sehen war: Vögel und Baumkronen, kahl oder mit Blättern, ganze Städte nur aus Dächern, Schornsteinen, Antennen. Und vor allem: Kondensstreifen. Viele Kondensstreifen. Der Himmel war sehr bevölkert damals. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man erbrechen muss.

Ich habe genug davon, sagte Mira zu ihrem Sohn. Halte dich gefälligst gerade und schau nach vorn.

Er hielt sich verhältnismäßig gerade, schaute aber nicht nach vorn. Er sah sich weiter die Welt oberhalb der Stirn an, bis die Augen schmerzten, und mit der Übelkeit wurde es auch nicht wesentlich besser.

Schau her, sagte Mira. Schau uns an. Hier sind wir.

Das waren, im Wesentlichen, die ersten zwölf Jahre. Himmel, Erde.

Am letzten Unterrichtstag des dreizehnten Jahres, acht Stunden vor Beginn der Sommerferien, stand Andor Nema früh auf, verließ, darauf achtend, dass er weder seine Frau noch seinen Sohn weckte, die Wohnung und kam nicht mehr wieder.

Mira und Abel fuhren den ganzen Sommer lang durch das Land und sämtliche in Frage kommenden angrenzenden Länder. Ich habe Menschen getroffen, von denen ich nie vorher etwas gehört habe. Außer: Ich liebe dich und Willst du mich küssen? konnte die Mutter nichts sagen, Abel dolmetschte, fremde Frauen streichelten über sein glänzend gescheiteltes Haar. Dann war der Sommer vorbei, das Geld alle und von Andor keine Spur. Mit dem letzten Tropfen Benzin rollten sie in die Stadt zurück.

 

Verflucht soll er sein! Keinen Platz auf Erden soll er finden! Die Früchte sollen ihm in den Händen verschimmeln, Eisen verrosten, Wasser verrotten, Goldklumpen zu Pferdeäpfeln werden, alles, was ihm lieb ist, soll ihm verloren gehen, verhungern soll er, oder noch besser, entehrt und durch eine entstellende Krankheit sterben, oder noch besser, niemals sterben, er soll ewig leben, dieser Bastard! Bastard! Bastard!

Früher gab es am Ende des Sommers immer diese Woche, in der die Eltern am neuen Stundenplan arbeiteten und Abel Ferien auf dem Dorf, bei Miras Eltern, machte. Eine einsame Woche mit Fröschen in der Brüllhitze. Hühnerhof, aufgeschossener Salat. Im Haus im Gegentakt zum lauten Ticktack der Pendeluhr der pfeifende Atem des Großvaters, und über allem, in seinem eigenen nie abreißenden Rhythmus, die Litanei des großmütterlichen Schimpfes, den sie, ihren tuckernden Hilfsmotor, scheinbar brauchte, um durch die Tage zu kommen. Sie murmelte, klagte, verfluchte: im Grunde alle. Rief Gott den Herrn, seinen einzigen Sohn und dessen holde Mutter, die unbefleckte Jungfrau an, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und möglichst alle zu vertilgen. Später starb der Großvater, er hatte es noch ziemlich lange gemacht mit der halben Lunge, und als dann wenig später Abels Vater, dieser Bastard verschwand, legte sich Oma auf die verwaiste Seite des Ehebetts. Ganz so hatte sich Mira die gegenseitige Unterstützung nicht vorgestellt, aber ich war nun einmal zeit meines Lebens feige. Abel schlief, wie vorher auch, in einem Separée, in Wirklichkeit einem großen Wandschrank im Flur, und hörte sich jeden Abend durch die Sperrholzwand an, wie die Großmutter den Exschwiegersohn verfluchte, die Augen sollen ihm, das Herz soll ihm, bis Mira verbot, ihn überhaupt jemals wieder zu erwähnen, damnatio memoriae, ab da wurde es etwas besser. Das Schuljahr fing an, und Abel lernte Ilia kennen.

 

Die Sonne knallte auf den Schulhof, der Appell zum Jahresanfang dauerte Stunden, damals kannte man noch Disziplin, sie standen auf dem Handballfeld in ihren weißen Hemden wie blühende Bäume, und dann, als würden es die Wurzeln an einem windstillen Tag nicht mehr aushalten, fielen sie einfach um. Einer nach dem anderen, knallten auf den betonharten Belag, der aus vielen grau-weißen Teilchen zusammengesetzt war und wie ein magisches Bild flimmerte. Entweder schaute Abel auf diese Teilchen oder er schaute bis zum Schwindligwerden in den Himmel.

Glaubst du, da oben gibt es was?

Abel senkte den Blick. Das Gegenüber war kleiner, rundköpfiger, dunkler. Die Hände verschränkte es auf dem Rücken und sah streng drein.

Was soll das sein, eine Prüfung? Die Antwort weniger freundlich, als sie sein könnte: Und du?

Der Kleine zuckte mit den Achseln. Wegen der verschränkten Hände kam der ganze Oberkörper in Schwingung.

Abel dachte an Satelliten, Raumschiffe, Raketen, Bomben, Außerirdische. Sind sie gut oder böse? Wird uns der Müll auf den Kopf fallen? Wird er so groß sein wie eine ganze Stadt oder nur so groß wie ein Auto?

Was?

Satelliten, sagte Abel. Aber meistens sieht man nur Flugzeuge.

Meistens? Der Kleine lachte.

Wer bist du, altkluges, überhebliches …

Sein Name war Ilia, und er dachte an Gott. Kleines Missverständnis. Er lachte wieder. Diesmal, klar: über sich selbst.

Als wäre er gekommen, hätte sich das Angebot angesehen, mit dem Finger auf den einen gezeigt und gesagt: Du. Damit ihn der Rest hinfort nicht mehr zu interessieren brauchte. Abel Nema, ausgewählt aus vierhundertfünfundsechzig Menschenwesen von Ilia Bor. Wie die Stadt. Und Nema. So wie das Nichts?

Nein, sagte Abel und errötete. Nicht wie das Nichts. Es ist ein …scher Name.

Verstehe, sagte Ilia. Seine Augen glänzten.

 

Seine Mutter war Klavierlehrerin, der Vater Verwalter im Gastspielhaus, fromme, fleißige Menschen, im Wohnzimmer klimperte den ganzen Nachmittag Wiener Klassik, zwei Straßen weiter gab Mira Nachhilfe zwischen Schrankwand und Couch.

Ilia und Abel verbrachten die Zeit zwischen Schulschluss und Einbruch der Dunkelheit auf der Straße. Das Spiel hieß: Gottesurteile. Ilia hatte es sich ausgedacht.

Worum es geht, ist, dass mein Vater zu Gott gefunden und trotzdem nicht Priester geworden ist, jetzt ist es an seinem einzigen Sohn, ihn glücklich zu machen. Um Priester zu werden, das ist klar, ist Glauben nicht zwingend nötig. Darum geht es nicht. Wovon er rede, sagte Ilia, sei, ob es ihm je gelingen könne, zu einem wahren Gläubigen zu werden. Er befürchte, dass das nicht möglich sei. Er leide, wie es scheint, an der Krankheit Skepsis, und wenn ich sage: leiden, dann meine ich wirklich: leiden, aber ebenso an der Krankheit Aberglauben. Er hatte sich das Spiel ausgedacht als Lästerung und Flehen in einem. Gib mir ein Zeichen.

Sie verließen die Schule gegen zwei Uhr nachmittags, gingen durch die Schmale Gasse, über den Salzmarkt in die Judengasse, über den Hauptplatz, durch das Vordere Tor auf den Kleinen Ring. An jeder Straßenkreuzung, Abzweigung etc. blieben sie stehen und gingen nicht eher weiter, als dass ihnen ein Zeichen gegeben wurde. Sage und schreibe fünf Jahre lang wurden sie es nicht müde. Abel ging mit seinem Freund, wohin dieser dachte, geschickt zu werden, durch sämtliche Straßen der Stadt. Abel schwieg die meiste Zeit, Ilia redete: über Gott und sich und eventuell über die Welt. Sie waren stadtweit bekannt als die Grufties, die Intelligenten und die Schwulen. Jemand wollte ihnen für alles das auflauern, einpaar verabredeten sich in einer bestimmten Straße, aber keiner erschien. Damit war das gestorben.

Anfangs redeten sie auch noch über Abels Interessen: Raumfahrt und Technologie, doch all das ist Kinderkram verglichen mit der Einen Großen Frage. Allerdings, nach fünf Jahren, es war ihr letztes gemeinsames Schuljahr vor dem Abitur, das letzte, das sie in der Stadt verbrachten, waren auch Ilia die Worte ausgegangen. Sie gingen praktisch stumm nebeneinander her. Ich weiß immer noch nicht, wo lang. Abels Vorstellungen von der Zukunft drehten sich ebenfalls im Kreis. Genauer, er machte sich überhaupt keine Vorstellungen. Sprachen und Mathematik, damit kann man noch alles werden. Im Moment gab es andere Dinge. Körper. Ilias war schmal, nicht besonders groß, aber auch nicht schwächlich. Manchmal, wenn sie so an einer Kreuzung standen, kratzte er sich an der Nase. Das Brillengestell klapperte. Die Haare glänzten feucht. Er hatte schöne Hände. Das war alles, was von ihm zu sehen war. Gesicht, Hände. Weil er um soviel größer war, zog Abel die Schultern ein, wenn er neben ihm herlief, er kam sich ungeschlacht vor im Vergleich zur inneren und äußeren Wohlproportioniertheit seines Freunds. Er stellte ihn sich als Geistlichen vor, mit der dazugehörigen Geistlichenfrau, und musste husten.

Sie standen an einer Kreuzung in der Nähe des Bahnhofs. Abel hustete.

Dieses letzte Jahr hatte begonnen wie die Jahre zuvor. Man eröffnete mit Mitteilungen über Preiserhöhungen, denen über die nächsten Monate weitere folgten. Anfang April gab es erste Proteste, wenn auch nicht hier. Man munkelte, wie schon seit Jahren, über eine latente Krise im Land, wenn auch nicht hier. Das Identitätsbewusstsein der Minderheiten regte sich. Ilia und Abel regten sich nicht.

Die Kreuzung am Bahnhof war ein T. Rechts oder links. Im Grunde war es egal. Beide Richtungen führten irgendwann nach Hause. Im alten Kern der Stadt legten sich die Ringstraßen wie Zwiebelhäute umeinander, um sich schließlich am Hauptplatz zu treffen. Lange passierte nichts. Dunkel wurde es. Die Straßen leerten sich. Die Hunde heulten. (Dieses Hundegeheul. Ausgerechnet daran wird er sich immer erinnern. Dieser gruselige, heimische Ton.) Dann war’s wieder still und plötzlich überfiel Abel diese Sehnsucht, und er sagte in die Stille hinein:

Ich liebe dich.

Ich weiß, sagte Ilia ohne Verzögerung, sachlich, wie er immer alles sagte. So fuhr er fort. Er wisse es, und er lehne es ab. Er empfinde sogar etwas körperlichen Ekel, wenn er daran denke. Deswegen werde er gleich nach dem Abitur Stadt und Land verlassen. Er werde im Ausland studieren und keinen Kontakt zu Abel halten.

Er muss es schon seit Monaten gewusst haben. Man muss sich früh bewerben. Seit Monaten war jede seiner Regungen eine Lüge. Was er sagte, die üblichen Sachen, wie er sie sagte, der Klang seiner Stimme, sogar wie er sich bewegte. Wenn er stehen blieb und wenn er weiterging. Lüge.

Abel ließ sich gegen die rauhe, warme Wand hinter sich fallen. Lehnte an der Wand, im eigenen Geruch sommergewärmter Wände an befahrenen Stadtstraßen, er spürte ihn heraus- und heraufsickern, den Hundegeruch. Weinen müsste man können. Es war dunkel, sie standen in der Nähe einer Laterne, Abel lehnte an der Wand, weinte nicht, Ilia stand daneben, wartete oder nicht, stand nur da, schaute irgendwohin, den Kopf zur Seite geneigt. Pharisäer, dachte Abel, merkte, wie er ihn zu hassen begann und dass er wirklich wird weinen müssen: über diesen Hass. Dass er da ist. Der, dem die innere Marter bis dahin unbekannt war, lernte sie an dieser Straßenecke kennen. Was Zeichen anbelangt, war es vielleicht nicht so eine üppige Ernte, aber an Lebenserfahrung ist man sicher nicht ärmer geworden.

Das ist alles. Das Nächste ist, dass Herbst ist, und Abel flieht. Kurz nach diesem letzten Spaziergang brachen Kämpfe aus, als hätte man nur darauf gewartet, dass endlich Ferien sind.