Der Autor

Kate Quinn – Foto © Kate Furek

KATE QUINN stammt aus Südkalifornien, studierte in Boston Gesang und hat ein Faible für Geschichte. Alle ihre Romane haben ein historisches Setting und sind in mehrere Sprachen übersetzt worden. Sie lebt mit ihrem Mann in Maryland.

Das Buch

Nina Markowa riskiert alles, um eine »Nachthexe« zu werden. Die junge Frau vom Baikalsee sieht darin vor allem die Möglichkeit, in den Westen zu kommen. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg darf sie sich den legendären Kampfpilotinnen anschließen. Als Nina über Feindgebiet abgeschossen wird und entschlossen Richtung Westen marschiert, steht sie der »Jägerin« gegenüber. Nina überlebt die Begegnung mit der kühl kalkulierenden Mörderin nur dank ihrer Tapferkeit. Und weil ein englischer Soldat sich für sie opfert. Nina schwört Rache und tut sich mit dem Kriegsreporter Ian Graham zusammen, der die Mörderin seines Bruders zur Strecke bringen will. Monate später, in Amerika, verdächtigt die junge Jordan ihre neue Stiefmutter, nicht die zu sein, die sie vorgibt. Ihre Neugier wird Jordan fast zum Verhängnis. Als sie Nina trifft, begegnen sich zwei couragierte Frauen. Und die Jägerin wird zur Gejagten. Nina wird den Blick nie vergessen. Die Frau hatte sie in eine Falle gelockt und wollte sie töten. Nach dem Krieg ist Nina die Einzige, die weiß, wie die Untergetauchte aussieht. Ian Graham, auf der Suche nach der Mörderin seines Bruders, braucht Ninas Hilfe. Gemeinsam setzen sie sich auf die Spur der Frau, die nur die »Jägerin« genannt wird. Sie haben nicht viel Zeit. Denn eine junge Amerikanerin beginnt an der Geschichte ihrer neuen Stiefmutter zu zweifeln und schwebt in höchster Gefahr.

Kate Quinn

Unbekannte Jägerin

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Maja Ueberle-Pfaff und Katrin Harlaß

Ullstein

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Huntress« bei William Morrow, ein Imprint von HarperCollins Publishers, New York.

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-2115-8

© 2019 by Kate Quinn
© der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Autorenfoto: © Kate Furek
Umschlaggestaltung: Nach einer Vorlage von © Elsie Lyons
Umschlagabbildung: © Harry Todd/Getty Images; © kentaylordesign/Shutterstock; © Igorsky/Shutterstock; © STILLFX/Shutterstock; © Trevillion Images/Marc Owen
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Widmung

Für meinen Vater – du fehlst mir

PROLOG

Altaussee, Österreich
Herbst 1945

Sie war es nicht gewohnt, gejagt zu werden.

Vor ihr erstreckte sich glänzend blau der See. Sie saß auf einer Bank, die Hände locker im Schoß, und ließ ihren Blick über das Wasser schweifen. Neben ihr lag eine zusammengefaltete Zeitung. In großen Buchstaben kündeten die Schlagzeilen von Verhaftungen, Todesfällen, bevorstehenden Prozessen, die in Nürnberg stattfinden würden. Die Frau war nie in Nürnberg gewesen, aber sie kannte die Männer, die dort angeklagt wurden. Manche nur dem Namen nach, mit anderen hatte sie Sektgläser klingen lassen. Sie waren alle dem Untergang geweiht. Verbrechen gegen den Frieden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Kriegsverbrechen.

Nach welchem Gesetz?, hätte sie am liebsten laut geschrien und mit Fausthieben gegen die Ungerechtigkeit der Anschuldigungen protestiert. Mit welchem Recht? Aber der Krieg war vorbei, und nun hatten die Sieger das Recht zu bestimmen, was ein Verbrechen war und was nicht. Was Menschlichkeit war und was nicht.

Was ich getan habe, dachte sie, das war menschlich. Das war barmherzig. Aber die Sieger würden dieser Deutung niemals zustimmen. Sie würden in Nürnberg und für alle Zeit ihre Urteile fällen und darüber verfügen, aufgrund welcher Taten, die allesamt dem damals geltenden Recht entsprochen hatten, einem Mann die Schlinge um den Hals gelegt wurde.

Oder einer Frau.

Ihre Hand fuhr unwillkürlich an ihren Hals.

Lauf weg, dachte sie. Wenn sie dich finden und begreifen, was du getan hast, werden sie auch dir einen Strick um den Hals legen.

Aber wohin sollte sie fliehen? Wohin auf dieser Welt, die ihr alles genommen hatte, was sie liebte? Sie war eine Jägerin gewesen, und nun war sie die Beute.

Dann versteck dich, dachte sie. Versteck dich im Unterholz, bis sie an dir vorbeigelaufen sind.

Sie stand auf und lief ziellos am See entlang. Schmerzliche Erinnerungen an den Rusalka-See stiegen in ihr auf, ihre Zuflucht in Polen, zerstört und unerreichbar. Sie zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wusste nicht, wohin sie ging. Nur eines wusste sie: Sie würde auf keinen Fall hier ausharren, starr vor Angst, bis sie kamen und sie auf die Waagschale einer falschen Gerechtigkeit warfen. Nach und nach verfestigte sich ihr Entschluss.

Weglaufen.

Sich verstecken.

Oder sterben.

»Die Jägerin« von Ian Graham

April 1946

Sechs Schüsse.

Sechs Mal drückte sie ab, am Ufer des Rusalka-Sees, ohne jeden Versuch, ihre Tat zu verschleiern. Warum auch? Hitlers Traum vom Großdeutschen Reich war noch nicht ausgeträumt, sie war noch nicht genötigt, sich in ein Schattendasein zu flüchten. Dieses Schicksal lag noch Jahre entfernt. In jener Nacht unter dem polnischen Mond konnte sie tun und lassen, was sie wollte – und so ermordete sie kaltblütig sechs Menschen.

Sechs Schüsse, sechs Kugeln. Sechs Körper, die in das dunkle Wasser des Sees fielen.

Sie hatten sich am Ufer versteckt, zitternd vor Kälte und mit angstvoll aufgerissenen Augen – entkommen aus einem der Güterzüge, die nach Osten rollten, oder Überlebende einer der regelmäßig in der Region durchgeführten »rassischen Säuberungen«. Die dunkelhaarige Frau entdeckte sie, tröstete sie, beteuerte ihnen, sie seien in Sicherheit. Sie nahm sie mit in ihr Haus am See und gab ihnen freundlich lächelnd etwas zu essen.

Dann führte sie sie wieder nach draußen und tötete sie.

Vielleicht blieb sie anschließend noch ein Weilchen stehen, bewunderte den Mond, der sich im Wasser spiegelte, sog den Pulverdampf ein.

Der nächtliche Mord an sechs Menschen auf dem Höhepunkt des Krieges war nicht ihr einziges Verbrechen. Es gab weitere. Die Jagd auf polnische Arbeiter im dichten Wald als eine Art Spiel. Gegen Kriegsende der Mord an einem jungen englischen Kriegsgefangenen, der aus seinem Lager entkommen war. Und niemand weiß, welche anderen Verbrechen noch auf ihrem Gewissen lasten.

Sie nannten sie »die Jägerin«. Sie war die junge Geliebte einen SS-Offiziers im besetzten Polen, Gastgeberin rauschender Feste am See, eine hervorragende Schützin. Vielleicht war sie die Rusalka, nach der der See benannt war – eine bösartige, todbringende Wasserhexe.

Ich denke an sie, während ich zwischen den Journalisten im Nürnberger Justizpalast sitze und erlebe, wie zäh sich die Verhandlungen dahinschleppen. Die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen, wenn auch langsam; die graugesichtigen Männer auf der Anklagebank werden von ihnen zermalmt werden. Aber was ist mit denen aus der zweiten Reihe, denen, die ins Dunkel entkommen, während wir unsere hellen Scheinwerfer auf diesen Gerichtssaal richten? Was ist mit der Jägerin? Bei Kriegsende war sie verschwunden. Es lohnte sich nicht, sie zu verfolgen, an ihren Händen klebte nur das Blut von einem guten Dutzend Menschen, und es galt, Mörder aufzuspüren, die Millionen auf dem Gewissen hatten. Von ihrer Sorte gab es viele: kleine Fische, nicht wert, dass man die Netze nach ihnen auswarf.

Wo werden sie in Zukunft leben?

Wohin ist die Jägerin verschwunden?

Und: Wird jemand die Verfolgung aufnehmen?

Teil I

Kapitel 1
JORDAN

Selkie Lake, drei Stunden westlich von Boston
April 1946

»Wer ist sie, Dad?«

Jordan McBride hatte sich den Zeitpunkt für ihre Frage genau überlegt. Ihr Vater, der gerade zum Wurf angesetzt hatte, zuckte erwartungsgemäß zusammen, und die Angelschnur sauste nicht über den See, sondern verfing sich im Geäst eines ausladenden Ahornbaums. Jordans Kamera klickte und fing seinen bestürzten Gesichtsausdruck ein. Dan McBride stieß ein paar derbe Flüche aus, befahl ihr, sie umgehend zu vergessen, und Jordan sagte »Ja, Sir!« und amüsierte sich königlich.

Natürlich kannte sie alle seine Flüche auswendig. Das passierte unweigerlich, wenn man als Tochter eines Witwers an sonnigen Frühlingswochenenden zum Angeln mitfuhr, anstelle des Sohnes, den es nicht gab. Jordans Vater, der am Ende eines schmalen Landungsstegs gesessen hatte, stand auf und befreite seine Angelschnur. Jordan hob ihre Leica, um seine dunkle Silhouette vor dem Hintergrund von Laub und Wasser auf Film zu bannen. Später, in der Dunkelkammer, würde sie ein bisschen herumexperimentieren. Vielleicht bekam sie es hin, dass die Blätter auf dem Bild ein wenig unscharf wurden, damit sie so aussahen, als ob sie sich tatsächlich bewegten …

»Sag schon, Dad«, bekniete sie ihn. »Erzähl mir von der mysteriösen Unbekannten!«

Dad rückte seine verblichene Red-Sox-Kappe zurecht. »Wer sagt denn, dass es eine mysteriöse Unbekannte gibt?«

»Deine Angestellte hat ausgeplaudert, dass du an den Abenden, an denen du angeblich bis in die Puppen arbeiten musstest, eine Frau zum Essen ausgeführt hast.« Jordan hielt den Atem an. Hoffentlich stimmte es. Ihr Vater hatte schon so lange keine Verabredung mehr gehabt. Wenn er und Jordan, was selten genug vorkam, sonntags in die Kirche gingen, winkte ihm so manche Dame mit ihren behandschuhten Fingerspitzen neckisch zu, aber zu Jordans Enttäuschung schien Dad nie interessiert.

»Ach, das hat überhaupt nichts zu sagen …« Dad druckste verlegen herum, aber Jordan glaubte ihm kein Wort. Ihr Vater und sie waren sich sehr ähnlich. Sie hatte genügend Fotos geschossen, um die äußeren Merkmale zu erkennen: eine klassische Nase, gerade Augenbrauen, dunkelblondes Haar, das bei ihm von der Baseballkappe verdeckt wurde und bei ihr als lockerer Pferdeschwanz darunter hervorquoll. Mit ihren knapp achtzehn Jahren hatte sie mittlerweile sogar seine Körpergröße erreicht, und das bedeutete, sie war groß für ein Mädchen. Aber die Ähnlichkeit ging weit über das Körperliche hinaus; Jordan kannte ihren Vater in- und auswendig. Nachdem sie mit sieben Jahren ihre Mutter verloren hatte, waren sie beide allein geblieben, und sie wusste genau, wann Dan McBride Anstalten machte, ihr etwas Wichtiges mitzuteilen.

»Raus damit, Dad«, verlangte sie streng.

»Sie ist Witwe«, gestand Dad endlich. Zu Jordans Entzücken wurde er dabei rot. »Mrs Weber ist vor drei Monaten zum ersten Mal in den Laden gekommen.« Unter der Woche stand ihr Vater in Anzug und Weste routiniert und fachkundig in einer Seitenstraße der Newbury Street hinter der Verkaufstheke von McBride’s Antiques. »Sie war gerade aus Boston hergezogen und verkaufte ihren Schmuck, um sich über Wasser zu halten. Ein paar Goldkettchen und Medaillons, nichts Ungewöhnliches, aber sie besaß außerdem eine Kette aus grauen Perlen, ein schönes Stück. Sie hat sich sehr zusammengerissen, aber als es darum ging, sich von den Perlen zu trennen, brach sie in Tränen aus.«

»Lass mich raten. Du hast sie ihr sehr galant zurückgegeben und ihr für die anderen Schmuckstücke einen höheren Preis geboten, sodass sie mit dem erhofften Betrag in der Tasche den Laden verließ.«

Dad holte die Angelschnur ein. »Sie verließ den Laden auch mit einer Einladung zum Essen.«

»Sieh mal einer an, du Schwerenöter! Und weiter?«

»Sie ist Österreicherin, aber sie hat in der Schule Englisch gelernt und spricht es fast fehlerfrei. Ihr Mann ist 1943 als Soldat gefallen …«

»Auf welcher Seite?«

»Solche Dinge sollten keine Rolle mehr spielen, Jordan. Der Krieg ist vorbei.« Dad befestigte einen neuen Köder an der Schnur. »Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis für Boston, aber es war dort schwierig für sie. Sie hat eine kleine Tochter …«

»Eine Tochter?«

»Ruth. Vier Jahre alt, spricht kaum ein Wort. Aber sehr niedlich.« Er zupfte übermütig an Jordans Kappe. »Du wirst sie mögen.«


»Dann ist es also schon was Ernstes«, staunte Jordan. Ihr Vater hätte das Kind dieser Frau nicht kennengelernt, wenn es ihm nicht ernst wäre. Aber wie ernst?

»Mrs Weber ist eine feine Frau.« Dad warf die Angelschnur aus. »Ich möchte sie nächste Woche zu uns zum Essen einladen, sie und Ruth. Ein Abendessen zu viert.«

Er blickte seine Tochter besorgt von der Seite an. Und tatsächlich war Jordan ein kleines bisschen irritiert, das musste sie sich eingestehen. Zehn Jahre hatte es nur sie und Dad gegeben, sie waren Freunde gewesen, hatten eine Beziehung gehabt, wie sie nur wenige von ihren Freundinnen zu ihren Vätern hatten. Doch es war nur ein kleiner Stich Eifersucht, viel wichtiger war das Gefühl von Erleichterung. Dad brauchte eine Frau in seinem Leben, das wusste Jordan seit Jahren. Eine Frau, mit der er reden konnte, die ihn ausschimpfte, wenn er seinen Spinat nicht aufaß. Eine andere Frau, außer seiner Tochter, an die er sich anlehnen konnte.

Wenn es noch einen weiteren Menschen in seinem Leben gibt, wird er sich vielleicht nicht mehr so stur weigern, dich aufs College gehen zu lassen, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf, die sie schnell verscheuchte. Im Moment zählte nur Dad – sie sollte sich für ihn freuen und nicht darauf hoffen, dass sich die Dinge zu ihren Gunsten entwickeln könnten. Und sie freute sich ehrlich für ihn. Seit Jahren fotografierte sie ihn, aber ganz gleich, wie breit er in die Kamera lächelte – wenn die scharfen Falten in seinem Gesicht wie von Geisterhand aus der Entwicklerflüssigkeit auftauchten, kam ihr immer nur ein Wort in den Sinn: einsam.

»Ich bin so gespannt darauf, sie kennenzulernen«, beteuerte sie aufrichtig.

»Sie kommt am nächsten Mittwoch um sechs mit Ruth zu uns.« Mit Unschuldsmiene fuhr er fort: »Du kannst Garrett ebenfalls einladen, wenn du willst. Er gehört ja auch zur Familie oder könnte es …«

»Du kannst den Zaunpfahl wieder wegstecken, Dad.«

»Er ist ein netter Kerl. Und seine Eltern lieben dich.«

»Sein Dienst bei der Air Force ist gerade erst zu Ende, und er geht bald aufs College. Es könnte doch sein, dass er keine Zeit für seine Highschool-Freundin hat. Aber du könntest mich ja mit ihm auf die Uni Boston schicken. Die Fotografiekurse dort …«

»Netter Versuch, Missy.« Dads Blick wanderte auf den See hinaus. »Die Fische beißen nicht an.« Und ich auch nicht, hieß das.

Taro, Jordans schwarze Labradorhündin, hob die Schnauze von ihrem Sonnenplätzchen, als Jordan und ihr Vater über den Steg zum Ufer zurückgingen. Jordan machte noch schnell einen Schnappschuss von den beiden Schatten, die sich Seite an Seite über die vom Wasser verzogenen Holzplanken bewegten, und fragte sich, wie vier Schattengestalten wohl aussehen würden. Sie dachte an die unbekannte Mrs Weber. Bitte, flehte sie innerlich, bitte mach, dass ich dich mag.


Eine schmale Hand hob sich ihr entgegen, und blaue Augen lächelten. »Wie schön, dass wir uns endlich kennenlernen.«

Jordan ergriff die Hand der Frau, die ihr Vater gerade ins Wohnzimmer geführt hatte. Anneliese Weber war klein und schlank, sie trug das dunkle Haar zu einem glänzenden Nackenknoten geschlungen, und ihr einziger Schmuck bestand aus einer grauen Perlenkette. Ein dunkel geblümtes Kleid und ausgebesserte, aber makellos saubere Handschuhe vermittelten den Eindruck diskreter Eleganz mit leichten Verschleißerscheinungen. Sie hatte ein junges Gesicht – laut Dad war sie achtundzwanzig –, aber in ihrem Blick lag etwas, das sie älter wirken ließ. Das war nicht verwunderlich, denn schließlich musste sie sich als Kriegerwitwe mit einem kleinen Kind in einem fremden Land ein neues Leben aufbauen.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, erwiderte Jordan und meinte es ehrlich. »Und das muss Ruth sein.« Das Kind neben Anneliese Weber war herzallerliebst – blonde Zöpfe, ein blauer Mantel und ein ernstes kleines Gesichtchen. Jordan streckte ihr die Hand entgegen, aber Ruth wich erschrocken zurück.

»Sie ist schüchtern«, entschuldigte sich Anneliese. Sie hatte eine klare, dunkle Stimme und sprach fast ohne deutschen Akzent. »Ruth hat sehr unruhige Zeiten durchgemacht.«

Jordan lächelte die Kleine an. »In deinem Alter habe ich fremde Leute auch nicht gemocht.« Das stimmte nicht, aber etwas an Ruths ängstlicher Miene weckte in ihr den Wunsch, der Kleinen die Anspannung zu nehmen. Und sie bekam große Lust, Ruth zu fotografieren. Die runden Wangen und blonden Zöpfe ergäben ein wundervolles Motiv.

Dad nahm den Besucherinnen die Mäntel ab, und Jordan lief in die Küche, um nach dem Hackbraten zu sehen. Als sie wiederkam, hatte ihr Vater den Gästen bereits etwas zu trinken angeboten. Ruth saß mit einem Glas Milch auf der Couch, Anneliese Weber nippte an ihrem Sherry und sah sich im Zimmer um. »Ein hübsches Zuhause. Du bist sehr jung dafür, dass du deinem Vater das Haus führst, Jordan, aber du machst es sehr gut.«

Nett von ihr, dass sie schwindelt, dachte Jordan angenehm überrascht. Im Haus der McBrides herrschte immerzu Unordnung. Es war ein enges dreistöckiges Brownstone-Haus in Süd-Boston. Die Treppen waren steil, die Sofas zerschlissen und bequem, die Teppiche lagen immer leicht schief. Wie sie da kerzengerade vor ihnen saß, jedes Haar an seinem Platz, wirkte Anneliese Weber nicht gerade wie eine Frau, die etwas für schiefe Dinge übrighatte, aber sie nickte beifällig.

»Ist das von dir?« Sie stand auf und trat näher an eine Fotografie vom Boston Common heran, auf der der nebelverhangene Park in einem Winkel aufgenommen war, durch den er sich in eine Traumlandschaft verwandelte. »Dein Vater hat mir erzählt, dass du eine … wie sagt man? … eifrige Knipserin bist.«

Jordan grinste. »Ja, das stimmt. Darf ich Sie nachher fotografieren?«

»Ermutige sie nicht.« Dad legte Anneliese fürsorglich die Hand auf den Rücken und führte sie zur Couch zurück. »Jordan verbringt schon viel zu viel Zeit damit, durch ein Objektiv zu starren.«

»Besser als in den Spiegel oder auf eine Filmleinwand«, erwiderte Anneliese unvermutet. »Junge Mädchen sollten sich mit mehr beschäftigen als mit Lippenstift und Gekicher, oder sie werden mit der Zeit immer kindischer und alberner. Nimmst du Unterricht?«

»Wann immer ich kann.« Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte Jordan jede sich bietende Gelegenheit ergriffen, um Fotografiekurse zu besuchen, die sie von ihrem Taschengeld bezahlte, oder sich in Collegeseminare geschlichen, wenn sie einen Professor fand, der die Anwesenheit eines schlaksigen Teenagers in einer der hinteren Bänke belustigt duldete. »Ich nehme Unterricht, ich bringe mir selbst Verschiedenes bei, ich übe …«

»Wenn man etwas gut beherrschen will, muss man es ernst nehmen«, sagte Anneliese. In Jordans Brust breitete sich ein warmes Gefühl aus. Ernst. Gut. Dad sagte nie so etwas über ihre Bilder. »Mit einer Kamera herumfuchteln«, nannte er es kopfschüttelnd. »Na, du wirst schon noch aus diesem Fimmel herauswachsen.«

Ich werde da bestimmt nicht herauswachsen, hatte Jordan mit fünfzehn protestiert. Ich werde die nächste Margaret Bourke-White.

Margaret wer?, hatte ihr Vater lachend gefragt. Er hatte freundlich und nachsichtig gelacht, aber er hatte gelacht.

Anneliese lachte nicht. Sie sah sich Jordans Fotos an und nickte anerkennend. Zum ersten Mal gestattete sich Jordan, das Wort Stiefmutter zu denken.

Im Esszimmer, wo Jordan mit dem guten Porzellan gedeckt hatte, stellte Anneliese Dad interessierte Fragen nach seiner Arbeit im Antiquitätengeschäft, während er ihr die besten Stücke auf den Teller lud. »Ich kenne eine ausgezeichnete Methode, wie man farbiges Glas zum Glänzen bringt«, sagte sie, als er über einen Satz Tiffany-Lampen sprach, den er bei einer Haushaltsauflösung erworben hatte. Sie korrigierte unauffällig Ruths Griff um die Gabel und hörte gleichzeitig aufmerksam zu, als Jordan vom Frühjahrsball an ihrer Schule berichtete, der in Kürze stattfinden würde. »Ein so hübsches Mädchen wie du hat doch sicher einen Verehrer.«

»Garrett Byrne«, antwortete ihr Vater, bevor Jordan den Mund aufmachen konnte. »Ein netter junger Mann, hat sich im Krieg als Pilot gemeldet. Du wirst ihn am Sonntag kennenlernen, falls du dich uns beim Kirchgang anschließen möchtest.«

»Das würde ich sehr gern. Ich habe mich so bemüht, in Boston Freunde zu finden und Nachbarn kennenzulernen. Geht ihr jede Woche in die Kirche?«

»Natürlich.«

Jordan hüstelte in ihre Serviette. Sie und Dad besuchten den Gottesdienst nur selten. Und nun saß er am Kopf der Tafel und glühte förmlich vor Frömmigkeit. Anneliese lächelte und schaute nicht weniger fromm drein, und Jordan saß stumm dabei und sann darüber nach, warum frisch verliebte Paare sich einander immer von ihrer besten Seite zeigten. Das beobachtete sie jeden Tag im Klassenzimmer, und anscheinend benahm sich die ältere Generation auch nicht anders. Vielleicht eignete sich das Thema sogar für eine Fotoserie: Liebespaare aller Generationen, mit Schwerpunkt auf den Ähnlichkeiten, die unabhängig vom Alter auftraten. Mit den richtigen Überschriften und Bildlegenden wäre ein solches Projekt vielleicht sogar so interessant, dass sie es einer Zeitschrift oder Zeitung anbieten könnte …

Der Tisch wurde abgeräumt und der Kaffee serviert. Jordan schnitt die Boston Cream Pie auf, die Mrs Weber mitgebracht hatte. »Aber eigentlich weiß ich nicht, warum ihr sie Pie nennt«, sagte die Besucherin mit einem Funkeln in den blauen Augen. »Das ist ein Kuchen, keine Pastete, und einer Österreicherin kann man nichts anderes weismachen. Wir in Österreich wissen, was ein Kuchen ist.«

»Sie sprechen so gut Englisch!«, sagte Jordan voller Bewunderung. Ob das für Ruth auch galt, hatte sie noch nicht herausfinden können. Das Mädchen hatte bisher kein Wort gesprochen.

»Ich habe Englisch in der Schule gelernt. Und mein Mann hat es beruflich gebraucht, ich habe mit ihm geübt.«

Jordan lag die Frage auf der Zunge, wie Anneliese ihren Mann verloren hatte, aber ihr Vater warf ihr einen warnenden Blick zu. Er hatte schon vorher klare Anweisungen gegeben: »Du wirst Mrs Weber nicht nach dem Krieg oder ihrem Mann fragen. Sie hat deutlich zu verstehen gegeben, dass es eine leidvolle Zeit für sie war.«

»Aber wollen wir nicht alles über sie erfahren?« Sosehr Jordan ihrem Vater auch wünschte, dass er eine liebende Partnerin an seiner Seite hätte, musste es doch die richtige sein. »Was ist falsch daran?«

»Menschen müssen nicht ihre alten Wunden offenbaren oder ihre schmutzige Wäsche waschen, nur weil du alles über sie wissen willst«, hatte Dad gesagt. »Niemand will über einen Krieg reden, den er gerade durchlitten hat, Jordan McBride. Hör also auf, an Stellen herumzustochern, wo du Gefühle verletzt, und bitte auch keine wilden Geschichten.«

Bei diesen Worten war Jordan rot geworden. Wilde Geschichten – das war eine schlechte Angewohnheit, die auf die Zeit vor zehn Jahren zurückging. Als ihre Mutter, an die sie sich kaum noch erinnerte, ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte man die siebenjährige Jordan zu einer wohlmeinenden, aber unbedarften Großtante verfrachtet, die zu ihr nur gesagt hatte: Deine Mutter ist weggegangen. Wohin, hatte sie nicht gesagt. Folglich hatte sich Jordan jeden Tag eine neue Geschichte ausgedacht: Sie ist Milch holen gegangen. Sie ist zum Friseur gegangen. Und als ihre Mutter dann immer noch nicht zurückkam, wurden die Geschichten immer märchenhafter: Sie ist auf einen Ball gegangen, wie Aschenputtel. Sie ist nach Kalifornien gegangen, um Filmstar zu werden. Bis ihr Vater eines Tages weinend nach Hause gekommen war und Deine Mutter ist zu den Engeln gegangen gesagt hatte. Jordan hatte nicht verstanden, warum nun ausgerechnet diese Geschichte die echte sein sollte, und wieder eine eigene erfunden. »Jordan und ihre wilden Geschichten«, hatte ihre Lehrerin einmal scherzhaft zu ihrem Vater gesagt. »Warum muss sie denn immer was erfinden?«

Weil mir niemand die Wahrheit gesagt hat, hätte Jordan antworten können. Weil niemand gesagt hat: Sie ist krank, und du darfst sie nicht besuchen, weil du dich anstecken könntest. Um die Lücke zu füllen, habe ich mir schönere Geschichten ausgedacht.

Vielleicht hatte sie sich auch deshalb mit neun Jahren so begeistert auf ihre erste Kodak gestürzt. In Fotografien gab es keine Lücken; es war nicht nötig, sie mit Geschichten zu füllen. Mit der Kamera musste sie nichts erfinden, sie konnte die Wahrheit sagen.

Jordans Gedanken wurden von Taro unterbrochen, die ins Esszimmer tapste. Zum ersten Mal kam Leben in die kleine Ruth. »Hund!«, rief sie auf Deutsch.

»Englisch, Ruth!«, mahnte ihre Mutter, aber Ruth saß bereits auf dem Boden und streckte schüchtern die Hand aus.

»Hund«, flüsterte sie noch einmal und streichelte Taros Ohren. Jordan wurde es warm ums Herz. »Ich möchte ein Foto machen«, verkündete sie, rutschte von ihrem Stuhl und holte die Leica. Als sie zurückkam und den Auslöser betätigte, hatte Ruth Taro auf den Schoß gezogen, und Anneliese erklärte mit leiser Stimme: »Wenn dir Ruth sehr still vorkommt und schreckhaft ist oder sich seltsam benimmt … Du musst wissen, dass wir in Altaussee am See eine sehr verstörende Begegnung hatten. Eine Flüchtlingsfrau hat versucht, uns zu berauben. Seitdem ist Ruth argwöhnisch und vertraut fremden Menschen nicht mehr ohne weiteres.« Mehr wollte sie offenbar nicht erzählen. Jordan schluckte ihre Fragen hinunter, bevor Dads warnender Blick sie traf. Außerdem hatte er völlig recht mit seinem Hinweis, dass Anneliese Weber nicht die Einzige war, die nicht über den Krieg sprechen wollte; keiner sprach gern darüber. Anfangs hatten alle groß gefeiert, aber nun wollten alle am liebsten vergessen. Jordan konnte es selbst kaum fassen, dass letztes Jahr um diese Zeit im Radio noch Kriegsberichte gesendet worden waren und Flaggen aus den Fenstern hingen, dass Privatleute Gemüsegärten angelegt hatten und die Jungen auf der Highschool darüber diskutierten, ob wohl alles vorbei sein würde, bevor sie alt genug für den Militärdienst wären.

Anneliese sah lächelnd auf ihre Tochter hinab. »Der Hund mag dich, Ruth.«

»Sie heißt Taro«, sagte Jordan, während sie die Kamera auf das kleine Mädchen richtete, das die sommersprossige Nase gegen die feuchte Hundeschnauze drückte, und ein Bild nach dem anderen knipste.

»Taro«, artikulierte Anneliese langsam. »Was ist das für ein Name?«

»Von Gerda Taro, der ersten Fotografin, die den Krieg direkt an der Front dokumentiert hat.«

»Und sie ist dabei umgekommen, reden wir also nicht weiter über Frauen, die in Kriegsgebieten Bilder machen«, funkte Dad dazwischen.

»Ich würde gerne ein paar Bilder von euch beiden machen …«

»Bitte nicht.« Anneliese wandte das Gesicht ab. »Ich mag es gar nicht, fotografiert zu werden.«

»Nur ein Familienschnappschuss«, beruhigte Jordan sie. Sie hatte wenig für künstliche Posen übrig und bevorzugte spontane Aufnahmen. Durch Stative und Scheinwerfer wurden kamerascheue Menschen noch verkrampfter; sie setzten dann eine Maske auf, und die Aufnahme wurde unecht. Jordan hielt sich am liebsten unauffällig in der Nähe der Menschen auf, die sie interessierten, bis diese vergaßen, dass sie da war, und sich entspannten, ihr wahres Ich zeigten. Das wahre Ich konnte man vor einer Kamera nicht verstecken.

Anneliese stand auf, um den Tisch abzuräumen. Dad half ihr, und Jordan bewegte sich unaufdringlich durch den Raum und fotografierte. Ruth wurde durch gutes Zureden von Taro weggelockt und trug die Butterdose in die Küche. Danach kam Dad sehr bald auf seine Jagdhütte zu sprechen. »Ein wunderschönes Plätzchen, mein Vater hat sie gebaut. Jordan knipst gern den See, und ich fische und gehe manchmal ein wenig jagen.«

Anneliese ließ die schmutzigen Teller ins Spülwasser gleiten und drehte sich um. »Du jagst?«

Dad sah sie erschrocken an. »Manche Frauen haben etwas gegen den Lärm und das Blut.«

»Ganz und gar nicht.«

Jordan legte die Kamera weg und stellte sich an die Spüle. Anneliese bot an, das Geschirr abzutrocknen, aber Jordan lehnte dankend ab, damit die Besucherin Dads geschickten Umgang mit dem Geschirrtuch bewundern konnte. Welche Frau würde einem Mann widerstehen, der wusste, wie man edles Porzellan abtrocknete!

Bald darauf verabschiedeten sich die Besucher. Dad gab seiner neuen Freundin einen keuschen Kuss auf die Wange, aber sein Arm stahl sich für ein paar Sekunden um ihre Taille. Anneliese drückte auch Jordan herzlich die Hand, und sogar Ruth streckte ihr die Finger entgegen, an denen noch die feuchten Spuren von Taros eifriger Zunge klebten. Mutter und Tochter stiegen in der abendkühlen Frühlingsluft die Treppen hinunter, und Dad schloss hinter ihnen die Tür. Bevor er etwas fragen konnte, trat Jordan auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Ich mag sie, Dad. Ich mag sie wirklich.«


Aber schlafen konnte sie nicht.

Das schmale Brownstone-Haus besaß ein kleines Untergeschoss mit einem separaten Eingang. Jordan musste außen um das Haus herum bis zu der sehr steilen Außentreppe laufen, an deren Fuß sich eine winzige Tür versteckte. Der Kellerraum war schwer zugänglich und dunkel und eignete sich deshalb für ihre Zwecke besonders gut. Als sie mit vierzehn gelernt hatte, wie man Negative entwickelt, hatte Dad ihr erlaubt, sich dort ihre eigene Dunkelkammer einzurichten.

Jordan blieb auf der Schwelle stehen und sog den vertrauten Geruch nach Chemikalien begierig in sich auf. Das hier war ihr Reich, viel mehr als das gemütliche Schlafzimmer im oberen Stockwerk, mit dem Schreibtisch für die Hausaufgaben und dem schmalen Bett. In diesem Keller hörte sie auf, Jordan McBride zu sein, das junge Mädchen mit dem Pferdeschwanz und der Schultasche, und wurde zu J. Bryde, der Profifotografin. J. Bryde, so würde sie sich später einmal nennen, wenn sie eine richtige Fotografin wäre, wie ihre Idole, deren Porträts die Wände der Dunkelkammer zierten: Margaret Bourke-White, mit gezückter Kamera und offensichtlich kein bisschen ängstlich in schwindelnder Höhe auf einem der gewaltigen Wasserspeier des Chrysler Building kniend. Gerda Taro, hinter einem spanischen Soldaten an eine Steinwand gelehnt, den Blick forschend in den Himmel gerichtet.

Normalerweise hätte sich Jordan ein paar Sekunden Zeit genommen, um ihre Heldinnen zu grüßen, aber irgendetwas ließ ihr keine Ruhe. Sie wusste nicht, was, und fing einfach an, ihre Schalen und Chemikalien auszubreiten.

Die Aufnahmen, die sie beim Abendessen gemacht hatte, im Dunkeln aus der Kamera ziehen und in die Entwicklerdose einspulen, Dose ins Entwicklerbad tauchen. Rotlicht anschalten. Regelmäßig das Entwicklerbad kippen. Entwickelte Filmstreifen ins Stoppbad, dann ins Fixierbad legen. Zusehen, wie die Konturen nach und nach geisterhaft in Erscheinung treten. Ruth beim Spielen mit dem Hund, Anneliese Weber, die sich von der Kamera wegdreht. Anneliese von hinten, beim Geschirrspülen. Die Negative im Waschbecken wässern, zum Trocknen mit Klammern an die Wäscheleine hängen. Langsam an der Leine vorbeigehen.

»Wonach suchst du?«, fragte Jordan in die Stille. Sie hatte sich angewöhnt, Selbstgespräche zu führen, wenn sie hier unten allein war. Am liebsten hätte sie zum Gedankenaustausch einen Kollegen gehabt, vorzugsweise einen glutäugigen ungarischen Kriegsberichterstatter. Sie ging noch einmal an der Wäscheleine entlang. »Was ist dir aufgefallen, J. Bryde?« Es passierte nicht zum ersten Mal, dass eine bestimmte Aufnahme sie kribbelig machte, noch bevor sie entwickelt war. Es war, als hätte die Kamera etwas gesehen, das sie selbst nicht wahrgenommen hatte, und dann wurde sie so lange von ihr gepiesackt, bis sie es mit eigenen Augen und nicht nur durch das Objektiv erkannte.

In fünfzig Prozent der Fälle war dieses Gefühl völlig unbegründet.

»Das hier«, hörte Jordan sich auf einmal sagen. Anneliese Weber am Spülbecken, halb der Kamera zugewandt. Jordan kniff die Augen zusammen, aber das Format war zu klein. Sie brauchte ein größeres. Es wurde Mitternacht, doch das kümmerte sie nicht, sie arbeitete weiter, bis der vergrößerte Papierabzug an der Leine hing.

Jordan trat zurück, die Hände in die Hüften gestemmt. »Objektiv gesprochen«, sagte sie, »ist das eine der besten Aufnahmen, die du je gemacht hast.« Der Auslöser der Leica hatte Anneliese in der Bewegung eingefangen, mit der sie sich, eingerahmt vom bogenförmigen Küchenfenster, der Kamera halb zuwandte. Ihr dunkles Haar bildete einen wunderschönen Kontrast zu dem blassen Gesicht. Und doch …

»Subjektiv gesprochen«, fuhr Jordan fort, »ist diese Aufnahme verdammt unheimlich.« Dad duldete keine unanständigen Wörter, aber wenn es je einen guten Grund für »verdammt« gegeben hatte, dann jetzt.

Es war der Ausdruck auf dem Gesicht der Österreicherin. Jordan hatte ihr einen ganzen Abend lang gegenübergesessen und nichts als freundliches Interesse und ruhige Würde darin erblickt, aber auf der Fotografie kam eine andere Frau zum Vorschein. Sie trug auch hier ein Lächeln zur Schau, aber kein sympathisches. Ihre Augen waren zu Schlitzen verengt, und ihre Hände krallten sich wie in einem reflexartigen Todesgriff um das Geschirrtuch. Den ganzen Abend hatte Anneliese sanft, zerbrechlich und damenhaft gewirkt. Hier gar nicht mehr. Hier sah sie attraktiv und aufregend aus und …

»Grausam.« Das Wort war heraus, bevor Jordan bewusst geworden war, dass sie es dachte. Sie schüttelte den Kopf. Jeder Mensch sah auf Fotos manchmal unvorteilhaft aus. Entweder das Timing war schlecht oder das Licht blendete, und schon wirkte man verschlagen oder sperrte den Mund auf wie ein Idiot. Das Kameraauge log nicht, aber es konnte einen zweifellos in die Irre führen.

Jordan griff nach der Wäscheklammer, mit der der Abzug befestigt war, und begegnete dem rasiermesserscharfen Blick der Fremden. Worüber hatten sie in dem Moment gesprochen? Dad hatte von der Hütte erzählt …

»Du jagst?«

»Manche Frauen haben etwas gegen den Lärm und das Blut.«

»Ganz und gar nicht.«

Ungehalten zog Jordan an dem Abzug, um ihn wegzuwerfen. Dad wäre alles andere als angetan. Er würde annehmen, seine Tochter habe das Bild manipuliert, um etwas zu sehen, was nicht existierte. Jordan und ihre wilden Geschichten.

Aber ich habe es nicht manipuliert, dachte Jordan trotzig. Genau so hat deine Freundin ausgesehen.

Sie zögerte kurz, dann legte sie das Foto in eine Schublade. Selbst wenn es in die Irre führte, war es eines der besten, die sie je gemacht hatte. Sie brachte es nicht über sich, das Bild wegzuwerfen.