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Das Buch

Der düstere Schatten von Philip Blake, dem Governor, liegt über jeder Gasse und jedem Winkel von Woodbury, Georgia. Nach dem blutigen Aufstand und dem Tod des tyrannischen Anführers versuchen Lilly Caul und ihre Mitstreiter, die Ordnung in der kleinen Ortschaft wiederherzustellen. Eine überlebensnotwenige Aufgabe, denn am Horizont kommt eine gewaltige Horde von Untoten auf Woodbury zugewankt. Die einzige Chance der Überlebenden scheint darin zu liegen, sich mit der gerade erst Gruppe des charismatischen, rätselhaften Predigers Jeremiah zu verbünden, die neu in Woodbury angekommen ist. Doch schon bald beginnt Lilly zu zweifeln, ob Jeremiah und seine Gemeinde wirklich ein Segen für Woodbury sind – oder ob sie stattdessen eine dunkle Saat des Hasses in den Herzen der Bewohner säen. Zweifel, denen Lilly und ihre Verbündeten schon bald nicht mehr aus dem Weg gehen können …

Die Autoren

Robert Kirkman ist der Schöpfer der mehrfach preisgekrönten und international erfolgreichen Comicserie The Walking Dead. Die gleichnamige TV-Serie wurde von ihm mit entwickelt und feierte weltweit Erfolge bei Kritikern und Genrefans gleichermaßen. Zusammen mit dem Krimiautor Jay Bonansinga hat er nun die Romanreihe aus der Welt von The Walking Dead veröffentlicht.

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Jay Bonansinga

Robert Kirkman’s

The Walking Dead 5

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

ROBERT KIRKMANS THE WALKING DEAD – DESCENT

Deutsche Übersetzung von Wally Anker




Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

Deutsche Erstausgabe 09/2015

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2014 by Robert Kirkman LLC, Jay Bonansinga

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München


ISBN: 978-3-641-15344-1


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In memoriam Jane Catherine Parrick

3. Dezember 1928 – 21. März 2014

Teil 1

Feuersee

Die Zeit der Heimsuchung
ist gekommen,
die Zeit der Vergeltung;
dessen wird Israel innewerden.
»Ein Narr ist der Prophet
und wahnsinnig der Mann des Geistes!«
Ja, um deiner großen Schuld
und um der großen Anfeindung willen!

– Hosea 9,7

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Eins

An jenem Morgen brauen sich zwei voneinander unabhängige und durchaus besorgniserregende Ereignisse unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens in der abgebrannten Ortschaft zusammen – beides Probleme, die zumindest anfangs von den Einwohnern völlig unbeachtet bleiben.

Anhaltendes Hämmern und das Rattern von Motorsägen erfüllen die Luft. Stimmen erheben sich in einem geschäftigen Hin und Her über dem Wind. Die vertrauten Gerüche von brennendem Holz, Teerpech und Kompost werden auf der warmen Brise durch die Gassen getragen. Ein Gefühl der Erneuerung – vielleicht sogar der Hoffnung – klingt bei jeder Tätigkeit, bei jeder Handlung mit. Die drückende Sommerhitze wird erst in ein oder zwei Monaten über sie hereinbrechen, und die wilden Cherokee-Rosen stehen in voller Blüte in dichten Reihen entlang der stillgelegten Bahngleise. Der Himmel besitzt die ungeheuer klare HD-Qualität, die so typisch für die letzten Wochen des Frühlings hierzulande ist.

Ausgelöst durch den turbulenten Regimewechsel und der damit verbundenen Möglichkeit, eine demokratische Lebensweise inmitten dieser Trümmer zu führen, die die Seuche hinterlassen hat, haben sich die Überlebenden aus Woodbury, Georgia neu strukturiert – wie DNA, die sich zu einem robusteren, gesünderen Organismus vereint. Das kleine Städtchen, eine ehemalige Eisenbahnerstadt achtzig Kilometer südlich von Atlanta, wurde erst vor Kurzem zu ausgebrannten Häusern und heruntergekommenen, mit Müll übersäten Straßen reduziert. Lilly Caul ist einer der Hauptgründe dieser Renaissance. Die dünne, des Kämpfens müde, aber dennoch anmutige junge Frau mit ihren goldbraunen Haaren, deren Look an den eines Straßenköters erinnerte, und einem Gesicht in Form eines Herzens ist widerwillig zur Anführerin von Woodbury geworden.

Jetzt ist ihre Stimme in jedem Winkel des kleinen Städtchens zu hören, ihre Autorität wird vom Wind durch die Straßen und über die Wipfel von Eichen und Pappeln getragen, die die Promenade westlich der Rennbahn säumen. An jedem offenen Fenster, in jeder Gasse und in jeder Ecke der Arena ertönt sie. Lilly preist Woodbury mit dem Eifer einer Immobilienmaklerin an, die ein Haus in Florida mit eigenem Strandabschnitt an den Mann bringen will.

»Noch ist unsere sichere Zone klein, das will ich gar nicht abstreiten«, gibt sie gegenüber einem unbekannten Zuhörer zu. »Aber wir werden die Barrikade einen Häuserblock weiter nach Norden erweitern. Und die hier vielleicht zwei oder drei Häuserblöcke nach Süden, sodass wir irgendwann mit einer Stadt in einer Stadt enden, einem sicheren Ort, an dem die Kinder auf der Straße spielen können – einem Ort, der, wenn alles gut geht, eines Tages völlig autark ist und nachhaltig bewirtschaftet wird.«

Während Lillys Monolog durch sämtliche Winkel der Arena hallt – der Ort, an dem früher noch Wahnsinn in Form von blutigen Kämpfen auf Leben und Tod vorgeherrscht hat –, zuckt das verbrannte Gesicht einer dunklen Gestalt, die unter einem Gulli steckt, unkontrolliert vor sich hin. Es bewegt sich ruckartig in Richtung der Stimme – wie eine Satellitenschüssel, die sich auf ein Signal aus dem All ausrichtet.

Früher einmal war er ein schlaksiger Tagelöhner auf einem Bauernhof gewesen, durchtrainiert und schlank, mit strohblondem Schopf. Vor Kurzem aber, als Woodbury noch im Chaos versunken war und Feuer das Städtchen verwüsteten, fiel dieser verbrannte, reanimierte Leichnam durch einen kaputten Gulli, wo er unbemerkt eine ganze Woche verbracht und sich in der sauerstoffarmen, stinkenden Finsternis gesuhlt hat. Hundertfüßer, Käfer und Asseln krabbeln hektisch über sein fahles, totes Gesicht und seine zerfetzte, von der Sonne gebleichte Jeans – der Stoff ist schon so alt und abgewetzt, dass man ihn kaum von dem toten Fleisch der Kreatur unterscheiden kann.

Dieser verirrte Beißer, früher ein eingekerkerter unmenschlicher Gladiator, der sein Unwesen in der Arena trieb, wird die erste von zwei Entwicklungen sein, die Anlass zu ernsthafter Sorge geben sollten, von jedem Bewohner des Städtchens aber übersehen wurden – auch von Lilly, deren Stimme jetzt mit jedem Schritt, mit dem sie sich der Rennbahn nähert, lauter wird. Eine Gruppe Menschen schlurft ihr hinterher.

»Jetzt könnte man sich natürlich fragen: ›Stelle ich mir das nur vor, oder ist ein gigantisches UFO mitten in Woodbury gelandet, als niemand aufgepasst hat?‹ Aber nein, das ist die Arena des Woodbury Veterans Speedway – ich nehme an, man könnte es ein Überbleibsel aus besseren Zeiten nennen. Aus Zeiten, in denen die Menschen nichts weiter wollten, als sich Freitagabend ein Hähnchen zu holen und Männern in tollkühnen Kisten zuzuschauen, die einander über den Haufen fuhren und die Luft verpesteten. Wir wissen immer noch nicht, wozu wir sie jetzt benutzen können … Aber auch wenn uns nichts anderes einfällt, einen tollen Park können wir immer noch aus ihr machen.«

Inmitten der Enge des faulenden Abwasserkanals läuft dem toten Landarbeiter bereits bei dem Gedanken an das sich nähernde Frischfleisch das Wasser im Mund zusammen. Sein Kiefer beginnt zu arbeiten, knirscht und knarzt, als er auf die Wand zukrabbelt und blindlings nach oben an den Gulli greift, durch den das Tageslicht in seine Welt einfällt. Durch die schmalen Eisenstäbe kann er die Schatten von sieben Lebenden sehen, die sich ihm nähern.

Durch Zufall findet die Kreatur mit einem Fuß Halt im maroden Mauerwerk.

Beißer können nicht klettern. Ihre einzige Fähigkeit besteht darin zu fressen. Sie besitzen kein Bewusstsein, verspüren nichts außer Hunger. Jetzt aber dient der unerwartete Halt dazu, dass die Kreatur sich beinahe unfreiwillig aufrichtet und den Gullideckel erreicht, durch dessen Schacht sie vor einer Woche gefallen ist. Als ihre weißen Knopfaugen den Rand des Kanalschachts erreichen, fokussiert sie ihren animalischen Blick auf das erste Stück Menschenfleisch in der Nähe. Es ist ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren, das mit ernster Miene in ihrem dreckigen Gesicht neben Lilly herstapft.

Für einen Augenblick duckt sich der Beißer im Kanalschacht wie eine metallene Feder und stößt dann ein Knurren wie ein Motor im Leerlauf aus. Seine toten Muskeln werden durch angeborene Signale zum Zucken gebracht, die von einem reanimierten Nervensystem geschickt werden. Sein schwarzer lippenloser Schlund entblößt jetzt seine moosgrünen Zähne, seine milchig weißen Augen öffnen sich und verschlingen seine Beute förmlich mit einem stechenden und gleichzeitig unheimlich anmutenden, diffusen Blick.

»Ihnen werden früher oder später sicherlich die Gerüchte zu Ohren kommen«, vertraut Lilly ihren unterernährten Zuhörern an, als sie nur wenige Zentimeter am Kanaldeckel vorbeigeht. Die Gruppe setzt sich aus einer einzigen Familie zusammen, den Duprees, bestehend aus einem ausgemergelten Vater um die vierzig, der auf den Namen Calvin hört, seiner heruntergekommenen Frau Meredith und ihren drei Schmuddelkindern Tommy, Bethany und Lucas, die zwölf, neun und fünf Jahre alt sind. Die Duprees sind vorige Nacht in ihrem abgewrackten Ford-LTD-Kombi in Woodbury angekommen. Nicht nur ihr Wagen, auch sie selbst befanden sich in einem völlig desolaten Zustand. Man könnte beinahe sagen, sie waren fast psychotisch vor Hunger. Lilly hat sie unter ihre Fittiche genommen. Woodbury braucht neue Leute – neue Bewohner, frische Geister, die der Stadt helfen, sich selbst neu zu erfinden, und die die schwere Arbeit der Gemeinschaftsbildung nicht scheuen. »Insofern hören Sie es am besten von uns«, fährt Lilly fort. Sie hält in ihrem Georgia-Tech-Kapuzenpullover und ihrer kaputten Jeans inne und legt die Hand auf ihren Sam-Browne-Waffengürtel. Sie ist noch Anfang dreißig, aber ihre Miene verrät, dass sie bereits viel zu viel für ein solch zartes Alter mitgemacht hat. Sie trägt ihr rotbraunes Haar in einem Pferdeschwanz, und ihre haselnussbraunen Augen leuchten auf – der Funke in ihren Pupillen ist teils ihrer Intelligenz, teils aber auch dem durchdringenden Starren eines erfahrenen Kriegers geschuldet. Sie wirft einen Blick über die Schulter und sieht den Siebten in der Runde fragend an. »Möchtest du ihnen nicht vom Governor erzählen, Bob?«

»Mach du ruhig«, erwidert der ältere Mann, während ein Lächeln sein wettergegerbtes, ledriges Gesicht umspielt, das ahnen lässt, wie müde er der Seuche ist. Seine dunklen Haare sind mit Pomade über seine mit tiefen Furchen versehene Stirn geklebt, und er trägt einen Patronengurt über einem mit Schweißflecken übersäten Chambray-T-Shirt. Bob Stookey misst mitsamt Socken einen Meter achtzig, ist aber von der immerwährenden Erschöpfung, die sich bei trockenen Alkoholikern wie ihm oft findet, vornübergebeugt. »Nein, Lilly, Kleines, du bist gerade in Fahrt.«

»Okay … Also … Beinahe ein ganzes Jahr lang«, fängt Lilly an und starrt jedem einzelnen Familienmitglied der Duprees in die Augen, um den Ernst ihrer Worte zu unterstreichen, »stand Woodbury unter dem Joch eines sehr gefährlichen Mannes namens Philip Blake – auch bekannt als der Governor.« Sie atmet halb glucksend, halb vor Abscheu stöhnend aus. »Ich weiß … Die Ironie haben sogar wir begriffen.« Sie holt Luft. »Wie auch immer … Er war nichts weiter als ein Soziopath. Paranoid. Wahnhaft. Aber er war ein Mann der Tat, hat die Sachen angepackt. Ich gebe es zwar ungern zu, aber … für die meisten von uns, zumindest für eine Weile, schien er ein notwendiges Übel.«

»Entschuldigen Sie … Äh … Lilly, nicht wahr?« Calvin Dupree tritt einen Schritt vor. Er ist ein kompakter, hellhäutiger Mann mit den drahtigen Muskeln eines Tagelöhners. Sein Anorak ist so verschmutzt, dass er den Eindruck erweckt, er hätte ihn als Metzgerschürze zweckentfremdet. Seine Augen sind klar, warm und offen – und das trotz der Zurückhaltung und der seelischen Belastung, die er dort draußen in der Wildnis für wer weiß wie lange mitgemacht hat. »Aber ich weiß nicht genau, worauf Sie hinauswollen. Was hat das alles mit uns zu tun?« Er schenkt seiner Frau einen Blick. »Ich meine … Wir sind sehr dankbar für Ihre Gastfreundschaft und so, aber wohin führt das Ganze jetzt genau?«

Die Frau, Meredith, starrt auf den Bürgersteig und kaut auf ihrer Lippe. Sie ist eine unscheinbare kleine Frau in einem kaputten Sommerkleid und hat außer »Hmm« oder »Aha« seit der Ankunft der Duprees nicht mehr als drei Worte von sich gegeben. In der vorigen Nacht hat man sie erst einmal mit etwas Nahrung versorgt, ehe Bob sie medizinisch untersuchte. Danach konnte sie sich endlich ausruhen. Jetzt aber zappelt sie förmlich herum, während sie darauf wartet, dass Calvin mit seinen patriarchalischen Pflichten fertig ist. Hinter ihr schauen die Kinder erwartungsvoll drein. Ein jedes scheint wie gelähmt, verwirrt, zaghaft. Das kleine Mädchen, Bethany, steht nur Zentimeter von dem kaputten Gullideckel entfernt und saugt an ihrem Daumen. In ihren winzigen Armen hält sie eine abgegriffene Puppe, ohne den dunklen Schatten wahrzunehmen, der sich unter ihren Füßen rührt.

Seit Tagen schon glauben die Bewohner Woodburys, dass der Gestank aus der Kanalisation – der verräterische Mief eines Beißers nach verdorbenem Fleisch – von alter Jauche stammt und das schwache Brummen von dem Generator tief im Bauch der Arena kommt. Jetzt aber schafft der Leichnam es, eine krallenartige Hand aus dem Gulli zu strecken. Seine verfaulten Fingernägel schnappen nach dem Saum von Bethanys Kleid.

»Ich verstehe Ihre Frage«, antwortet Lilly und schaut Calvin direkt in die Augen. »Sie haben keine Ahnung, wer wir sind. Aber ich dachte nur … Sie wissen schon. Ich möchte mit offenen Karten spielen. Der Governor hat diese Arena für … für schlimme Sachen benutzt. Gladiatorenkämpfe mit Beißern. Fürchterliche Sachen im Namen der Unterhaltung. Einige der Einwohner sind deswegen noch immer etwas nervös. Aber wir haben Woodbury zurückerobert und möchten Ihnen einen Ort der Zuflucht anbieten – einen Ort, der sicher ist. Wir möchten, dass Sie bei uns bleiben. Für immer.«

Calvin und Meredith Dupree tauschen einen weiteren Blick aus, und Meredith schluckt, ehe sie den Kopf wieder zu Boden senkt. Calvins Miene macht einen merkwürdigen Eindruck – er blickt beinahe wehmütig drein. Er dreht sich zu Lilly um und meint: »Das ist ein großzügiges Angebot, Lilly. Aber ich will auch ehrlich sein …«

Plötzlich wird er von dem rostigen Quietschen des kaputten Gullideckels unterbrochen. Dann ertönt der angsterfüllte Schrei des kleinen Mädchens, und alle drehen sich hastig zu ihr um.

Bob greift nach seiner .357 Magnum.

Lilly sprintet auf Bethany zu, hat bereits die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht.

Die Zeit scheint stehenzubleiben.

Seit dem Ausbruch der Seuche vor knapp zwei Jahren hat sich das Verhalten der Überlebenden ganz langsam, ja fast unmerklich verändert. Das Blutbad, das anfangs noch so neu und nur vorübergehend schien, diente solch reißerischen Schlagzeilen wie DIE TOTEN SIND UNTERWEGS, NIEMAND IST SICHER und IST DAS DAS ENDE? Langsam, aber sicher wurde es zu einer Routine, fand statt, ohne dass jemand auch nur einen Gedanken darüber verlor. Die Überlebenden perfektionierten ihre Tötungskünste, stachen die sprichwörtlichen Furunkel der Apokalypse ohne große Planung oder Zeremonie auf, indem sie das Gehirn eines wütenden Kadavers mit allem zerstörten, was ihnen gerade in die Hände kam – einer Schrotflinte, einem Werkzeug, einer Stricknadel, einem kaputten Weinglas, einem Erbstück vom Kaminsims –, bis selbst der grausamste Akt zur Alltäglichkeit wurde. Trauma verliert sämtliche Bedeutung, Kummer, Leid und Verlust werden allesamt in den hintersten Gehirnfalten versteckt, bis eine kollektive geistige Taubheit einsetzt. Soldaten auf Einsätzen kennen die Wahrheit hinter dieser Lüge. Polizisten bei der Mordkommission ebenso. Krankenschwestern in der Notaufnahme und Rettungssanitäter – sie alle kennen dieses schmutzige kleine Geheimnis: Es wird nicht leichter. Vielmehr lebt es in einem weiter. Jedes Trauma, jede widerwärtige Szene, jeder sinnlose Tod, jeder animalische Akt blutgetränkter Gewalt im Namen der Selbsterhaltung sammelt sich tief im Herzen, bis ihr Gewicht untragbar wird.

Lilly Caul hat diese Grenze der Belastbarkeit noch nicht erreicht – was sie der Dupree-Familie innerhalb der nächsten paar Sekunden beweisen wird –, aber sie rückt immer näher. Denn auch ihre Seele steht lediglich einige Flaschen billigen Fusels und ein paar schlaflose Nächte entfernt vor der völligen Zerstörung. Und genau deswegen braucht sie neues Leben in Woodbury. Es mangelt ihr an menschlichem Kontakt, an einer Gemeinschaft, an Wärme und Liebe und Hoffnung und Gnade – sie muss sie haben, ganz gleich wie. Und deswegen stürzt sie sich auf den stinkenden Leichnam des Landarbeiters, der sich jetzt aus seiner Höhle erhebt und nach dem Saum des kleinen Dupree-Mädchens schnappt, mit einer schier unmenschlichen Entschlossenheit.

Lilly überwindet die fünf Meter zwischen ihr und dem kleinen Mädchen in zwei großen Sätzen. Gleichzeitig zückt sie ihre .22er Kaliber Ruger SR aus dem Miniholster auf ihrem Rücken. Die Waffe ist mit einem Rückstoßlader ausgestattet, und Lilly trägt sie stets ungesichert bei sich. Das Magazin ist mit acht Kugeln im Magazin und einer im Lauf immer voll geladen, um stets einsatzbereit zu sein. Die Ruger ist zwar nicht eine der leistungsfähigsten Waffen, aber groß genug, um jeden Beißer ins Jenseits zu blasen. Jetzt zielt sie mitten im Satz auf den Kadaver, ihre Sicht zum Tunnelblick reduziert, während sie auf das kreischende Mädchen zuprescht.

Die Kreatur aus dem Abwasserkanal hat eine knöcherne Hand in den Saum des Kleids gesteckt und zerrt nun daran, bis die Kleine ihr Gleichgewicht verliert und der Länge nach zu Boden fällt. Sie brüllt und schreit, versucht davonzukrabbeln, aber das Monster zerrt an ihrem Kleid und beißt knapp an ihren Turnschuhen vorbei. Seine schleimigen Schneidezähne klappern wie Kastagnetten und nähern sich beharrlich dem zarten Fleisch von Bethanys linker Ferse.

In dem panischen Moment, ehe Lilly ein Höllenfeuer loslässt – einem traumartigen Stehenbleiben der Zeit, an das sich die Leute im Laufe der Seuche beinahe gewöhnten –, zucken die restlichen Erwachsenen zusammen und ringen gemeinsam nach Atem. Calvin tastet panisch nach seinem Klappmesser, Bob greift nach seiner .357-Kaliber-Pistole, Meredith hält sich zu Tode erschrocken die Hand über den Mund, und die anderen zwei Kinder springen mit weit aufgerissenen Augen zurück.

Lilly steht jetzt kurz vor dem Beißer, hat die Ruger hochgerissen und zielt auf den Kadaver, während sie gleichzeitig das kleine Mädchen mit ihrer Stiefelspitze zur Seite in Sicherheit schiebt und den Lauf wenige Zentimeter vor dem Schädel des Beißers in Position bringt. Die Hand des Monsters krallt sich unaufhörlich am Saum des Kleids fest, sodass der Stoff reißt, als das kleine Mädchen über den Boden kullert.

Vier rasche Schüsse explodieren wie platzende Ballons, und die Kugeln vergraben sich im Kopf des Beißers.

Eine Nebelwolke aus Blut breitet sich um den Kadaver aus, und keksgroße Teile von Gewebe und Hirnknochen schießen aus seinem Schädel. Der ehemalige Landarbeiter sinkt zu Boden. Unter dem zerfetzten Kopf breitet sich eine schwarze Blutlache in alle Richtungen aus, und Lilly weicht zurück, blinzelt, ringt nach Luft und versucht, nicht in die sich stetig ausbreitende Pfütze verseuchten Blutes zu treten. Sie nimmt den Finger vom Hahn und sichert die Waffe.

Bethany schreit noch immer wie am Spieß. Lilly sieht, wie sich die Hand des Beißers nach wie vor krampfhaft am Saum ihres Baumwollkleids festhält – die Totenstarre hat bereits eingesetzt. Die Kleine dreht und windet sich, schnappt nach Luft, als ob sie nach so vielen Monaten des Schreckens nicht mehr zu weinen in der Lage ist. Lilly beugt sich über sie und flüstert: »Ist schon gut, Kleines. Schau nicht hin.« Lilly legt die Ruger zu Boden und nimmt Bethanys Kopf in die Arme. Die anderen scharen sich um sie. Meredith kniet sich hin, während Lilly mit dem Stiefel auf die tote Hand stampft. »Nicht hinschauen.« Sie reißt den Saum frei. »Nicht hinschauen, Kleines.« Endlich beginnen die Tränen über Bethanys Wangen zu kullern.

»Du darfst nicht hinschauen«, wiederholt Lilly flüsternd, als ob sie zu sich selbst spricht.

Meredith zieht ihre Tochter an sich, umarmt sie und flüstert ihr dann ins Ohr: »Ist schon gut, Bethany. Ich bin da … Ich bin da.«

»Es ist vorbei.« Lilly spricht ganz leise, als ob die Worte eher für sie selbst als für die anderen bestimmt sind. Sie stößt einen gequälten Seufzer aus. »Nicht hinschauen«, wiederholt sie erneut.

Aber Lilly schaut hin.

Eigentlich sollte sie die Beißer, die sie ins Jenseits geschickt hat, nicht mehr anblicken, aber sie kann der Versuchung einfach nicht widerstehen. Wenn das Gehirn endlich seinen Geist aufgibt und das Düstere aus ihren Gesichtern verschwindet und dem leeren Schlaf des Todes Platz macht, kann Lilly erst erahnen, wen sie da vor sich hatte. Jetzt sieht sie einen Landarbeiter mit ehrgeizigen Träumen, der vielleicht die Hauptschule besucht hatte, um dann den Bauernhof seines kränkelnden Vaters übernehmen zu müssen. Sie sieht Polizisten, Krankenschwestern, Briefträger, Verkäufer und Mechaniker. Sie sieht ihren Vater, Everett Caul, wie er zwischen dem Seidenstoff in seinem Sarg liegt und auf die Beerdigung wartet – friedlich und gleichmütig. Sie sieht all ihre Freunde und Bekannten, die seit Anbeginn der Seuche gestorben waren: Alice Warren, Doc Stevens, Scott Moon, Megan Lafferty und Josh Hamilton. Sie kann nicht umhin, an ein weiteres Opfer zu denken, als eine raue Stimme sie aus ihren Gedanken reißt.

»Lilly, Kleines?«, erkundigt sich Bob. Seine Stimme ist schwach, als ob er aus großer Entfernung mit ihr spricht. »Alles klar bei dir?«

Für einen letzten Augenblick – sie starrt noch immer den Landarbeiter an – taucht Austin Ballard vor ihrem inneren Auge auf – dieser androgyne junge Mann mit dem Aussehen eines Rockstars und seinen langen Wimpern, wie er sich auf dem Schlachtfeld opfert, um Lilly und der halben Bevölkerung Woodburys das Leben zu retten. War Austin Ballard der einzige Mann, den Lilly wirklich geliebt hat?

»Lilly?«, fragt Bob etwas lauter, und die Sorge klingt in seiner Stimme mit. »Alles klar?«

Lilly atmet gequält aus. »Es geht mir gut … Wirklich.« Plötzlich richtet sie sich auf, nickt Bob zu und liest ihre Waffe vom Boden auf, um sie wieder im Holster verschwinden zu lassen. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen und richtet das Wort an die Duprees: »Ist bei Ihnen alles okay? Bei euch, Kinder?«

Die zwei Dupree-Nachkömmlinge nicken langsam und starren Lilly an, als ob sie gerade den Mond mit einem Lasso eingefangen hätte. Calvin steckt sein Messer wieder in die Scheide, kniet sich dann hin und streichelt Bethanys Haare. »Geht es ihr gut?«, fragt er seine Frau.

Meredith nickt ihm kurz zu, sagt aber kein Wort. Ihre Augen wirken glasig.

Calvin seufzt, richtet sich wieder auf und geht dann zu Lilly, die bereits den Kadaver zusammen mit Bob unter einen Überbau zerrt, damit er später entsorgt werden kann. Dann wischt sie sich die Hände an der Hose ab und richtet sich an den Familienvater. »Es tut mir leid, dass Sie das mitansehen mussten«, entschuldigt sie sich bei ihm. »Wie geht es dem Mädchen?«

»Die erholt sich schon wieder. Sie ist sehr willensstark«, erklärt Calvin und starrt Lilly an. »Und wie geht es Ihnen?«

»Wie es mir geht?« Lilly stöhnt. »Äh, gut. Danke.« Erneut atmet sie gequält aus. »Aber ich habe die Nase voll davon.«

»Verstehe ich gut«, stimmt er ein und neigt den Kopf zur Seite. »Trotzdem, Sie können ziemlich gut mit der Waffe umgehen.«

Lilly zuckt mit den Schultern. »Nun, so gut nun auch wieder nicht«, erwidert sie und schaut über das Städtchen. »Man muss immer die Augen offen halten. Wir haben während der letzten Wochen recht viel mitgemacht, eine ganze Seite der Barrikade verloren. Und dann gibt es immer diese Nachzügler; aber keine Angst, wir kriegen das schon wieder unter Kontrolle.«

Calvin lächelt sie müde an. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«

Lilly bemerkt etwas Glänzendes, das um Calvins Hals hängt – ein kleines goldenes Kreuz. »Also, was halten Sie davon?«, fordert sie ihn unverblümt auf.

»Wovon?«

»Hierzubleiben und Ihrer Familie ein Zuhause zu geben. Was halten Sie davon?«

Calvin Dupree holt tief Luft und lässt seinen Blick von seiner Frau zu seinen Kindern schweifen. »Ich will Sie nicht anlügen … Die Idee gefällt mir.« Nachdenklich fährt er mit der Zunge über die Lippen. »Wir sind schon viel zu lange unterwegs, ohne einen festen Wohnsitz. Die Kinder haben sehr viel durchmachen müssen.«

Lilly schaut ihm in die Augen. »Hier in Woodbury sind sie sicher, können ein glückliches, normales Leben führen … Mehr oder weniger.«

»Ich sage ja gar nicht Nein.« Calvin erwidert ihren Blick. »Ich will doch nur … Geben Sie uns etwas Zeit, um darüber nachzudenken. Wir müssen beten.«

Lilly nickt. »Selbstverständlich.« Kurz murmelt sie den letzten Satz leise vor sich hin: ›Wir müssen beten‹, und fragt sich, wie es wohl wäre, einen Bibeltreuen unter ihnen zu haben. Ein paar Lakaien vom Governor haben so getan, als ob sie Gott auf ihrer Seite hätten, haben immer gefragt, was Jesus jetzt wohl tun würde, und von verschiedenen Fernseh-Priestern geschwärmt. Lilly hat noch nie viel für Religion übriggehabt. Klar, seit Ausbruch der Seuche hat es auch Momente gegeben, in denen sie still und leise vor sich hin betete, aber das zählt für sie nicht wirklich. Wie lautet der Spruch noch mal? »Im Schützengraben gibt es keine Atheisten.« Sie blickt in Calvins graugrüne Augen. »Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.« Sie lächelt. »Schauen Sie sich um, lernen Sie unser Städtchen kennen …«

»Das wird nicht notwendig sein«, unterbricht eine Stimme sie, und alle drehen die Köpfe zu der unscheinbaren Frau, die neben dem noch immer bebenden Kind kniet. Meredith Dupree fährt mit der Hand über Bethanys Haare und starrt weiterhin auf ihre Tochter, während sie fortfährt: »Wir möchten uns für Ihre Gastfreundschaft bedanken, aber wir brechen heute Nachmittag wieder auf.«

Calvin senkt den Blick. »Aber Schatz, wir haben doch noch nicht einmal besprochen, was wir als Nächstes …«

»Da gibt es nichts zu besprechen.« Die Frau schaut auf, und ihre Augen funkeln vor Entrüstung. Ihre aufgeplatzten Lippen beben, und ihre blasse Haut ist errötet. Sie gleicht einer zerbrechlichen Porzellanpuppe mit einem feinen Haarriss. »Wir machen uns wieder auf den Weg.«

»Liebling …«

»Die Sache ist beschlossen.«

Die darauffolgende Stille lässt den peinlichen Moment beinahe surreal erscheinen. Der Wind streicht über die Baumwipfel und pfeift durch die Gerüste und Tribünen der Arena, während der tote Landarbeiter still und leise wenige Meter von ihnen entfernt vor sich hin rottet. Jeder in Merediths unmittelbarer Nähe, also auch Bob und Lilly, haben den Kopf vor stillschweigender Verlegenheit gesenkt, bis Lilly die Stille unterbricht: »Nun, sollten Sie es sich dennoch anders überlegen, können Sie trotzdem gerne hierbleiben.« Sie wartet vergeblich auf eine Antwort und setzt dann ein schiefes Lächeln auf. »Mit anderen Worten, ich ziehe mein Angebot nicht zurück.«

Lilly und Calvin tauschen eine Sekunde lang einen verstohlenen Blick aus, und zwischen ihnen fließen unzählige Informationen – manche gewollt, andere ungewollt –, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort in den Mund nehmen. Aus Respekt bewahrt Lilly Ruhe, denn sie weiß, dass dieses Thema zwischen den beiden Neuankömmlingen noch lange nicht ausdiskutiert ist. Calvin dreht sich zu seiner hibbeligen Frau um, die sich noch immer um ihr Kind kümmert.

Meredith Dupree gleicht einem Phantom. Ihr vor Schmerz geplagtes Gesicht ist so fahl und abgespannt, dass man den Eindruck gewinnt, sie verschwinde langsam, aber sicher von der Erdoberfläche.

Zu diesem Zeitpunkt kann niemand es ahnen, aber diese altmodische, winzige Hausfrau – völlig unscheinbar in jeder nur erdenklichen Hinsicht – wird sich als zweite und viel tiefgreifendere Auslöserin eines Ereignisses entpuppen, mit dem Lilly und die Leute aus Woodbury früher oder später fertigwerden müssen.