Barbara Edelmann, geboren in der Unterallgäuer Kreisstadt Mindelheim, lebt seit Jahrzehnten glücklich und zufrieden im Allgäu und möchte eigenen Aussagen zufolge »nirgendwo anders auf der Welt sein«. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen verarbeitet sie in ihren Allgäu Krimis.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: koco/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Christine Derrer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-264-9

Allgäu Krimi

Originalausgabe

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Dieses Buch widme ich Herrn Wolfgang Sauter,
ohne dessen unbezahlbare Hilfe »Mordsbraut«
nie geschrieben worden wäre.

Montagmittag, Güthlerhof

In der blitzsauberen Küche des Güthlerhofes roch es verführerisch nach Kraut und Wammerl. Trotz der brütenden Junihitze hatte die Hausherrin kräftig aufgekocht, denn ihre Männer brauchten Fleisch – die gaben sich mit ein paar Dampfnudeln oder Maultaschen nicht zufrieden und zogen zur Not selbst los, um sich einen Braten im Wald zu holen, wenn ihnen das Essen nicht passte. All das hatte die leidgeprüfte Martha Güthler schon erlebt und wollte es nicht mehr darauf ankommen lassen, denn ihr Mann, der Sepp, war ein – wie man im Allgäu sagt – »Zorabinkel«, was von dem Wort »Zorn« abgeleitet ist.

Der Güthlerhof, eines der schönsten Gebäude im Landkreis, lag inmitten weiter grüner Wiesen etwas außerhalb von Legau, dem schmucken, prosperierenden Dorf im Herzen des Unterallgäus. Seit vielen Generationen im Familienbesitz, machte das Anwesen für jeden Fremden, der sich ihm zufällig näherte, beste Werbung für »Urlaub auf dem Bauernhof«.

Dunkelgrüne aufwendig bemalte Holzläden zierten die schneeweiße Fassade, und an jedem Fenster rankte sich ein Meer aus verschiedenfarbigen Petunien dem Besucher entgegen, von der Hausherrin liebevoll gepflegt und gedüngt. Neben dem Haupthaus in den angeschlossenen Stallungen war nur gelegentlich leises Muhen zu vernehmen.

Der ganze Hof zeugte von Fleiß, Sauberkeit und unermüdlicher Arbeit. Nicht umsonst wurden die Güthlers von vielen im Dorf beneidet, und Sepp Güthler hatte schon oft lukrative Verkaufsangebote erhalten, aber jedes Mal herzlich darüber gelacht und anschließend den Vogel gezeigt. Nie im Leben würde er sich von seinem Schmuckstück trennen, das wurde jedem potenziellen Käufer mit mehr oder weniger sanftem Nachdruck klargemacht.

Jetzt, zur Mittagszeit, konnte man nicht einmal die Stallkatzen auf dem Asphalt sitzen und sich in der Wärme räkeln sehen, denn die Junisonne brannte mit unbarmherziger Kraft auf grün gestrichene Blumenkübel und die frisch lackierte Holzbank neben der Tür. Drinnen im Haus war es angenehm kühl, nur in der Küche nicht, wo Martha seit mittlerweile einer Stunde hektisch mit Töpfen und Pfannen klapperte, um pünktlich das Mittagessen auf den Tisch zu bringen.

»Wo ist der Vater?« Bertram Güthler, ein hochaufgeschossener schlanker Mann Mitte dreißig, der sich beiläufig durch das dunkelblonde verstrubbelte Haar fuhr und seine Arbeitsmütze achtlos neben sich auf die hölzerne Eckbank warf, sah seine Mutter fragend an.

»Der Papa ist gewiss noch im Stall. Da geht jetzt besser keiner rein«, entgegnete Martha, eine schlanke Frau Ende fünfzig, unter deren blauem Kopftuch sich ein paar von Küchendünsten gekräuselte Locken vorwitzig in die Stirn ringelten. Martha war drahtig mit harten, wie eingekerbt wirkenden Gesichtszügen, vor allem um die Mundwinkel. Besonders um die tief in den Höhlen liegenden hellwach funkelnden Augen hatten sich markante Kummerfalten eingegraben.

Aus dem Stall war weiterhin kein Mucks zu vernehmen, auch nicht von besagtem Hausherrn. Normalerweise hörte man Sepp Güthler, ehe man ihn sah, denn er hatte immer etwas zu schimpfen: die Regierung, das Wetter, sein missratener Sohn, seine aufmüpfige Ehefrau, störrische Viecher und das ganze Leben an sich gaben ihm täglich frischen Stoff für seine Wutausbrüche. Er fand ständig neue Begründungen, warum dies die schlechteste aller Welten war, und verkündete das gern am Stammtisch im »Mohren« lautstark, was des Öfteren unschöne Folgen wie eine zünftige Wirtshausrauferei nach sich gezogen hatte. Aus den meisten tätlichen Auseinandersetzungen war Sepp erstaunlicherweise, trotz seines etwas fortgeschrittenen Alters, als ungeschlagener König hervorgegangen, denn er wusste seine Fäuste nicht nur zum Heurechen zu gebrauchen.

Angeblich werden die Schwaben zwar mit fünfzig gescheit, aber das trifft bei Weitem nicht auf alle zu. Manche bleiben unbelehrbar, und der Güthler Sepp gehörte zweifelsohne dazu.

»Der Vater müsst längst fertig sein«, sagte Bertram. »War er so lang auf der Jagd?«

Martha schüttelte nachdenklich den Kopf. »Keine Ahnung. Weg ist er ganz früh. Normalerweise kommt er bis achte zurück. Ich sollt den Stall heut für ihn erledigen, aber ich hab zum Doktor müssen. Und deine Tusnelda macht’s ja sowieso net.«

»Vielleicht müsstest ihn zum Essen holen«, murmelte Bertram. »Sonst mault er rum, wenn’s bloß lauwarm ist. Der ist schlecht genug drauf.«

»Ach, lass ihn. Hat wahrscheinlich heut früh nix erwischt.« Martha stellte mit einem lauten Knall den großen gusseisernen Topf, aus dem es köstlich nach geschmortem Sauerkraut roch, auf den Tisch.

»Schon wieder Wammerl?« Bertram rümpfte die Nase. »Und der Vater erwischt doch nie was. Herrgott, wie ham die dem überhaupt den Waffenschein geben können? Der schießt sich noch amal den Fuß weg.«

Sepp Güthler, Vollerwerbslandwirt, Patriarch, Dauernörgler, leidenschaftlicher Jäger und auf einem Auge blind wie ein Maulwurf, traf tatsächlich nie etwas Kleineres als einen afrikanischen Elefanten, die allerdings im Unterallgäu eher selten zu finden waren. Vor einigen Jahren wurde bei ihm eine vermutlich dem hohen Blutdruck geschuldete deutliche Verschlechterung seiner Sehschärfe diagnostiziert, aber davon ließ sich jemand wie Sepp nicht abhalten, denn seiner Meinung nach lag ihm die Jagd im Blut.

Immerhin erzielte Sepp gelegentlich einen Achtungserfolg, denn vor Jahren hatte er einmal einen Hasen erwischt, der vermutlich genau wie er eigentlich eine Brille gebraucht hätte und sich eines Sonntagmorgens dummerweise vor Sepps Ansitz verirrte.

Hase und Jäger starrten sich damals eine Schrecksekunde lang stumm an, bevor Sepp abdrückte und das tote Karnickel anschließend stolzgeschwellt zu Martha nach Hause brachte, die es wortlos häutete, ausnahm, abhing und briet. Samt allen darin enthaltenen Schrotpatronen als kleine Revanche, denn sie hasste es, ihren jähzornigen Mann allein mit einer gefährlichen Flinte im Wald zu wissen. Sie konnte jedes Mal nur hoffen, dass alles gut ging. Es war ein Kreuz mit den Männern, vor allem mit bewaffneten.

Sepp schmökerte sich seit seiner Kindheit durch sämtliche Karl-May-Bände und kam nun von der unstillbaren Leidenschaft für das Schießen von Schwarz- und Rotwild nicht mehr los. Allwöchentlich pirschte er stark kurzsichtig als Gefahr für die Volksgesundheit und martialisch gekleidet durch den Wald, immer auf der Suche nach Guido, der Wildsau.

Jeder im Dorf und natürlich alle Mitglieder seiner Familie wussten um diese Besessenheit, aber es muss zu Sepps Ehrenrettung gesagt werden, dass es sich bei Guido um einen besonders boshaften Vertreter der Gattung des Schwarzwildes handelte, denn Guido war eine Basse, also ein alter, starker Keiler. Ein wie Sepp in die Jahre gekommenes männliches Wesen, und genau wie dieser war Guido mit jedem Jahr destruktiver und perfider geworden.

Es war noch nicht einmal zehn Jahre her, dass ein alteingesessener Legauer, Schucki Hermann, zusammen mit ein paar anderen Kiffern an einem herrlich romantischen Lagerfeuer am Illerufer saß und ins Gebüsch trat, um sich zu erleichtern. Dort wurde er von Guido, dem bösen Keiler, den er versehentlich aufgeschreckt hatte, so brutal über den Haufen gerannt, dass er sich an einem Fichtenstumpf den Kopf aufschlug.

Auch Sepp war von Guido geärgert worden, wenngleich auf andere unschöne Weise: Die Wildsau wühlte nämlich zusammen mit einer ganzen Rotte jährlich seine Kartoffeläcker um und wurde mit den Jahren immer angriffslustiger. Manchmal, wenn Sepp auf seinem Ansitz saß, glaubte er boshaftes Grunzen zu hören, war sich aber nicht sicher, da ihn seit zwei Jahren zusätzlich noch ein Tinnitus plagte, den er ebenfalls der Wildsau zuschrieb, was seinen Hass auf dieses Mistviech nur noch vergrößerte.

Einen einzigen Zufallstreffer konnte Sepp in all der Zeit bei Guido landen: Er schoss ihm versehentlich einen Teil des linken Ohres weg, was Guidos Resozialisierung nicht gerade förderte, denn von dem Moment an, wo er sich mit schmerzendem Ohr in ein Erdloch verkriechen musste, wurde er noch gemeiner.

Mit Sepp und Guido verhielt es sich wie mit Captain Ahab und Moby Dick: Die Geschichte würde erst vorbei sein, wenn einer von ihnen beiden tot war.

Martha hob den Deckel des Topfes und legte ihn auf die Wachstuchdecke. Dabei runzelte sie die Stirn. Seit Langem hoffte sie, dass das Glück Sepp einmal hold wäre und sich die Wildsau eventuell vor dem Ansitz aufbauen würde, um sich erschießen zu lassen. Vielleicht wäre ihr Ehemann dann ein bissle leichter auszuhalten.

Sie drehte sich um, ging zum Herd, holte eine riesige Pfanne mit Schupfnudeln und stellte sie neben den Topf. Dann sah sie sich um und zeigte auf den leeren Platz neben ihrem Sohn.

»Wo ist denn dein Trampel?«, fragte sie barsch und strich sich eine Strähne aus der Stirn, die sich aus dem Knoten gelöst hatte. »Normalerweise ist sie doch die Erste, die nach Essen schreit. Oder ist sie wie gewöhnlich beim Einkaufen?«

»Trampel« war im Hause Güthler die offizielle Bezeichnung für Bertrams nagelneue Freundin Corinna, nach der er beinahe fünfzehn Jahre gesucht hatte. Und anstatt froh zu sein, dass der Bub endlich eine gefunden hatte, die seine niederen und höheren Triebe befriedigte, waren Martha und Sepp sauer, denn Corinna war stinkfaul. Und das konnte Martha als Landwirtin und Mutter überhaupt nicht leiden.

»Mama, red net so von meiner zukünftigen Frau. Die Corinna kommt gleich«, antwortete Bertram unwirsch. »Muss noch ein paar Sachen verräumen. Und ja, in Memmingen ist sie gewesen heut. Braucht dringend ein paar Sachen, die alten passen nicht mehr. Sie wachst in letzter Zeit aus allem raus.«

»Ja, des sieht man, vor allem in die Breite«, meinte Martha grimmig.

Bertram nahm sich eine Scheibe Fleisch. Montags gab es Schupfnudeln und Kraut mit Wammerl, und wenn’s, wie man auf dem Land so schön sagt: »Krotten – also Kröten – hagelt«, was eigentlich nur bedeutet: unter allen Umständen, ganz gleich, was kommt.

»Riecht gut, Mama.« Bertram schnüffelte, machte aber keine Anstalten, mit dem Essen anzufangen.

»Soso, einkaufen war sie, dann schau mal her.« Martha erhob sich abrupt und ging zum Kühlschrank. Dort öffnete sie die Tür und riss sie weit auf. Gähnende Leere schlug ihr entgegen.

»Nix. Siegst des? Alles weg. Am Samstag war ich beim Metzger im Edeka in Legau. Achthundert Gramm Aufschnitt hab ich geholt. Fast a Kilo!« Das klang anklagend. Martha schnaufte schwer.

»Nix ist mehr übrig. Bloß des Gemüs. Des langt s’ ja net an, weil des müsst man kochen. Frisst alles leer. Und wenn s’ einkaufen war, wieso bringt s’ dann net amal a Wurst mit? Die Frau hat an Bandwurm. Mindestens einen.« Sie schlug die Kühlschranktür zu und setzte sich ächzend an den Tisch.

»Ruhig, Mama. Hör jetzt endlich auf.« Bertram nahm sich einen Schwung Schupfnudeln aus der Pfanne und stocherte mit der Gabel darin herum.

Die Küchentür öffnete sich, und eine sehr mollige Frau Mitte dreißig mit einem flotten hellbraunen Kurzhaarschnitt trat beschwingt in den Raum. Sie trug zu enge Jeans und darüber eine weite Tunika mit Verzierungen.

»Ah, endlich Essen. Hab so einen Hunger«, rief Corinna und ließ sich auf die Eckbank neben Bertram fallen, die bedenklich knarrte. »Schatzi, hab ein paar ganz tolle Sachen gefunden in Memmingen.«

»Ja, aber den Weg zum Bankomat oder zum Metzger net«, knurrte Martha und lud sich ein paar Schupfnudeln auf den Teller. »Könntest ruhig mal in den Kühlschrank reintun, was du rausfrisst. Mir sind kein Hotel.«

»Mama, du kannst net so reden mit meiner zukünftigen Frau«, begehrte Bertram auf. »Die Corinna ist schon recht. Alleweil für mich da.«

»Alleweil trifft’s gut«, entgegnete Martha bissig. »Im Stall seh ich sie net. Auf dem Feld auch net. Wieso musst du immer allein raus? Bricht ihr doch kein Zacken aus der Krone, wenn sie mal beim Rechen hilft, oder?«

Sie betrachtete Corinna aus zusammengekniffenen Augen. Die blieb davon völlig unbeeindruckt und langte kräftig zu. Auf ihrem Teller häufte sich eine riesige Portion Schupfnudeln mit Kraut. Dann stieß sie mit der Gabel in den Topf in Richtung Wammerl, wurde aber von Martha aufgehalten.

»Nix da! Andere wollen auch noch was. So groß kann der Hunger net sein, hast ja nix geschafft.«

»Pah, Einkaufen ist harte Arbeit«, sagte Corinna kaltblütig. »Hast ja keine Ahnung. Die meisten Läden ham ja bloß was für die Hungerhaken. Wennst mal was brauchst in XXXL, kriegst nirgendwo was.«

»Machst FDH. Tut unserem Geldbeutel gut«, fauchte Martha, die sich in Corinnas Gegenwart nur schwer zurückhalten konnte, denn ihr geliebter Sohn war dieser überdimensionierten Sirene auf den Leim gegangen und befand sich in deren Fängen. Sie als Mutter verlor täglich mehr von ihrem Einfluss, was ihr gar nicht passte.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Alle horchten auf.

»Wer ist denn des? Wer stört?«, rief Bertram mit vollem Mund.

Die Tür öffnete sich. Im Rahmen stand ein stattlicher Mann Anfang sechzig mit vollem, nur teilweise von grauen Strähnen durchsetztem dunklem Haar und strahlend blauen Augen. Es war ihm immer noch anzusehen, dass er in jungen Jahren ein äußerst attraktiver Bursche gewesen sein musste.

»Bei euch geht’s ja zu. Mahlzeit«, grüßte er und schnupperte. »Ah, Schupfnudeln. Auf dich kann man sich verlassen, Martha. Alleweil am Arbeiten, wie es sich gehört für eine anständige Bäuerin.« Er nickte ihr freundlich zu.

»Wollt dem Sepp bloß schnell die Stichsäg bringen. Hat er mir gestern geborgt. Der Zaun ist ausgebessert. War wohl die Wildsau dran. Die macht alles hin.«

»Wennst keinen großen Hunger hast, isst halt was mit. Der Sepp müsst gleich kommen.« Martha stand auf und holte einen Teller aus dem Schrank.

Heinz Huber setzte sich, nicht ohne Bertram einen fragenden Blick zuzuwerfen, der ihn aber ignorierte. Corinna reagierte gar nicht und schien mit ihren Nudeln beschäftigt.

»Ich hab keinen Hunger. Meinetwegen, anstandshalber.« Heinz nahm sich eine kleine Portion aus der Pfanne.

Das karierte Arbeitshemd spannte sich leicht über seinem nicht allzu großen Bauch. Heinz war zweifelsohne ein äußerst ansehnliches Mannsbild, was etliche Damen im Umkreis gern bestätigten, die ihn aber nie zu fassen bekamen, denn er machte sich rar, seitdem seine Dora vor zehn Jahren an Krebs gestorben war. Er bewirtschaftete einen sehr erfolgreichen landwirtschaftlichen Biobetrieb mit Hofladen. Die Grundstücksgrenze vom Güthlerhof und seine eigene lagen beieinander, was manchmal zu Reibereien führte, weil Sepp es mit der Schutzzone zwischen beiden Flurstücken nicht so genau nahm und öfter mal mit dem Güllewagen einen Schlenker machte, ob absichtlich oder versehentlich, das wusste keiner so genau. Heinz’ Laden, in dem er Lebensmittel aus dem nahen Umkreis verkaufte, brummte, und an manchen Tagen konnte er sich vor Kundschaft kaum retten.

Die Güthlers benutzten zusammen mit Heinz Huber den gleichen Zufahrtsweg zu ihren Höfen, der sich erst einen Kilometer vor den beiden Anwesen gabelte. Deshalb kam es öfter vor, dass sich zerstreute Städter mit dem Bedürfnis nach Ziegenkäse oder Dinkelnudeln bei der Anfahrt zum Hofladen verirrten und dann versehentlich auf dem Güthlerhof landeten. Dort fragten sie eingeschüchtert nach dem Weg und bekamen mit viel Glück lediglich eine patzige Antwort, denn Sepp hatte schon einige entsetzte Biohof-Kunden mit der Mistgabel vom Hof gejagt. Vor allem am Nachmittag war bei Heinz im Laden Hochbetrieb, und Sepp beobachtete auf seinem Traktor erstaunt Scharen von jungen und älteren Leuten, die auf dem Weg zum Hofladen waren und alle äußerst zufrieden aussahen, wenn sie wieder auf die gemeinsame Zufahrt zur Hauptstraße abbogen und in ihre Apartments und Eigentumswohnungen eilten, die irgendwo im Grüngürtel der nächstgelegenen Stadt lagen.

Heinz fuhr offensichtlich mit seinem Geschäftsmodell und ständig wechselnden Neuwagen vom edelsten Autohaus in Memmingen gut, was ihm den Neid aller Bekannten sicherte. Es ging ihm anscheinend ausgezeichnet, nur mit einer Frau sah man ihn nie. Allerdings wurde in letzter Zeit verstärkt gemunkelt, denn Anita Hoff, geborene Walter, ein rassiges Weibsbild mit üppigen Proportionen und die einzige übrig gebliebene Sexbombe von Legau, war seit einiger Zeit in seinem Hofladen als Verkäuferin tätig.

Täglich beugte sie sich in eng gezurrten Miedern zu tief über die Verkaufstheke und hatte sich in den letzten Wochen dreimal auf dem Weg zum Kühlfach den Fuß verknackst, weil sie selbst als Verkaufskraft in einem Bauernhofladen nicht von ihren Pumps mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen lassen konnte. Jeder im Dorf wusste, dass Anita hoffte, sich Heinz zu angeln, denn er war eine hervorragende Partie, ging regelmäßig zum Gottesdienst und hatte einen sanftmütigen Charakter. Alle verfolgten gespannt Anitas Bemühungen um Beachtung, die aber an Heinz abzuprallen schienen, als wäre er mit Teflon beschichtet, denn er war offenbar gegen jeden offerierten Busen immun und hatte wohl ganz andere Sorgen.

Gelegentlich verirrte er sich in den »Mohren« in Legau und brütete dort wenig gesprächig über seinem Bier, weshalb er im Ort den Ruf eines Sonderlings innehatte. Niemand nahm es ihm übel, denn er war ansonsten immer hilfsbereit und packte überall mit an, wo Not am Mann war. Nicht einmal Hansi Seitz, der streitbare Ehemann von Ernestine, der Wirtin des »Mohren«, wusste etwas an ihm auszusetzen, und das wollte etwas heißen.

Heinz hatte angefangen zu essen. Einmal nuschelte er zwischen zwei Bissen: »Jetzt sag amal, wo bleibt denn der Sepp? Muss bald wieder weg.«

»Ach, lass ihn«, meinte Martha. »Weißt doch, wie er ist. War heut draußen wegen der Wildsau und ist jetzt hundertprozentig stinksauer. Und dann lasst er’s an uns aus, vor allem am Berti.«

Bertram sah nicht von seinem Teller auf, denn es stimmte leider. Von Vaterliebe war bei Sepp nicht viel zu spüren, denn nichts und niemand konnte es ihm recht machen, schon gar nicht der fleißige Bertram, der an manchen Tagen nicht mehr wusste, wo ihm vor lauter Arbeit der Kopf stand. Eigene Ideen durfte er ohnehin nicht durchsetzen, und den Spruch von wegen »Solange du deine Füß unter meinen Tisch stellst« hatte er in den letzten dreißig Jahren bis zum Erbrechen gehört.

»Jähzorniger alter Depp, der«, grummelte Bertram zwischen zwei Bissen. »Alleweil hat er recht und die anderen net. Alls weiß er besser.«

»Weil er viel ja tatsächlich besser weiß«, sagte Martha. »Gescheit ist der Sepp. Bloß schießen kann er net. Was hast denn da überhaupt im Gesicht?«

Plötzlich aufmerksam geworden, musterte sie ihren Sohn scharf. Neben seiner linken Augenbraue zeichnete sich ein feuerroter Abdruck in Form eines Halbkreises ab. Die Haut daneben war blutunterlaufen.

»Bin gestolpert und blöd gefallen«, gab Bertram ausweichend Auskunft. »Mit dem Kopf ans Eck vom Ladewagen.«

»So. Gestolpert.« Martha war skeptisch. »Des ist aber rund und net eckig. Oder ist dem Vater wieder die Faust ausgerutscht?«

»Hat er’s immer noch auf dich abgesehen?«, fragte Heinz neugierig und legte sein Besteck zur Seite.

»Geht dich nix an«, sagte Bertram feindselig. »Familiensache. Hast kei Arbeit auf deinem tollen Hof?«

Bertram war im Grunde seines Herzens schüchtern bis ins Mark, darum war diese offen gezeigte Abneigung erstaunlich. Und er wurde normalerweise von allen bedauert. Sepp hatte nämlich eine kurze Zündschnur. Mit dem legte man sich besser nicht an, auch nicht als Blutsverwandter.

»Ich misch mich net in eure Angelegenheiten«, beschwichtigte Heinz und wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund. »Wollt bloß nachschauen. Er hat gestern gesagt, er braucht die Säge selber. Und ich soll sie schnell wiederbringen, sonst macht er mir die Hölle heiß. Kennst ihn ja.«

»Jetzt könnt er aber kommen.« Martha richtete sich auf und schob ihren halb vollen Teller in die Mitte des Tisches, wo er von Corinna begehrlich begutachtet wurde.

»Wie war’s beim Doktor, Martha?« Heinz legte sein Besteck neben den beinahe unberührten Teller. »Tut mir leid, hab keinen großen Hunger. Also, wie geht’s dir?«

»Alleweil gleich«, antwortete sie und rieb sich den Ellbogen. »Entsetzlich lang hab ich warten müssen, bis ich drangekommen bin. Trotz Termin. Der Doktor meint, da kann man nix machen. Ist wohl das Alter.«

»Und ’s Arbeiten. Ist hart.« Heinz sah sie nachdenklich an. »Wo bleibt jetzt der Sepp? Ich glaub, ich schau amal nach. Sonst glaubt der net, dass ich die Säg wiederbracht hab. Bleib hocken, ich schick ihn rein.« Er ging aus der Küche und schloss sachte die Tür.

Martha lehnte sich zurück, wobei sie ihre zukünftige Schwiegertochter ertappte, die sich soeben lautlos nochmals am Wammerl zu bedienen versuchte. Resolut schnappte sich Martha den Topfdeckel und knallte ihn auf das Gefäß.

»Autsch, jetzt hast mir die Hand eingezwickt«, rief Corinna vorwurfsvoll und nahm erschrocken ihre Finger in den Mund.

»Du hast scho genug gehabt«, wies Martha sie mit scharfer Stimme zurecht, was Corinna unbeeindruckt registrierte. Sie ließ sich nun mal nicht einfach so die Butter vom Brot nehmen.

»Die Corinna hat noch Hunger, Mama«, sagte Bertram beschwichtigend, um seine neue Errungenschaft wie ein Löwe gegen die Mutter zu verteidigen.

Martha seufzte. Eigentlich wäre ihr Sohn ein hübscher Mann gewesen, wenn man großzügig über die etwas zu weit vorstehenden Zähne und die ein klitzekleines bisschen zu üppig geratene Nase hinwegsah. Nur diese Schüchternheit. Ihr Mann nannte es Feigheit, aber der konnte den Buben ohnehin nicht leiden.

»Kann mich selber verteidigen«, mampfte Corinna mit vollen Backen und widmete sich voller Hingabe ihrer Mahlzeit, denn Martha kochte hervorragend.

»Jetzt sollt er allmählich hergehen«, murmelte Martha. »Berti, hast ihn noch troffen, ehe du aufs Feld bist? Bist wirklich an den Wagen gerannt, oder war’s der Vater?«

»Schwamm drüber.« Bertram zuckte mit den Achseln. »Heilt alles. Keine große Sach.«

Martha grauste ein wenig vor der Begegnung mit ihrem Mann, denn da vor dem Haus kein ausgewachsener Keiler mit einem Dreiviertelohr lag, hatte Sepp den Guido nicht erwischt, was bedeutete, dass seine Laune auf dem Nullpunkt war. Da reichte dann ein falsches Wort, und sie fing sich eine ein.

»Der Heinz kommt nimmer. Was ist denn los? Jetzt muss ich wohl rausschauen. Vielleicht ist er weggefahren, der Papa?«

Martha sah ihren Sohn fragend an.

»Na, ’s Auto steht da. Und ’s Fahrrad auch. Der ist im Stall. Hundertprozentig. Ich schau, dass ich weg bin, ’vor er kommt. Muss eh wieder raus.«

Bertram wandte sich an Corinna, die weiter emsig das Essen in sich hineinschaufelte, von Martha missgünstig beobachtet. »Und hast du heut was Schönes gefunden? Ein Kleid?«

»Schaust halt in deinen Schrank, wirst schon sehen. Möchte bloß mal wissen, wo des Geld herkommt.« Martha bedachte Corinna mit einem angriffslustigen Blick.

Bertram wurde ein bisschen rot, denn das Geld, mit dem seine Freundin in Memmingen um sich warf, kam von ihm. Er konnte ihr einfach nichts abschlagen, gerade jetzt, wo doch bald der Nachwuchs kommen würde.

»Jetzt lass halt die Corinna mal in Ruh, Mama«, verlangte Bertram und vertiefte sich in seine restlichen Schupfnudeln, aber er machte nicht den Eindruck, dass es ihm schmeckte.

»Muss für zwei essen«, verteidigte sich Corinna frech.

Sie fürchtete sich nicht, denn sie war nicht allein. Bertram würde sich immer vor sie stellen, den hatte sie fest im Griff.

»Kann ich noch was rausnehmen?« Sie deutete auf ihren leeren Teller.

»Nein.« Martha haute den Deckel sicherheitshalber mit einem Knall nochmals auf die Kasserolle. »Kannst dir ein paar Eier machen. Zeit genug hast ja. Auf dem Hof schaffst ohnehin net mit.«

»Mama«, fuhr Bertram hoch. »Die Corinna kriegt mein Baby. Die kann jetzt net mit der Heugabel hantieren oder mit mir auf den holprigen Traktor. Was, wenn was passiert?«

»Du bist bei mir im Bauch rumgelegen bis auf die letzte Minute«, entfuhr es Martha bissig. »Hat dir nix geschadet. Hab geschafft bis zur Entbindung. Mir sind kein Sanatorium. Und des hat die vorher gewusst.« Sie zeigte mit einem roten rauen Finger auf ihre Erzfeindin.

»Mama, bitte.« Bertram legte das Besteck weg. Dann versuchte er, Corinna in den Arm zu nehmen, aber die wich ihm aus.

»Kochen könnt s’ wenigstens mal«, beschwerte sich Martha. »Immerhin wenigstens dann für des Kind, wenn’s da ist, oder?«

Bertram wurde blass. Zum Arbeiten war Corinna nicht hergekommen, das hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht. Bertram war sehr lange auf der Suche nach einer Frau fürs Leben gewesen. Nach irgendeiner. Denn nachdem er einige Jahre seine Favoritinnen im »Alpenblick« oder jeder anderen verfügbaren Disko erfolglos angebaggert hatte und, wenn er Glück hatte, nur mit einer Watsche davongekommen war, war er ziemlich wahllos, um nicht zu sagen verzweifelt, gewesen. Und eines Tages stand dann Corinna am Tresen im »Alpenblick«. Einhundertvierunddreißig Kilo reinste Fleischeslust mit Kurzhaarfrisur, nett verpackt in ein wallendes T-Shirt und eine eigentlich zu enge Jeans. Sie hatte Bernhard angelächelt, und er hatte äußerst zaghaft zurückgelächelt.

Er war nun einmal kein Charmeur, nur mäßig attraktiv und leider mehr als schüchtern.

Corinna hatte damals eine harte Zeit mit mindestens fünfzehn erfolglosen Diäten hinter sich. Außerdem war es verdammt schwer, in einer Region Diät zu halten, die so hervorragende Spezialitäten bereithielt, welche vorwiegend aus Mehlspeisen, in dicke Sahnesoßen getunkt oder mit geschmälzter Butter überzogen, bestehen. Also gab sie auf und blieb einfach dick.

Als Corinna Bertram an diesem Abend kennenlernte, erkannte sie in Bertram ihren Retter vor den ständigen Forderungen ihrer Mutter, sich endlich auf eigene Beine zu stellen oder wenigstens abzunehmen. Also zwinkerte sie charmant und versuchte genau zwei Minuten, den Bauch einzuziehen, bis sie merkte, dass Bertram offenbar so verzweifelt war, dass es ihn nicht zu stören schien.

Da hatten sich zwei gesucht und gefunden: der klepperdürre Landwirtssohn mit der Aussicht auf Übernahme eines herrlichen Anwesens und die pummelige Arbeitssuchende mit dem kaputten Rücken, der irgendwie nie zu heilen schien, gleich, wie viele Kuren Corinna machte.

Corinna wartete eine Anstandsfrist von zwei Wochen nach dem Kennenlernen ab, während derer sie Bertram nach allen Regeln der Kunst verführte, obwohl es sie anstrengte. Dann schlich sie sich eines Abends mit ihm auf sein Zimmer neben dem seiner Eltern und blieb einfach dort. Innerhalb von einer weiteren Woche baute ihr Bertram einen riesigen Fernseher auf, füllte das unterste Fach seines Kleiderschrankes, in dem genau ein guter Anzug, zwei Hosen und vierzehn T-Shirts in verschiedenen Farben hingen, mit Erdnusslocken und Schokolade und bereitete seine schockierten Eltern darauf vor, dass er eine neue Freundin und baldige Ehefrau gefunden hatte, die von nun an mit ihm auf dem Güthlerhof hausen würde. Wobei »hausen« genau beschrieb, was Corinna eigentlich tat: nichts. Und das mit Hingabe.

Die ersten Monate waren für alle Beteiligten grauenhaft. Martha und Sepp hatten gehofft, eine Hilfe für den Hof zu bekommen, und waren erst enttäuscht, dann sauer und noch später richtig zornig, denn Corinna fand grundsätzlich den Einschaltknopf an der Waschmaschine, die Heugabel im Stall oder den Besen zum Fegen der Diele nicht. Sie fand immer nur die Speisekammer oder die Kühlschranktür, und das gern nachts oder im Morgengrauen, wenn der Hunger sie übermannte oder überfraute.

Martha passierte es seit Corinnas Einzug regelmäßig, dass sie den Kühlschrank öffnete und ihn leer vorfand. Das Einzige, was von Bertrams Freundin niemals angerührt wurde, war Gemüse in jeder Form. Aber Fleisch- und Wurstwaren hatten eine Halbwertszeit von knapp vierundzwanzig Stunden, und egal, wie viel Martha vom Edeka in Legau heimschleppte – es verschwand immer wieder auf unerklärliche Art und Weise.

Sepp, der anfangs den Neuzugang wohlwollend gemustert hatte (eine Frau musste anständig was auf den Rippen haben, damit man(n) was hatte, in das er kneifen konnte), wurde genau wie seine Frau täglich gereizter und verstimmter, denn Corinna vergriff sich sogar an seiner Blutwurst, an die sich sonst keiner getraute.

Irgendwann resignierten die Güthlers, denn sie waren froh, dass Bertram wenigstens irgendeine gefunden hatte, mit der er sich fortpflanzen konnte, und warteten auf das erste Kind, das vielleicht ein paar Dinge ändern würde.

»Jetzt geh ich auch nachschauen. Des gibt’s doch net.« Martha erhob sich ächzend und ging zur Tür. Dann verschwand sie nach draußen.

»Ham mir noch Eis?« Corinna beäugte mit hungrigen Augen den Kühlschrank. »Ich schau mal.«

»Heinz?« Martha lief mit schnellen Schritten nach links zur Stalltür. »Heinz? Hast dich in Luft aufgelöst? Ihr Mannsbilder seids schon ko…«

Heinz stand regungslos neben dem Misthaufen und antwortete nicht. Er zeigte nur mit kalkweißem Gesicht nach unten.

»Bleib da, Martha. Musst des jetzt net sehen«, sagte er so leise, dass es gerade noch verständlich war.

»Was schaust denn? Weißt doch, was eine Güllegrube ist. Herrgott, sag halt was!«, rief Martha und eilte zu Heinz. Dabei achtete sie nicht auf den Boden, stolperte und wurde im letzten Moment von Heinz aufgefangen.

»Jesses, jetzt wär ich beinah reingetappt«, murmelte sie.

Heinz zog sie zur Seite. »Ein Brettl ist weggestanden. Ich hab gedacht, ich leg’s ordentlich drauf«, flüsterte er. »Dass niemand drüberfallt. Und da hab ich den Gummistiefel gesehen. Ich find net, dass du da reinschauen solltest.«

»Was soll denn der Schmarrn? Lass mich.« Martha riss sich los.

Dann beugten sie sich gemeinsam über die Luke.

Drinnen kniete Corinna gerade vor dem Gefrierfach und überlegte, ob ihr nach diesem opulenten Mittagessen Schokoladen- oder Erdbeereis lieber wäre. Als der schrille Schrei ihrer zukünftigen Schwiegermutter ertönte, ließ sie beide Packungen fallen. Ihr zukünftiger Ehemann sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Platz auf und rannte nach draußen. Corinna sah ihm fragend nach, aber wenn sie den Schrei als eingefleischter Krimifan richtig interpretierte, war die letzte Portion Wammerl mit Schupfnudeln gerade frei geworden. Also langte sie zu.

Montagmittag, Legau

»Bist du so weit, mein Schatz?«

Sissi Sommer stand fertig angezogen mit ihrer Badetasche über der Schulter in der Küche und wartete auf ihren Mann Peter. Sie hatte heute nach einem verdammt langen und turbulenten Wochenende frei und wollte zusammen mit ihrem Angetrauten den Tag in der Therme in Bad Wörishofen verbringen. Darauf freute sie sich seit Wochen.

Ungeduldig tappte sie von einem Fuß auf den anderen. Sissi war eine hübsche dunkelhaarige Frau mit ein paar Gramm zu viel an genau den richtigen Stellen, schulterlanger Mähne und einer gesunden pragmatischen Lebenseinstellung, die ihr half, schwierige Seiten ihres Jobs zu verdauen, denn die Arbeit bei der Kripo in Memmingen war nicht immer einfach. Sissi liebte ihren Mann und ihr hübsches Zuhause, backte den besten Apfelkuchen weit und breit und war bei ihren Kollegen sehr beliebt wegen ihrer unkomplizierten und herzlichen Art. Nicht einmal der »Boss«, der Leiter der Kripo, konnte ihr und ihrem Bauchgefühl etwas entgegensetzen, denn ihre hervorragende Aufklärungsquote überzeugte sogar einen hartgesottenen Kripochef. Sissi zog es vor, ihre Fälle im Alleingang zu lösen, lediglich ihr Kollege Klaus durfte sie dabei unterstützen. Nun stand sie also in der Küche und konnte es kaum erwarten, endlich ihren freien Tag zu genießen, denn die waren rar gesät.

»Ich komme schon!« Ihr Ehemann Peter, ein schlaksiger Bursche mit ständig zerzauster Frisur, dem meistens die randlose Brille schief auf der Nase saß, meldete sich vom Schlafzimmer. »Wo ist meine Badehose?«, fragte er verlegen. »Ich finde sie einfach nicht.«

Sissi ging lächelnd zu ihrem Mann und stellte sich mit ihm vor den Schrank. »Wir sollten mal unsere Nachbarin Frau Müller besuchen«, sagte sie nebenbei und entnahm dem Schrankfach einen Stapel T-Shirts, zwischen denen eine Bermuda-Badeshorts hervorlugte.

»Wieso, was ist mit Frau Müller?«, fragte Peter verwundert zurück. »Danke. Du bist die Beste.«

»Und du unordentlich«, schimpfte Sissi. »Frau Müller ist gestürzt, hat sich beide Handgelenke gebrochen und liegt derzeit in Memmingen im Krankenhaus. Das war sogar in der Zeitung, denn es ist bei der Einweihung dieses neuen Kaufhauses passiert, und unsere gute Frau Müller hat bei ihrem Sturz den Bürgermeister mitgerissen. Darum hat sich das ›Memminger Tagblatt‹ dafür interessiert, weil Lokalprominenz verletzt wurde. Frau Müller wurde sogar interviewt. Mit Foto. Deshalb brennt da drüben abends kein Licht seit ein paar Tagen, was dir nicht aufgefallen ist, aber mir. Also, wir sollten unbedingt vorbeischauen und sie besuchen.«

»Oje, die vielen Blumen«, erschrak Peter.

Frau Müller war eine leidenschaftliche Orchideenzüchterin und hatte ihr Wohnzimmer, dessen Fenster beinahe ganztägig der Sonne ausgesetzt war, in eine Art Treibhaus verwandelt. Violette, rosafarbene und weiße Blumen lebten hier in schönster Harmonie und trieben wundervolle Blüten.

Sissi freute sich jedes Mal, wenn sie an den Gartenzaun trat und die Pracht durchs Fenster bewundern durfte. Außerdem teilte sich Frau Müller ihr Zuhause mit etlichen großblättrigen Pflanzen, sodass sie sich bei einem Besuch regelmäßig fühlte wie im Dschungel von Burma.

»Ich bin ja nicht so gern drüben.« Peter lächelte Sissi zu. »Man kommt sich vor, als würde sich demnächst Tarzan an einer Liane entlangschwingen. Durch das ganze Grünzeug kommt kaum noch Licht, und jeder Quadratzentimeter ist vollgestellt mit Drachenbäumen, Palmen, Gummibäumen und Dieffenbachien, die größer sind als der Hund von unserem Tankstellenbesitzer. Mir ist es nicht geheuer da drin. Aber wem’s gefällt. Wer sieht jetzt in Frau Müllers Treibhaus nach dem Rechten? Nicht vorzustellen, wenn dieser Urwald kein Wasser kriegt.«

»Wir besuchen sie und fragen nach. Die Pflanzen könnten wir doch gießen«, beschloss Sissi. »Das sind wir Frau Müller schuldig. Immerhin hat sie sich um unsere Blumen gekümmert, als wir in Barcelona waren. Können wir schon tun, finde ich.«

»Ich übernehme keine Verantwortung.« Peter grinste. »Denn ich habe einen braunen Daumen. Musst leider du machen.«

In diesem Moment läutete Sissis Mobiltelefon.

»Nein, bitte nicht«, stöhnte Sissi und griff nach ihrem Handy. Peter rollte mit den Augen, während sie telefonierte.

»Hallo Klaus. Ehrlich? Heute? Zum Einsatz? Vergeht denn kein Tag ohne Mord und Totschlag? Wir wollten gerade nach Bad Wörishofen in die Therme. Wo? Richtung Bad Grönenbach? Na gut. Hol mich bitte ab. Bis gleich. Informieren kannst du mich im Auto.«

Sissi beendete das Gespräch und legte ihr Telefon auf den Tisch.

»Habe es mitbekommen, liebe Frau. Die Arbeit verfolgt dich.« Peter setzte sich enttäuscht auf das Bett. »Um was geht es? Ach ja, das darfst du mir ja nicht sagen.«

»Stimmt, sonst muss ich dich erschießen«, meinte Sissi schmunzelnd. »Klaus wird gleich hier sein. Musst halt allein baden gehen.«

»Tu ich nicht«, antwortete Peter. »Ohne dich macht es keinen Spaß. Da kümmere ich mich lieber um meinen Papierkram. Die Lohnsteuererklärung sollte ich mal erledigen.«

»Oh, die Sorte Papierkram mag ich gar nicht«, maulte Sissi und räumte ihre Badetasche nach einem kurzen Zaudern in den Schrank.

»Apropos Sorte«, entgegnete Peter. »Ich war heute im Hofladen vom Huber, um mir ein Säckchen Weizen für meinen Frischkornbrei zu holen. Was glaubst du, wer da jetzt an der Kasse steht? Anita Hoff, geborene Walter.«

»Die Anita? Echt?« Sissi riss erstaunt die Augen auf. »Na klar, ihr Kind ist jetzt etwas älter, da kann sie arbeiten gehen. Freut mich, dass sie was gefunden hat. Hast du dich mit ihr unterhalten? Ich sollte irgendwann mal da rausfahren. Mann, ich komme echt zu gar nichts mehr.«

Peter schüttelte verneinend den Kopf. »Unterhalten konnte ich mich nicht mit ihr. Sie war sehr beschäftigt.«

Er lachte. »Ich habe nur mitbekommen, wie sie einer Freundin am Telefon erzählte, dass ihr Mann Lukas sich davongemacht hat. Der ist jetzt in Kempten mit einer anderen. Sie wohnt noch zu Hause bei ihren Eltern und hat angeblich was am Laufen mit einem Typen hier aus der Umgebung. Und noch mit einem, da arbeitet sie noch dran, der will irgendwie nicht richtig.«

»Du wärest bei der Kripo gar nicht schlecht aufgehoben«, sagte Sissi. »Bei deiner Beobachtungsgabe …«

Die Türglocke läutete.

»Schon wieder du. Allmählich fühle ich mich verfolgt«, begrüßte Peter lächelnd Sissis Ermittlungspartner Klaus Vollmer, der im Türrahmen stand und wie immer unverschämt gut aussah.

So gut, dass Sissi von fast allen Kolleginnen in Memmingen glühend beneidet wurde. Klaus Vollmer war vor drei Jahren aus Berlin gekommen, weil er sich in eine hübsche Memminger Frau verknallt hatte. Leider ließ ihn diese bald darauf sitzen, und der attraktive Junggeselle mit Bindungsängsten war nunmehr im Allgäu gestrandet, worüber er sich seit Jahren ausdauernd beklagte. Nur hörte mittlerweile niemand mehr hin. Gelegentlich wurde er veräppelt, denn als Preuße bot er eine prima Zielscheibe für Witzeleien im Dialekt, den er nach wie vor nicht verstand, und ab und zu wurde er im Pausenraum mit einer original bayerischen Watsche bedroht, wenn er sich unbotmäßig über den einzig wahren »Kini«, König Ludwig von Bayern, geäußert hatte. Ansonsten lief mittlerweile alles ziemlich reibungslos.

Klaus mäanderte durchs Memminger Nachtleben, brach etliche Frauenherzen und kümmerte sich in seiner Freizeit liebevoll um Harro, den Kettenhund vom Schützhof, den er bei seinem ersten Kriminalfall im Allgäu gerettet hatte, denn der Besitzer Florian Schütz war in seiner viel benützten Bettstatt gemeuchelt worden. Seit Neuestem liebäugelte Klaus mit einem Umzug nach Mindelheim, einer schmucken Kleinstadt im Herzen des Unterallgäus, hatte aber noch keine passende Wohnung für sich und seinen Hund gefunden, weshalb er weiterhin die Memminger Damenwelt unsicher machte, mit großen Erfolgen übrigens.

Alle Männer im K1 warteten sehnsüchtig auf den Tag, an dem der schöne Vollmer endlich eine anständige Wampe und eine Glatze kriegen würde. Dieser schien in weiter Ferne, denn trotz Klaus’ Vorliebe für Kässpätzle und Leberkässemmeln blieb er gertenschlank, sah mit jedem Tag Antonio Banderas noch ein wenig ähnlicher, und sogar ältere Semester seufzten bei seinem Anblick sehnsüchtig auf.

»Ich würde auch lieber baden gehen, Peter. Diese Notdienste sind einfach unangenehm.« Klaus trat in die kühle Diele des hübschen Sommer’schen Einfamilienhauses.

»Kollege. Ich hoffe, du alter Nachtschwärmer bist heute mal ausgeschlafen.« Sissi zog hastig ihren Pferdeschwanz zurecht.

»Ah, die Sommerfrisur.« Klaus musterte sie anerkennend. »Steht dir. Wir müssen heute in einen Stall. Nein, neben den Stall, wenn ich den Boss richtig verstanden habe. Leiche in der Jauchegrube.«

»Oh nee. Und gestern hat es so geregnet. Da ist alles noch matschig.« Sissi rümpfte ihre hübsche Nase. »Gut, dass du das sagst. Da hast du nicht die geeigneten Schuhe an. Sandalen, Klaus? Das wird dir noch leidtun. Wo sind meine Gummistiefel?« Fragend sah sie Peter an.

Der deutete auf den Dielenschrank. »Dort drin. Das Preisschild ist noch dran. Gekauft hast du sie immerhin vor fünf Jahren für unsere Herbstspaziergänge, musstest aber dann ständig Verbrecher jagen, und ich bin allein los. Jetzt kannst du sie endlich mal gebrauchen. Güllegrube?«

»Du hast nichts gehört. Denk dran«, antwortete Sissi und richtete ihren Zeigefinger auf ihn. »Also los.«

Peter bekam einen Abschiedskuss und verzog sich an den Schreibtisch, wo er geschäftig begann, seine Belege zu sortieren.

Draußen betrachtete Sissi den strahlend blauen Junihimmel. »Es wäre so schön gewesen.« Sie ließ sich in den Beifahrersitz fallen und schloss die Tür. »So kriege ich meinen neuen Badeanzug nie ausgeführt. Klär mich bitte auf. Der Boss hat noch nicht mit mir gesprochen. Wieso du und ich? Wir sind doch gar nicht dran?«

»Die Diensthabenden mussten nach Unteregg. Verdächtiger Todesfall. Wir sind sozusagen die Reserve.« Klaus startete den Wagen.

»Und wohin müssen wir genau?«

»Familie Güthler. Bei dem Opfer handelt es sich vermutlich um Josef Güthler. Hinter Legau. Auf dem flachen Land.«

»Flaches Land haben wir hier nicht«, korrigierte ihn Sissi. »Was ist mit dem Fundort, der Güllegrube? Ist schon die Feuerwehr zur Bergung dort?«

Klaus nickte. »Alle da. Spurensicherung. Ein Mediziner. Obwohl ich nicht glaube, dass wir den noch brauchen. Wenn einer mit dem Gesicht auf dieser Masse –«

»Schwemmschicht. Das heißt Schwemmschicht.«

Klaus blieb unbeeindruckt. »… auf dieser Schwemmschicht mit dem Gesicht nach unten liegt, ist wohl nicht mehr viel zu retten.«

»Glaub ich auch. Ach ja, der Bertram Güthler. Ich erinnere mich. War ständig auf Brautschau. Hab neulich von Erna Dobler aber erfahren, dass es auf dem Güthlerhof demnächst eine Hochzeit geben soll, weil er jetzt endlich unter der Haube ist. Laut Erna ist es eine recht ausladende Haube. Fahr einfach raus Richtung Bad Grönenbach.«

Soeben passierten sie den Legauer Marktplatz.

»Guck mal, wer da läuft.« Sissi zeigte auf eine attraktive dunkelhaarige Frau in einem äußerst eng anliegenden Kleid, das an einigen Stellen bis zum Zerreißen gespannt schien.

»Eine deiner Anbeterinnen, Anita Hoff, ehemalige Walter. Habe gehört, sie ist wieder solo. Und auf der Suche. Wär das was? Obwohl ich dich nochmals vor ihr warnen müsste. Sie ist eine fleischfressende Pflanze.«

»Nein danke. Die ist mir zu anstrengend. Ich erinnere mich nur zu gut an sie. Und ich komme prima klar. Frauen gibt’s ja genug hier, im Gegensatz zu einem anständigen Theater oder einer U-Bahn.«

Montagmittag, Güthlerhof

Der Sommer hätte nicht besser anfangen können, trotz des heftigen Gewitters, das am Vorabend liebevoll gepflegte Vorgärten, Felder und Wiesen in Schlammwüsten verwandelt hatte, und all das innerhalb von einer Stunde. Aber heute, an diesem herrlichen Junitag mitten im Unterallgäu, war kein Wölkchen mehr am Himmel zu sehen. Die Sonne strahlte heiß und trocknete seit Stunden sämtliche Verwüstungen vom Abend zuvor.

»Ist ja die reinste Postkartenansicht.« Klaus deutete auf ein gelbes Meer von Rapsblüten. »Das muss man euch lassen – schön ist es. An solchen Tagen könnte ich mich beinahe mit meinem Schicksal versöhnen, hier gelandet zu sein.«

»Ja, du bist arm dran. Jetzt nach links«, befahl Sissi, und Klaus bog auf einen schmalen geteerten Weg ein, der sie nach einigen Minuten zu einem schmucken Hof führte.

Hinter Legau, in der Nähe der ausgebauten Straße nach Bad Grönenbach, lag, weit abseits vom Verkehrslärm durch in die Jahre gekommene Motorradfahrer, die es noch einmal wissen wollten und deshalb vor jeder Kurve anständig Gas gaben, was das Unfallrisiko drastisch erhöhte und die angespannten Nerven der Anwohner belastete, der Güthlerhof.

»Prächtig. Da muss man sich nicht fragen, wo das Geld wohnt«, sagte Klaus.

»Siehst ja, wie die Idylle trügen kann, denn wir müssen jetzt einen ungeklärten Todesfall untersuchen an diesem traumhaften Flecken. Wie meine Oma immer sagte: ›Unter jedem Dach ein Ach.‹ Jeder hat eine Leiche im Keller – oder in der Grube«, antwortete Sissi süffisant und schnallte sich ab.

Der Platz vor dem Haus war voll mit Autos von Polizei, Spurensicherung und einem Fahrzeug der Legauer Feuerwehr. Vor dem Stall, neben dem Misthaufen, drängten sich besonders viele Leute.

»Die haben hoffentlich nicht ohne uns angefangen!« Sissi eilte in ihren Gummistiefeln zu der Menschentraube. »Komm jetzt.«

»Ja«, maulte Klaus. »Das möchte ich mir um nichts auf der Welt entgehen lassen. Eine Leiche, die man bei diesen Temperaturen aus einer Jauchegrube holt. Wirklich um nichts.«

Dann folgte er Sissi in angemessenem Tempo. Das war nicht ganz einfach, denn nur vor dem Haus war die Fläche geteert, und Klaus musste sich durch ein paar fragwürdige Stellen auf dem Boden kämpfen, der von unzähligen Schuhen der Spurensicherung und Feuerwehr aufgewühlt war. Endlich hatte er Sissi eingeholt.

»Ah, wird langsam Zeit«, wurden sie von ihrem Kollegen Seibold von der Spurensicherung empfangen. »Wohl Eistee geschlürft und im Café gesessen, was?«

Sissi nickte. »Mache ich immer an freien Tagen. Und die Hausarbeit erledigt der Butler. Wir im K1 sind total überbezahlt. Ich weiß gar nicht, wohin mit meinem Geld.«

Seibold verkniff sich ein Grinsen. »Wir sind gerade mit der Bergung fertig. Vermutlich der Inhaber des Hofes, Josef Güthler.«

»Schon gehört. Gab es eine Vermisstenmeldung?«, fragte Klaus und tappte von einem Bein auf das andere, als er den Schlick vom Vortag registrierte, durch den er in seinen Sandalen waten musste. Seine Hautfarbe hatte von »Bergsteigerbraun« auf »Käseweiß« gewechselt, denn der Schlamm roch eigentümlich. In direkter Nähe der Güllegrube war der Geruch von Methangas und Ammoniak sehr intensiv.

Seibold schüttelte den Kopf. »Hab ein paar Leute über ihn reden hören. Vermisst hat den wohl keiner. Verstehen Sie mich bitte richtig, ich kenne den Mann ja gar nicht.«

Sissi sah ihn fragend an.

»Na ja, wie auch immer. Der Nachbar war zufällig da und hat ihn gefunden. Angeblich ist ihm eine lose Latte an der Grubenabdeckung aufgefallen, und als er sie zurechtlegen wollte, damit niemand darüber stolpert, hat er einen Gummistiefel in der Schwemmschicht entdeckt, daraufhin die Polizei verständigt, und voilà, hier sind wir.«

Seibold wies auf eine Stelle neben dem Misthaufen, wo die Feuerwehr eine Sichtschutzplane aufgestellt hatte. »Draußen ist er bereits.«

»Jetzt haben wir es also verpasst? Jammerschade«, sagte Sissi.

Das Gesicht von Klaus wies mittlerweile einen fatalen Grünstich auf. Er sah nicht gut aus.

Sissi packte ihn am Ärmel und zeigte auf seine Füße.

»Meine Güte. Ich frage dich noch mal: Als du erfahren hast, dass wir zu einem Tatort müssen, der sich neben einem Stall befindet, bist du nicht auf die Idee gekommen, anständige Schuhe anzuziehen?«

»Hätte mir ja jemand sagen können, dass Gummistiefel zur Standardausrüstung gehören. Ach was, das hätte ich mir denken können. Ich bin ja nicht erst seit gestern hier«, antwortete Klaus bissig und hob seinen rechten Fuß aus einer unförmigen dunklen Masse. Sissi begutachtete ihn leicht schadenfroh.

Ein Streifenbeamter begrüßte sie vor der Sichtschutzplane mit einem Nicken.

»Wo sind die Angehörigen?« Klaus sah sich um.

Der Beamte wies zur Eingangstür. Auf der Bank vor dem Haus saßen vier Personen und starrten geradeaus wie Salzsäulen. »Die Ehefrau des Toten, der Sohn und die zukünftige Schwiegertochter. Der ältere Mann ist der Nachbar und hat ihn gefunden.«

»Danke für die Info. Wir kümmern uns gleich.« Sissi ging in die Hocke und betrachtete die auf dem Boden liegende Gestalt.

»Maria und Josef«, flüsterte sie. »Was für eine Art zu sterben.«

»Auch nicht schlechter als irgendeine andere«, antwortete Klaus leise. »Wenn mir mal eine angenehme einfällt, werde ich es dich wissen lassen.«

»Todesursache?«, fragte Sissi Seibold, der bei ihnen stehen geblieben war.

»Noch keine Ahnung. Könnte Ertrinken gewesen sein. Oder er ist getaucht, weil er seinen Ehering verloren hat. Ich weiß es nicht. Was für ein Job.«

»Mann, Sie sind drauf«, sagte Klaus. »Immer noch der Magen?«

Seibold nickte vergrätzt. »Und solche Sachen machen es nicht besser. Meine Frau wird sich freuen, wenn ich nach Hause komme, so wie ich heute rieche.«

»Na, immerhin kommen Sie überhaupt heim, im Gegensatz zu diesem armen Teufel hier.«

Vor ihnen lag auf einer speziellen Plane einwandfrei erkennbar eine männliche Gestalt, von einer schmutzig braunen Schicht bedeckt. Sissi richtete sich auf, ging zu der geöffneten Luke und schaute hinein.

Sie wandte sich wieder an Seibold. »Wie ich sehe, ist das Zeug da drin höchstens einen halben Meter hoch.« Sie deutete nach unten. »Da muss wohl jemand rein. Mit diesen Fischerhosen, mit Werkzeug und natürlich mit Atemmaske. Ich will wissen, ob da sonst noch was rauskommt. Nur sicherheitshalber.«

»Toll. Da freuen wir uns doch.« Seibold wirkte nicht begeistert. Dann gab er die Anweisung weiter und kehrte zurück.

»Okay, Herr Seibold, können wir ihn vielleicht mal drehen?«, bat Sissi.