Dieses Buch ist eine Sonderausgabe, die die beiden Bücher
»Tagebuch einer Landhebamme, 1943–1980« und
»Immer unterwegs. Erinnerungen einer Landhebamme«
von Rosalie Linner enthält.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014
© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelfoto: Monika Robl, München
Satz: SF-Design GmbH, Stefan Felder, Rosenheim
eISBN 978-3-475-54357-9 (epub)
Rosalie Linner
Tagebuch einer Landhebamme
Diese Aufzeichnungen von Rosalie Linner über die Jahre 1943 bis 1980 spiegeln das weite Spektrum der Arbeit einer Landhebamme wider: Von freudig erwarteten, aber auch von unerwünschten Kindern ist die Rede, von der Freude und den Nöten in den Familien. Als in seiner Art einmaliges Zeit- und Alltagsdokument sowie als historisches Zeugnis eines ganzen Berufsstandes sind Frau Linners Aufzeichnungen gar nicht hoch genug einzuschätzen.
Rosalie Linner schildert beeindruckende Fälle und Begebenheiten und geht dabei auch auf heute sehr aktuelle Themen und Fragen ein, wie zum Beispiel Adoptionen, Vaterschaftsprozesse, behinderte Kinder, Gewalt gegen Frauen und Kindesmissbrauch. Den Leser erwartet ein spannender Bericht.
Alle Personen-, Orts-und Hofnamen wurden geändert.
Es war das Kriegsjahr 1943 in Frankfurt am Main. Ich stand noch unter dem Eindruck der furchtbaren Nachricht, dass mein einziger Bruder in Russland gefallen war. Aber zu jener Zeit jagte ein trauriges Ereignis das andere. Bomben fielen über unsere Städte und brachten Tod und Verderben über die Menschen. So geschah es auch in jener Nacht, deren Ereignisse sich tief in mein Gedächtnis eingegraben und die meinem Leben eine entscheidende Wende gegeben haben.
Fliegeralarm! Der schrille Ton der Sirene schreckte die Menschen aus ihrer Nachtruhe, und ängstlich tastend liefen die Bewohner der Häuser in die Luftschutzkeller. Hier saß ich nun, in einem dieser dunklen Räume, neben mir ein altes Ehepaar, das seine wichtigste Habe neben sich abstellte. Es kamen noch ein paar Frauen und ein gehbehinderter älterer Mann dazu, und schließlich suchten noch drei Soldaten in unserem Keller Schutz vor den bevorstehenden feindlichen Angriffen. Dumpf hörte man von der Ferne das Herannahen der Flugzeuge und bald darauf den Einschlag der ersten Bomben, als sich noch einmal die Kellertüre öffnete und eine hochschwangere junge Frau hereintrat, die in der hintersten Ecke, nahe dem Kohlenhaufen, Platz suchte. »Eine Halbjüdin«, hörte ich tuscheln.
Das Licht der kleinen Glühbirne, die den Raum düster erleuchtet hatte, war längst erloschen. Aber der helle Feuerschein draußen auf der Straße, der durch einen Fensterspalt in unseren Kellerraum drang, verbreitete ein magisches Licht. Ein leises Wimmern kam vom Kohlenhaufen zu uns herüber. Niemand achtete darauf; draußen war die Hölle, und Todesschreie vom Luftschutzkeller nebenan ließen uns das Schlimmste erahnen. Stunde um Stunde verging. Das Wimmern drüben in der Ecke ging in ein lautes Stöhnen über. Es war allen klar, hier drängte ein junges Leben an das Licht dieser Welt, einer Welt, die außer Hunger, Angst, Bomben, Tod nichts zu bieten hatte. Niemand rührte sich, um der werdenden Mutter beizustehen, zu helfen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Jeder hatte eigene Sorgen, und eine »Halbjüdin, was soll’s?«, sagte man sich.
Das Mitleid mit dieser jungen Frau war größer in mir als die Angst vor dieser Bombennacht. Ich stapfte über Koffer und Taschen hin zu der Ecke, aus der die Schmerzenslaute kamen. Vielleicht kann ich wenigstens etwas Trost vermitteln, dachte ich mir, wenn ich schon keine Geburtshilfe zu leisten vermag, dazu fehlen mir die nötigen Kenntnisse. Außer geringem theoretischem Wissen, das ich in einem Erste-Hilfe-Kurs vermittelt bekommen hatte, hatte ich vom praktischen Ablauf einer Geburt keine Ahnung. Aber vielleicht, so sagte ich mir, hilft ihr meine Nähe ein ganz klein wenig. Ihre Augen und der Händedruck sagten mir, dass sie für meine Anwesenheit dankbar war. Zitternd vor Angst und Schmerz hockte diese Frau auf dem Fußboden des Luftschutzkellers, gottergeben und in sich gekehrt. Ich betrachtete den Kohlenhaufen: Ob sich der wohl als notdürftiges Lager für die werdende Mutter eignet? Eine Decke als Unterlage müsste ich finden, um die Frau in eine andere Lage bringen zu können. Ich hatte Glück. Auf zwei alten Eimern lag eine braune Militärdecke, die zwar alt und ausgefranst, aber immerhin noch brauchbar war.
Die Geburt näherte sich dem Höhepunkt, und mir stand mehr Schweiß auf der Stirne als der werdenden Mutter. Aber plötzlich überkam mich eine sonderbare Ruhe. Wenn ich heute diese damalige Situation in meinen Gedanken nachvollziehe, so muss ich erkennen, dass ich genau das Richtige tat, als wäre es nicht das erste Mal gewesen. Mir kam das Ganze erst richtig zum Bewusstsein, als ich plötzlich dieses kleine Menschenkind in meinen Händen hielt. Als es zu schreien anfing, war es mir, als erwachte ich aus einem Traum.
Das Durchtrennen der Nabelschnur stellte mich vor ein neues Problem. Ein verrostetes kleines Messer, das mir jemand zur Verfügung stellen wollte, erschien mir nicht als das richtige Werkzeug. So wartete ich, bis die Nabelschnur nicht mehr pulsierte, und riss sie dann mit einem kräftigen Ruck durch. Ein Verbandmull, den ich in meiner Tasche mitführte, diente als Kompresse und zugleich als Nabelbinde. Mit einem sauberen Taschentuch rieb ich das Neugeborene trocken, wickelte es in meinen Wollschal und legte es der Mutter in den Arm. Tote und Schwerverletzte in unserer unmittelbaren Nähe, und hier ein neues Leben. Auch das gab es - damals.
Jene Stunden im Bombenhagel gehörten, trotz Todesangst, zu den wichtigsten meines Lebens. Sie zeigten mir den Weg zu einem langen, erfüllten Berufsleben als Hebamme.
Die Jahre der Nachkriegszeit. Unsere Städte lagen in Schutt und Asche, Trauer um unsere gefallenen und vermissten Angehörigen, Hunger als täglicher Gast, das war die Zeit, in der ich als junge Hebamme meine Arbeit begann. Ich stand »im Dienste der Zukunft unseres Volkes«, wie es in der Eidesformel heißt.
Der mir zugeteilte Wirkungskreis erwies sich als die erste Enttäuschung, die nicht die einzige bleiben sollte: Er war bereits von einer anderen Kollegin besetzt, die aus den Ostgebieten gekommen war. Eine Fehlentscheidung der Behörde? Ich wurde nun angewiesen, vorerst vertretungsweise zu arbeiten, das heißt, Kolleginnen zu vertreten, die erkrankt oder sonst verhindert waren, ihren Beruf für kürzere oder längere Zeit auszuüben. Für mich hieß das also: ein unstetes Leben.
Ein langer, strenger Winter. Tief verschneit lag der Ort am Rande des Bayerischen Waldes, nahe der böhmischen Grenze, der mir als Vertretung einer erkrankten Kollegin angewiesen wurde. Trotz aller Freude und Begeisterung für meine Arbeit wurde es mir bange, als ich in einer bitterkalten Winternacht zu einer jungen Mutter, die ihr erstes Kind erwartete, gerufen wurde. Ein eisiger Wind blies aus dem Böhmerwald her, und ich kämpfte mich mit jedem Schritt vorwärts zu dem kleinen Haus, das ganz versteckt am Waldrand lag.
Eine alte Frau öffnete mir. Auf meine Frage, ob ich hier richtig sei, meinte sie: »Wennst du d’Hebamm bist, dann schaugst aber arg mager aus, und jung bist aa no. O mei, o mei, wenn des bloß guatgeht.«
Gewiss eine kalte Dusche für mich, nicht angetan, mein Selbstbewusstsein zu heben.
»Ich bin die Ahne«, sprach die alte Frau weiter, »und das ist Agatte, meine Enkelin.« Dabei stieß sie die Tür zum nebenliegenden Raum auf. »Vom Böhmischen ist er rüberkommen, der Lump, der sie in d’Schand bracht hat. Ihn soll Gottes Strafe treffen.«
Ihre Worte waren voller Bitterkeit, und eine tiefe Falte grub sich zwischen ihre Brauen. Ich trat über die Schwelle. Ein junges Gesicht mit zwei ängstlichen Augen blickte mir entgegen, als eine heftige Wehe den jungen Körper erschütterte. Eine kleine Öllampe verbreitete ein schummriges Licht, und ich begann die Gegenstände, die ich für meine Arbeit benötigte, wie Nabelbesteck, Desinfektionsmittel, Watte, Gummihandschuhe und anderes, auf dem wackeligen Tisch auszubreiten. Behutsam versuchte ich in der Wehenpause ein Gespräch, um der werdenden Mutter die Angst vor den kommenden schweren Stunden zu nehmen. Sie war dankbar für jedes tröstende Wort und ertrug klaglos die immer häufiger einsetzenden Wehen.
Als der neue Tag heraufzog, tat der kleine Peter den ersten Schrei. Ein kräftiges, gesundes Kind, knapp 4000 Gramm schwer, mit rosiger Haut und dunklem Haar. Nass vom Schweiß, die Stunden der Anstrengung noch im Gesicht, aber glücklich, lag die junge Mutter nun in den Kissen, als ich ihr ihren Sohn in den Arm legte. Nun kam auch die Ahne den kleinen Urenkel in Augenschein zu nehmen. Ob er wohl Gnade finden wird vor ihren Augen? Und siehe da, das Gesicht der alten Frau entspannte sich, ein weicher Zug kam um ihren Mund, als sie sagte: »Gott behüt dich, wir werden dich schon mögen.« Dabei nahm sie ganz behutsam die winzige Hand in ihre schwieligen Hände, um dann ein Kreuz auf die kleine Stirn zu zeichnen. Diese Geste berührte mich tief, und müde, aber glücklich verließ ich das Waldlerhaus.
Um Mutter und Kind zu versorgen trat ich nun jeden Tag den Weg in die Einöde an. Die Ahne wurde gesprächiger, sie kochte Pfefferminztee, wenn sie mich von weit her kommen sah, damit ich mich aufwärmen konnte, wie sie sagte, und im Laufe der zehn Tage erfuhr ich dann die traurige Geschichte dieser Familie:
Die Ahne, früh Witwe geworden, hatte ihren einzigen Sohn, den Uli, zu einem rechtschaffenen jungen Mann erzogen. Als er dann seine Gunda, ein tüchtiges junges Mädchen aus der Nachbargemeinde Asenbaum, als seine Frau in das Haus holte, war nicht nur Uli, sondern auch seine Mutter glücklich und zufrieden. Aber dieses Glück dauerte nicht lange. Bei der Geburt der kleinen Agatte starb die Mutter, und Uli fiel als Soldat in Russland bei Stalingrad.
Aber nun sah es so aus, als ob der kleine Peter Glück und Sonnenschein in das Haus und seine Menschen bringen würde, die rauh wie das Klima dieser Gegend, aber im tiefsten Innern gut und liebenswert sind.
Der Winter hielt mit unverminderter Härte an, und ich litt sehr unter der extremen Kälte, zumal das kleine Dachstübchen, das ich bewohnte, nicht allzu viel Wärme hatte, da der kalte Wind von Osten durch alle Fugen blies.
Mit der Zeit lernten mich die Leute kennen und nahmen mich freundlich in ihrer Mitte auf, hatte doch die Ahne zu berichten gewusst, dass ich, obwohl »mager« und noch jung, meine Sache sehr wohl verstand. Das Vertrauen dieser Menschen zu mir machte mich sehr glücklich.
Eines Nachts läutete wiederum die Hausglocke, Ein Pferdeschlitten hielt vor der Tür, und ein bärtiger Mann erklärte mir, dass die Bäuerin von der Wolfsleiten mich brauchte. Nachdem ich meinen Hebammenkoffer auf dem Schlitten verstaut und ich neben dem Mann Platz genommen hatte, ging die Fahrt los. Auf meine Frage, ob er der Bauer sei, erklärte er mir, dass er der Loisl, der Knecht, sei. Es käme das erste Kind auf dem Wolfsleitenhof, und der jungen Bäuerin gehe es schlecht, sehr schlecht. Auf meine bohrenden Fragen antwortete er meist nur mit »ja« oder »nein«, denn wortkarg waren diese Menschen, so viel war mir inzwischen klargeworden. Mir ging vieles durch den Kopf. Warum holt man nicht den Arzt, wenn die werdende Mutter krank ist?
»Ja«, meinte er, »man hat die alte Wabn geholt, aber die sagte, da ist nichts mehr zu machen, mit der Bäuerin geht’s zu Ende und man soll dem Herrn Pfarrer Bescheid sagen, helfen kann man da nicht mehr. Der Herr Pfarrer, der sogleich kam, meinte aber, man müsste den Doktor oder die Hebamme, am besten beide holen. Der Doktor aber ist drüben in Reichenbach bei einem kranken Kind.« Ich konnte mir keinen Reim aus diesem Bericht machen und ahnte nichts Gutes. Der Bauer kam mir entgegen und führte mich in die Schlafkammer, die von einer kleinen Petroleumlampe düster erleuchtet war. Die junge Bäuerin war nicht ansprechbar, sie lag in tiefer Ohnmacht. Ein schweres Krankheitsbild: Mein Verdacht bestätigte sich, als ein heftiger Eklampsieanfall den jungen Körper schüttelte. Die Atmung setzte aus, und ich konnte der Kranken gerade noch rechtzeitig den Gummikeil zwischen die Zähne schieben, um eine Verletzung der Zunge zu vermeiden. Der Anfall war so schwer, dass wir beide Mühe hatten, die werdende Mutter festzuhalten, um sie vor weiterem Schaden zu bewahren.
Nun war allerhöchste Eile geboten, es war schon zu viel wertvolle Zeit vertan worden. Zum Glück hatte der Nachbar, der Bürgermeister war, einen Telefonanschluss. Ich beauftragte Loisl mit dem Bericht, den ich ihm aufschrieb, dorthin zu laufen. Die Wege waren verhältnismäßig gut, und so konnten wir hoffen, dass der Krankenwagen bald eintreffen würde.
Jetzt bemerkte ich erst die Wabn, die Kräuterwabn, wie man sie hier zu Lande nannte. Auf einem Stuhl in der Ecke sitzend, hielt sie den Rosenkranz in den Händen, und ihre Lippen bewegten sich leise im Gebet. Sie nahm keinerlei Notiz von uns. In sich zusammengesunken verharrte sie lautlos. Ihr Alter wusste niemand genau zu sagen. Sie war einfach da, immer schon, hieß es. Weil sie sich auf Kräuter und Tinkturen verstand, nannte man sie Kräuterwabn. Sie leistete Geburtshilfe bei Mensch und Tier, ihre Ratschläge und ihr Trost waren bei Krankheit und anderem Übel gefragt und geschätzt.
Es war totenstill im Raum. Nur das monotone Tikken der Wanduhr und der schwere Atem der Kranken waren zu hören. Die Minuten dehnten sich zu einer Ewigkeit. Es war mir klar: Wenn es überhaupt noch Hilfe gab, musste sie schnell kommen. Ich betete, wartete und sah immer wieder auf die Uhr. Endlich hörte ich Motorengeräusch, der Krankenwagen hielt vor der Tür. Behutsam betteten wir die werdende Mutter auf die Bahre und trugen sie zum Auto, um sie in das nächste Krankenhaus zu bringen, wo man versuchen würde, durch Kaiserschnitt Mutter und Kind zu retten. Auf der Fahrt dorthin hatte ich nur einen Gedanken: Lieber Gott, lasse ein Wunder geschehen und erhalte das Leben dieser werdenden Mutter und das ihres ungeborenes Kindes.
Und das Wunder geschah.
Vom nahegelegenen Kirchturm schlug es die dritte Morgenstunde, als der kleine Michael, durch eine hervorragend ausgeführte Sectio, das Licht der Welt erblickte. Etwas zu früh geboren und behindert in der Atmung tat er nach kurzer Wiederbelebung den ersten Schrei. Ein glücklicher Augenblick für alle Anwesenden im Operationssaal. Und als ich hörte, dass es auch der Mutter relativ gut gehe, fiel plötzlich alle Spannung von mir und ich spürte, wie mir Tränen über die Nase liefen. Sollte ich mich ihrer schämen?
Der kommende Tag war ein Sonntag. Die Leute kamen von den entlegenen Dörfern und Einöden nach Breitenbronn zum Gottesdienst in die Kirche. Vor meiner Tür hielt abermals ein Schlitten von der Wolfsleiten. Aber nicht Loisl, der Knecht, entstieg dem Fahrzeug, sondern der junge Bauer. Er überreichte mir einen Korb mit den Worten: »Ich sag halt tausendmal vergelt’s Gott.«
Neugierig öffnete ich den Weidenkorb und traute meinen Augen kaum. Was ich zu sehen bekam, ließ mir die Augen übergehen: Rauchfleisch, selbst gebackenes Brot, frische Landbutter, Eier, Äpfel, Nüsse. Das waren Dinge, von denen man damals nur träumen durfte, und ich konnte sie weiß Gott gebrauchen.
Meine Tage in Breitenbronn waren nun gezählt, denn die erkrankte Kollegin war genesen. Mit leiser Wehmut nahm ich Abschied von dem mir lieb gewordenen Ort und seinen Menschen.
Eine neue Aufgabe wartete auf mich. Diesmal ging es in ein kleines Städtchen im Chiemgau. Eine Berufskollegin hatte mich gebeten, für einige Wochen ihren Dienst zu übernehmen. Ihr Mann war gerade aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden und mehr tot als lebendig nach Hause gekommen. Unvorstellbar schwere Jahre lagen hinter ihm. Er konnte sich in den neuen Lebensrhythmus nicht mehr einfügen, litt unter schweren Depressionen und nahm sich das Leben. Ein solches Schicksal war zu der damaligen Zeit kein Einzelfall. Verständlich, dass man unter solchen Belastungen nicht den Einsatz leisten kann, den der Beruf der Hebamme verlangt.
Das Krankenhaus des Ortes bot mir Aufnahme an, Ärzte und Schwestern waren mir zugetan. Des Öfteren versorgte man mich mit einem Teller warmer Suppe oder einer Tasse Pfefferminztee mit einem Stück Brot, wenn ich erschöpft von einer lange währenden Hausgeburt nach Hause kam. Wie dankbar war ich dafür, denn Nahrungsmittel waren immer noch knapp!
Mit einigen Ausnahmen leistete ich im Krankenhaus Geburtshilfe; die Arbeitsbedingungen waren gut. Nach einigen Wochen nahm die Kollegin die Arbeit wieder auf, so dass es für mich erneut Abschied nehmen hieß von einer mir liebgewordenen Umgebung. Inzwischen kam der Sommer ins Land. Verträumt und still lag der kleine Ort Kraiburg im oberbayerischen Inntal, in den es mich nun verschlagen hatte. Für eine ältere, schwer erkrankte Kollegin sollte ich bis zu ihrer Genesung die Arbeit übernehmen. Doch es sollte alles anders kommen, als ich dachte, denn Kraiburg wurde mir zum ständigen Wohnsitz, zu meiner zweiten Heimat.
Zunächst war es ein schwerer Beginn, denn meine Vorgängerin war äußerst beliebt. Ihre lange Lebensund Berufserfahrung kannte jeder. Ein schwerer Start für mich. Die Bewährungsprobe musste ich erst bestehen, um überhaupt Fuß fassen zu können.
Mit sehr gemischten Gefühlen ging ich an die Arbeit, denn auch die beiden Ärzte des Marktes betrachteten mich mit Misstrauen. Das ungemütliche, spärlich möblierte Zimmer, das nicht heizbar war und über einer Garage lag, war auch nicht dazu angetan, mein Lebensgefühl zu heben. Doch der Verlauf des Antrittsbesuches in dem kleinen Krankenhaus des Ortes, das von Ordensschwestern geleitet wurde, gab mir einigen Auftrieb. Der Chefarzt kam mir freundlich entgegen und sagte:
»Seien Sie herzlich willkommen, ich hoffe, Sie werden sich wohlfühlen bei uns. Was Ihre Arbeit betrifft, so werden Sie sie meistern, denn Sie sind noch jung und dem Aussehen nach gesund. Auf gute Zusammenarbeit.«
Nun fühlte ich mich schon etwas wohler in meiner Haut, und als auch noch Frau Oberin mich freundlich willkommen hieß indem sie sagte: »Zu diesem schweren Beruf wünsche ich Ihnen Gottes Segen, den Sie nötig brauchen werden. Sollten Sie Sorgen haben, beruflicher oder privater Art, ich bin immer für Sie da«, da war ich wirklich erleichtert.
Ich habe diese Worte nie vergessen, bis heute nicht. In vielen schwierigen Situationen holte ich mir Rat, auch in späteren Jahren, bei dieser gütigen, weisen Frau, über deren Wesen Ruhe und Würde lag.
Nun kamen die ersten Anmeldungen der werdenden Mütter. Immer wieder bekam ich zu hören, dass man einige Zweifel an meinem Können hege, weil ich noch so jung und so mager sei. Von einer Hebamme hatte man offenbar andere Vorstellungen. Manches Mal war ich den Tränen nahe. Ich fühlte mich der Sache durchaus gewachsen und mager war ich gewiss nicht. Ich sehnte mich zurück nach Breitenbronn, dessen Menschen mir so zugetan waren.
Aber eines Tages kam doch noch die Wende. Eine junge Mutter erwartete ihr drittes Kind. Der werdende Vater kam sichtlich nervös mich zu holen, denn das Kind sollte zu Hause geboren werden. In der kleinen, aber gepflegten Wohnung war alles wohl vorbereitet für die Ankunft des kleinen Erdenbürgers. Bei meinem Eintritt musterte mich die werdende Mutter kritisch, und sie wollte gerade zu einer längeren Rede ansetzen, als eine Wehe einsetzte. Dem Schmerz gab sie lautstark Ausdruck, und mit jeder Wehe steigerte sich die Lautstärke. Ich versuchte der Kreißenden zu erklären, dass nicht schreien, sondern atmen und den Körper entspannen wichtig sei, um dem Kind Sauerstoff zuzuführen, den Geburtsschmerz zu vermindern und den Ablauf zu verkürzen. Aber die Antwort belehrte mich eines Besseren. »Ja, glauben Sie, ich schreie grundlos? Er«, damit war der Ehemann gemeint, »soll wissen, was er mir angetan hat und was ich erleiden muss seinetwegen. Das ist meine Rache!« Welche Logik! Aber im Laufe der nächsten Stunden bemerkte sie doch, dass meine Theorie die bessere war, und somit nahm der Geburtsverlauf ein gutes Ende.
Das wohlgeformte kleine Mädchen begrüßte mit einem kräftigen Schrei diese Welt. Auch die Gesichtszüge der Mutter veränderten sich zu einem glücklichen Lächeln.
Der Redseligkeit der Mutter habe ich viel zu verdanken. Sie lobte mich bei allen, mit denen sie über die Geburt und mich sprach. Mit einem Mal spürte ich das Vertrauen, das ich so dringend brauchte.
Als in jenem Jahr der Sommer in den Herbst überging, neigte sich das Leben meiner Vorgängerin seinem Ende entgegen. Ein Leben, das geprägt war von Sorge um Mutter und Kind und von Verantwortung und Mühe. Eine große Trauergemeinde, die von der Wertschätzung der Verstorbenen zeugte, begleitete sie zur letzten Ruhestätte.
Ich erhielt nun die Niederlassungserlaubnis von der Gemeinde und der Regierung von Oberbayern für den Bereich Kraiburg und Umgebung und somit hatte ich meinen festen Wohnsitz. Die Zulassung zu den Krankenkassen verlief reibungslos, womit ich auch behördlicherseits als zuständige Hebamme anerkannt war. Der Bürgermeister des Ortes verhalf mir zu einer besseren, wenn auch bescheidenen Wohnung. Nach einiger Zeit war ich sogar Besitzerin eines Kleinwagens, den ich unter schweren finanziellen Opfern erwarb. Aber ich war nun beweglicher und konnte die oft weiten Entfernungen zu den einzelnen Höfen und Ortschaften leichter bewältigen.
Es war November und hatte frühzeitig zu schneien begonnen, als ich eines Nachts zu einer jungen Bäuerin gerufen wurde, die ihr erstes Kind erwartete. Weit entlegen und abseits der Straße versuchte ich den Weg zu finden, der mich zum Breitmeierhof bringen sollte.
Vom Kirchturm in Grünberg schlug es gerade Mitternacht, als ich das Anwesen betrat. Eine junge Frau blickte mir entgegen, Angst in den Augen. Auch dem werdenden Vater sah man in seinen Bewegungen und Gesten die Unruhe an. Auf meine Frage an die Schwangere, was sie denn so ängstige, sagte sie: »Weißt, ich hab schon lange keine Mutter mehr, die ich fragen könnte. Ich weiß nicht so recht, was auf mich zukommt. Darum habe ich Angst, schreckliche Angst vor den kommenden Stunden.« Weiter erzählte sie, dass sie den Hof habe übernehmen müssen, nachdem zwei Brüder in Russland gefallen seien. Schwiegermutter gäbe es auch keine mehr, sie sei ebenfalls tot. Der Vater sei noch am Leben, er arbeite auf dem Hof und auf den Feldern noch mit, aber seit dem Tode der Mutter sei er wortkarg und verschlossen.
In einem beruhigenden Gespräch versuchte ich ihr den Geburtsvorgang zu erklären, dass die Wehen notwendig seien, um den Geburtsweg vorzubereiten, die Austreibungsperiode viel Kraft ihrerseits erfordere und dass auch dem Kind sehr viel abverlangt werde. Ich sagte ihr, dass ich ihr dabei helfen würde, alles zu einem guten Ende zu führen. Sie müsse bedenken, dass es allen Müttern dieser Welt gleich ergehe, aber die Liebe und Freude zum Kind ließe alles leichter ertragen.
Ihr Blick drückte Dankbarkeit aus, wenn ich ihre Hand hielt und ihr Mut zusprach. Die Angst wich einer leisen Freude und auch ihr Mann schien die Unruhe zu verlieren. Er machte sich nützlich bei den Vorbereitungen, die ich ihm auftrug.
Als gegen Morgen die kleine Barbara den ersten Schrei tat, schienen alle wie von einer Bürde befreit. Nun kam auch der alte Bauer, jetzt Großvater, und meinte, es sei wie ein Wunder. Mehr sagte er nicht, aber dabei hatte er Tränen in den Augen.
Weil die kleine Barbara mit ihren 2400 Gramm etwas zart war, hielt ich es für angebracht, am Abend noch einmal nach ihr zu sehen. Sie hatte sich von der Anstrengung der Geburt gut erholt, nuckelte kräftig an ihrem Daumen und schien mit sich zufrieden. Jetzt war auch Tante Regina, eine entfernte Verwandte, eingetroffen, welche die Pflege der jungen Mutter und die Versorgung des Haushalts übernahm. Ich beauftragte sie, das Kind warm zu halten und zeigte ihr die Wärmflasche, die ich ins Bettchen legte. Es schien alles in bester Ordnung, das dachte ich jedenfalls. Aber was sich in jener Nacht ereignete, ließ mich zu Tode erschrecken, und auch heute noch denke ich mit Entsetzen an jene Vorkommnisse.
Ganz gegen meine Gewohnheit, noch vor der Arbeit im Krankenhaus, machte ich mich am frühen Morgen auf den Weg nach Breitmoos, um Mutter und Kind zu versorgen. Als ich nach dem Befinden der kleinen Barbara fragte, erzählte mir die Mutter, dass sie die Nacht unruhig gewesen sei und lange geweint hätte, nun sei sie eingeschlafen.
Das dachte ich zunächst auch, doch als ich das fest verschnürte Bündel von Federkissen und Wolldecken sah, in dem sich Barbara befand, ahnte ich nichts Gutes. Feuchtdunstige Wärme schlug mir entgegen, als ich die Kleine von dem Ballast befreite. Das Kind gab kein Lebenszeichen mehr. Leblos hielt ich es in meinen Händen, das Köpfchen fiel zur Seite, und Arme und Beine hingen schlaff am Körper. Blutleer das kleine Gesicht, aber der Rücken blaurot verbrannt. Nun bemerkte ich erst das Heizkissen, das noch angeschaltet war. Tante Regina hatte, um das Kind vor Kälte zu schützen, statt der Wärmflasche das moderne Heizkissen verwendet. Stumm vor Entsetzen sah die Mutter auf ihr Kind, das sie mit soviel Liebe und Freude erwartet hatte. Ich versuchte durch Beatmung und Wiederbelebung das schier Unmögliche wahr zu machep und glaubte einen ganz schwachen Herzschlag zu spüren. In aller Eile wollte ich das Kind zu meinem Wagen bringen, um es im Krankenhaus in ärztliche Hände zu geben, da kam der Großvater, nahm mir das Körbchen aus den Händen, trug es aus dem Haus und sagte zu mir bloß: »Tu alles, was du kannst ...«
Der zuständige Arzt des Krankenhauses sah auf das leblose kleine Wesen und meinte: »Was wollen Sie, das ist ein sterbendes Kind, ich habe da keine Hoffnung mehr.« Aber ich sagte ihm: »Bis nicht alles getan wurde, so lange glaube ich an eine Wende zum Guten.« Das war wohl ein Wunschgedanke, an ein gutes Ende glaubte ich ja selber nicht.
Die Injektion zur Stabilisierung des Kreislaufes hatte einen leichten Erfolg. Die Herztätigkeit wurde etwas kräftiger, und für einen kurzen Augenblick öffnete das Kind die Augen. Nach einer Stunde etwa tat Klein-Barbara einen dünnen Schrei. Ich versuchte nun durch Flüssigkeitszufuhr den Wasserverlust bei ihr aufzuholen und hatte Erfolg. Die Kleine erholte sich nach einigen Tagen zusehends, auch die Heilung der Brandwunden machte gute Fortschritte; nach zwei Wochen konnte sie nach Hause entlassen werden. Dieses Mal hatten wir dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Wäre ich damals zehn Minuten später gekommen, hätte mit Sicherheit niemand mehr der kleinen Barbara helfen können.
Den Lebensweg dieses Kindes verfolgte ich, da es so nahe am Tod vorbeigegangen war, sehr lange. Es wuchs zu einem hübschen jungen Mädchen heran, und ich habe sie ganz besonders in mein Herz geschlossen. Aber auch sie scheint mir zugetan zu sein; wenn wir uns begegnen, erzählt sie mir noch heute Ereignisse ihres Lebens.
An einem der letzten Adventstage war ich auf dem Weg nach Adlring, zur Wimmerbäuerin in Wimm, die ihr fünftes Kind erwartete. Es fing an zu dämmern als weitab von der Straße Lichter des Hofes sichtbar wurden. Etwas verärgert war ich darüber, dass nur eine schmale Fußspur zu dem Gehöft führte. Im Allgemeinen war es üblich, dass man den Weg freihielt, wenn die Geburt eines Kindes bevorstand, um Arzt und Hebamme die Möglichkeit zu geben, schnell an Ort und Stelle zu sein. Auf dem Fußmarsch zu der Einöde machte ich mir darüber meine Gedanken. Der Weg führte steil bergauf, durchfroren kam ich in Wimm an.
Die Bäuerin, eine nicht mehr junge, sehr verhärmte Frau, blickte mir mit großen traurigen Augen entgegen. Sie erklärte mir, dass sie in der Stube auf dem Kanapee ihr Bett bereitet hätte, weil das Schlafzimmer nicht heizbar sei. Die vier Kinder saßen um den großen Tisch im Herrgottswinkel und löffelten lautlos aus einer großen Schüssel ihre Mahlzeit und es schien ihnen zu schmecken. Die zehnjährige Marianne räumte anschließend den Tisch ab und brachte die jüngeren Geschwister zu Bett. Bevor sie selber schlafen ging, kam sie noch einmal zur Mutter um sie zu fragen, ob es noch etwas zu tun gäbe. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und zu mir gewandt sagte sie: »Wennst mi brauchst, dann weckst mi halt.« Eine seltsame Situation! Gab es hier keinen Ehemann, keinen Vater?
Sehr bald setzten heftige Wehen ein, doch ohne zu klagen ertrug die tapfere Mutter den Wehenschmerz. In den ersten Stunden des neuen Tages erblickte der kleine Philipp das Licht der Welt, einer Welt, die keine frohe Kindheit für ihn bereithielt, wie ich sehr bald erfahren sollte.
Aber nun gab es Schwierigkeiten in der Nachgeburtsperiode. Die Plazenta schien angewachsen und alle mir zur Verfügung stehenden Mittel, sie zu lösen, hatten keinen Erfolg. Der Blutverlust der Mutter war beträchtlich, und daher auch ihr Allgemeinbefinden nicht zum Besten. Keine Frage, es musste ärztliche Hilfe geholt werden. Und das bei verschneiten und unbefahrbaren Wegen! Nun konnte die Wimmerbäuerin meiner Frage nicht mehr ausweichen: »Wir brauchen dringend einen Arzt, wo ist Ihr Mann?« Da antwortete sie: »Er schläft.« – »Dann werde ich ihn wecken, damit er sich in Eile auf den Weg macht.« – »Tu es lieber nicht, denn er wird nicht aufstehen«, war ihre Antwort. Ich hielt so etwas nicht für möglich und so sagte ich ihr: »Er muss ganz einfach ärztliche Hilfe holen, deshalb werde ich ihn wecken.«
Auf mein Rufen und Klopfen an der Schlafzimmertüre kam keine Antwort, statt dessen drehte sich der Schlüssel im Schloss. Die Türe wurde von innen abgeriegelt. Angst und Wut überkamen mich.
Hilflos starrte ich auf die verschlossene Tür und wusste nicht, wie alles weitergehen sollte. Aber da stand plötzlich die kleine Marianne mit blassem, ängstlichem Gesicht bei mir; sie wusste Rat. Sie holte den Toni, einen entfernten Verwandten, der ein Bein im Krieg verloren hatte und drüben im Austragshaus lebte. Der fuhr mit seinem Motorrad hinaus in die Nacht, die rettende Hilfe zu holen, während der Ehemann in seinem Bett den Schlaf des Gerechten schlief. Ich war fassungslos! Wie konnte es so etwas geben?
Der Arzt kam noch rechtzeitig, um das Leben fieser Frau zu retten, die nun blass und schmal in ihrem Kissen lag, still und gottergeben. Ich stand noch ganz unter dem Eindruck des Geschehens, als sie spontan zu sprechen begann. Ihr Lebenslauf, ganz besonders die traurige Geschichte ihrer Ehe, erschütterte mich zutiefst:
Die Heirat stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Die Eltern beider bestimmten diese Verbindung, es gab kein Wenn und Aber für die jungen Leute, man hatte sich zu fügen, weil es der Wille der Eltern war. Die Mitgift der Braut konnte sich sehen lassen, und dass der Bräutigam wortkarg und in sich gekehrt war und keine großen Worte machte, das führte man auf seine lange russische Kriegsgefangenschaft zurück oder man übersah es geflissentlich. Die Zeit für die harte Arbeit auf dem Hof wurde knapper, als zwei Kinder nacheinander kamen und ihre Pflege forderten. Als das dritte Kind zur Taufe getragen werden sollte, bestimmte der Vater als Termin den Aschermittwoch, der hier zu Lande als strenger Buß- und Fasttag gilt. Den Einwand der tiefgläubigen Mutter, die glaubte, ein solcher Tag sei nicht geeignet, ein Taufmahl zu halten, überhörte er – er blieb bei seiner Entscheidung. Und nun nahm das Verhängnis seinen Lauf. Alle geladenen Gäste, als erster der Ortsgeistliche, der die Taufe vornahm und der nach altem Brauch immer am Taufmahl teilnimmt, weil seine Teilnahme Glück und Segen bringe, weigerten sich, an dem Festmahl beim Dorfwirt teilzunehmen. Diese Demütigung muss dieser Mann wohl schwer verkraftet haben, er, der niemals Widerrede duldete.
Was in ihm vorging, hat niemand erfahren, denn seit jenem Tag richtete er an seine Frau, die Mutter seiner Kinder, kein einziges Wort mehr! Seit acht langen Jahren weder ein gutes noch ein böses Wort. Die zwangsläufigen Fragen des Alltags lösten die Kinder,sie waren die Überbringer von Frage und Antwort. Eine schüchterne Anrede seiner Frau ließ ihn wortlos den Raum verlassen.
Meinen fragenden Blick zu dem Neugeborenen musste sie wohl richtig gedeutet haben, als sie sagte: »Ich weiß, was du denkst, aber das sind Dinge, über die ich niemals sprechen werde, ich nehme sie wohl besser mit ins Grab; sie sind eine einzige Beleidigung für mich.«
Ich glaube, sie hatte recht zu schweigen, verstehen wird dieses Verhalten ohnehin niemand. Ein Akt der Liebe und Zuneigung wird zur Kränkung, zur Demütigung, zur Qual.
In Gedanken versunken, trat ich den Heimweg an. Die Nacht war sternenklar und bitterkalt. Bei meinem Auto angekommen, erlebte ich eine neue Enttäuschung. Die klirrende Kälte von etwa minus 30 Grad nahm es übel, es sprang nicht an. Ich musste den weiten Weg nach Hause - ungefähr zehn Kilometer - zu Fuß zurücklegen, an Kleidung und Schuhen nicht ausgerüstet für einen solchen Marsch.
Zwei erfrorene Zehen erinnerten mich noch lange und schmerzhaft an diese Nacht.
Frühling hielt Einzug ins Land. An einem herrlichen Tag kamen Zigeuner mit ihren Planwagen, Pferden und Hunden und ließen sich am Waldrand in Ortsnähe nieder, sehr zum Unmut der Bevölkerung. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich schon bald mit diesen Menschen konfrontiert werden würde. Wenn ich auf meinen Dienstfahrten an ihrem Lagerplatz vorbeifuhr, sah ich verwahrloste Kinder, abgemagerte Tiere, Armut, Not. Mit ihren dünnen Beinchen liefen mir diese Kinder jeden Tag entgegen, sobald sie meinen Wagen sahen, denn ich brachte ihnen immer etwas Essbares mit.
An einem Sonntagnachmittag stand einer dieser Zigeuner vor meiner Tür und erklärte mir, dass eine junge Frau meine Hilfe brauche, ich solle in ihr Lager kommen. Das Aussehen dieses Mannes war nicht gerade Vertrauen erweckend, und mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Weg.
Die Kreißende konnte ich nicht sogleich wahrnehmen, ich musste mich erst von der Helle draußen an die Dunkelheit im Inneren des Wagens gewöhnen. Aber nun gewahrte ich schemenhaft auf einem Bündel Stroh in der Ecke eine Gestalt: eine junge Frau, erst 16 Jahre alt. Ihrem Gesichtsausdruck nach lag sie schon lange Zeit in den Wehen. Sie hatte ein deformiertes Becken, fast aussichtslos, auf natürlichem Wege dieses Kind zur Welt zu bringen. Ich erklärte den Umstehenden, dass es besser sei, in einem Krankenhaus die Geburt durch Kaiserschnitt zu beenden. Aber strikte Ablehnung war die Antwort. Ich war ratlos. Die Wehen zogen sich endlos hin. Das einzige Ergebnis war eine immer größere Erschöpfung. Die Frau war geduldig, aber so hoffnungslos, wie eben ein Mensch in großer, beständiger Armut werden kann. Die Beckenverkrümmung rührte von einer früheren Rachitis her, die man nicht erkannt und nicht beachtet hatte. Ich konnte dieser jungen Frau nicht einmal Worte des Trostes sagen, denn sie verstand unsere Sprache nicht.Ähnlich einem kranken Tier erfasste sie jedoch instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Sie schrie nicht. Aus der Tiefe des aschgrauen Gesichts starrten angstvoll die dunklen, weit geöffneten Augen. Ein qualvolles Ächzen kündigte an, dass das Schlimmste zu befürchten war. Mit einer normalen Geburt war nicht mehr zu rechnen. Die Frau war mit ihrer Kraft am Ende. Sie hatte sich selbst aufgegeben, lag in dumpfer Ergebenheit da, nicht gewillt, auch nur die leiseste Anstrengung zu machen. Es war schrecklich.