Reinhard Mehring: Landwehrkanal
Impressum
Einige Sätze vorab
Inhalt
Teil I. Rückerinnerungen
Teil II. Nachwendezeit
Teil III. Causa Beneke
Teil IV. War es Mord?
Teil V. Ehrengrab, kassiert
Bildteil
Nachwort
Abbildungsverzeichnis
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg
Herstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN (Buch) 978-3-495-49115-7
ISBN (E-Book) 978-3-495-81954-8
Die Wolken, die himmlischen, sind’s,
die Kraft und Ideen uns gnädig verleihen.
Aristophanes, Die Wolken
Der Perle aus dem LSD-Kiez
Die folgende Novelle erzählt in drei Zeiten von deutscher Nationalgeschichte: von der Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts an der noch jungen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, die später in Humboldt-Universität umbenannt wurde und 1990 an den Westen fiel, von den Wendezeiten der HU in den frühen 1990er Jahren und der Lage des akademischen Nachwuchses im Bekenntnisfach Philosophie und drittens vom Herbst 2015. Es gibt drei Hauptfiguren: einen M., der sich an einen verschollen Freund R. erinnert, sowie eine typische Figur der Universitätsgeschichte: Friedrich Eduard Beneke, der 1798 in Berlin geboren wurde, im 19. Jahrhundert einige Jahrzehnte mit mäßigem Erfolg lehrte und 1854 unter bislang ungeklärten Umständen verstarb.
Viele Namen aus der Berliner Universitätsgeschichte werden dem Leser begegnen und einige Tatsachenbehauptungen dieses Textes lassen sich bestätigen. Das Ganze ist aber erdichtet. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen sind deshalb rein zufällig. Denn im Rahmen einer Dichtung werden alle Fakten zum Traum.
Einige Sätze vorab
Teil I.
Rückerinnerungen
1. M. & R.
2. Gegen den Mainstream
3. Sieger und Besiegte
Teil II.
Nachwendezeit
1. Mitte-Poesie ’92
2. Warum Berlin?
3. Am Institut
4. Wende-Bericht
5. Verdüsterungen
6. Perlen & Schlangen
7. »Ich war früher öfter im Westen!«
Teil III.
Causa Beneke
1. Übergabe des Projekts
2. Lehrjahre bis 1831
3. Vormärz und Winterreise
4. Im Kammergericht
5. Der Verschollene
6. M. überwintert
Teil IV.
War es Mord?
1. Doppelleben
2. Lose Notizen
3. Berufungsfragen
4. Wohin ging Beneke?
5. Letzte Fragen
Teil V.
Ehrengrab, kassiert
1. Die Seele Europas im Audimax
2. Ein letzter Gang
Bildteil
Nachwort
Abbildungsverzeichnis
›Die meisten universitätsgeschichtlichen Dokumente, in denen R. sein Leben spiegelte, müssen irgendwann verloren gegangen sein, vielleicht beim letzten Umzug des Archivs nach Adlershof. Es gab ja so viele Umzüge, da bleiben Verluste nicht aus.
Vielleicht hatte R. mehr Notizen und Kopien, sie wurden jedenfalls nicht gefunden, als man hinterher seine Wohnung räumte. Wahrscheinlich hat niemand gesucht. Ich selbst habe auch nicht daran gedacht und es war mir also, offen gestanden, wohl nicht wichtig. Nur ein paar Beneke-Materialien hüte ich also, die er mir damals, wie er sagte, zur Einschätzung gab. Zurück wollte er sie nicht. Jedenfalls war er dann weg, wie Beneke.
Briefe hätte ich aufbewahrt, wenigstens einige zwischen den Büchern, aber wieso hätte er schreiben sollen? Wir sahen uns in der Universität oft genug, auch in Kreuzberg oder Mitte.‹
M. saß am Schreibtisch, blickte auf ein älteres Foto, das er in einer Universitätsgeschichte eingelegt fand, und schaute aus dem Fenster heraus über die Wiesen. Das Foto zeigte R. unter dem Reiterstandbild des preußischen Königs, das Honecker 1987 erneut aufstellen ließ, als ob er den kommenden Systemwechsel geahnt habe. Das königliche Pferd schritt gravitätisch in Richtung Rotes Rathaus. Unter dem Schweif hatte der Schöpfer, Christian Daniel Rauch, die Aufklärer und Reformer platziert. Lessing und Kant dachten hier ins Gespräch vertieft nicht daran, was sie unter dem Schweif erwartete. Die Szene wurde oft so verstanden, dass Rauch die Verachtung der deutschen Dichter und Philosophen durch den Philosophen von Sanssouci ironisieren wollte. So fremd stand vielleicht auch der alte Honecker zur Humboldt-Universität.
Auf dem Foto blickte R. scharf, bleich und ernst in die Kamera und hob den Zeigefinger mahnend zum Schweif. Er war ziemlich groß, drahtig und schlank, nachlässig gekleidet. Im Hintergrund führte die fast leere Lindenallee über Oper und Zeughaus hinaus Richtung Alexanderplatz. Zur Rechten spiegelte die kupferne Glasfront des Palastes der Republik die gleißende Wintersonne.
M. träumte sich in die Nachwendezeit der 1990er Jahre zurück. Seine Gedanken zogen am Hauptportal und Büchertisch vorbei ins Foyer der Universität, auf den massigen, rotbraunen Treppenaufgang zu, wo ihn die wohlbekannte Feuerbach-These erwartete: Die Philosophen haben die Welt / nur verschieden interpretiert, / es kommt aber darauf an, / sie zu verändern. Hatte Marx die Philosophie einst zur »Waffe« der Arbeiterklasse erklärt, so las sich die These anderthalb Jahrhundert später, am Ende einer Universitätsepoche, nun so resignativ und sarkastisch wie die Geste und These des Rauch-Denkmals, das fast gleichzeitig in den 1840er Jahren entstanden war.
Die Feuerbach-These zielte einst gegen Feuerbach, Hegel und die ganze deutsche Philosophie seit Kant. Sie packte den Idealismus in seiner Ohnmacht als eine homogene Gruppe zusammen. »Die Philosophen«, das waren im HU-Sattel etabliert vor allem die Ordinarien, die Lehrstühle besetzten und volles Stimmrecht besaßen. Bis zum Ende der königlich-preußischen Friedrich-Wilhelms-Universität, bis zur Sowjetisierung und Gründung der DDR waren es lächerlich wenige gewesen: knapp zwei Dutzend für fast 150 Jahre. Besonders berühmt wurden Fichte und Hegel, Zeller, Dilthey und Troeltsch. Nicht weniger wichtig waren aber auch Trendelenburg oder Spranger, der 1945 als letzter Rektor der alten Universität demissioniert hatte. Sie waren fast alle bekennende Protestanten gewesen und standen fest zu Preußen und zum deutschen »Reich«. Sie strebten nach Ämtern, arbeiteten mit den Ministerien zusammen und sahen sich als nationalliberale Erben und Hüter des deutschen Idealismus an.
M. blickte auf das Foto. In der DDR konnte R., wie fast alle, kaum publizieren. Später wurde es besser. Er schrieb ein paar kleinere Wendeprogramme, die ihm erste Angebote freundlicher Kollegen aus dem Westen brachten, und Anfang der 1990er Jahre sah es für ihn eigentlich gut aus, nicht schlecht jedenfalls, wie bei anderen, die Unterschriften geleistet und Berichte geschrieben hatten. R. hatte das nicht nötig, soweit M. damals wusste. Er war Nomenklatura-Kind, wie so viele Unter den Linden, in der Sektion marxistisch-leninistische Philosophie; R. bekam eine schöne Überleitung. »Mach was draus!«, sagten sie ihm. Viele kamen befristet in Überleitungsprojekte unter, wenn sie nicht gegangen wurden.
R. hatte es gut getroffen: Er forschte zur Geschichte der Universität, der allerheiligsten Lehrkanzel des deutschen Geistes: von Fichte und Hegel bis zu den jüngsten Erben und Erbschleichern. Sind alles bloße Schleiermacher, hatte Nietzsche dazu einst gemeint, verkappte protestantische Theologen. R. war mit einem schönen Projekt beauftragt, das nicht bei Null startete. Da hatte er Glück gehabt, andere hatten es schwerer. Ob der Einstieg in die West-Philosophie über diese Geschichte funktionierte, stand zwar in den Sternen; R. brachte aber einiges Handwerk mit. Sein Marx-Studium war nicht sinnlos gewesen. Im Deutschen Idealismus fühlte er sich wohl und er freute sich auf das Archiv. Fünf Jahre sollte das Projekt laufen, fünf Jahre im Archiv! Da mochte die Bonner Republik den Osten kolonisieren, wie sie wollte, im Archiv steht die Zeit still.
M. blickte auf und geriet ins Selbstgespräch. ›So etwa ging R. an die Sache heran, als wir uns kennenlernten. Alles hat er mir nicht erzählt. Ich kam ja aus dem Westen und konnte nicht mitreden, wie es in der DDR war. In der Sektion, die den wissenschaftlichen Sozialismus für sich gepachtet hatte. Da lief man staatstragend durch die Gänge. Es gab das Marmorfoyer, den segnenden Lenin der Kommode, das Antifa-Denkmal im Hof, das fortschrittsfrohe Glasfenster vor der Aula, das Einstein mit Gagarin und Frieden zusammenschloss. Berlin war die Universität des Mittelpunkts, und die Sektion war die Mitte der Mitte; Berlin, Sektion, Hegel!
R. hatte es besser getroffen als die meisten seiner Kollegen und Kommilitonen. Er sollte zu den Wendegewinnern gehören und brauchte sich nicht zu verbiegen. Deutscher Idealismus aus den Quellen erzählt, das war sein Thema. So sah er es, als ich ihn 1992 kennenlernte, und ich zweifelte nicht, dass er es schaffen würde, anders als ich, der aus dem Off kam und nichts vorzuweisen hatte. Weder das nötige Handwerkszeug noch die Begabung.
Es wurde damals in der Wende-Euphorie begeistert geredet und gestritten. R.’s Seminare gefielen den wenigen Teilnehmern, so dass es mancherlei Fortsetzungen und Gelage gab, Hinterhofpartys im Abbruchmilieu und zerwühlte Betten. R. goss damals, nach der Wende, bittere Wahrheiten über die alten Diskurse aus und entdeckte in exklusiven Lehrveranstaltungen Heinrich Heine und Feuerbach gegen Marx neu. Ein Exposé über den Neustart der Feuerbachforschung trug ihm seine Projektstelle ein. Damals war er eine Hoffnung.
Nebenbei beschäftigte er sich mit der Familienbiographie von Marx, die manche Fragen aufwarf. Zur Dissertation in Jena etwa oder dem Schicksal der Kinder. R. wollte seine Funde aber nicht verschleudern, sondern alles in die Universitätsgeschichte packen. Ein tolles Projekt, Berliner Philosophiegeschichte aus den Akten, nach zweierlei Diktaturen! Eigentlich müsste das Buch seit zwanzig Jahren auf dem Markt sein, eigentlich sollte R. längst etabliert sein, einer der wenigen Übernommenen, die es schafften. Gerade in Berlin nahm man Rücksichten auf Biographien. Nicht alle sollten exkludiert werden, wie sieht denn das aus? Wie eine feindliche Übernahme!
Es muss Aufzeichnungen gegeben haben, Teilmanuskripte, wahrscheinlich nicht wenige, er war kein Blender. Vielleicht war er mit seiner Monographie fast fertig gewesen, als er ging, mit der anderen Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie. Er hat es anders gewollt, oder war es Beneke? Nur ein paar Aufzeichnungen bleiben mir heute, nur etwas Eduard. Keine ausgearbeitete Manuskripte, posthume Entdeckungen und Ehren. Nur Erinnerungen, die ich abgelegt hatte und die wieder aufleben, seitdem ich in seine Bahn einkehre.‹
M. betrachtete das Foto erneut, R. unter dem Denkmal.
›Wahrscheinlich lag er einfach auf meinem Weg und ich musste ihn vergessen. Wahrscheinlich sind es nur die wichtigen Jahre, die mich erinnern lassen. Wir arbeiteten einige Jahre am gleichen Lehrstuhl zusammen, er schrieb an seiner Geschichte der Universitätsphilosophie, die er aus den Akten erarbeitete, als Urberliner, Ossi; ich kam dagegen aus dem Westen, lehre heute an einer randständigen Hochschule im Südwesten: ordentlich verbeamtet, in Sicherheiten, wie sie R. – und gar Beneke – nie erlangte. Das sind die Fakten, so ist es. R. hatte mehr Begabung, zweifellos, war aber irgendwie unwillig, seine Talente ins Licht zu stellen.
Wahrscheinlich hätte das auch nicht gereicht. Karrieren hängen nun einmal an Herkunft und Netzen, an institutioneller Macht. Da hatte R. die schlechteren Karten. Obwohl? Wenn die Mauer noch stünde? Er war Nomenklatura-Kind, gewiss wäre er Mitte der 1990er Jahre, als er ging, ohne Mauerfall glänzend installiert gewesen. Er war es ja, bevor die Wende kam, die er lange gewünscht und begrüßt hatte.
Wie war es eigentlich gewesen? Ich lebte damals mit meinen akademischen Aufgaben über meine Verhältnisse und zweifelte sehr, ob ich bestand. Die HU war eine Hypothek, eine Marke. Die berühmteste deutsche Universität, gerade in der Philosophie. Die Lehre verlangte einiges, obgleich die Wendestudenten, die aus dem Osten kamen, genügsam und motiviert waren. Zwei Seminare pro Semester waren zu veranstalten, neben sonstiger Lehrstuhlarbeit, mit immer neuen Themen. Das klingt läppisch, aber es hing was dran. Lehrerfahrung hatte ich zwar, aber Berlin war etwas anderes. Ich hatte so viele Lücken und Defizite, es fehlte ein Thema, das strategisch clevere Projekt, das mich interessierte und machbar war. Ich musste froh sein, durch die Wende irgendwie profitiert zu haben.‹
M. nahm einen Schluck aus dem Glas und sann weiter.
›Wendegewinner, Schuft! Niemals wäre etwas aus dir geworden! Draußen irgendwo unterkommen, wenigstens für einige Jahre! Das war pure Hoffnung. Und nun Berlin, ausgerechnet. Ein Traum! Einige Jahre Gnadenfrist im Elfenbeinturm, Urlaub vom Leben. Wenigstens einige Jahre wollte ich es wagen, egal, ob eine Habilitationsschrift draus würde. Damit war nicht zu rechnen, eigentlich nicht. Zu gewaltig war der Umstieg ins Fach, ins Milieu, in die große, geschichtsträchtige Stadt! R. sollte es schaffen, das habe ich erwartet, er kam daher und kannte sich aus, war im Stoff. Er erzählte so anregend von seinen Funden, wenn wir uns in der Kantine trafen und im Innenhof mit dem Blick auf Humboldts Ginkgo-Baum unseren Kaffee tranken!‹
Das Archiv lag damals noch in der Kommode nebenan, in der alten Königlichen Bibliothek am Opernplatz. Die Mitarbeiter waren freundlich. Verbotene Bücher und verschlossene Bibliotheken war man satt, es brauchte plötzlich keine Erlaubnisse mehr, Bücher zu erhalten. Alle Archive offen, alle Lizenzen frei! Die Stasi hatte zwar viel geschreddert, nach dem Sturm, aber nicht alles war weg. Wenige Akten konnten über Existenzen entscheiden, eine Notiz. Niemand blockierte jetzt die Recherchen, Personenschutz gab es kaum. Es war alles so lange her, eine untergegangene Welt lag dazwischen: die DDR. In den Akten wird es schon stehen!
R. wurde damals in der Universitätsgeschichte reichlich fündig: in den Abläufen des Betriebs und dem allzumenschlichen Gossip dahinter. Was Fichte plötzlich gegen Studenten hatte und Schopenhauer gegen Hegel. Viele Geschichten schleppte R. in die Kantine. Vom Gegensatz zwischen Schleiermacher und Hegel und Schleiermacher als heimlichem König der Philosophie. Er war stets mit Lehrveranstaltungen präsent gewesen, hatte Heinrich Ritter etabliert und Trendelenburg geprägt, den Lehrer Diltheys, der seinen Ruf nach Berlin bald mit einer magistralen Schleiermacher-Biographie begründete. R. sprach vom blasierten Gabler, dem Hegel-Nachfolger, den niemand kennt, und von Trendelenburg, der seit den 1830er Jahren jahrzehntelang für Kontinuität und Einspruch gegen den Abschied vom Idealismus stand.
Trendelenburg setzte Philologie und Aristotelismus gegen den spekulativen Materialismus der neuen Zoologen nach Darwin. Sein Schüler Dilthey wurde dann zum Erben der ganzen nationalprotestantischen Chose. Der preußische Nationalliberalismus knickte nach 1848 vor Bismarck ein, arrangierte sich mit dem Wilhelminismus, feierte die Reichsgründung als epochale Tat und vergaß darüber den Bruch des königlichen Verfassungsversprechens und die einstigen vormärzlichen Hoffnungen. Dilthey mischte hier an der Seite des Hofhistorikers Treitschke tüchtig mit. Auch er glaubte an die deutsche Sendung Preußens und das glückliche Ende der Nationalgeschichte im »organischen System« des imperialen Kaiserreichs. R. wertete vieles um: Nein, Dilthey sei als philosophischer Innovator letztlich nicht so wichtig gewesen, Carl Stumpf dagegen, neben Dilthey lehrend, unterschätzt. Stumpf war ein experimenteller Kopf, blieb als Stammvater der »Gestaltpsychologie« zwar irgendwie Platoniker, war aber von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vergessen oder in die randständige Psychologiegeschichte abgedrängt worden.
R. sprach von der selbstgefälligen Arroganz der Nachgeborenen, die gerne übersahen, was sie ihren Vorgängern verdankten. Von konfessionellen Fragen in der preußischen Kapitale, die gar nicht fromm war. Aber in der Philosophie sollte Protestantismus gelehrt werden, darauf achtete das Ministerium. Idealismus, Schleiermacher! Konvertierte Katholiken, in Gottes Namen, aber keine Juden! Mag Stumpf habilitieren, wen er will. Auch Juden, Kruzitürken! Konvertierte Juden lehrten vor 1848 schon an der Berliner Universität. Nicht nur in den Naturwissenschaften. Der Kirchenhistoriker Neander beispielsweise, der Hegel-Schüler Gans. Nicht aber in der Philosophie! Stumpf und Dilthey habilitierten einige. Simmel und Cassirer aber konnten in Berlin keine Ordinarien werden. Jüdische Privatdozenten gab es zwar, gerade am Psychologischen Institut, das weiter zur Philosophie gehörte. Aber die berufen wir nicht, nicht ins Ordinariat. Sagt das Ministerium. Sei Troeltsch vor, der Religionsphilosoph, der die Fakultät auf Linie bringt. Juden promovieren, gerne. Habilitieren, vielleicht, um des Weltrufs willen. Aber keinesfalls berufen! So weit sind wir noch nicht. Hier geht’s nicht zu wie bei den Sozialdemokraten, nicht, solange der Knebelbart sitzt!
Viele Geschichten erzählte R. so aus der Hochzeit der Berliner Universitätsgeschichte, dem langen 19. Jahrhundert, und er redete sich in Rage, je mehr er ins 20. Jahrhundert kam. Wie verkürzt wurde die Philosophiegeschichte doch meist nur am Schnürchen des alten Kanons erzählt! Von Luther zu Troeltsch, Kant zu Hegel, vom jungen Hegel zum alten Dilthey! Von Humboldt zu Spranger. Als ob alles so kommen musste, wie es kam, als dialektisch notwendiger Gang des »absoluten Geistes«. Als ob der absolute Geist über den Wassern der Spree hing und in der Humboldt-Universität inkarniert war!
Die DDR hatte das Faschismusetikett großflächig verhängt. R. widersprach dem Label für die Ordinarien. Den Lehrstuhl für theoretische Philosophie vertrat Nicolai Hartmann vor und nach 1933, der war kein Nazi gewesen; Spranger hatte 1933 öffentlich protestiert, war dann zwar eingeknickt, hatte Kompromisse gemacht und nationalistische Zweideutigkeiten publiziert, blieb aber ein autoritär-rechtsstaatlich gesonnener Protestant und wurde nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 inhaftiert. Köhler war der klarste, eindeutigste Fall moralisch-politischer Gegnerschaft, R. hatte die Personalakte gelesen. Er hatte gegen die Entlassung seiner jüdischen Kollegen sofort protestiert, seine Professur niedergelegt und war in die USA emigriert.
Die Nazis kamen erst 1933 ins Fach, von der Fakultät nicht gewollt und vom Ministerium oktroyiert. Der »politische Pädagoge« Alfred Baeumler kam zuerst, zu Sprangers Entsetzen, ein verrückter und gefährlicher Mann. Heidegger wurde dann zum Wintersemester 1933/34 mit politischem Auftrag berufen. Der Lobredner des »Seins zum Tode« war damals schon ein verkitschter Quatschkopf. Niemand wollte ihn, Spranger nicht und Baeumler auch nicht. Heidegger wäre gerne gekommen, war aber eingeschnappt, weil er nur vom Staatssekretär empfangen wurde und keinen Zugang zum Führer erhielt. Carl Schmitt demonstrierte ihm damals im Hotel Kaiserhof, Hitlers Residenz, dass ein Kronjurist über anderen Einfluss verfügt. Heidegger resignierte, warf sein Rektorat hin und zog sich in seine Herrgottsecke zurück. Er wenigstens blieb dem Fach erspart.
Den schlimmsten Umbruch gab es in der Psychologie. Die hatte sich im Ersten Weltkrieg als Kriegswissenschaft etabliert und empfohlen. Kriegstraumata waren ein zentrales Thema, weil die Jungens wieder an die Front sollten. Merkwürdige Gestalten kamen dann durch den Nationalsozialismus ins Institut: zum Beispiel Ludwig Ferdinand Clauss, einst Husserl- Assistent, Ethnologe, Völkerpsychologe. Er lehrte »Rassenseelenkunde« und schützte irgendwie doch eine jüdische Freundin, sodass es für einige Jahre einen Gedenkstein in Yad Vashem gab. Ein Versehen, das heute korrigiert ist. Clauss war ein Querulant, Randgänger. Was Heidegger einst in Freiburg von ihm dachte? Damals schon polarisierten sich die Fronten. Oskar Becker, ein Heidegger-Fan, wurde scharfer Antisemit. Saßen sie damals in Freiburg mit Clauss zusammen? Ohne Edith Stein natürlich, die zu Husserl hielt. Die eine ins KZ, der andere nach Yad Vashem.
Die jüdischen Dozenten mussten fliehen. Cassirer ging von Hamburg aus über England und Schweden in die USA. Andere hatten noch krummere Wege, und nur wenige kehrten zurück. Arthur Liebert zum Beispiel. Dilthey-Schüler, der getreue Sekretär und Eckermann der Kant-Gesellschaft. Ein Netzwerker im Areopark des Faches, Idealist reinsten Wassers auf den Spuren der platonischen Akademie. Er glaubte bis 1933, den Weltgeist zu verwalten, hielt an seinem alten Glauben fest und rettete sich unter furchtbaren Demütigungen und Opfern über Belgrad mühsam nach England. Auch dort noch suchte er die verstreute Zunft zu vernetzen und den Humanismusdiskurs zu pflegen; er begründete eine Exilzeitschrift, schrieb über Idealismus, Liberalismus und Humanismus und verfasste eine Elegie auf die »Heimkehr«, tausend Seiten, bevor er in sein »Vaterland« remigrierte, das ihn 1946 erneut nicht wollte. Wenige Wochen nach der Heimkehr verstarb er in Berlin, wo er geboren war, die Berufungsurkunde noch nicht eingetütet, fast unbemerkt und bald vergessen an einem Schlaganfall. Oder war es ein letzter Gang den Kanal entlang, wie bei Beneke?
Nur wenige Berliner Dozenten konnten sich im Exil etablieren. Sie alle hatten furchtbare Diskriminierungen und Verluste erlitten. Es gab nach 1945 zwar Rückrufaktionen. Viele wollten aber nicht zurück, einige nur in den Westen. Paul Hofmann, Alfred Vierkandt und Max Dessoir, vom Nationalsozialismus verfolgt und vertrieben, lehrten nach 1945 ein paar Semester erneut. Es folgte dann aber ein definitiver und völliger Umbruch. Hartmann und Spranger wechselten in den Westen, Köhler kam gelegentlich nach Europa zurück, Nazi-Baeumler und andere blieben von der Universität ausgeschlossen. Personell und sachlich war der Deutsche Idealismus nach 1945 in alle Winde zerstoben, die alte Tradition der Berliner Philosophie total abgewickelt und liquidiert.
Schon vor 1933 wurde Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie unterschieden und gefragt, wo Hegels »Geist« residierte: ob er von Moskau aus, mit LukÆcs und anderen, nach Berlin zurückgekehrt war. Das musste nach 1990 für die DDR negativ beantwortet werden. Der Deutsche Idealismus war perdu, in den alten Linien von Hegel zu Dilthey, Troeltsch oder Spranger. Die alte Universität war tot. Ob sie wieder begründet werden konnte und erneut eine tragende Rolle für die Nation und Gesellschaft würde spielen können, das stand dahin und bewegte im neuen Institut manchen als Hoffnung. Alle hatten Hegels Antrittsrede von 1818 erneut gelesen und knüpften mehr oder weniger offen oder verschämt in ihrer Sprache daran an:
»Nun, nachdem die deutsche Nation überhaupt ihre Nationalität, den Grund alles lebendigen Lebens gerettet hat, ist die Zeit eingetreten, dass in dem Staate neben dem Regiment der wirklichen Welt auch das freie Reich des Gedankens selbständig emporblühe. Und überhaupt hat sich die Macht des Geistes so weit in der Zeit geltend gemacht, dass es nur die Ideen sind und was Ideen gemäß ist, was sich jetzt erhalten kann, dass, was gelten soll, vor der Einsicht und dem Gedanken sich rechtfertigen muss. Hier ist die Bildung und Blüte der Wissenschaften eines der wesentlichen Momente selbst im Staatsleben; auf hiesiger Universität, der Universität des Mittelpunktes muss auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft und Wahrheit, die Philosophie ihre Stelle und vorzügliche Pflege finden.«
R. kannte sich aus. Er hatte die Namen parat und die Geschichten hinter der Geschichte, die alle erzählten. Jeder strickt sich seine Vorgeschichte, meinte er gelegentlich, lässt alles auf sich zulaufen. Man muss das einmal gegen den Strich bürsten und eine andere Geschichte erzählen! Das wollte R. tun, das sollte seine Antwort auf die Ereignisse sein. Wer gehörte aber in die Gegengeschichte? Wer war ein echtes Opfer? Schopenhauer war viel zu peinlich und bekannt. R. fand sein vergessenes Opfer des Weltgeistes im zweiten Projektjahr: Friedrich Eduard Beneke, den großen Erfahrungsseelenkundler und Pädagogen. Darüber geriet er gerne ins Erzählen, vor dem Antifa-Denkmal, auf eine Tasse Kaffee. Sein Tod ist uns Verpflichtung.
Es waren merkwürdige Tage, als M. am Schreibtisch saß, die alten Papiere heraussuchte und sich der Gespräche und Schicksale erinnerte. ›Eine von euch aus der Akademie‹, sprach er zum Verschollenen, ›Physikerin, hat gerade die Grenzen geöffnet und die Drittstaatregelung von Dublin ausgesetzt. Wochenlang gab es Szenen biblischer Fluchten, durch karge südosteuropäische Landschaften. Balkanroute, mit Sack und Pack. Bilder von Familien, Müttern und Kindern. Syrischer Bürgerkrieg, alles Syrer. Sie kommen über die Türkei, Griechenland winkt sie durch. Wiederholt sich Geschichte?
Wieder geht es um Ungarn, Budapest, Bahnhof. Tagelang lagerten Tausende dort, wo du oft warst, wie jeder DDR-Bürger einst und auch ich. Die Kanzlerin, das Vermächtnis der DDR, kennst du noch, mein Freund, bist ihr in der Humboldt begegnet. Demokratischer Aufbruch, der alte IM-Böhme-Laden. Kohl machte sie zur Ministerin, sein Mädchen. Eiserne Lady. Man fragt sich, oder auch nicht, wie sie in die Akademie kam. Du hättest dich gewundert, hast es vielleicht, als sie Ministerin wurde. Eine geschiedene Familienministerin ohne Kinder. Als Pastorentochter. Allerdings: Der Vater war in die DDR übergewechselt. Sozialistische Theologie muss es auch geben. Was die Stasi nicht ermittelt, müssen die Pfarrer berichten. Sie haben ordentlich mitgemacht, Kirche macht Staat!
Heute will ich deine Papiere sortieren, wenn du magst, und für Abstand sorgen. Schade, dass du so früh gegangen bist, Beneke hinterher! Heute muss ich erneut an Mauerfall und Wende denken, wo Merkel die Grenzen öffnet und die Menschen von überall her kommen. Teils zu Fuß, teils mit Reisebussen, Eisenbahn und Flugzeug. Nicht jeder robbte sich durch den Schlamm. Ihr wurdet mit Sekt begrüßt, das geht heute nicht. Sind ja Moslems. Das Fernsehen hat einiges dazu getan, dass die Grenze fiel. Die Mauer ist weg! Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich!
Gleichen sich die Bilder? Es geht wieder alles so schnell. Schon spricht man von einer »Willkommenskultur«, aber das Volk feiert nicht mehr nationale Verbrüderung und Einheit, sondern begeistert sich an der eigenen Hilfsbereitschaft. Humanität ist ein arg strapaziertes, oft missbrauchtes Wort. Ich liebe doch alle, alle Menschen, ja ich liebe doch, setze mich doch dafür ein! Und die Kanzlerin mischt sich unter die Ankommenden und lässt Selfies mit sich machen. Was es damals nicht gab. Eine Fusion von Computer, Telefon und Kamera, immer am Start. Wer die Kamera hält, führt die Regie. Lächeln!
Wer schreibt die Wendegeschichten? Darüber hast du nachgedacht, für deine Geschichte der Universitätsphilosophie. Preußens deutsche Mission wurde nach der Reichsgründung vielfach besungen. Wollte man solche Siegesfanfaren erneuern? Du wolltest das nicht! Auch noch Verlieren ist unser; und selbst das Vergessen findet Gestalt im bleibenden Reich der Erinnerung.
Migration gab es immer. Goethe schrieb einiges darüber, nach 1789: »In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatte, als das Heer der Flüchtlinge durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach …« Goethe schrieb es für die Horen, die Entpolitisierung und »rein menschliche« Unterhaltung forderten, und er wusste, wovon er sprach. Er war für die Gegenrevolution ins Feld gezogen, dem Herzog zu Diensten, hatte den Krieg gesehen, Revolution und Vertreibungen, hatte im Feld übernachtet. »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Was machte er daraus? Reineke Fuchs, Hermann und Dorothea, Campagne in Frankreich, die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, frei nach Boccaccio.
Da kommen die Flüchtlinge über den Rhein, Kriegsflüchtlinge, alles Menschen. Sie kommen auf ein Gut am Ufer des Rheins, dem Kanonendonner entflohen, und es gibt Streit. Der Sohn oder Verwandte des Hauses sympathisiert mit der Revolution und beleidigt einen Flüchtling. Die Baronesse ist entsetzt. Sie schämt sich der verletzten Gastfreundschaft, erinnert sich der Zeiten, als die Mauer fiel und sie selbst endlich durch eine friedliche Revolution an Freiheit gewann. Sie fordert deshalb Regeln geselliger Bildung und Zivilität ein: »Rufen wir eine Amnestie aus! Man kann sich jetzt nicht geschwind genug dazu entschließen. Lasst uns dahin übereinkommen, dass wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen!« Goethes Flüchtlinge erzählen sich tolldreiste Geschichten und erotische Verwicklungen, weil die Baronesse politische Themen verboten hatte. Will man das? Würde es unseren Flüchtlingen gefallen? In den Unterhaltungen ist die ganze »gesellige Bildung« schon vorausgesetzt, die man sich wünscht. Goethe wich deshalb am Ende auch in das große Finale seines Märchens aus, seine Zauberflöte, die damals wie heute niemand versteht.
Das Rezept funktioniert nicht mehr. Amnestie, gesellige Schonung! Die Politik ist das Schicksal! Das hatte Goethe erfahren und Napoleon, der Erbe der Revolution, erklärte es ihm in Erfurt erneut. Goethes Übersetzung von Voltaires Mahomet missfiel dem Kaiser. Zu viele Ähnlichkeiten mit der Gegenwart. »Was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal!« Die Dichter sollen die Kaiser verherrlichen. Das wünschte Napoleon. Nur keine Tyrannenkritik! Napoleon erklärte Goethe in Erfurt, was zu tun war, und der Kanzler Müller, Goethes Freund, hat es treulich aufgeschrieben: »Das Trauerspiel soll die Lehrschule der Könige und der Völker sein, das ist das Höchste, was der Dichter erreichen kann. Sie sollten den Tod Caesars auf eine vollwürdige Weise, großartiger als Voltaire, schreiben. Man müsste der Welt zeigen, wie Caesar sie beglückt haben würde, wie alles anders gekommen wäre, wenn man ihm Zeit gelassen hätte.« Dachte Napoleon da schon an Moskau?
Goethe wollte damals Schillers nachgelassenes Demetrius- Fragment vollenden. Da stand alles drin, von den falschen Königen und Tyrannen, von Napoleon bis Hitler. Hat er nicht getan. Die Philosophenkönige sind immer gescheitert, von Platon bis Fichte und Heidegger. Fürstenspiegel und Fürstenerziehung haben auch nicht gewirkt. Oder hat Goethe den Herzog gebändigt? Und nun kommt er mit dieser Baronesse, dieser Merkel, die alles aussitzt, in Unterhaltungen und Märchen. Dieser Satz! Wir schaffen das! Zweckoptimismus, Heuchelei! Müsste man erst einmal offen sagen, wer kommt. Hätte man nach 1990 auch deutlicher erklären sollen, die Kosten der Wende und Einheit. Wollte niemand hören. Gesellige Schonung, Amnestie, Klappe halten und durch! Haben wir es an der Humboldt-Uni in den 1990ern nicht genauso getan? Die Klappe gehalten und nicht gefragt? War es nach 1945 nicht auch so?
Amnestie ist etwas für Könige. Völker vergessen keinen Völkermord. Den Holocaust werden wir nicht los. Nicht in Israel, nicht in Griechenland und überhaupt. Aber deswegen Grenzen öffnen? Budapest 2015, da dachte Angela an den Mauerfall. Damals war es gut, heute liegt der Fall anders. Muss man unterscheiden. Die Regeln der Baronesse lösen die Probleme nicht. Wer Frieden will, muss die Konflikte begreifen. Gerechtigkeit ist eine Parole der Sieger. Die Reichen, die Mächtigen, die Deutschen bekränzen sich. Es geht nicht gerecht zu, das ist klar. Was ist Gerechtigkeit? Die großen Worte sind zerfallen. Wie soll ich dir gerecht werden? Wie soll ich erzählen, was dir zu schwer wurde? Wie sehr wünschte ich, dass mehr Zeugnisse erhalten wären. Was bleibt übrig, als mühsam zu erinnern und hinterlassene Briefe und Materialien einzuschalten?‹
M. kam im Sommer 1992 in Mitte an. Straßen und Häuser waren da noch fast unverändert. Nichts war gestrichen, renoviert, neu gebaut. Es gab kaum Ampeln und Parkuhren. Der Palast der Republik stand noch und der grobe Klotz des Außenministeriums, Signal des DDR-Fortschritts, drängte sich in den Blick. Es war eine sonderbare Choreographie um den protzigen Dom herum, nichts passte zusammen und alles schien menschenleer. Restaurants und Touristen gab es kaum. Man wusste nicht, wo man leidlich essen konnte. Die alten Stationen vor dem Abschied am Tränenpalast gab es zwar noch: Hotel Berlin, Nicolaiviertel, das wanzenverseuchte Ganymed, die Jägerklause Charlottenstraße oder das Internationale Handelszentrum, das exzentrische Hochhaus an der Friedrichstraße, das alles überragte und in dessen Salons Escort-Damen mit Geschäftsleuten aus dem Westen fraternisierten. Aber das waren touristische Attraktionen vor 1990, die M. nicht interessierten. Damit kannte er sich nicht aus. Um die Humboldt-Uni und das Friedrich-Denkmal herum gab es eigentlich nur das rosaplastene Operncafé. Es hatte üppige Torten, seine Kellnerinnen berlinerten flott. Der lokale Dialekt war gerade im Osten lebendig. Man mied das verpönte Sächsisch. Der Berliner hat alles erlebt und lässt sich nicht unterkriegen. Die Wende war berlinerisch, schnoddrig, frisch und jung. Mir kann keener, runter fallen wir ja doch.
Unter den Linden gab es 1992 noch keine neuen Gebäude. Nach der russischen Botschaft war irgendwie Schluss. Das Brandenburger Tor stand frei im Raum, bis hin zum Wallot- Vermächtnis des Kaiserreiches, dem Reichstag, der als Flachbau ohne Kuppel das Ödland am Rande des Tiergartens zur Landschaft aufspannte. Wenige Autos fuhren durch das Tor und das Adlon und alles sonst drumrum gab es noch nicht. Weite Teile von Mitte wirkten so, als sei der Krieg gerade vorbei. Sperrbezirk und Mauerstreifen stellten die Urbanität auf Jahrzehnte still. Das war nicht nur am Brandenburger Tor so, sondern auch am Checkpoint und anderswo. Der Gropius-Bau, damals schon ein imposantes Museum, stand als Solitär, wie der Reichstag, das Brandenburger Tor oder die Ruinenfassade des Anhalterbahnhofs, und vieles gab einen Eindruck von Endstationen und Sackgassen.
Manhattan und Berlin sind um leere Mitten herum gebaut, Central Park und Tiergarten. Berlins leere Mitte war das große Wunder der Stadt: einer Weltstadt, in der jedes Haus von Größe zeugte, von Abbruch, Flucht und Krieg. Die Fassaden waren im Osten zerbröselt und grau, mit abgebrochenen Balkons und geflickten Türen. Die Spuren der Straßenschlachten zeichneten sie noch tausendfach ab, als wäre ein Dämon mit der Gießkanne darübergegangen. Die Wessis mochten kaum glauben, dass die Einschüsse real waren und Ostberlin ungeschminkt prägten, soweit der Zerfall und die Plattenbauten sie nicht verdrängt hatten. Architektonisch war Mitte eine einzigartige Mischung der Systeme um die verlorene Macht herum, voller Kontraste von epischer Wucht.
Besonders sichtbar wurde das an der Oranienburgerstraße, die so naturbelassen war, als sei die Schlacht gerade erst vorüber, die Truppe durchgezogen und die letzten Überlebenden der Lebensgier kröchen verwundert aus den Kellern. Durchkommerzialisierte Schuppen und Restaurants gab es noch nicht, selbst das Orange nicht, einer der ersten Ankömmlinge und letzten, die es bis heute gibt. Obst & Gemüse, Tacheles, Silberstein. Wendejugend und Bordsteinschwalben zuhauf, Dutzende weiße Stiefel und Schönheiten, bis zur S-Bahn Marx-Engels-Platz, Hackescher Markt.
Die phantastische Spannung von Herkunft und Zukunft, Zerstörung und Aufbruch verdichtete sich an der Oranienburger magnetisch in der gewaltigen Burg des Tacheles, einem besetzten Abbruchhaus: einst Einkaufspassage, AEG-Gebäude, NS-Dienststelle und in der DDR dann ein kolossaler Gemischtwarenladen, auf den viele zugriffen, bis hin zur NVA. Vor 1989 war es fast völlig zerfallen und halb gesprengt, am Runden Tisch wurde es von Wende-Besetzern gerettet, um als Künstlerinitiative zum Sinnbild des Wendelebens aufzusteigen. Es gab ein Kino, den Blauen Salon, die Panorama- Bar. Man musste das dunkle Treppenhaus hinauf mächtig klettern und schluckte noch etwas Horror des Häuserkampfes, wenn punkige Gestalten in den Ecken lagerten und die Wege kreuzten. Es war ein großartiges Experiment der freien Szene und die Wege der Aktivisten trennten sich bald in Himmel und Hölle. Mancher eroberte den Kunstmarkt und mancher wird noch entdeckt werden. Einige sind längst tot.
Viele Begegnungen und Beziehungen lassen sich vom Tacheles her erzählen und so verdankte auch M. ihm mancherlei. Im Kino sah er dort mit seiner Perle Pink Floyd: Live at Pompeii: einen Musikfilm von 1972, der die Ingenieure der Poprevolution im leeren Amphitheater und Studio zeigte. Musiker als Menschen und Götter. Set the controls for the Heart of the Sun. Lenke dein Herz ins Herz der Sonne. Let’s get lost! Wo sonst war Sonne, wo ging sie auf? Pink Floyd in Pompeji: Das war das Tacheles selbst: Amphitheater und Studio, Medientransformation und Zeitensprung. Tacheles, Berlin, Universität, da musste man sich verlieben, selbst M. An keinen Abend zeigte sich das Berliner Wendewunder so sehr wie an jenem. Von dort ging eine Epoche des Lebens aus. Keine andere Szene hatte für M. so sinnfällige Kraft.
Nur eine Gegenszene vielleicht, in der er ins Herz des abgewrackten Palastes der Republik geriet. Es war nach dem 11. September 2001, nach der Urkatastrophe, nach Bushs Einmarsch in den Irak. China wird der neue Hegemon, das ist gewiss. Im Frühjahr 2004 gastierte die Terrakottaarmee, gut 2000 Figuren aus vorchristlicher Zeit, in den skelettierten Eingeweiden des alten Parlamentsgebäudes, im Gewirr der Gänge, Säulen und Stockwerke. Das war ein phantastisches Gegenbild zur offenen Hälfte des gesprengten Tacheles. Diese Symphonie von Antike und Gegenwart lehrte nun aber den Untergang der Macht, Gewalt und Größe. Von der kaiserlichen Armee waren nur tönerne Figuren geblieben, Pappkameraden gleichsam, und diese irren Grabbeigaben zeigten nichts als Hinfälligkeit. So unterstrich die Terrakottaarmee den baldigen Abbruch des Palastes der Republik und figurierte als Ende der DDR. Zehn Jahre nach der Verhüllung des Reichstags, als R. seinem Beneke folgte.
Pink Floyd at Pompeii.