Cover

Das Buch

Die Spring-Mädchen – Meg, Jo, Beth und Amy – leben zusammen mit ihrer Mutter in New Orleans. Ihr Vater ist für einen langen Auslandseinsatz im Irak und jede der Schwestern durchlebt neben der beständigen Sorge um ihn die schwierigen Momente des Teenager-Daseins und Erwachsenwerdens. Meg will möglichst bald heiraten und Mutter werden, Jo will als Journalistin die Welt verändern, Beth hilft lieber im Haushalt und die zwölfjährige Amy schminkt sich zum ersten Mal die Lippen und ist mit ihrem Smartphone in den Weiten des Internets unterwegs. Und obwohl jede der Schwestern ganz genau weiß, was sie will, kommt es am Ende doch ganz anders, als ursprünglich gedacht …

In SPRING GIRLS erzählt Anna Todd Louisa May Alcott’s Klassiker BETTY UND IHRE SCHWESTERN neu.

»Ein wunderbarer Roman über Schwestern und ihre Beziehungen zueinander, die erste Liebe und das Abenteuer des Erwachsenwerdens.«   Publisher’s Weekly

Die Autorin

Anna Todd ist die »New York Times«-Bestsellerautorin der »After«-Serie. Sie war schon immer eine begeisterte Leserin und schrieb die Geschichte um Tessa und Hardin auf ihrem Smartphone auf Wattpad. Innerhalb kürzester Zeit wurde sie zur meistgelesenen Serie der Plattform. Die gedruckte Ausgabe wurde 2014 veröffentlicht, ist seitdem in über 30 Sprachen erschienen, verkaufte sich über 8 Millionen Mal weltweit und war in Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Anna Todd lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann in Los Angeles. Mehr über die Autorin auf AnnaTodd.com, bei Twitter unter @imaginator1d, auf Instagram unter @imaginator1d und auf Wattpad unter Imaginator1D.

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Lucia Sommer

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe LITTLE WOMAN erschien bei Gallery Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York

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Deutsche Erstausgabe 02/2020

Copyright © 2019 by Anna Todd, vertreten durch Wattpad

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Rabea Güttler

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: © FinePic, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-19756-8
V002

www.heyne.de

Für alle meine Schwestern da draußen,

die ihren Weg als Frau finden wollen.

Ich bin für euch da,

genau wie eure vielen anderen Schwestern.

1

Meredith

»Weihnachten ohne Geschenke ist kein Weihnachten«, sagte Jo von ihrem Platz auf dem Teppich aus.

Sie saß im Schneidersitz zu Füßen ihrer großen Schwester Meg. Ihre langen braunen Haare waren ungekämmt wie immer. Jo war meine Starke. Von meinen vier Mädchen brauchte sie als Einzige keine Ewigkeit im Badezimmer. Mit ihren grazilen Fingern, an denen der schwarze Nagellack abblätterte, zupfte sie an den ausgefransten Rändern des afghanischen Teppichs. Sein handgewebter schwarz-roter Stoff war einmal leuchtend und schön gewesen, als mein Mann ihn uns von seinem Posten in Kandahar zu unserem damaligen Zuhause in Texas geschickt hatte.

In meinem Kopf ermahnte mich Denise Hunchberg, die Leiterin unserer Familien-Rückhalts-Gruppe, mit ihrer kratzigen Stimme, korrekte Militärsprache zu verwenden: von der FOB – Forward Operating Base – meines Mannes in Kandahar. Des größten vorgeschobenen Feldpostens in Afghanistan, wie sie natürlich noch hinzufügen würde. Denise musste mich ständig kritisieren. Natürlich konnte sie sich damals auch ihre Bemerkung zum Teppich nicht verkneifen. Sie meinte, Frank hätte ihn genauso gut kostenlos zur Basis schicken können.

Meinen Mädchen war das egal. Von dem Moment an, als das riesige Paket von ihrem Dad ankam, der zu dem Zeitpunkt schon seit acht Monaten in Afghanistan stationiert gewesen war, liebten sie den Teppich genauso sehr wie ich. Sie freuten sich, einen so wunderschönen kulturellen Schatz vom anderen Ende der Welt zu besitzen, vor allem Jo. Meg war begeistert, dass wir in unserem einfachen Haus jetzt einen so luxuriösen Gegenstand hatten. Sie war meine materialistischste Tochter, aber ich hatte schon immer gewusst, wenn ich sie nur richtig erzöge, könnte sie ihre Liebe zu allem, was glänzte, dazu nutzen, etwas Schönes und Sinnvolles aus ihrem Leben zu machen. Amy war damals noch zu jung, um dem Teppich irgendeine Bedeutung beizumessen, und natürlich wusste Beth als Einzige, dass der Teppich auf dem Weg war, weil ihr Vater wusste, dass sie ein Geheimnis für sich behalten konnte. Außerdem konnte sie nach dem Postboten Ausschau halten, da sie Hausunterricht bekam. Später erklärte Frank mir, er habe den Teppich direkt zu uns nach Hause geschickt, weil er eine Überraschung sein sollte und nicht etwas, das von der Basis abgeholt werden musste. Ich bezweifelte, dass Denise das verstanden hätte, selbst wenn ich es ihr erklärt hätte.

Inzwischen war unser schöner Teppich gar nicht mehr so schön. Schmutzige Schuhe und schwere Körper hatten ihn so abgenutzt, dass die leuchtenden Farben zu einem schlammigen Braun abgestumpft waren, und auch wenn ich mein Bestes gab, ihn zu reinigen, kamen die Farben einfach nicht wieder.

Wir liebten den Teppich trotzdem kein bisschen weniger.

»Es wurde Schnee angekündigt. Für mich fühlt sich das wie Weihnachten an«, sagte Meg und fuhr sich mit den Fingern durch die braunen Haare. Inzwischen reichten sie ihr bis zu den Schultern, und Jo blondierte sie ihr immer, sodass sie einen dunklen Ansatz mit blonden Spitzen im Ombre-Look hatte. Es war diesen Winter tatsächlich so kalt in New Orleans, dass die Straßen teilweise vereisten und die Hauptverkehrsstraße gefühlt jeden Tag durch einen Unfall blockiert war. Das Schild draußen vor unserem Armee-Posten, das die Tage ohne Verkehrstote zählte, wurde fast täglich wieder auf null gestellt, statt wie sonst ungefähr wöchentlich. Die höchste Anzahl von Tagen, die das Schild in Fort Hood in Texas jemals angezeigt hatte, war zweiundsechzig.

An diesem Vormittag fühlte sich die Temperatur gar nicht so kalt an wie auf Channel 45 angekündigt. Ob meine Schwester es wohl zu uns schaffen würde, oder würde sie das Wetter als Ausrede vorschieben? Sie hatte immer alle möglichen Entschuldigungen parat. Ihr Mann war zusammen mit meinem im Irak stationiert, und inzwischen wussten alle über ihre Eheprobleme Bescheid, nachdem er sich vor einer Gruppe Soldaten über ihr Gewicht lustig gemacht und dann auch noch vor einem Monat mit einer Sanitäterin geschlafen hatte.

»Hat Tante Hannah schon angerufen?«, fragte ich meine Mädchen.

Die Einzige, die mich ansah, war Beth. »Nein«, antwortete sie.

Seit Hannahs Umzug nach Fort Cyprus vergangenen Sommer hatte sie sich schon zweimal verlobt und einmal geheiratet, und bald würde sie sich wieder scheiden lassen. Ich liebte meine kleine Schwester, aber ich war nicht unbedingt traurig gewesen, als sie vor ein paar Monaten näher an New Orleans herangezogen war. Sie hatte sich einen Wochenendjob als Barkeeperin auf der Bourbon Street besorgt, in einer kleinen Bar namens Spirit, wo es Cocktails in leuchtenden Schädeln und ein ziemlich gutes Po’boy-Sandwich gab. Hannah hatte genau die richtige Persönlichkeit für eine Barkeeperin.

»Kommt sie denn?«, fragte Jo vom Fußboden aus.

Ich sah Jo in die hellbraunen Augen. »Vielleicht. Ich ruf sie bald an.«

Amy gab ein leises Hmpf von sich, und ich blickte auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers.

Ich wollte mit meinen Töchtern nicht über die Probleme von Erwachsenen reden. Sie sollten möglichst lange jung bleiben. Natürlich sollten sie trotzdem nicht ganz ahnungslos sein. Ich erzählte ihnen, was um sie herum passierte. Ich besprach das aktuelle Zeitgeschehen mit ihnen, den Krieg. Ich versuchte, ihnen zu erklären, was für Gefahren es in sich barg, eine Frau zu sein, aber auch, was für ein Glück es bedeuten konnte. Doch je älter sie wurden, desto schwieriger fiel es mir. Ich musste ihnen verständlich machen, dass den Jungs und Männern um sie herum manches einfacher zufallen würde als ihnen, ohne guten Grund. Ich musste ihnen einbläuen, sich zu wehren, sollte einer dieser Jungs oder Männer ihnen zu nahe kommen. Vier Töchter zwischen zwölf und neunzehn zu erziehen war nicht nur der härteste Job, den ich jemals hatte, es war auch das Wichtigste, was ich jemals im Leben tun würde. Meine Aufgabe war nicht nur, die Frau eines Offiziers zu sein, sondern vor allem vier zuverlässige, verantwortungsbewusste, fähige junge Frauen großzuziehen und in die Welt zu entlassen.

Ich sah es als meine Pflicht an. Ich wollte nichts mehr in meinem Leben, als dass meine Mädchen stolz auf ihre eigene Stärke waren und gleichzeitig ein offenes Herz behielten.

Meg war unsere Prinzessin. Sie war unser Wunder. Nachdem ich zwei schmerzhafte und herzzerreißende Fehlgeburten hinter mir hatte, erblickte sie am Abend des Valentinstags das Licht der Welt. Anders als in anderen Jahren waren Frank und ich nicht romantisch aus und tranken Yellow-Tail-Merlot für zehn Dollar das Glas, wie es sich für Valentinstag gehörte. Stattdessen saß Frank hinter einem Tisch in seinem Kompanie-Gebäude und kämpfte damit, wach zu bleiben. Einmal pro Stunde musste er eine Runde um die Kaserne hinter dem Gebäude drehen. Manchmal schien es, als wäre er immer für Streifendienst eingeteilt – oder CQ, Charge of Quarters, wie Denise bemerkt hätte.

Er hasste es, wenn er Streifendienst hatte, genau wie die Mädchen, aber einmal im Monat verlangte es das Militär. An jenem Abend musste ich viermal in der Kompanie anrufen, bis endlich jemand ans Telefon ging und meinen Mann holte. Gerade als die Wehen unerträglich wurden, kam er nach Hause, und wir eilten zu seinem Auto. Wir dachten schon, sie würde direkt dort in unserem 1990er Chevy Lumina geboren werden. Ich blickte auf die Plüschwürfel am Rückspiegel, zählte, während die Würfel vor- und zurückschwangen, vor und zurück, und versuchte, den leichten Geruch nach Marlboros zu ignorieren, die Frank im Auto geraucht hatte, bevor wir wussten, dass ich schwanger war. Frank hielt meine Hand und erzählte mir Witze, und ich lachte so sehr, dass mir Tränen über die Wangen liefen und ich Angst hatte, auf den flauschigen schwarzen Sitzbezug zu pinkeln. So gelassen waren wir damals.

Als wir im Krankenhaus ankamen, waren die Wehen schon zu weit fortgeschritten, als dass ich noch eine Betäubung hätte bekommen können, und als Meg in dem kleinen Krankenhauszimmer schließlich schreiend zur Welt kam, schrie ich für zehn. Aber das war bloß ein Abend, ein Moment. Mutter zu werden veränderte etwas tief in mir. Ich hatte das Gefühl, als würde mein Leben endlich einen Sinn ergeben, und ging in meiner neuen Rolle vollkommen auf.

Jo war die Nächste, und ihre Geburt war eine ziemliche Strapaze. Sie lag mit dem Po voran und weigerte sich hartnäckig, sich richtig herum zu drehen, sodass sie letztendlich mit Kaiserschnitt geholt werden musste.

Beths Geburt war einfach und innerhalb von dreißig Minuten vorbei. Die Entbindung verlief genauso ruhig, wie Beth werden sollte, und auch das Stillen war mit Beth leichter als mit meinen anderen Mädchen.

Unsere ungeplante kleine Amy überraschte uns an einem Taco Tuesday, als sich herausstellte, dass mein Magen auf einmal keine Tacos mehr mochte. Meine Jüngste war genauso feurig wie das Essen, auf das ich während ihrer Schwangerschaft Heißhunger hatte. Nach Amy bat ich meine Ärztin sicherzustellen, dass es keine weiteren Überraschungen mehr geben würde.

Als mein Blick jetzt von einem Mädchen zum nächsten wanderte, tat ich für ein paar Augenblicke so, als wäre Frank da, als säße er in seinem alten Sessel, den wir schon seit unserer ersten gemeinsamen Wohnung hatten. Ich stellte mir vor, wie er zu einem Lied im Radio mitsang. Er sang und tanzte wahnsinnig gern, auch wenn er grottenschlecht in beidem war.

»Im Internet steht, die White-Rock-Schule hat das Musik-Programm schon wieder gekürzt«, riss Beth mich aus den Gedanken.

»Ach du Schande, echt?«, fragte Meg.

»Ja. Die Kinder tun mir echt leid. Es gab ja schon vorher kaum eins, und jetzt ist so gut wie alles gestrichen, es gibt keine neuen Instrumente mehr, keine Ausflüge, nichts.«

Amy blickte zu ihren älteren Schwestern und versuchte, ihrem Gespräch zu folgen.

»Willst du mich verarschen?«, schimpfte Jo.

»Josephine, keine Schimpfworte«, sagte ich und beobachtete weiter Amy. Jo fluchte ständig, egal wie sehr sie sich angeblich bemühte, es zu unterlassen. Aber da sie schon fast siebzehn war, wusste ich auch nicht, was ich noch dagegen tun sollte.

»’tschuldigung, Meredith.«

Sie hatte außerdem aus irgendeinem Grund angefangen, mich beim Vornamen zu nennen.

»Ich gehe nach den Ferien sofort zu Mrs. Witt«, fuhr sie fort. »Das ist doch absolut –«

Das Telefon klingelte, und Amy sprang auf, um ranzugehen.

»Wer ist es?«, fragte ich.

Amy beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, um die Buchstaben auf dem Display lesen zu können. »… irgendwas mit Bank. Fort Cyprus National Bank.«

Mir wurde eng um die Brust. An Heiligabend? Im Ernst? Die Bank war doch so schon korrupt genug mit ihren hohen Zinsen und dem alles andere als noblen Marketing. Die Bank war dafür bekannt, Soldaten mit schönen Frauen an den Eingängen vom PX und Walmart zu ködern, die sie mit einem Lächeln und dem Versprechen von angeblich schnelleren Gehaltseingängen zum Eröffnen eines Kontos zu überreden versuchen.

»Lass es einfach klingeln«, sagte ich.

Amy nickte und stellte den Klingelton leise. Sie wartete, bis das kleine rote Licht an der Buchse aufhörte zu blinken, dann fragte sie: »Wer ruft denn von der Bank an?«

Ich schaltete den Fernseher ein.

»Was wollen wir für einen Film gucken?«, fragte Meg. »Wie wär’s mit …« Sie fuhr mit ihren Kunstnägeln über die DVDs im Regal vor ihren Füßen und tippte auf eine Hülle. »The Ring?«

Ich war Meg dankbar für den Themenwechsel. Sie hatte schon immer ein gutes Gespür für Stimmungen im Raum und die Fähigkeit, fast wahre Geschichten zu erzählen, um jemanden abzulenken, zu entzücken oder zu entwaffnen.

»Ich hasse The Ring«, jammerte Amy und sah mich flehentlich an.

Jo hatte sich mal als das Mädchen aus dem Brunnen verkleidet. Es war überhaupt nicht lustig gewesen. Okay, vielleicht ein bisschen, aber ich war trotzdem wütend auf Jo gewesen, weil sie ihre kleine Schwester so erschreckt hatte.

»Wirklich?«, fragte Jo mit unheimlicher Stimme und streckte die Hand aus, um Amy zu kitzeln.

Amy sprang auf. »Bitte, Mom, sag Meg, wir gucken was anderes!« Sie zupfte an meiner Jogginghose.

»Wie wär’s mit Der verbotene Schlüssel?«, schlug Beth vor. Das war ihr Lieblingsfilm, sie liebte alle Filme mit Kate Hudson, und dass wir in der Nähe von New Orleans wohnten, machte den Film besonders gruselig.

»Jo, was willst du sehen?«, fragte ich.

Jo krabbelte zum DVD-Regal, und Amy schnappte nach Luft, als Jos Knie auf ihre Zehen traf.

»Cabin Fever oder …« Sie nahm Interview mit einem Vampir in die Hand.

Ich fühlte mich wie eine coole Mom, weil meine Mädchen die Filme mochten, die ich bereits als Teenie toll fand. Interview mit einem Vampir war seit gut zwanzig Jahren mein absoluter Lieblingsfilm. Bis zu diesem Tag war Anne Rice die einzige Autorin, deren komplettes Werk ich gelesen hatte.

Meg sagte leise: »Der Film erinnert mich an River …«

Allein den Namen des Jungen zu hören bewirkte, dass ich vor Wut innerlich zu kochen anfing, doch zum Glück lenkte Amys Hang zum Drama mich ab. Sie stand auf, riss Jo die DVD aus der Hand und warf sie unter den Weihnachtsbaum. Jo rief empört: »Hey!«, und Meg warf Amy einen Luftkuss zu.

»Das ist John!«, rief Meg und verschwand aus dem Zimmer, ehe ihr Handy überhaupt klingelte.

»Dann wohl Cabin Fever«, sagte Jo und nahm die Fernbedienung vom Tisch.

Während sie sich am DVD-Player zu schaffen machte, lief Amy ins Badezimmer, und Beth verschwand in der Küche. Das Haus war still, bis auf das Piepen der Mikrowelle, und kurz darauf hörte ich das leise Summen, als sich die Glasplatte darin drehte. Normalerweise war das Haus nie so still – vier Mädchen konnten einen ganz schönen Krach machen. Und wenn Frank da war, spielte immer Musik, oder man hörte ihn lachen oder singen … irgendwas war immer.

Doch die Stille würde nicht lange anhalten, und das wollte ich eigentlich auch gar nicht, aber solange sie andauerte, würde ich sie genießen. Ich schloss die Augen. Kurz darauf hörte ich Maiskörner platzen und roch den dekadenten Duft von geschmolzener Butter.

Jo saß inzwischen im Schneidersitz neben dem Fernseher und blickte auf ihre rot-weiß geringelten Socken. Auf einen Außenstehenden hätte sie vielleicht traurig gewirkt mit ihren geschürzten Lippen und dem gesenkten Blick, aber ich wusste, dass sie einfach nur in sich versunken war. Wahrscheinlich dachte sie über etwas Wichtiges nach. Ich wünschte, ich könnte ihre Gedanken lesen und ihr etwas von der Last auf ihren Schultern nehmen.

»Wie läuft es mit deinem Artikel?«, fragte ich sie. Ich hatte nicht mehr viel Zeit mit Jo allein, jetzt wo sie einen Job hatte. Einen Job, der ihr Spaß zu machen schien, so oft, wie sie dort war.

Jo zuckte die Achseln. »Gut. Glaub ich.« Sie rieb sich mit den Händen über die Wangen und sah mich an. »Ich glaub, es läuft gut. Richtig gut sogar.« Ein schüchternes, aber strahlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Ich bin fast fertig. Soll ich ihn unter meinem richtigen Namen veröffentlichen?«

»Wenn du willst. Du kannst auch meinen Mädchennamen nehmen. Wann kann ich ihn lesen?« Ihr Lächeln verschwand noch schneller, als es gekommen war. »Schon okay«, sagte ich rasch, um ihr zu zeigen, dass ich nicht böse deswegen war. Ich verstand, warum sie ihn mir nicht zeigen wollte. Natürlich kränkte es mich, aber ich wusste, sie hatte ihre Gründe, und ich wollte sie zu nichts drängen.

»Du könntest ihn deinem Dad schicken«, schlug ich vor.

Sie dachte kurz darüber nach. »Meinst du, er hat Zeit? Ich will ihn nicht stören.«

Manchmal klang sie viel zu erwachsen für meinen Geschmack.

Auf dem Flur ging die Badezimmertür auf, und Amy kam zurück ins Wohnzimmer, ihre Steppdecke hinter sich herziehend. Meine Eltern hatten sie mir zu ihrer Geburt geschenkt, und inzwischen war sie ziemlich abgenutzt, und die bunten Flicken waren matter.

Amy mit ihrer Leidenschaft für Lipgloss und ihren langen blonden Haaren wollte viel zu schnell erwachsen werden, um so zu sein wie ihre älteren Schwestern, aber das war für die Jüngste ja normal. Meine Schwester war genauso gewesen, sie war mir immer überallhin gefolgt und hatte versucht, so zu sein wie ich. Amy war jetzt in der siebten Klasse, und das war angeblich die schwerste. Ich hatte an meine siebte Klasse nicht mehr viele Erinnerungen, so schlimm konnte es für mich also nicht gewesen sein. Aber die Neunte – daran konnte ich mich sehr wohl erinnern.

Jo zog Amy immer damit auf, dass sie jetzt schon anfangen müsse, sich auf die Highschool vorzubereiten. Doch Amy war in dem Alter, wo sie glaubte, alles zu wissen. Und sie war in dem unglücklichen Stadium, wo der Körper der geistigen Entwicklung noch hinterherhinkte. Die kleinen Biester in ihrer Klasse machten sich gern über ihren knochigen Körper und ihre fehlende Periode lustig. Erst letzte Woche hatte Amy mich gefragt, wann sie anfangen dürfe, sich die Beine zu rasieren. Ich hatte es immer so gehandhabt, dass meine Töchter sich von dem Zeitpunkt an rasieren durften, wenn sie zum ersten Mal ihre Periode bekamen, doch als ich Amy das sagte, war sie im Badezimmer in Tränen ausgebrochen, wie es nur eine Zwölfjährige kann. Eigentlich wusste ich noch nicht mal, woher ich diese Regel hatte – wahrscheinlich von meiner Mutter –, und so verzweifelt wie Amy war, half ich ihr noch am selben Tag, sich die Beine zu rasieren.

Meg war nicht bloß die Älteste, sondern nach mir auch verantwortlich für unser Haus von der Regierung, solange ihr Vater nicht daheim war. Manchmal konnte ich mir vormachen, es wäre unser Haus. Bis irgendetwas passierte. Wie zum Beispiel ein Strafzettel für einen nicht gemähten Rasen.

Einmal sah ich durchs Fenster einen Mann im Vorgarten stehen, der doch tatsächlich mit einem Zollstock unsere Rasenlänge maß. Als ich hinausging, stieg er rasch wieder in seinen Wagen, aber nicht, ohne mir vorher noch einen Strafzettel zu geben. Die Wohnbehörde hatte offenbar nichts Besseres zu tun, als den Rasen der Leute zu kontrollieren.

Eines Tages wären wir hoffentlich in der Lage, uns ein eigenes Haus zu kaufen, möglicherweise wenn Frank in Ruhestand ging. Vielleicht irgendwo in Neuengland. Oder in einer verschlafenen Stadt am Meer, wo man den ganzen Tag Flipflops tragen könnte. Natürlich würde es auch davon abhängen, wo unsere Töchter landeten. Amy würde die nächsten sechs Jahre noch zu Hause wohnen, und Beth … na ja, ich war mir nicht sicher, ob Beth jemals ausziehen würde, und das war auch okay.

Gerade trug sie zwei Schüsseln Popcorn herein, und alle machten es sich in dem kleinen Wohnzimmer gemütlich. Ich blieb auf Franks Sessel, Amy setzte sich zwischen Beth und Meg aufs Sofa, und Jo lümmelte weiter in der Nähe des Fernsehers auf dem Boden.

»Sind alle bereit?«, fragte Jo und drückte auf »Play«, ohne eine Antwort abzuwarten.

Der Film begann, und ich dachte weiter darüber nach, wie schnell meine Töchter groß geworden waren. Das hier könnte unser letztes gemeinsames Weihnachten sein. Nächstes Jahr würde Meg wahrscheinlich mit John Brookes Familie zusammen in Florida feiern, oder wo auch immer deren Ferienhaus war. Manchmal kam ich einfach nicht mehr hinterher. Dabei war es gar nicht so, dass Meg ständig einen Neuen hatte, aber mit ein paar Jungs war sie immerhin schon zusammen gewesen. Anders als meine Mom hatte ich ein wachsames Auge auf meine Töchter und die Jungs, die sie mit nach Hause brachten, auch wenn das bisher nur Meg betraf. Frank machte sich mehr Sorgen als ich, aber ich wusste, dass zu sehr auf unsere Töchter aufzupassen schlimmer sein konnte, als sicherzustellen, dass sie über Jungs und Beziehungen aufgeklärt waren.

Als Meg sechzehn war, habe ich ihr die Pille verschreiben lassen, womit ich mir eine Predigt meiner eigenen Mutter eingehandelt hatte. Dabei war sie die Letzte, die irgendwem einen Rat geben sollte. Immerhin hatte sie mit einundzwanzig Jahren schon zwei Kinder gehabt.

Wieder klingelte das Telefon. Jo beugte sich vor und schaltete es aus. Als Nächstes klingelte Megs Handy, ein Popsong, den Amy sofort mitsang.

»Nie hat man seine Ruhe«, kommentierte Jo vom Fußboden aus.

»Das ist Mrs. King«, seufzte Meg und stand auf.

Jo nahm die Fernbedienung und pausierte den Film, während sich Meg in die Küche zurückzog.

Amy legte sich derweil auf Megs Platz, obwohl sie gleich wieder aufstehen müsste, wenn ihre Schwester zurückkam. »Ich weiß, ich bin noch zu jung, um zu arbeiten, aber wenn ich alt genug bin, such ich mir einen besseren Job als im Café oder im Kosmetikstudio.«

»Du bist echt unausstehlich«, sagte Jo.

»Du bist echt unausstehlich«, äffte Amy sie nach.

Als Jüngste genoss Amy es, die anderen Mädchen bei jeder Gelegenheit auf deren Schwächen hinzuweisen. Es war wohl ziemlich hart für ihr Selbstbewusstsein, unter ihren drei Schwestern zu existieren, die sie gleichzeitig aber auch bewunderte. Geschwisterliebe war kompliziert. Amy liebte ihre Schwestern unendlich, war aber auch neidisch auf so gut wie alles an ihnen. Megs breite Hüften, Jos Selbstbewusstsein, Beths Kochkünste …

Als Meg zurück ins Wohnzimmer kam, schaltete Jo den Film wieder an.

»Hat sie dich schon bezahlt?«, fragte Beth und sprach damit aus, was ich dachte.

Ich hatte nichts dagegen, dass Meg für Mrs. King arbeitete, auch wenn die Frau mich mit ihrem riesigen Haus und ihren winzigen reinrassigen Hunden einschüchterte. Ihr persönlich war ich noch nie begegnet, nur ihren drei Kindern bei verschiedenen Anlässen. Meg hatte den Jungen, Shia, mal sehr gemocht, und ich verstand auch warum. Er war nett, hatte ein großes Herz und unglaublich viel Energie. Wenn es einen Mann gab, der mit Meg mithalten könnte, dann wäre es Shia King. Ich wusste nicht genau, was zwischen den beiden gelaufen war, aber wenn Meg wollte, dass ich es wusste, würde sie es mir sagen.

Meg zuckte die Achseln. »Noch nicht. Ich weiß nicht warum.«

Jo verdrehte die Augen und warf die Hände in die Luft. Zur Antwort stierte Meg sie mit ihren braunen Augen an.

»Hast du sie nicht gefragt?«, warf ich ein.

»Doch. Sie war aber zu beschäftigt.«

»Womit? Ihren Partys?«

Meg seufzte. »Nein.« Kopfschüttelnd sah sie mich an. »Es ist Weihnachten. Sie hat eben viel zu tun.«

»Dass du dir das gefallen lässt«, sagte Jo. »Ich dachte, du wärst tougher.«

»Bin ich ja auch.«

»Ja, ist sie«, sagte Amy. »Aber du bist nicht so tough wie Jo, Meg. Jo ist so tough wie ein Junge.« Sie lachte.

Jo sprang auf. »Was hast du gesagt?«

Ich seufzte. »Amy«, mahnte ich mit so strenger Stimme, dass sie mich schnell ansah. »Was habe ich dir dazu gesagt?« So etwas wollte ich in meinem Haus nicht hören.

»Ich hab gesagt, du benimmst dich wie ein Junge.« Amy richtete sich auf dem Sofa auf und wehrte Megs Versuch ab, sie auf den Schoß zu nehmen. Wenn es zu hitzig würde, müsste ich eingreifen, aber die Mädchen sollten wenigstens versuchen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Genau wie Meg mit Mrs. King, obwohl die Frechheit dieser Frau, für ehrliche Arbeit nicht zu bezahlen, mir gegen den Strich ging.

»Und was soll das heißen, Amy? Es ist nämlich Quatsch, dass Jungs angeblich stärker sind als Mädchen!«, rief Jo und malte Gänsefüßchen in die Luft. »Tough zu sein hat nichts damit zu tun, ein Junge zu sein. Wenn überhaupt …«

»Gar nicht wahr! Kannst du etwa das gleiche Gewicht heben wie ein Junge?«, forderte Amy sie heraus.

»Das ist nicht dein Ernst!« Jo presste die Lippen aufeinander.

Meg legte die Hände auf Amys schmale Schultern und grub ihre geblümten Fingernägel in das himmelblaue Nachthemd ihrer Schwester. Amy schnaufte, legte sich dann aber doch hin und ließ Meg mit ihren Haaren spielen.

Jo wartete, die Hände in den Hüften.

Im Hintergrund lief der Film.

»Jetzt lasst uns die Weihnachtsferien genießen. Das hier ist doch besser als Matheunterricht, oder?«

Meine süße Beth versuchte immer, die Dinge zu richten. In der Hinsicht war sie Frank am ähnlichsten. Jo hatte seine Leidenschaft für Politik und soziale Gerechtigkeit, aber Beth war diejenige, die sich gern um alle kümmerte.

Beth und Jo starrten einander an, bis Jo schließlich nachgab und sich wieder auf den Boden setzte.

Aber es dauerte nicht lange, bis Amy wieder mit ihrem Lieblingsthema der letzten Tage anfing. »So viel besser als Mathe ist es auch nicht. Es ist einfach ungerecht. Die Mädchen an meiner Schule werden nach den Ferien alle mit neuen Klamotten, neuen Handys und neuen Schuhen wiederkommen.« Sie zählte die Liste an ihren Fingern ab und hielt ihr Handy hoch. »Und wir sitzen hier ohne irgendwelche Geschenke unterm Baum.«

Es tat mir in der Seele weh, und die Schuldgefühle nagten an mir.

Diesmal ergriff Beth zuerst das Wort. »Wir haben mehr Geld als die Hälfte der Mädchen an deiner Schule. Sieh dir unser Haus an, und sieh dir ihre Häuser an. Und unser Auto. Du musst dich nur mal umsehen und daran denken, wie es war, bevor Dad Offizier war.« Beths Worte waren strenger als sonst. Und sie schienen bei Amy anzukommen, denn sie runzelte die Stirn und blickte zum 50-Zoll-Flachbildschirm, den wir beim PX gekauft hatten, steuerfrei natürlich.

Dann sah sie auf den Weihnachtsbaum. »Genau das meine ich. Wir könnten …«

Doch wie es schon so oft während der Ferien geschehen war, unterbrach Jo sie und erinnerte alle daran, dass wir nur dann zusätzliches Geld hatten, wenn Frank im Irak Kugeln und Sprengfallen auswich. Das müssten wir respektieren und sollten uns nicht auf seine Kosten opportunistisch verhalten.

Ich fand es schrecklich, wenn sie so redeten. Irgendwie war mir gerade alles ein bisschen zu viel. Ich fragte mich, ob ich immer noch den Baileys im Kühlschrank hatte. Ich glaubte schon.

»Außerdem«, fuhr Jo fort, sie war inzwischen ganz außer sich, »klauen die Mädchen in deiner Klasse die meisten Sachen. Oder glaubst du wirklich, Tiara Davis’ Familie könnte es sich leisten, ihr eine Chanel-Sonnenbrille zu kaufen? Das können nur Offiziersfamilien, und in deiner Klasse ist kein einziges Offizierskind, außer dem aus Deutschland, wie heißt er noch mal?«

Amy knurrte seinen Namen fast. »Joffrey Martin. Was für ein Trottel!«

Jo nickte. »Also, sei bloß nicht neidisch. Niemand hier hat Geld, es sei denn, es ist der Erste oder der Fünfzehnte des Monats.«

»Bis auf die Kings«, sagte Meg leise.

Es war nicht nur ihre Wut darüber, noch nicht bezahlt worden zu sein. Alle im Raum hörten ihr die Sehnsucht nach den feineren Dingen im Leben an, und die Kings hatten sie alle. Es gab Gerüchte, sie hätten sogar goldene Toiletten in ihrer Villa, obwohl Meg sagte, sie hätte keine gesehen.

Meg liebte ihren Job als Assistentin für Mrs. King. Ich war mir unsicher gewesen, wie meine Prinzessin damit klarkommen würde, den ganzen Tag Anweisungen auszuführen, aber seit Mrs. King sie bei Sephora entdeckt und für sich angeworben hatte, war Meg noch nicht wieder von ihr gefeuert worden. Außer dass sie Mrs. King das Make-up machen und ihre kleinen Kläffer ausführen musste, war noch nicht ganz klar, was ihr Job beinhaltete. Letzte Woche hatte Meg die Spülmaschine eingeräumt, woraufhin Mrs. King ihr sagte, sie solle nie wieder schmutziges Geschirr anfassen. Ich war mit der Botschaft nicht ganz glücklich, aber Meg war neunzehn und musste selbst wissen, was für eine Art Frau sie sein wollte.

»Die Kings mag sowieso keiner«, sagte Amy.

»Wohl!«, entgegnete Meg.

»Okay, du magst sie«, zog Jo sie auf. »Das hat nicht viel zu bedeuten. Das ist so, als würdest du sagen, die Leute mögen Amy.«

Meine Jüngste ging los wie ein Knallfrosch. »Immer musst du …«

Meg legte ihr eine Hand auf die Brust und zog sie wieder runter auf ihren Schoß. »Amy, das war ein Kompliment … Wie auch immer. John Brooke wird auch Offizier. Wenn er in ein paar Wochen von der West Point abgeht.«

Ich konnte nicht anders, ich musste die Augen verdrehen. »Gib nicht so an. Du klingst total eingebildet.«

Meg hatte nichts dagegen, eingebildet zu wirken, wenn sie dafür eine Chanel-Sonnenbrille oder einen eigenen Swimmingpool hätte wie Mrs. King – ich wusste das, weil ich sie letzte Woche genau das zu Amy habe sagen hören.

»Ja, genau, Meg«, sagte Amy.

»Halt den Mund, Amy.«

»Meredith, weißt du, wie reich die Kings sind?«, fragte Meg.

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nur, dass Mr. King großen Unternehmen half, heil aus Gerichtsverhandlungen rauszukommen. Ich war nicht so fasziniert von den Kings wie meine Töchter, und ich war das genaue Gegenteil meiner ältesten Tochter. Ich konnte es nicht leiden, wenn Leute sich für was Besseres hielten. Was bei den Militär-Frauen häufig der Fall war. Bevor Frank befördert worden war, hatte ich mich unter den Frauen der einfachen Soldaten und Unteroffiziere eigentlich gut aufgehoben gefühlt. Die Frauen waren alle gleichermaßen einsam, abgebrannt und besorgt wegen des Kriegs und der Aufgabe, sich allein um die Kinder kümmern zu müssen. Manche der Frauen arbeiteten sogar. Ich fand das gut. Ich hatte zwei Freundinnen, eine junge Frau, die gerade ihr erstes Kind bekommen hatte, und eine Frau in meinem Alter, deren Mann mit seiner Familie von Fort Bragg nach Fort Cyprus versetzt worden war.

Doch dann wurde Frank zum Offizier ernannt, und ich wurde von den Frauen der rangniedrigeren Männer nicht mehr akzeptiert. In den Kreis der Offiziersfrauen passte ich allerdings auch nicht. Offiziersfrau zu sein brachte mehr soziale Verantwortung mit sich, die ich schlicht nicht wollte. Ich hatte bereits vier Töchter zu erziehen und einen Mann, den ich während seiner Einsätze unterstützen musste.

Denise Hunchberg, die Leiterin unserer Familien-Rückhalts-Gruppe, war früher mal nett gewesen, doch mit der wenigen Macht, die sie inzwischen hatte, war sie immer gehässiger geworden. Es machte mich wahnsinnig, mit ansehen zu müssen, wie sie ihre angebliche Autorität dazu nutzte, jüngere Frauen zu tyrannisieren. Jedes Mal, wenn sie mich kritisierte oder mir gegenüber über eine andere Frau lästerte, hätte ich mir am liebsten auf die Finger gespuckt und ihr die angemalten Augenbrauen von ihrem selbstgefälligen Gesicht gewischt.

Denise tat so, als würde ihr Status in der Familien-Rückhalts-Gruppe sie dazu ermächtigen, die Welt zu regieren. Manchmal, wenn ich mich ihr gegenüber besonders klein fühlte, überlegte ich, ihr unter die Nase zu reiben, dass ihr Mann während des letzten Einsatzes mit der Sanitäterin geschlafen hatte, und das zweimal. Als Denise bei der letzten Wohltätigkeitsveranstaltung, zu der ich tatsächlich hingegangen war, tadelnd mit ihrem Finger vor meinem Gesicht herumwedelte, weil ich vergessen hatte, Hotdog-Brötchen mitzubringen, wäre es mir beinah rausgerutscht. Natürlich habe ich mich zurückgehalten. Es wäre schrecklich, jemandes Familie zu zerstören. Und außerdem würde letztendlich mein Mann für das lose Mundwerk seiner Frau bezahlen, also musste mein Verhalten zu jeder Zeit durchdacht und würdevoll sein.

Ich konnte Frank das nicht antun. Die Frauen der Offiziere wurden an einem höheren Standard gemessen. Manchmal kam ich mir in Fort Cyprus vor wie ein Fisch im Aquarium bei Walmart. Zu viele Fische, zu wenig Futter, und nirgendwo konnte man hin außer auf die andere Seite des schmutzigen Aquariums.

Unsere Töchter mussten auch auf ihren Ruf achten. Na ja, soweit vier Teenie-Mädchen das eben konnten. Auf einer Militärbasis verbreiteten sich Gerüchte mit Überlichtgeschwindigkeit, und die Töchter von Frank und Meredith Spring hatten genug Samen gesät, aus denen Gerüchte wachsen könnten.

Während ich über Denise nachgedacht hatte, hatte das Gespräch im Wohnzimmer eine andere Wendung genommen. Ich hörte Amy sagen: »Und Dads Job ist sicherer als die von allen anderen. Er muss noch nicht mal eine Waffe tragen.«

Niemand sagte ihr, dass das nicht stimmte.

Diese kleine Lüge hatte ich ihr einmal erzählt, damit es ihr besser ging. Was sollte ich meiner Siebenjährigen auch anderes sagen, als sie mich fragte, ob ihr Dad sterben würde?

Jo versuchte immer, das Gewehr ihres Vaters zu ignorieren, das auf jedem seiner Facebook-Fotos zu sehen war. Sie hasste Waffen und sagte das auch oft. Freiwillig würde sie nie im Leben eine Waffe in die Hand nehmen. Genau wie ich.

»Ich würde eine Basis mitten in Mossul nicht unbedingt sicher nennen«, sagte Jo, ohne den düsteren Ton ihrer Stimme zu verbergen. Sie hatte es schon lange aufgegeben, Amy irgendwas vorzuspielen.

Abgesehen davon, dass wir bei Amy ein paar Details ausgelassen hatten, wussten meine Töchter darüber Bescheid, wo ihr Dad war und wie gefährlich es im Irak war. Sie wussten, dass dort Menschen starben, aus beiden Ländern. Männer wie der Vater von Helena Rice. Zwei Tage vor ihrem letzten Jahr an der Highschool war er abgereist, und vor Weihnachten war er schon tot. Helena und ihre Mom zogen jetzt dahin zurück, wo sie früher gewohnt hatten. Ihnen blieben nur neunzig Tage, ihre Sachen auf der Basis zu packen.

Es war schrecklich. Es war einfach nur schrecklich.

»Es ist die sicherste Basis«, sagte Amy.

Noch eine Lüge, die ich ihr erzählt hatte.

»Nein …«, fing Jo an, aber ich unterbrach sie: »Jo.«

Auf einmal war ich unendlich müde. Manchmal wünschte ich mir, Frank wäre hier und könnte mir helfen, unseren Mädchen so schwierige Sachen zu erklären.

»Meredith«, fuhr Jo mich an.

»Jo, komm schon. Lass uns einfach den Film gucken«, versuchte Beth, sie zu besänftigen.

Ich saß mittendrin, aber ich war so müde. Am liebsten würde ich aufstehen und in die Küche flüchten.

»Tut mir leid, Beth, dass meine Sorge um das Leben unseres Vaters deinen Filmabend stört«, fauchte Jo und verschränkte die Arme.

Hätte Jo das zu Amy oder Meg oder gar zu mir gesagt, hätte sie ordentlich was zu hören bekommen. Amy hätte sie wahrscheinlich auch gehauen. Aber Beth sagte kein Wort. Ein paar Sekunden vergingen, dann stellte Jo den Fernseher wieder lauter. Ich fühlte, wie die Anspannung in ihren Schultern nachließ und damit auch in meinen.

Wir vermissten Frank einfach nur, das war alles.

Meine Mädchen vermissten ihren Vater zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich intensiv. Meg hatte ihren Dad am meisten vermisst, als ihr damaliger Freund den anderen Jungs an der Schule Fotos von ihr gezeigt hatte, die nur für seine Augen bestimmt gewesen waren. Jo hatte ihn am meisten vermisst, als sie zur jüngsten Redakteurin ihrer Schulzeitung gewählt worden war. Und dann hatte sie ihn noch mehr vermisst, als der Titel ihr wieder abgenommen wurde. Beth vermisste ihren Dad am meisten, wenn sie beim Klavierspielen nicht den richtigen Ton traf. Und Amy vermisste ihren Dad, wenn sie ihn ihre liebsten Disney-Lieder singen hören wollte. Und zu guter Letzt vermisste ihre Mutter ihren Mann besonders dann, wenn die Last des Lebens für ihre Schultern allein einfach ein bisschen zu viel wurde.

Wir fünf vermissten unseren Captain alle aus ganz unterschiedlichen Gründen und konnten es kaum erwarten, dass er nächsten Monat endlich wieder nach Hause kam. Es fühlte sich jetzt schon viel länger an als ein Jahr, seit er weg war, und die zwei Wochen Urlaub würden nicht annähernd genug sein.

Während der kurzen Zeit versuchte er immer, mit seinen Mädchen ein ganzes Jahr aufzuholen. Letztes Jahr waren wir von Louisiana nach Florida gefahren und hatten eine Woche in Disney World verbracht. Beim Feuerwerk am Abend spürte ich, wie Franks Beunruhigung mit jeder Farbexplosion größer wurde. Er konnte sich die Show nicht bis zum Ende ansehen. Ich würde nie vergessen, wie seine Schultern bebten, als er zurück zum Hotel ging, während das Feuerwerk den dunklen Himmel erhellte. Für Jo und Amy waren die Explosionen wunderschön. Doch das Knallen ließ auch meinen Puls schneller werden. Ich machte mir Sorgen um meinen Mann, der das laute Knallen nicht ertrug. Als Frank in der Menge verschwand, folgte ich ihm. Wie ich später erfuhr, ließ Meg Jo mit ihren zwei kleinen Schwestern allein und lief einem Jungen hinterher, den sie in der Schlange vor Cinderellas Schloss kennengelernt hatte.

In der Küche piepte der Ofen, und Beth sprang auf. Falls die anderen Mädchen es hörten, ließen sie sich nichts anmerken. Beth verbrachte eine Menge Zeit in der Küche. In letzter Zeit hatte ich immer weniger Lust gehabt zu kochen, und Beth war die einzige meiner Töchter, die gern kochte und es bemerkte, wenn die Wäscheberge sich türmten.

»Gucken wir jetzt den Film oder nicht? Jetzt bleibt doch mal sitzen und seid still!«, rief Amy, woraufhin Jo die Augen verdrehte.

Jedes Jahr guckte ich an Heiligabend mit meinen vier Mädchen Horrorfilme. Es war eine Tradition, die existierte, seit Frank und ich zum ersten Mal zusammen Weihnachten gefeiert hatten. Wir waren damals in Las Vegas stationiert, und ich hatte Heimweh. Halloween war für mich in meiner Kindheit immer die beste Zeit des Jahres gewesen. Meine Mom gab dann alles, und ich hatte ihre Liebe für Halloween übernommen. Als ich in dem Jahr an Weihnachten über einen die ganze Nacht andauernden Horrorfilm-Marathon im Fernsehen stolperte, fühlte ich mich an zu Hause erinnert, und mein Heimweh war gelindert. So wurden die Horrorfilme zur Gewohnheit, und irgendwann steckte ich auch meine Mädchen damit an.

Sie alle liebten Halloween und unheimliche Sachen, aber besonders Beth und Amy waren seit unserem Umzug nach New Orleans ganz fasziniert von den Voodoo-Geschichten und Legenden, die sich um The Big Easy rankten. Ich war stolz darauf, das unheimlichste Haus in der Umgebung zu haben, egal wo wir wohnten. Oft schwelgte ich in Kindheitserinnerungen und erzählte Geistergeschichten über spukende Orte in meiner Heimatstadt im Mittleren Westen. Als ich noch jung war, verbrachten meine Freundinnen und ich die Wochenenden damit, Spukhäuser in der Nähe unserer Kleinstadt aufzusuchen, das waren die paar guten Erinnerungen, die ich noch von dem Ort hatte. Wir konnten von Glück sagen, dass ich an jenem Weihnachtsabend auf den Horrorfilm-Marathon gestoßen war und nicht etwa auf Dokus über verarmte ländliche Gegenden und Alkoholismus.

Jo zeigte auf den Bildschirm. »Die Stelle liebe ich.«

Sie wählte jedes Jahr zu Weihnachten dieselbe Art von Horrorfilmen aus derselben Zeit aus, mit Zombies oder irgendeinem Virus. Letztes Jahr hatten wir 28 Tage später gesehen. Meg dagegen suchte Filme immer nach dem Hauptdarsteller aus. Zuletzt war sie in Tom Hardy verknallt gewesen, was ich absolut nachvollziehen konnte … eine Tatsache, die noch seltsamer war als Ketchup auf Tacos.

»Ich find die auch super.«

Jo lächelte Amy an, und mir wurde ganz warm ums Herz.

Das Haus wurde wieder still, bis auf die Schreie aus dem Fernseher.