Notker Wolf
Leo G. Linder
DAS BÖSE
Wie unsere Kultur aus den Fugen gerät
Gütersloher Verlagshaus
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-14744-0
www.gtvh.de
Inhalt
1. Ein unerwünschter, aber hartnäckiger Gast
Gott kapituliert. Er verliert die Geduld und weiß sich keinen anderen Rat mehr als: »Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, von der Erde vertilgen.« Auf welche Weise? Durch eine Sintflut – »Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.« Und warum? Weil »die Bosheit der Menschen groß und alles Dichten und Trachten ihres Herzens böse ist«, weil »die Erde verderbt und voller Frevel« ist und weil er darum »bereut, die Menschen gemacht zu haben«. Also lässt er es regnen, vierzig Tage lang, und »die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Da ging alles Fleisch unter, das sich auf Erden regte ... Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb«. Außer Noah, dem Gerechten. Dem einzigen.
Die Sintflut – was ist sie anderes als die Reaktion eines Ratlosen, eines Fassungslosen? Ratlos, fassungslos und abgrundtief enttäuscht von einer Menschheit, die nicht zur Vernunft kommen will, die stur ihr eigenes Unheil sucht, die sich wie Fäulnis über die Erde ausbreitet. Der Gott der Bibel ist aber nicht der einzige Enttäuschte. Ratlos ist auch der höchste Gott der Griechen.
»Zeus, dem Weltbeherrscher, kam schlimme Botschaft von den Freveln der Menschen zu Ohren. Da beschloss er, selber in Menschengestalt die Erde zu durchstreifen. Doch allenthalben fand er das Gerücht noch milder als die Wahrheit.« Auch er ist fassungslos. Auf den Olymp zurückgekehrt, hält Zeus mit den Göttern Rat und beschließt, das ruchlose Menschengeschlecht zu vernichten. Wie? Durch »ungeheure Wolkengüsse und Regenfluten ohne Ende«.
Das Ergebnis ist dasselbe wie im ersten Fall. Nur ein einziges Menschenpaar überlebt, Deukalion und Pyrrha, »beide unsträflich, beide Verehrer der Gottheit«. Zwar geht es mit der Menschheit hinterher weiter, da wird nach der großen Flut ein neuer Anfang gemacht, am Grundproblem aber ändert sich nichts – die Menschen sind, wie sie sind, sie bleiben, wie sie waren, und selbst Noah der Gerechte hat nach seiner Rettung nichts Besseres zu tun, als sich einen kräftigen Rausch anzusaufen. Wer hier als Einziger zur Besinnung kommt, ist Gott. Ernüchtert findet er sich mit der Unverbesserlichkeit des Menschen ab – »denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf« – und schließt seinen Frieden mit dem Pack: »Ich will hinfort nicht mehr alles schlagen, was da lebt, so wie ich es getan habe.« Zu welchem Fazit Zeus kommt, das verschweigt der griechische Mythos. Aber auch er stellt alle weiteren Versuche, das Übel bei der Wurzel zu packen, ein.
Aussichtlos. Der Mensch von Grund auf böse, verdorben bis ins Mark, und Gott selbst fassungslos. »Nichts schauerlicheres als der Mensch, weil er zu allem fähig ist«, lässt sich der griechische Tragödiendichter Sophokles aus der Tiefe der Zeit vernehmen, und Spätergeborene werden den Menschen mit einer Bestie vergleichen, für Seinesgleichen gefährlich wie ein Wolf. Wenn sich der Menschheitsgeschichte eine Lehre entnehmen lässt, dann die: Lasst alle Hoffnung fahren ...
Ist dieses Urteil zu hart? Wird es uns Menschen nicht gerecht? Eins immerhin müssen wir zugeben: Auch uns ist diese Fassungslosigkeit angesichts des Bösen nicht fremd. Wir brauchen gar keine Gerichtsakten zu studieren; ein Blick in die Geschichtsbücher genügt, ein Ohr für die Unterhaltungen am Nachbartisch in Kantinen und Cafés reicht völlig aus – tausendfach hallen Kriegs-, Rache- und Schmerzensschreie durch die Geschichte der Menschheit, und tausendfach finden sie ihr Echo in den Klagen über alltägliche Gemeinheiten, verübt von treulosen Freunden, rücksichtslosen Nachbarn, missgünstigen Verwandten, unverschämten Kollegen und selbstgefälligen Vorgesetzten. Das Böse scheint aus unerschöpflichen Quellen zu sprudeln, und wo es sich Geltung verschafft, selbst wo es bloß zur Sprache kommt, reichen die Reaktionen vom Kopfschütteln bis zu ungläubigem Entsetzen: Wie kann man bloß? Wie kann man bloß so sein, so etwas tun, sich so verhalten, verstellen, vergreifen, verrennen, vergehen? Da ist es auch ganz gleich, ob uns das Böse in der eher harmlosen Gestalt einer Bürointrige oder der abstoßenden Gestalt eines Kinderschänders begegnet – verstehen können wir es nie. Sprachlos macht es uns immer. Als wäre das Böse ein unheimlicher Eindringling mysteriöser Herkunft, etwas, das nicht zu uns gehört und in dieser Welt grundsätzlich nichts zu suchen hat.
Aber – gehört es denn zu uns, das Böse? Ist es uns nicht tatsächlich fremd? Regelrecht wesensfremd?
Das zu behaupten wäre kühn. Wer könnte bestreiten, dass es das Privileg des Menschen ist, böse zu sein? Alles, was uns sonst Ärger bereiten, bedrohen, in Panik oder Todesangst versetzen könnte – wilde Tiere, Unfälle, Naturkatastrophen –, fällt unter bedauerliche Zufälle, unter Unglück oder Tragödie. Nie würde es uns einfallen, einem Erdbeben, einem bissigen Wachhund Bosheit zu unterstellen, aus dem einfachen Grund, weil wir Tieren und Naturgewalten keine Absicht beilegen können. Zum Bösen gehört die Vernunft, der freie Wille, die Verantwortlichkeit, gehört gerade das, was den Menschen auszeichnet und vom Rest der Schöpfung unterscheidet. Wie soll ihm das Böse da fremd sein?
Und dennoch ...
Dennoch wollen wir ganz entschieden nichts damit zu tun haben. Dennoch verstehen wir sofort die Entrüstung der alten Dame, die mir sagte, als unser Gespräch auf die Beichte kam: «Ich wüsste wahrhaftig nicht, was ich zu beichten hätte! Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, soweit ich mich entsinnen kann.« Und in der Tat, beim Blick ins eigene Innere dürfte den meisten von uns nichts auffallen, was auch nur entfernt an Bosheit erinnert, und noch der überführte Serienmörder wird von sich sagen: Ich bin kein schlechter Mensch. Ist das bloßer Selbstbetrug? Bloßes Selbstmitleid? Oder können wir es bestätigen, dieses Gefühl, in etwas verstrickt zu werden, in etwas hineinzurutschen und sich mit einem Mal selbst nicht mehr zu verstehen? Scheint das Böse nicht wirklich aus heiterem oder vielmehr bedrohlich zugezogenem Himmel zu kommen – als würde es außerhalb dieser Ordnung, dieser Weltordnung existieren, in einer anderen Dimension, durch einen Abgrund von uns getrennt, die wir ein selbstverständlicher Teil dieser Ordnung sind – oder uns jedenfalls nichts sehnlicher wünschen als das?
An dieser Stelle kommt mir der Verdacht, Gott könnte im Irrtum gewesen sein, als sein Zorn gegen die Menschen ergrimmte. Hatte er die Sachlage wirklich gründlich geprüft? Mir ist klar, dass wir uns hier in die Gedankengänge desjenigen vertiefen, der die Sintfluterzählung verfasst hat – es überfordert uns, die Gedanken Gottes nachzuvollziehen. Aber bleiben wir einmal in der Geschichte, folgen wir der Logik dieses Gottes, der die Sintflut schickt. Kommt bei seinem Entschluss nicht Folgendes zu kurz: dass nämlich die Menschen das Böse genauso verfluchen. Dass sie darunter ebenfalls leiden und im Bösen einen unerwünschten, wenngleich hartnäckigen Gast erblicken – einem Parasiten vergleichbar, der sich die Menschen als Wirtstiere ausgesucht hat. Hätte Gott dann nicht in den Menschen Verbündete suchen sollen – und auch gefunden? Geändert hat die Sintflut jedenfalls nichts – sie war ein Fehlschlag, sie taugt allenfalls als Beispiel für die Unausrottbarkeit des Bösen. Denn wie in einem Horrorfilm überlebt es an Bord der Arche, eingenistet in der Seele des gerechten Noah, und bricht, als das Leben auf Erden weitergeht, erneut aus. Alles bleibt beim Alten. Gott hätte bei seinem Kampf gegen das Böse wohl anderswo ansetzen müssen. Aber wo?
Beim System zum Beispiel – um einen Bogen von der Sintflut in unsere Zeit zu schlagen. Beim perfiden politischen System oder den ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen. Armut sei das Grundübel, lautet eine Diagnose, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat. Erst komme der Magen, dann die Moral, weshalb der Satte stets verträglicher als der Hungrige und der Wohlhabende grundsätzlich friedlicher als der Bedürftige sei. Solche Ansichten sind in linken Kreisen beliebt. Sie laufen auf eine partielle moralische Unzurechnungsfähigkeit des einzelnen Menschen hinaus, und es gibt ja tatsächlich genug Beispiele dafür, wie das Gewissen sich den gegebenen bösen Verhältnissen anpasst oder vor einer Verkettung widriger Umstände gänzlich kapituliert, wie dumme Zufälle und unglückliche Konstellationen unsere besten Absichten zunichtemachen.
Andere werden in der biologischen Grundausstattung des Menschen fündig. Sie sehen alle Ursachen menschlichen Verhaltens in einer Art automatischer chemischer Reaktion, die sich im menschlichen Nervenzentrum abspielt, bevor sie der Mensch in seinem Bewusstsein nachvollzieht. Oder sie entdecken den Egoismus der Gene, der uns leider keine Wahl lässt. Solchen Befunden nach zu urteilen wären wir unserer natürlich-biologischen Verfassung ähnlich willenlos ausgeliefert wie den gesellschaftlichen oder politischen Verhältnissen im ersten Fall – der Gedanke an eine Fernsteuerung drängt sich auf. In welchem System wir die Ursache des Bösen also immer ausfindig machen – im politischen, im gesellschaftlichen, im biologischen –, stets wird das Böse unserer Reichweite entzogen, und wir dürfen uns endlich verstanden fühlen: Ja, das Böse ist ein Resultat der Zwangslagen, in die wir als Menschen hineingeboren oder hineingeraten sind, unvorhersehbar wie ein Betriebsunfall und unserer Kontrolle entzogen.
Hätte Gott also dort ansetzen sollen? Bei der Gesellschaft, der Politik, der Funktionsweise des menschlichen Gehirns?
Da eröffnen sich viele Schauplätze. Halten wir unseren ersten Eindruck fest, bevor wir einen Schauplatz nach dem anderen besichtigen: Das Böse irritiert. Keiner, der noch bei Verstand ist, will es, und doch setzt es sich durch. Es führt ein beunruhigendes Eigenleben, und seine Herrschaft erscheint uns wie ein unnatürlicher, ein – um mit der Bibel zu sprechen – von Gott nicht vorgesehener Zustand. Es überschattet das Dasein des Einzelnen und braut sich wie eine Gewitterfront über dem Dasein der Völker zusammen – aus geringfügigsten Anlässen entstehen Gemetzel, als würde die Entwicklung blind einer teuflischen Logik gehorchen, und wo eine kleine Gruppe zum Gewehr greift, womöglich aus ehrenwerten Motiven, da befindet sich wenig später ein ganzes Land im Krieg mit sich selbst. Ungeheure Energien sind da am Werk, und eines lässt sich jetzt bereits sagen: Was auch immer es ist, woher auch immer es kommt, das Böse ist uns unheimlich. Und, so muss man hinzufügen, wie alles Unheimliche von einer unwiderstehlichen Faszination.
Es beschäftigt uns, es wühlt uns auf. Was wäre alle künstlerische Produktion, was wären Literatur, Malerei, Film und Theater ohne das Böse, die dunkle Seite des Menschen, seine Abgründe? Und natürlich durchzieht der Skandal des Bösen auch die Bibel fast von der ersten bis zur letzten Seite, von der Paradieserzählung bis zur Apokalypse. Aber – was ist es denn überhaupt? Dieses Böse, dem auch durch eine Sintflut nicht beizukommen war ...
2. Der Junge mit der Spinne
Mir geht es mit dem Bösen, wie es dem heiligen Augustinus mit dem Phänomen der Zeit ging: Solange ich mir keine Gedanken darüber mache, habe ich eine klare Vorstellung davon. Doch je genauer ich hinschaue, desto unsicherer werde ich. Das Bild, das ich vom Bösen habe, zerfließt, zerspringt buchstäblich in die unendlich vielen Facetten, in die sich das Böse in der Wirklichkeit des Lebens aufsplittert, von der kalten Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Unglück über die vergiftende Wirkung der Eifersucht bis zum erschütternden Horror der Schlachtfelder, und ich frage mich: Lässt sich sein Wesen überhaupt bestimmen? Oder müssen wir uns darauf gefasst machen, dass es sich einkreisen, aber nicht fassen lässt?
Und dann fällt mir ein: Die Maler haben es versucht. Immer und immer wieder. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie müssen das, womit Dichter, Philosophen und Theologen Bücher füllen, in konzentrierter Form sichtbar und fürs Auge greifbar machen, also eine Unmenge geistvoller Spekulationen in einem einzigen Bild zusammenfließen lassen. Bei dem Versuch, das Wesen des Bösen zu bestimmen, werde ich mich daher zunächst mit den Malern des Mittelalters beraten und mir anschauen, welche Darstellungsform sie für das absolute Gute und welche für das absolute Böse finden. Mit anderen Worten: welche charakteristischen Züge sie in ihren Gemälden Gott verleihen und welche dem Teufel.
Natürlich muss man sich behelfen, wenn man das Unsichtbare sichtbar machen will. Gott ist Geist, der Teufel auch, und über beide trifft die Bibel keine für Maler verwertbaren Aussagen. Dem einen wird in der Heiligen Schrift die Sphäre des Lichts zugewiesen und dem anderen die der Finsternis – das ist alles, mehr erfahren wir nicht. Es ist eine künstlerische Eigenmächtigkeit, Gott und dem Teufel eine menschliche oder menschenähnliche Gestalt zu geben und beide mit Gesichtszügen und Gesten auszustatten, aber für uns sehr hilfreich: Wir können jetzt nämlich die bezeichnenden Eigenschaften des absoluten Guten (wie des absoluten Bösen) von einem Gesichtsausdruck, einer Körperhaltung ablesen und brauchen dafür nicht mehr als etwas Menschenkenntnis mitzubringen.
Erstens also: Gott.
Die mittelalterlichen Gottesdarstellungen sind von bemerkenswerter Einheitlichkeit. Egal, ob man im Gesicht Gottes die Züge des weisen Herrschers, des gütigen Vaters, des abgeklärten Alten oder des durchgeistigten Philosophen erkennen will, in diesem Antlitz spiegelt sich keine Gemütsbewegung. Es ist ganz gefasster Ernst, souveräne Ruhe und Unergründlichkeit. Es ist auch ganz Blick, konzentrierter, auf dem Betrachter ruhender Blick. Selten wird Gott von der Seite gezeigt, fast immer begegnet er uns als Gegenüber in einer frontalen Darstellung – er schaut uns an, wir schauen zurück, und seine Ruhe überträgt sich auf uns. Damit wäre schon das Wesentliche erfasst. Im Bild des abgeklärten Weisen hätten wir also das vollkommene Gute zu erkennen. So sähe uns ein Mensch an, mit dem alles stimmt.
Und jetzt der Teufel.
Was zunächst auffällt: Kein Teufel ist wie der andere. Der künstlerischen Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt, die Maler ergehen sich in den bizarrsten Details. In jedem Fall aber trägt der Teufel die Züge eines entstellten Menschen, eines Mischwesens aus Mensch und Tier, mit einer verzerrten, fratzenhaften Physiognomie, in der sich deutlich Gefühlsregungen wie Häme, Spott, Verschlagenheit oder Lust spiegeln, und den böse funkelnden Augen des dämonischen Triumphs. Dazu kommt – der Teufel ist in Aktion. Irgendetwas treibt er fast immer, stochert, zerrt, wühlt auf, fängt ein – alles in allem das genaue Gegenteil eines in sich ruhenden, Vertrauen erweckenden Gegenübers. Keiner, der einem in die Augen zu blicken vermöchte. Und noch etwas: Der Teufel scheint sich bei seinem Treiben wohl zu fühlen. Er strahlt eine höhnische Genugtuung aus, ist bisweilen mit infantilem Spaß an der Sache zugange. Im Bild des vernunftlosen Unruhestifters also sollen wir das vollkommene Böse erkennen. So würde ein Mensch auf uns wirken, mit dem nichts stimmt.
Es ist klar, dass diese Bilder nicht beliebigen künstlerischen Launen entspringen. Sie spiegeln eine lange Denktradition wider, eine Auseinandersetzung mit Gut und Böse, die bis in die Antike zurückreicht. Sie sind repräsentativ und gut begründet und daher umso aufschlussreicher. Welche Botschaft enthalten sie? Ohne irgendwelche moralische Qualitäten in diese Bilder hineinlesen zu wollen, würde ich sagen: Das im Gottesbild verkörperte Gute ist das Gefestigte, In-sich-Ruhende, Unbeeindruckbare, Unerschütterliche und daher Vertraueneinflößende einer von allen Leidenschaften gereinigten Menschlichkeit. Das im Teufelsbild verkörperte Böse hingegen ist das Unstete, Ruhelose, Tierisch-Vernunftlose, Nervöse, Getriebene, dabei Selbstgefällige und deshalb Furchteinflößende einer von Leidenschaften aufgewühlten Unmenschlichkeit. Kurz und knapp also vielleicht: Das Gute stellt sich als unangreifbare, souveräne Selbstbeherrschung dar, das Böse als triebhafte Haltlosigkeit.
Das ist schon mal etwas, und auf Anhieb spricht einiges dafür. Ja, es ist wahr: Das Gute tun wir mit Bedacht, das Böse eher nicht (es sei denn, wir sind professionelle Gangster oder totalitäre Herrscher). Wenn wir als Kinder auf dem Schulhof unsere Apfelsine mit einem Klassenkameraden teilten, wenn wir später für Katastrophenopfer irgendwo auf der Welt spendeten, dann geschah das jedenfalls wohlüberlegt, aus bestimmten Erwägungen oder einem begründeten Mitgefühl heraus. Das Gehässige und Verletzende aber wandelt uns meist unversehens an, das juckt uns in den Fingern, das reizt uns unwiderstehlich, und oft merken wir erst, was wir angerichtet haben, wenn wir wieder zur Besinnung kommen. Eine kleine Geschichte fällt mir dazu ein – harmlos, auf den ersten Blick.
Ein zehnjähriger Junge gestand mir, seine kleine Schwester mit einer Spinne die Treppe hochgejagt zu haben. Ich musste damals schmunzeln. »Du, das ist nicht weiter tragisch«, redete ich dem reumütigen Sünder zu, »das war doch nur ein Dummerjungenstreich ...« Der Bub aber schüttelte energisch den Kopf. »Nein«, sagte er, »ich weiß ja, welche Angst meine Schwester vor Spinnen hat. Und es hat mir Spaß gemacht, sie zu ärgern.« Da verstand ich. Er hatte das Vergnügen am Bösen in sich entdeckt und war über sich selbst erschrocken.
Sie ist ja auch erschreckend, diese unheimliche Lust am Quälen, am Fertigmachen eines anderen. »Es hat mir Spaß gemacht, meine Schwester zu ärgern ...« – als würde sich plötzlich eine bislang verborgene Kellertür öffnen und einen aus dem Dunkel ein unbekannter, seltsam verführerischer Hauch anwehen. Erschreckend, ja, aber gleichzeitig ...
Nun, angenommen, der Junge hätte die Spinne behutsam genommen und brav vor die Tür gesetzt – er hätte nichts zu erzählen gehabt, und seine Schwester auch nicht. Nur weil er der Versuchung erlegen war und seiner entsetzten Schwester mit dem ekligen Tier vor dem Gesicht herumgefuchtelt hatte, ist aus der Begegnung mit der Spinne für beide eine kleine, aufregende – und für den Jungen sogar lehrreiche – Geschichte abgefallen. Worauf ich hinauswill? Auf etwas, das leicht übersehen wird. Das Böse hat nämlich nicht nur eine moralische Dimension. Es hat auch eine dramatische.
Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verwoben, und beide schlagen sich auf die Bewertung einer bösen Tat nieder – den einen stößt sie bloß ab, der andere findet darin den Stoff für eine Erzählung. Doch nicht nur das. Die dramatische Dimension des Bösen kann nicht nur auf den Betrachter, sie kann auch auf den Täter selbst stimulierend wirken. Als Beispiel dafür will ich einen der spektakulärsten Kriminalfälle des letzten Jahrhunderts anführen, die Taten des Serienmörders Peter Kürten, bekannt geworden seinerzeit als der »Vampir von Düsseldorf«.
1929 wird in Düsseldorf ein achtjähriges Mädchen ermordet aufgefunden, und sechzehn Monate lang folgen nun immer neue Morde und Mordversuche im Abstand weniger Wochen. Die Opfer sind mit einer Ausnahme junge Frauen und Mädchen, mal mit einem Beil getötet, mal mit einem Hammer erschlagen, mal mit einer Schere erstochen. Als Peter Kürten 1931 nach neun Morden und 32 Mordversuchen festgenommen wird, hat der Fall weltweites Aufsehen erregt.
Die Umstände der einzelnen Morde sind grauenerregend, sie sollen uns hier aber nicht beschäftigen. »Ich hatte die starke Neigung, einen Menschen zu töten«, sagt Kürten im Verhör und spielt damit auf die sexuelle Befriedigung an, die ihm der Anblick strömenden Bluts verschaffte. Worauf es mir ankommt: Kürten legte größten Wert auf die dramatische Wirkung seiner Taten. Am Morgen nach einem Mord mischte er sich unter die gaffende Menschenmenge am Tatort, um die Reaktion seines Publikums – nun, nicht bloß auszukosten, vor allem zu überprüfen: Ist das Entsetzen so groß wie von ihm erhofft? Hat er das gewünschte Grauen auch tatsächlich verbreitet? Nach jeder Tat, gestand er im Verhör, »stellte ich mir die Wirkung vor, die diese Mordtat auf die Düsseldorfer Bevölkerung haben würde«, – wobei ihm kaum entgangen sein konnte, dass er weit darüber hinaus auch die Weltöffentlichkeit nach und nach in seinen Bann schlug.
Mit anderen Worten: Das Abscheuliche war für Kürten gewissermaßen dramaturgisches Programm; er setzte seinen Ehrgeiz darein, den denkbar größten Schock auszulösen. Dieses Motiv tritt nach seiner Verhaftung sogar in den Vordergrund: Die vernehmenden Polizisten sehen sich einem nie versiegenden Erzählstrom des Mörders ausgesetzt. Mit einem messerscharfen Erinnerungsvermögen ausgestattet, gesteht er pausenlos, unter Berücksichtigung aller grausigen Details, selbst Taten, die er nie begangen hatte. »Ich glaubte, man habe es gern, wenn ich möglichst viele Taten angab«, entschuldigt er sich für seine Falschaussagen. Was heißt das anderes als: Kürten fühlte sich in der Rolle des Monsters wohl. Hier schöpfte jemand das dramatische Kapital eines Verbrecherlebens absichtsvoll aus. Mit dem Erfolg, dass am Ende Neugierige aus aller Welt in Massen zur Gerichtsverhandlung strömten – nach Vergeltung lechzend, aber eben auch begierig auf weitere sensationelle Enthüllungen. Nach der Urteilsverkündung mündete sein Erzählstrom in zahlreiche Briefe, die er seinen überlebenden Opfern schrieb, bevor er 1931 auf der Guillotine hingerichtet wurde.
Übrigens nahm der Regisseur Fritz Lang den Fall wenig später als Vorlage für seinen berühmten Film »M – eine Stadt sucht einen Mörder«, was mir ganz in der Logik dieser Mordserie zu liegen scheint. Kürten hätte die Verfilmung mit Sicherheit als Krönung seines »Lebenswerks« verstanden.
Vermutlich ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Serientäter keine moralischen Erwägungen anstellt – Kürten jedenfalls fühlte sich zu seinen Taten nach eigener Auskunft berechtigt. Ungewöhnlich aber dürfte sein, dass ein Mörder im vollen Bewusstsein der dramatischen Dimension des Bösen handelt und sein Leben – soweit es den Zeitraum seiner Taten umfasst – wie eine schaurige Erzählung anlegt, oder als hätte er eine schockierende Theaterinszenierung abliefern wollen. Neben der sexuellen Befriedigung im Augenblick des Tötens scheint ihm dieser Aspekt die größte Genugtuung bereitet zu haben.
Was besagt dieser Fall für unsere Frage nach dem Wesen des Bösen? Kehren wir noch einmal zu den mittelalterlichen Gottes- und Teufelsdarstellungen zurück. Wenn wir hier jetzt ebenfalls den Maßstab des Dramatischen anlegen, kommen wir zu einem weiteren, ziemlich beunruhigenden Ergebnis.
Der Gott der Maler nämlich – man kann es nicht anders sagen – ist langweilig. Er hält keinerlei Überraschungen parat. Er ist der ewig gleiche, ungerührte, hoch über dem Geschehen schwebende alte Herr – weit davon entfernt, unsere Neugier zu erregen. Wir streifen ihn mit einem Blick und wissen Bescheid. Der Grund, weshalb unsere Augen die Wandgemälde und Buntglasfenster einer Kirche absuchen, ist viel eher der Teufel. Und da schauen wir hin. Der ist hässlich, abstoßend, schauerlich. Der lauert böse grinsend in einem Fenster, die gespenstische Wirkung durch das bläuliche Licht gesteigert, das von außen durch seinen hockenden Körper fällt, oder er springt einen aus einer Wandnische als geschupptes Ungeheuer an. Mit dem Teufel kann man, kurz gesagt, etwas erleben. Der fasziniert und erregt, wie eben nur das Böse fasziniert und erregt – gar kein Vergleich mit dem lauen Wohlgefallen, das wir fürs Gute übrig haben. Die Malerei bestätigt mithin, was wir nach der Geschichte vom Jungen mit der Spinne bereits geahnt, was wir nach dem Fall Peter Kürten bereits vermutet haben: Für unser Nervensystem ist das Böse ein gefundenes Fressen – und unter dramatischen Gesichtspunkten dem Guten weit überlegen.
Und mit einem Mal ist es, als würden wir auf einer abschüssigen Geröllhalde nach festem Stand suchen. Das Böse ist nicht eindeutig. Es ist durchaus nicht nur böse. Es changiert, wie manche Stoffe je nach Beleuchtung die Farbe wechseln. Denn so abstoßend wir es aus moralischer Sicht finden mögen, so außerordentlich attraktiv erscheint es uns, wenn wir seine dramatische Seite in Betracht ziehen. Hinzu kommt: Egal welche Haltung wir einnehmen, ob wir mit Widerwillen reagieren oder seiner Anziehungskraft erliegen, es versetzt uns in einen Zustand der Erregung – was dem Guten in den seltensten Fällen gelingt. Als Fernsehzuschauer, Kinobesucher oder Krimileser weiß man das natürlich. Wie weit unsere Gespür für die Schockwellen des Bösen aber tatsächlich reicht, ist wohl wenigen bewusst. Erstaunlicherweise nämlich werden die Erschütterungen, die das Böse auslöst, von uns auch über weite Entfernungen hinweg registriert, als gäbe es für sie weder räumliche noch zeitliche Grenzen.
Es braucht uns gar nicht selbst zu betreffen, wir brauchen nicht einmal Zeugen zu sein – unser moralisches Urteil umfasst die ganze Welt, und das Böse verliert nicht einmal dann von seiner verstörenden Kraft, wenn es uns bloß als Nachricht aus einem entfernten Winkel der Erde erreicht. Ja, selbst die früheste Vergangenheit wird von unserem moralischen Radar erfasst. Selbst längt vergangene Gräueltaten wie die Menschenjagden der Sklavenhändler in Afrika oder die Massaker des Dreißigjährigen Kriegs vermögen uns noch zu empören, als würden sie niemals verblassen, als wären die Energien einer jeden bösen Tat irgendwo gespeichert, als würden diese Taten nur darauf warten, von uns auch nach Jahrtausenden noch mit Schrecken, Empörung oder Abscheu quittiert zu werden. Die guten Taten der Vergangenheit – sie finden allenfalls unsere freundliche Zustimmung. Das Gute, das anderswo auf der Welt geschieht – es scheucht uns nicht aus unserer Ruhe auf. Aber das Böse trifft uns, egal wie lang vergangen, egal wie weit entfernt. Es verhakt sich in unserer Seele und findet dort einen ungemein stärkeren Widerhall als alles Gute, das auf diesem Planeten unablässig ebenfalls geschieht und je geschehen ist.
Man muss diese Macht, die das Böse so leicht über unser Denken und Fühlen gewinnt, wohl Faszination nennen. Unwillkürlich versetzt es uns in einen Zustand konzentrierter Anspannung, dem eine ordentliche Portion Lust beigemischt ist. Deshalb irrt Sigmund Freud, wenn er feststellt, der Mensch fürchte nichts mehr als einen Zustand der Spannung. Wahr ist vielmehr: Er fürchtet in aller Regel nichts mehr als die Abwesenheit von Spannung. Das Böse bedient dieses Erregungsbedürfnis ganz vorzüglich, es schlägt uns in seinen Bann, und als letztes Beispiel möchte ich die Geschichte einer dramatischen Kapitulation vor der Faszination des Bösen erzählen. Sie findet sich in den autobiografischen Bekenntnissen des heiligen Augustinus (354–430).
Sein Jugendfreund Alipius, so erzählt Augustinus, war nach seiner Bekehrung zum Christentum zu einem entschiedenen Gegner der Gladiatorenkämpfe geworden. Eines Tages jedoch wurde er von Bekannten mit sanfter Gewalt ins Amphitheater geschleppt – man kennt das ja: Stell dich nicht an, komm halt mit, heißt es bei solchen Gelegenheiten, und wer will da Spielverderber sein. Gut, Alipius verabscheute das Blutvergießen zwar, vermochte sich jetzt aber nicht herauszuwinden und schwor, das grausige Spektakel mit geschlossenen Augen über sich ergehen zu lassen. »Ach, dass er sich doch auch die Ohren verschlossen hätte!«, fährt Augustinus fort. »Denn zu einem gewissen Augenblick des Kampfs schlug ein ungeheurer Schrei des Volkes an sein Ohr, er ward von Neugier überwältigt und so, als wäre er bereit, was er auch sehe, zu verachten und zu überwinden, öffnete er die Augen. Und da ward er an der Seele mit ärgerer Wunde geschlagen als am Leib der Gladiator ... Denn da er nun das Blut sah, trank er die wilde Gier in sich hinein und wandte ferner sich nicht ab und heftete den Blick auf das Geschaute und schlürfte Blut und Wollust ... und ward betrunken von der Wollust blutiger Grausamkeit. Schon war er nicht mehr, der er gekommen war, sondern einer wie jeder aus der Menge ...«
Seither, erfahren wir, war Alipius den Gladiatorenspielen verfallen.
Man spürt in dieser Erzählung die Wucht, mit der die Versuchung auf den armen Alipius eindringt, fast körperlich. Sie brandet an, sie reißt ihn um, sie reißt ihn mit. Als er die Augen öffnet, ist er verloren. Die Verwandlung vom Gegner in einen glühenden Anhänger der grausamen Spiele geschieht in einem Augenblick, als hätte ihn ein Zauberstab berührt. Das Gute hat sehr viel mehr Mühe mit uns. Gewaltige Kräfte müssen am Werk sein, wenn strikte Ablehnung von einer Sekunde auf die andere in fiebrige Begeisterung umschlagen kann. Welche Kräfte sind das? Augustinus gibt zumindest Hinweise. Er spricht von Lust, von Wollust, von Trunkenheit. Er diagnostiziert totalen Kontrollverlust. Und nichts anderes, wenn auch in sehr viel geringerer Dosis, hatte der Junge mit der Spinne an sich entdeckt. Nichts anderes empfand Peter Kürten beim Anblick strömenden Bluts. Und Ähnliches scheinen uns auch die Teufel der mittelalterlichen Maler vorzuführen. Versagen der rationalen Instanzen. Triebhafte Haltlosigkeit. Kontrollverlust.
Wäre damit schon das Wichtigste gesagt? Erklärt sich das Böse durch den Einbruch des Irrationalen in die geordnete Welt der Vernunft? Überwältigt es uns durch die unwiderstehliche Macht von Wollust und Begierde? Aber – lässt sich dasselbe nicht auch von der Liebe sagen? Trifft Ähnliches nicht auch auf alle Formen der Begeisterung zu? Und ist das Gute andererseits wirklich nur eine Frucht der Selbstbeherrschung, das Resultat vernünftiger Überlegungen und rationalen Abwägens? Muss man Moralphilosoph oder Asket sein, um dem Bösen mit einigem Erfolg Widerstand leisten zu können? In diesem Fall hätte der Gott, der die Sintflut schickte, recht gehabt: In dem irdischen Getümmel, das sich seinem Blick bot, dürften Asketen und Moralphilosophen eine Seltenheit gewesen sein, die absolute Ausnahme. Und schließlich: Selbst wenn wir den Unterhaltungswert des Bösen deutlich höher einschätzen müssen als den des Guten – wünschen wir uns nicht bei aller Faszination des Schauerlichen am Ende doch immer den Sieg des Guten?